Editorial

Alles hat immer zwei Seiten: Kaum sind die ersten Bauträger vom Sinn und allgemeinen Mehrwert von Begegnungs- und Gemeinschaftsräumen auch im sozialen Wohnungsbau überzeugt, schon wird der Kampf gegen die Vereinzelung von einem simplen, aber aggressiven Virus torpediert, stellt sich das Cocooning als lebensrettende Maßnahme heraus. Es bleibt die Hoffnung, dass die Gewöhnung ans Zuhausesitzen nicht allzu extrem ausfällt, v.a. aber der Zwang dazu zeitlich stark begrenzt bleibt und die Lust auf gesunde Arten der Begegnung eher anfacht.
Hoffnung gibt auch eine Beobachtung des Architekten und Theoretikers Vittorio Magnago Lampugnani, der erst im Februar dieses Jahres in der NZZ konstatierte, dass gerade die anspruchsvollen sozialen Wohnungsbauten immer auch Experimentierfelder waren, die den Wohnungsbau per se effizienter und moderner gemacht haben.

Diese Rolle mahnt er mit Nachdruck an und sieht voraus, dass unsere Häuser zunehmend kompakt und gestapelt sein werden, sich zu vielfältigen und attraktiven städtischen Räumen mit hoher Aufenthaltsqualität kombinieren lassen; zwar kleinere Wohnflächen bieten, dafür aber geschickt angeordnet und möbliert sein werden; ohne überflüssige Repräsentationsgesten, stattdessen mit flexibel nutzbaren Zimmern, geräumigen Wohnküchen und freundlichen Tageslichtbädern; mit sparsamen, aber attraktiven Außenräumen; technisch angemessen, robust, leicht zu reparieren … – in Siedlungen, die durch kollektive Einrichtungen und Begegnungsorte das Zusammenleben der Bewohner fördern und ihren Gemeinschaftssinn stärken.
Sein Wort in der Verantwortlichen Ohren!

Dazu braucht es, wie viele Architekten aus leidvoller Erfahrung wissen, nicht nur den erklärten Willen der Bauträger, die am liebsten auf bewährte Muster setzen, sondern auch den Willen der Gesetzgeber, die gut daran täten, die weit über 3 000 Normen für den Wohnungsbau zu überprüfen und zu reduzieren.

Die vier neuen Projekte in der db-Ausgabe 4/2020 zeigen bedenkenswerte Ansätze, v.a. in Bezug auf kostengünstiges Bauen und erschwingliches Wohnen, aber auch die rechtlichen und wirtschaftlichen Grenzen, wie z.B. ein Steidle-Gebäude in der Rubrik »… in die Jahre gekommen«. | Achim Geissinger

Größe im kleinen Quadrat

(SUBTITLE) 40 Wohneinheiten »La Quadrata« in Dijon (F)

Ein Traum von einem Wohnungsgrundriss: kaum Erschließungsfläche, alle Wohnräume gleich groß und frei von Nutzungsvorgaben, in einem Raster, das potenziell eine unendliche Reihung zulässt. Sophie Delhay treibt den Wohnungstypus mit zentralem Essraum auf die Spitze und bietet mit durchdachten Details dort Mehrwert, wo im sozialen Wohnungsbau sonst der Rotstift herrscht.

Auch in Frankreich wird der soziale Wohnungsbau eher stiefmütterlich behandelt und lohnt sich für Wohnungsbauunternehmen nur, sofern der Staat, statt selbst zu bauen, ordentliche Wohnzuschüsse zahlt. In Paris brillieren einzelne Projekte, die mit neuen Konzepten tatsächlich räum­lichen Mehrwert für die Bewohner bieten, durch eine hochwertige Gestaltung gelegentlich sogar Prestige (s. z.B. db 4/2016, S. 44), das allerdings immer nur im kleinen Rahmen mit wenigen Wohneinheiten. Das Gros der annähernd 10 Mio. Menschen, die in den sogenannten HLMs (habitation à loyer modéré) leben, hat mit planerischer und üblicher Massenware auszukommen.

