Editorial

Zu den Traditionen, die man gerne pflegt, gehört nicht nur das Bad in vorweihnachtlichen Gefühlen, sondern auch der Rückblick auf das architektonische Geschehen eines Jahres. Inzwischen schon zum elften Mal stellen die db-Redakteure ihre Lieblingsprojekte vor. Unter dem gewohnt architekturkritischen Blickwinkel der db ergibt sich in diesem Jahr geografisch wie inhaltlich eine besonders vielfältige Palette an Orten, Bauaufgaben und Fragestellungen: So geht es darum, wie ein »Stadtbalkon« eine städtebauliche und emotionale Leerstelle in Röttingen zu schließen vermag, wie aus einem reinen Anlageobjekt nahe Karlsruhe kostengünstiger und dennoch großzügig wirkender Wohnraum hervorgehen konnte, wie es möglich war, im englischen Eton ein Haus ganz aus Kork zu bauen, ob Hintergrund und Entstehungsprozess des White City Centers in Tel Aviv nicht sogar wichtiger sind als das architektonische Ergebnis und wie ein Brückenschlag sowohl im übertragenen als auch im Wortsinn zwischen Investmentgesellschaft und Kunst gelingen kann. | Die Redaktion

Verdrehte Architektur

(SUBTITLE) Galerie »The Twist« des Kistefos-Skulturenparks in Jevnaker (N)

Die Idee des Twists bestimmt den Neubau von BIG im Skulpturenpark Kistefos nördlich von Oslo. Das Gebäude ist Brücke, Museum und Skulptur zugleich – und beweist, dass attraktive Ausstellungsbauten nicht aus der konventionellen Reihung von White Cube und Black Box bestehen müssen.

Von Oslo aus erreicht man Kistefos mit dem Auto in einer guten Stunde. Einige Kilometer südlich von Jevnaker gelegen stellt es – mit seiner Kombination aus historischen Industrieanlagen, einem vom mäandrierenden Fluss Randselva durchzogenen waldreichen Tal und zeitgenössischen künstlerischen Installationen – das ideale Ziel für einen Tagesausflug dar. Ein anheimelndes Restaurant gibt es auch, Spielplätze ohnehin, und so ist das Areal auch an diesem trüben und regenreichen Herbstnachmittag gut besucht. Was wohl auch damit zu tun hat, dass vor Kurzem, am 18. September, die jüngste Attraktion von Kistefos eröffnet wurde: »The Twist«, das nach Aussagen seines Architekten Bjarke Ingels einen Hybrid aus Architektur, Infrastruktur und Skulptur darstellt. Als Ausstellungsgebäude überspannt das Bauwerk den Fluss – und wirkt doch zugleich wie eine weitere künstliche Intervention in diesem größten Skulpturenpark Norwegens. Prominentester Gast unter den 500 zur Eröffnung geladenen Gästen war Königin Sonja. Was vielleicht weniger mit der Prominenz von Bjarke Ingels, etwas mehr mit den Netzwerken des Kistefos-Mäzen Christen Sveaas, v. a. aber mit dem Ziel zu tun hat, Kistefos national und international zur touristischen Destination auszubauen. Der norwegische Staat und die Kommune Jevnaker sind – wenn auch zu geringeren Anteilen – an der Finanzierung des Projekts beteiligt, denn das Hügelland nördlich von Oslo zählt bisher nicht zu den touristischen Hotspots des Landes. Eher könnte man von einer Gegend sprechen, die man lediglich durchquert, um zum Norwegen der Berge, Fjorde und Gletscher zu gelangen. So ist eine Attraktion, die nicht nur die Bewohner aus der Kapitale zum Sonntagsausflug anlockt, hier überaus willkommen.