Die Pariser Architektin Sophie Delhay beschäftigt sich seit einiger Zeit schon mit dem Potenzial, das verdichteten Wohnformen innewohnt und das es dringend zu nutzen gilt. Sie konnte bei ihren Projekten Bauträger wie Bewohner vom Mehrwert gemeinschaftlich genutzter Flächen im selben Maße überzeugen wie sie stringent gereihten Grundrissstrukturen räumliche Vielfalt und Nutzwert zu entlocken versteht.

Für die Planung der 40 Sozialwohnungen in Dijon adaptierte sie den altbewährten Typus der großbürgerlichen Wohnung mit mehreren ähnlich geschnittenen Zimmern, deren jeweilige Nutzung erst der Bewohner festlegt. Der Grundgedanke dabei: das gesamte Haus hierarchiefrei aus lauter gleich großen, ungerichteten Räumen ohne spezifische Nutzungszuweisung aufzubauen.

In einem Wohnungsmodul, das der gesamten Anlage zugrunde liegt, sind vier quadratische Kompartimente in den Abmessungen 3,60 x 3,60 m um eine zentrale »Halle« herum gelagert. Eines der Quadrate ist als »Außenzimmer« ausgeformt – als Terrasse oder geräumige Loggia. Ihm ist eine (ein wenig zu klein dimensionierte) Küche mit Bezug nach draußen angeschlossen. Ihr wiederum gegenüberliegend trennt der fensterlose Nassbereich zwei der nutzungsneutralen Räume voneinander. Dazwischen breitet sich die sinnvollerweise zumeist als Esszimmer genutzte Halle aus. Die Erschließungsflächen ließen sich somit minimieren und stattdessen den Wohnräumen, v.a. der Halle zuschlagen. Obwohl innenliegend erhält diese über die Loggia ausreichend Licht, was vorab in Simulationen nachgewiesen wurde. Ein besonders großzügiger Eindruck ergibt sich, sobald eine oder mehrere der Holz-Schiebetüren geöffnet werden, um nahezu raumhohe, 1,20 m breite Durchgänge zu den Zimmern freizumachen. Eine der Mieterinnen berichtet bei der Besichtigung ihrer Wohnung stolz, wie ihre Freunde sie um die großzügig wirkende Wohnung beneiden – zu Recht.

Struktur und Ausnahme

So schön der Gedanke, alles auf dem Quadrat aufzubauen, so schwierig, die beschränkten Wohnflächen und die Mindestabmessungen von Nebenräumen zusammenzubringen. Das Quadratsystem geht nicht ganz auf; die innenliegende Raumspange muss ein wenig tiefer sein. So fällt der zentrale Raum leicht längsrechteckig aus und es braucht in einigen Wohnungen mitunter halbierte Quadrate und auch Durchgangszimmer, um die gewünschte Vielfalt an Wohnungsgrößen unterzubringen, namentlich eine gute Mischung aus Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen mit 32, 45, 65 und 78 m².

Bei genauerer Betrachtung der Grundrisse lässt sich schnell erkennen, wie vielfältig sich einerseits das einmal gewählte Grundraster bestücken lässt – und wie andererseits das Klötzchenspiel letztlich zur mathematischen Übung und echten Anstrengung geraten ist. Denn hinzu kommt die städtebauliche Großform, deren terrassierte Kubatur zwischen der kleinteiligen Einfamilienhäuschen-Bebauung im Süden und den im Bau befindlichen Geschosswohnungsbauten im Norden vermittelt. Die Stadt Dijon betreibt hier massiv Nachverdichtung auf frei gewordenen und freiwerdenden Flächen eines aufgelassenen Gewerbegebiets, das sich entlang einer Bahntrasse stadtauswärts zieht.

Die Abtreppung der beiden Gebäudeschenkel nimmt der Baumasse die Wucht und eröffnete die Möglichkeit, einigen Wohnungen eine Terrasse vorzuschalten. Um auch die Erschließungsflächen zu minimieren, sind einige Wohnungen in den unteren Geschossen direkt über die Loggia oder über eine Terrasse zugänglich – südländisch geprägten Bewohnern kommt dies entgegen, so mancher findet dagegen die Aufstellung von Sichtbarrieren zwingend. Die individuelle Aneignung hat bereits ihren Lauf genommen.

Bei nur wenigen Wohnungen stolpert man direkt in den Wohnbereich hinein, es gibt sogar Varianten mit veritablen Fluren. Die Bäder und WCs sind im Grunde zu groß, da ein pauschales Gesetz selbst in jenen Wohnungen rollstuhlgerechte Maße verlangt, die gar nicht barrierefrei zu erreichen sind. Der ursprünglich vorgesehene Vorraum vor dem Nassbereich ließ sich dadurch nicht umsetzen – jetzt monieren die Mieter den direkten Zugang vom Ess-Raum aus samt der akustischen Nachteile.

Nutzwert und Raumgewinn

Sehr vorteilhaft hingegen fällt die Umsetzung kluger Detailideen der Architektin aus, die sich z.B. fragte, wie der fehlende Stauraum zu kompensieren sei, und in der Folge für jedes Zimmer ein System aus Einbauschränken entlang der Außenwände durchsetzte. Auf der mit außenliegendem Sonnenschutz bestückten Hofseite ergibt sich, nach Art der Fensterbank in einer Burg, direkt am großflächigen Fenster eine Fläche zum Lümmeln, oder auch als Ablage für allerlei Nippes. Zur Straße hin bildet ein Alkoven einen quasi-urbanen Vorplatz, auf den hin die Schranktüren öffnen – und eben nicht ins Zimmer hinein, das unbeeinträchtigt und somit frei möblierbar bleibt. Die nahezu quadratischen Zimmerflächen nutzen im Übrigen viele Mieter dazu, größere Betten aufzustellen, was v.a. Jugendliche sehr zu schätzen wissen.

Ein Kasten über dem Alkoven sichert die Grundbeleuchtung – mit einem transparenten Kunststoffpaneel zum Raum hin und handgroßen kreisrunden Löchern nach unten, über die sich das Leuchtmittel leicht auswechseln lässt. Weiche, lichtdichte Vorhänge ermöglichen die völlige Verdunkelung.

Die vergleichsweise dünnen Sperrholzbretter der unterschiedlich tiefen Schränke lassen den Sparzwang erahnen; sie schließen mitunter schon nicht mehr sauber. Typisch für Frankreich: Eine Trittschalldämmung gehört nicht zum Standard; der himmelblau gewölkte PVC-Boden muss genügen.

Beitrag zum Selbstwert

Sophie Delhay mag es, in ungewöhnlichen Begriffen zu denken und zu kommunizieren, und damit den Geist zu öffnen. In Bezug auf die Einbauschrank-Alkoven etwa spricht sie von »bewohnten Fassaden«, bei einem weiteren Wohnprojekt in Dijon überhöht sie die zweigeschossigen Wohnzimmer, die sie dort dem Bauträger unter Weglassen jeglicher Oberflächenveredelung ­abtrotzte, zu »Kathedralen«. In diesen Begriffen wird die Wertschätzung deutlich, die Delhay den Bewohnern über die Angebote ihrer Architektur zukommen lassen möchte – und die durchaus wahr- und angenommen werden. Sie wirken der Stigmatisierung, der sich die typische HLM-Bewohnerschaft ausgesetzt sieht, in dem Maße entgegen, in dem der bauliche Mehrwert spürbar, nutzbar und nicht zuletzt vorzeigbar wird.

Um ihre von eingeübten Standards abweichenden Gedanken umsetzen zu können, schaltete sie der näheren Planung Workshops mit dem Bauträger vor. Die zumeist völlig unabhängig voneinander agierenden Abteilungen für Bau und Hausverwaltung lernten dabei einander und die unterschiedlichen Herangehensweisen ebenso kennen wie den allseitigen Nutzen ungewohnter Lösungen.