Zurück zu den Wurzeln

Der Wasserfall Kistefossen gab dem 1889 von Andres Sveaas gegründeten Unternehmen A/S Kistefos Træsliberi seinen Namen. Der Ort war ideal für den Bau einer Papiermühle geeignet: der Wasserfall verhalf dem Unternehmen zur nötigen Energie, das Holz wurde rund um den Randsfjord geschlagen, einer der größten Binnenseen Norwegens. Von dort gelangte es geflößt über den Wasserweg direkt bis zur Mühle. War Papier bisher im Allgemeinen aus Textilien gefertigt worden, so erlaubten technische Innovationen des 19. Jahrhunderts die kostengünstigere Herstellung auf Holzbasis: die Zerkleinerung von Holz mit Mahlsteinen und die Wasserturbine. Durch seine natürlichen Ressourcen Holz und Wasser war Norwegen prädestiniert für das neue Verfahren, und so schossen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 100 Papiermühlen aus dem Boden. Mit den ebenfalls neu entstandenen Eisenbahnverbindungen gelangten die Rohpapierballen zu den Häfen, von wo aus sie nach Kontinentaleuropa oder ins Vereinigte Königreich verschifft wurden. Nach Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen, wurde das Ursprungswerk 1955 geschlossen. Um aber auf etwaige Veränderungen in der Firmenstruktur reagieren zu können, legte man die Anlage nur still. So blieb die Fabrik mit samt dem Maschinenpark als einzige ihrer Art in Norwegen erhalten. Christen Sveaas, Nachfahre des Firmengründers und im Finanzsektor reich geworden, kaufte acht Jahre später die Aktienmehrheit zurück. Der Mischkonzern ist mittlerweile in diversen Geschäftsfeldern wie Öl oder Schiffslogistik tätig, Holzwirtschaft spielt nur noch eine marginale Rolle.

Doch das Gesamtpaket umfasste auch den historischen und namensgebenden Standort Kistefos. Der norwegische Staat drängte auf den Erhalt der Fabrik und die Umwandlung in ein Industriemuseum, und Sveaas beschloss, die umgebende Landschaft in einen Skulpturenpark umzuwandeln. Sukzessive ist dieser seit der Gründung 1996 gewachsen, die meisten der Arbeiten wurden speziell für den jeweiligen Ort angefertigt. Viele der Beteiligten sind prominente Vertreter der norwegischen und internationalen Gegenwartskunstszene, darunter Claes Oldenburg, Coosje van Bruggen, Olafur Eliasson, Anish Kapoor und Tony Cragg. Der Hauptzugang zum Skulpturenpark befindet sich im Norden, neben der alten Fabrikantenvilla. Vom Pförtnerhäuschen mit verknautschter Metallhaut von Elmgreen og Dragset führt der Weg leicht abwärts zum Gebäudeensemble mit der Papiermühle. Die Besichtigung des Industriedenkmals allein lohnt den Besuch schon: Alles an Technik ist noch vorhanden, von den Turbinen im UG über die Sägerei zum Grobzuschnitt der Stämme und die Mahlwerke bis hin zu den Pressen für die Papierballen. Das ist faszinierend anzusehen – und überdies informativ erklärt. Die eher sparsam eingesetzten künstlerischen Installationen verblassen angesichts der Kraft und Stärke, welche die alten Maschinen ausstrahlen.

Skulptur im Licht

The Twist bildet nun seit Kurzem gewissermaßen den zeitgenössischen Gegenpol zur alten Fabrikanlage. Steht die Papiermühle dort, wo die beiden Arme des Randselva sich trennen, so überbrückt das Gebäude von BIG den Fluss dort, wo er wieder zu einem Bett zusammengefunden hat. Tatsächlich handelt es sich zunächst einmal um ein Infrastrukturprojekt, denn durch die Überbrückung werden die beiden bisher getrennten Teile des Parks zu einem Rundgang verbunden – Bjarke Ingels spricht vom »Loop«. Diese Setzung hat natürlich Auswirkungen auf die Atmosphäre der Ausstellungsräume: Der Twist ist nicht ausschließlich Ziel des Besuchs, sondern zugleich Durchgangsstation. Und da es keinen konkreten Rundgang gibt, betreten die Besucher das Gebäude sowohl von der einen als auch von der anderen Seite. Wobei der Parkrundgang entgegen dem Uhrzeigersinn letztlich plausibler ist, weil man sich dem Twist entlang des nördlichen Flussarms nähert und sehen kann, wie aus der gleißenden Skulptur in der Ferne Schritt für Schritt ein Gebäude wird.

Christen Sveaas hatte Studien mit tordierten Körpern von BIG gesehen, als er das dänische Büro 2011 mit dem Auftrag für ein Ausstellungsgebäude betraute. Ein konventionelleres Projekt, das der Sammler schon seit der Jahrtausendwende verfolgte, war zuvor gescheitert. Mit BIG erfolgte der Neustart, und der Gedanke des Twists wurde zur entscheidenden Entwurfsidee. Der 75 m lange Baukörper, der mit 40 cm breiten, vertikal versetzten Aluminiumpaneelen bekleidet ist, scheint in seiner Mitte um 90 Grad verdreht zu sein. Natürlich ist die konstruktive Realität eine völlig andere, denn konstruktiv handelt es sich um eine Stahlfachwerkstruktur, die ohne jegliche Torsion auskommt. Das Bild des Twists entsteht mittels der schmalen Aluminiumelemente, die sich auffächern und um das Gebäude herumwinden – nachvollziehbarerweise erwähnt Ingels einen Kartenstapel als Referenz.