Am Ende konnte Delhay die Verantwortlichen von »La Quadrata« sogar von der Einrichtung ­eines Gemeinschaftsraums überzeugen, der sich, ausgestattet mit separat ­gelegener Küchenzeile und Nassraum, für allerlei Freizeitaktivitäten eignet. Die geräumige Loggia davor tritt am Hochpunkt der Anlage zwei Geschosse hoch in Erscheinung und bietet einen Ausblick auf das zukünftige Ökoquartier auf der anderen Straßenseite. Noch ist die Möglichkeit der Nutzung durch die Bewohnerschaft nicht offiziell kommuniziert – Andeutungen dazu lassen aber staunende Vorfreude aufkommen.

db, Mo., 2020.04.06

06. April 2020 Achim Geissinger

Urbane Dorfidylle

(SUBTITLE) Wohnüberbauung Maiengasse in Basel (CH)

Mit einem vielfältigen Wohnungsangebot samt Kindergarten, durchdachten Grundrissen und einer das Wohnquartier bereichernden städtebaulichen Lösung kann das zweiteilige Projekt als Vorbild für einen zeitgemäßen, sozial ausgerichteten städtischen Wohnungsbau dienen. Das V-förmig tief ins Blockinnere hineingreifende Holz-Wohngebäude bildet eine halböffentliche Zone, die viele Möglichkeiten der Aneignung eröffnet.

Selbst in der wohlhabenden Schweiz mit ihren vergleichsweise fürstlich anmutenden Durchschnittsverdiensten ist bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen immer schwieriger zu finden. Das gilt besonders für die wirtschaftlich prosperierenden Großstädte.

Im politisch rot-grün dominierten Stadtkanton Basel versucht man dieser Entwicklung mit einem öffentlichen Wohnungsbauprogramm entgegenzu­steuern. Vor diesem Hintergrund ist die Wohnüberbauung Maiengasse zu sehen, die von der Stadt selbst finanziert und verwaltet wird.

In einem westlich der Altstadt gelegenen, ruhigen Wohnquartier, das im 19. Jahrhundert entstanden war, verfügte die Stadt über ein rund 4 400 m² großes Grundstück. Es zieht sich entlang der Maiengasse, nimmt den gesamten Hofraum des Baublocks ein und umfasst außerdem eine Parzelle an der Hebelstraße. Auf dem Areal war bis Anfang dieses Jahrhunderts ein städtischer Werkhof ansässig, dessen heterogene Bauten – u. a. ein großer hölzerner Schuppen – einer Wohnbebauung weichen sollten. Für das Projekt, zu dem neben Mietwohnungen auch zwei Kindergärten gehören, wurde 2013 ein ­offener Architekturwettbewerb ausgelobt. Gefordert war dabei ein Mehrgenerationenhaus mit einem vielfältigen Wohnungsangebot im mittleren Preissegment – für jüngere und ältere Kleinhaushalte ebenso wie für Familien mit Kindern. Die Erschwinglichkeit der Mieten galt es durch entsprechend ökonomische Bebauungskonzepte sicherzustellen. Unter den insgesamt 46 Einreichungen hat sich zurecht das vom Zürcher Büro Esch Sintzel Architekten vorgeschlagene Projekt durchgesetzt, das nach knapp dreijähriger Bauzeit ­fertiggestellt werden konnte.

Sensibler Städtebau

Die Grundlage für den siegreichen Entwurf bildete eine sorgfältige Analyse der vorgefundenen städtebaulichen Situation sowie eine feinfühlige und durchdachte Interpretation der Wettbewerbsintention. Für die Parzelle an der Hebelstraße schlugen Esch Sintzel die Schließung des Blockrands vor. Für den deutlich größeren Grundstücksteil hin­gegen, der sich von der Maiengasse aus ins Blockinnere erstreckt, suchten sie eine andere Lösung. Statt auch hier den Blockrand zu schließen, entwickelten sie eine einfache Großform, die das Grundstück klug nutzt und zugleich den Stadtraum bereichert: einen V-förmigen Baukörper, der sich zum Straßenraum hin öffnet und so eine halböffentliche, gassenartige Platzanlage entstehen lässt. Damit passt sich der Entwurf zwanglos in das offene und eher informelle Stadtgefüge ein, das die Maiengasse charakterisiert. Der zwischen dem neuen Hofgebäude und der bestehenden Blockrandbebauung entstandene Raum wird als geschützter Spielplatz für die Kindergärten und als Gartenraum für die Mieter genutzt. Der halböffentliche Charakter des Hofs wird durch eine bewusste Platzierung der Kindergärten im Scheitelpunkt des Neubaus hervorgehoben.

Die städtebaulich begründete Zweiteilung des Projekts akzentuierten die Architekten, indem sie die beiden Neubauten auch in formaler und baukonstruktiver Hinsicht unterschiedlich konzipierten. Während das fünfstöckige Wohnhaus an der Hebelstraße als konventioneller Massivbau ausgeführt wurde, präsentiert sich das dreistöckige Hofgebäude als Holzbau. Bei dieser Entscheidung spielten, wie Projektleiter Marco Rickenbacher bekennt, ökologische Ziele eine untergeordnete Rolle – 2013 stand das Thema Klima noch nicht so im Fokus wie heute. Inspirierend sei vielmehr ein alter Holzschuppen gewesen, der früher im Zentrum des städtischen Werkhofs stand. Diese Reminiszenz an die spezifische Geschichte des Orts wirkt nicht zuletzt deshalb plausibel, weil sie dem kleinteiligen, beinahe schon dörflichen Charakter des Blockinnern angemessen ist.

Durchdachte und zeitgemäße Grundrisslösungen

Das Teilprojekt in der Hebelstraße ist zweifellos ein gelungenes städtisches Wohnhaus, das sich durch gestalterische Anklänge an die spätmoderne Architektur der 60er Jahre auszeichnet, wie auch durch spannungsvolle Raumverdichtungen und -weitungen, die sich in den 16 Wohneinheiten (inkl. einer Atelier-Wohnung) aus der Ausdrehung einzelner Raumsequenzen aus der Orthogonalität heraus ergeben. Dennoch bildet das Gebäude mit 39 Wohneinheiten im Hof das eigentliche Herzstück des Projekts. Ein geglückter Städtebau ist das eine. Die einmal gefundene Gebäudeform sinnvoll mit Leben zu füllen das andere. Die Architekten standen vor der Herausforderung, die vom Auslober geforderte Vielfalt der Wohnungsgrößen – die Bandbreite reicht von 1,5 bis zu 6,5 Zimmer – in den V-förmigen Baukörper des Hofgebäudes zu integrieren. Man ahnt, welche Puzzelei das bedeutete und staunt, wie gut es gelang. Marco Rickenbacher und sein Entwurfsteam fanden eine Lösung, indem sie den gesamten Baukörper gleichsam zonierten: In den Kopfbauten zur Gasse sind über drei Stockwerke mittelgroße Wohnungen mit 2,5 und 3,5 Zimmern untergebracht. In den Schenkeln befinden sich jeweils vier reihenhausartig angeordnete Maisonettewohnungen mit 4,5 Zimmern, die EG und 1. OG umfassen. Im 2. OG ist jeweils Raum für zwei große Wohnungen mit 5,5 bzw. 6,5 Zimmern. Im Scheitel des Hofgebäudes liegen im EG die Räume der beiden Kindergärten. Darüber bleibt Platz für kleine und mittelgroße Wohnungen mit 1,5, 2,5 und 3,5 Zimmern. Sämtliche Wohnungen verfügen entweder über eine Loggia oder eine Terrasse. Den Maisonettes ist jeweils ein privater Gartenbereich an der Rückseite des Hauses zugeordnet.

Die Wohnungen als Ganzes, aber auch die einzelnen Räume sind eher knapp bemessen, um auf diese Weise die Wirtschaftlichkeit der Anlage zu sichern. Umso wichtiger war es die Verkehrsflächen klein zu halten und für eine optimale Nutzung des vorhandenen Raums zu sorgen. Relativ geringe Unterschiede in den Raumgrößen ermöglichen innerhalb der einzelnen Wohneinheiten einen flexiblen Gebrauch je nach individuellen Bedürfnissen und Lebensformen. In vielen Wohnungen lässt sich der Wohnraum – etwa bei Nutzung durch eine WG – von der Wohnküche abtrennen und steht dann als weiterer Individualraum zur Verfügung.

Die Ausstattung ist einfach, aber solide und geschmackvoll. Bodenbeläge aus geöltem Eichenparkett sorgen für eine wohnliche Atmosphäre. Vor den Küchenzeilen und im Eingangsbereich wurden dazu passende rote Tonfliesen verlegt. Die weißen Innenwände bestehen aus Hartfaserplatten. Als Holzbau tritt das Gebäude im Innern nur an den Decken mit ihren offenen Balkenlagen in Erscheinung. Die Raumhöhe bis zur Unterkante der Balken beträgt 2,50 m; in den Zwischenräumen erreicht sie 2,76 m. Die Bauausführung ist, wie in der Schweiz üblich, von herausragender Qualität und trägt nicht unwesentlich zum positiven Gesamteindruck bei.

Klassischer Skelettbau

Baukonstruktiv betrachtet ist das Hofgebäude ein klassischer Skelettbau aus Holz. Vier Stahlbetonkerne, die Treppen und Aufzüge aufnehmen, dienen der Erschließung der Geschosswohnungen, steifen die Konstruktion aus und tragen den Brandschutzbestimmungen Rechnung. Das Raster von Stützen und Trägern verleiht dem gesamten Gebäude und den Wohnungsgrundrissen eine klare Struktur. Es ermöglicht darüber hinaus ein hohes Maß an rationeller Vorfertigung. Leichtbauwände erlauben vielfach eine spätere Änderung des Grundrisses ohne Eingriff ins Tragwerk. Die ökologischen Vorteile des Holzbaus muss man heute nicht mehr herausstreichen. Um den Schallschutz sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung zu garantieren, wurden einige Anstrengungen v. a. in Bezug auf die Schallentkopplung von Materialstößen und zwischen den einzelnen Wohneinheiten unternommen.

Nach außen hin zeigt sich das Hofgebäude unmissverständlich als Holzbau – straßenseitig sowie an der Stirnseite des Hofplatzes durch die sichtbaren Primärträger und die zumindest in den Loggien deutlich erkennbaren Deckenbalken; an den Hofseiten durch eine Holzverschalung mit vertikaler Lattung, die immer dort, wo sie von geschosshohen Fensteröffnungen unterbrochen wird, wiederum einen (diesmal seitlichen) Blick auf die Primärträger freigibt. Noch deutlicher verweisen hier freilich die hölzernen »Säulen« vor den im EG aus der Fassadenflucht zurückspringenden Eingangsveranden der Maisonette-Wohnungen auf den Holzbau.

Diese von CNC-Maschinen bearbeiteten Stützen, die sich – von oben nach unten betrachtet – von einem quadratischen Querschnitt allmählich zum optisch rund wirkenden 32-Eck entwickeln, sind ein gestalterisches Detail, das der sonst recht nüchternen Erscheinung des Gebäudes eine eigentümlich verspielte und – wenn man so will – heimelige Note verleiht. Zugleich sind es diese Stützen, die auf eine weitere, nahegelegene Referenz des Hofgebäudes verweisen: das 1987/88 erbaute hölzerne Wohnhaus im Hof, das zu den besten Frühwerken von Herzog & de Meuron gehört.

db, Mo., 2020.04.06

06. April 2020 Mathias Remmele

Die Gunst der Fuge

(SUBTITLE) »Wohnregal« in Berlin-Moabit

Das Wohngebäude mit Büroflächen im EG verbindet systemisches Bauen mit hohem Freiheitsgrad bei der Grundrisseinteilung. Mit Betonfertigteilelementen aus dem Gewerbebau ließ sich der Rohbau in sechs Wochen fertigstellen. Die Grundrisse der Mietwohnungen und Wohnateliers mit Flächen zwischen 30 und 110 m² sind in allen Geschossen verschieden. Dem veredelten Rohbau im Innern steht die wertige Außenansicht der Glashülle gegenüber.

Standardisiert, vorfabriziert und höchst modular: Der Traum einer industrialisierten Architekturproduktion begleitet die Moderne seit ihren Anfängen quer durch alle Materialien. Von Eisen, Stahl und Glas bis hin zum Beton geht damit der Wunsch einher, Bauprozesse zu beschleunigen und kostengünstiger zu gestalten – gelegentliche Fertigbau-Alpträume in den 60er und 70er Jahren eingeschlossen. Ein Vorläufer derartigen Prefab-Bauens ist die 1891 eröffnete Arminiusmarkthalle in Moabit von Hermann Blankenstein mit ihren gusseisernen Säulen und ornamentalen Ziegelfeldern. Nur ein paar Schritte entfernt steht das neue Wohnregal von FAR Frohn & Rojas Architekten in der Waldenser-, Ecke Emdener Straße. Dort unternimmt die deutsch-chile­nischen Architektengemeinschaft von Marc Frohn und Mario Rojas, die sogar über einen Büroableger in Los Angeles verfügt, den Versuch, das alte Lied des vorfabrizierten, industrialisierten Bauens mit einer neuen Melodie zu ver­sehen. Umgeben von einem bunten Wechselspiel aus Wohnhäusern der Gründer- und Nachkriegszeit ist der Neubau auf einem Eckgrundstück entstanden, das seit dem Zweiten Weltkrieg brachlag. Ohne Keller und auf Pfeilern gegründet, wächst das Wohn- und Atelierhaus auf dem Trümmerschutt der Vergangenheit sechs Geschosse empor und schließt traufbündig an seinen Nachbarn an. Darin erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten mit der Nachbarschaft aber auch schon. Ansonsten interpretiert das Gebäude mit seinen weiten Glasflächen und dem dahinter durchscheinenden Betonraster die Bauaufgabe Wohnhaus durchaus anders. Ziel von FAR war es, einen Wohnungsbau aus Fertigteilen zu verwirklichen, die ansonsten im Industriebau verwendet werden.

Das bedeutete für die Architekten einen Lernprozess. Schließlich ist bei der Produktion von Fertigteilen grundsätzlich vieles möglich. Aber jede Abwandlung, die vom Standardverfahren abweicht, kostet zusätzliches Geld. Daher mussten sich die Architekten zunächst in die Produktion der Fertigteile hineindenken, um mit möglichst sinnfälligen wie kostengünstigen Modifi­kationen die Fertigteile ihrem Entwurf anzupassen – und umgekehrt. Bilden doch die Ansätze kostengünstig und industriell zu bauen eine gedankliche Symbiose, die es in gebaute Architektur zu übertragen galt, ästhetischer Anspruch inklusive. Beispielsweise hätte es etwa 40 000 Euro gekostet, den Achsenabstand der Unterzüge der π-Decken anzupassen, damit sie mit der Grundstückslänge korrespondieren. »Stattdessen haben wir die Breite der π-Decken mit einer simplen Schaltafel gekürzt«, erläutert Marc Frohn beim Rundgang. »Dadurch ergeben sich im Gebäude zwei verschiedene Abstände der Unterzüge: derjenige innerhalb einer π-Decke und derjenige zwischen zwei π-Decken. Diese Varianz prägt das Erscheinungsbild.« Letztlich sind FAR ohne die Kosten für das Grundstück sowie das Honorar der für sich selbst bauenden Architekten bei rund 1 500 Euro pro m² BGF gelandet, die gesamten Baukosten betrugen 2,25 Mio. Euro.

Industrielles Wohnambiente

Das Raster mit den sieben Achsen der Pendelstützen aus Beton ist von innen wie von außen deutlich ablesbar. Davor hängt eine silbrige Aluminiumfassade aus großmaßstäblichen Hebe-Schiebe-Standardelementen (2,20 x 3 m), die für eine maximale Belichtung der Wohneinheiten sorgt. Markant sind auch die augenscheinlich grünen, wenngleich laut Hersteller vorgeblich farblosen, Brüstungselemente aus faserverstärktem Kunststoff mit ihrem hüfthohen quadratischen Rasterrausch. Dazu fügen sich im Innern die rundrilligen Industrieheizköper und schaffen neben der Funktion ein reizvolles Detail. Die Ecken des Hauses sind an Vorder- und Rückseite als offene Loggien ausge­bildet. Dazwischen liegt das nach Norden orientierte, offene Treppenhaus, das eine Art vertikalen Laubengang ausbildet, der durch ein Edelstahlnetz gegen allfällige Abstürze gesichert wird.

Der industriell ruppige Charme des Gebäudes kulminiert in dem architektonischen Leib- und Magenthema des Fügens, das bei den Fertigteilen in epischer Betonbreite zelebriert wird. Auf den Pendelstützen liegen die Stürze sowie die π-Decken auf. Aufgrund der Toleranz der Elemente von bis zu 20 mm schieben sich zwischen diese dunkle Fugen mit standardmäßigen Polstern aus Hartkunststoff. Sie verkehren das Motiv des Lastens optisch in ein irritierendes vermeintliches Schweben.

Durch die stützenfreie Spannweite der π-Decken von rund 13,5 m ergibt sich eine flexible Gestaltung der Geschosse, der lediglich durch die Schächte der Haustechnik gewisse Grenzen gesetzt sind. Der weitere Ausbau der Wohnungen erfolgte im Trockenbau. Die Wohnungsgrößen variieren dabei zwischen 35 und 110 m². In lieblichster Architektenprosa ergibt sich so laut FAR »eine maximale Vielfalt unterschiedlicher Wohn- und Arbeitsateliers, die die wachsende Vielfältigkeit an urbanen Wohnvorstellungen abbildet«.

Neben der Freiheit in der Entwicklung der Wohnungsgrößen und der Grundrisse ermöglicht die Verwendung der Fertigteile einen zügigen Bauprozess. In lediglich sechs Wochen sei der Rohbau errichtet gewesen, erläutert Marc Frohn. Das entspricht also einem Geschoss pro Woche. Entscheidend sei die funktionierende Lieferlogistik der Elemente, da sich die Nutzung eines Mobilkrans schnell als erheblicher Kostenfaktor niederschlägt. Abgerundet wird das minimalistisch industrielle Wohnambiente durch den mineralischen Fußboden sowie die Einbaumöbel mit weißen Fronten. Die Schiebeelemente der Fassade lassen sich bei entsprechender Witterung weit öffnen und verleihen den Wohnungen einen luftigen Loggiencharakter. Beherrscht wird der Raumeindruck jedoch von den gefügten Betonelementen. Daran können sich die Geister scheiden. Entweder mag man diese dominant brutalistische Rauheit – oder eben nicht. Das gilt ebenso für den Rhythmus der Decken, der durch die Rippen der π-Träger bestimmt wird. Dabei entstehen zwischen Einbaumöbeln und Rippen seltsam indifferente Zwischenräume. Die gleiche Herausforderung stellt sich bei den Stürzen, auf denen die π-Decken aufliegen. Daraus ergibt sich zwischen Sturz und Fensterelement ein nur mühsam zu verdunkelnder Fensterstreifen. Das wäre durch eine integrierte Verdunklung/Sichtschutz im Fensterelement freilich leicht zu beheben gewesen.

Insgesamt stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept der Verwendung von industriellen Betonfertigteilen jenseits der sympathischen architektonischen Fingerübung der Moabiter Eckbebauung auch im großen Maßstab trägt. Kann sie einen relevanten Beitrag bei der Lösung der Herausforderungen des bezahlbaren Wohnraums darstellen? Das ist mehr als ein Rechenexempel, denn neben der Frage nach den Baukosten, ist es eine Frage der Ästhetik sowie deren Akzeptanz durch die Nutzer und nicht zuletzt nach der Nachhaltigkeit bei der Materialverwendung Beton. Die Berliner Architektengemeinschaft jedenfalls steht hinter dem eigenen Konzept. In der Gewerbeeinheit, die sich einmal quer durch das EG erstreckt, haben sie ihr eigenes Atelier bezogen.

db, Mo., 2020.04.06

06. April 2020 Jürgen Tietz

4 | 3 | 2 | 1