Gewiss: Diese Form ist für das Brückengebäude nicht zwingend, sie will ein Hingucker sein. Aber hier kommt zum Tragen, dass es sich um eine architektonische Intervention in einem Skulpturenpark handelt. Es geht auch um optische Phänomene im Landschaftsraum, wie beispielsweise die auf einer Insel im Fluss platzierte S-Curve von Anish Kapoor beweist. BIG überträgt derlei Phänomene bei seinem 20-Mio.-Euro-Gebäude in den großen Maßstab.

Der Twist bietet die Möglichkeit, den Innenraum zu gliedern. Damit gibt es keine klassische Enfilade, sondern eine Abfolge drei miteinander verbundener Raumbereiche. Der nördliche Raumteil ist breitgelagert und relativ niedrig, die gesamte Ostseite ist verglast und öffnet den Blick über den Fluss zur alten Papiermühle. Es folgen der Twist mit auch im Innern schrägen Wänden – und schließlich ein 9 m hoher, vertikal orientierter Galeriebereich, der sich bei Bedarf durch eine Zwischendecke unterteilen lässt. Von den Fenstern abgesehen, bestimmen schmale vertikale Holzleisten das Innere – Wände ebenso wie Decken und Boden, weil im Twist das eine in das andere übergeht. Alles ist weiß gestrichen, ohne permanente Reinigung – gerade in den feuchten Herbsttagen – geht das nicht. Und abends, so erklärt es eine freundliche Aufsichtskraft, muss der Boden stets neu gestrichen werden. Weil die Wandfarbe, für die der Architekt sich entschieden habe, eben für den Boden nicht recht geeignet sei.

Puristen, die sich am liebsten in klassischen Museumsräumen bewegen, mögen sich hier so manche Frage stellen. Doch BIG ist es gelungen ein spannungsvolles Raumgefüge zu inszenieren, das zwischen Architektur und Skulptur oszilliert. Drei unterschiedliche Räume verbinden sich: Panoramic Gallery, Twisted Gallery und Closed Gallery, mit einer Ausstellungsfläche von insgesamt 800 m². In der Eröffnungsausstellung ist die Bespielung jedenfalls gelungen. Dialogisch zueinander treten die britischen Künstler Howard Hodgin – mit ihm begann Sveaas 1990 seine inzwischen 1 700 Werke umfassende Sammlung zeitgenössischer Kunst – und Martin Creed. Der Twist dient saisonal wechselnden Sonderausstellungen und nicht einer Querschnittspräsentation der umfangreichen Sammlung. Er beweist, dass es Alternativen zu Black Box und White Cube gibt, selbst wenn die Platzierung von Bildern auf den schrägen Flächen der Twisted Gallery vielleicht nicht jedermanns Sache ist.

Unbedingt lohnend ist aber auch ein Besuch der unterhalb der Treppe gelegenen Toiletten im UG. Nicht nur wegen der Videos von Tony Oursler, sondern auch, weil die Idee der tordierten Balken in anderer Materialität fortgesetzt wird – und sich vom Vorraum aus den Augen ein beeindruckendes Landschaftspanorama unter dem Gebäude darbietet.

db, Mo., 2019.12.09

09. Dezember 2019 Ulrike Kunkel

Wenn, dann doch gleich richtig

(SUBTITLE) Korkhaus in Eton

Das kleine, ganz aus massiven Korkblöcken und etwas Holz errichtete Wohnhaus in der Einflugschneise des Flughafens Heathrow kommt fast ganz ohne Folien und Kleber aus. Rechnerisch ist im verwendeten Material mehr CO2 gebunden als über den gesamten Lebenszyklus des atmosphärisch gestalteten Gebäudes je abgegeben wird.

Aus dem Unbehagen heraus, dass selbst beim Bauen mit Naturbaustoffen meist nicht ohne eine Vielzahl von Folien, Klebern, metallischen und mineralischen Bauteilen auszukommen ist, haben sich Dido Milne und ihr Partner Matthew Barnett Howland überlegt, wie der üblicherweise komplexe Schichtaufbau von Wänden und Dächern maximal zu reduzieren sei.

Ihre Erkenntnisse aus langjährigen Recherchen und der Zusammenarbeit mit verschiedenen Instituten und Firmen sind in ein Experiment im Maßstab 1:1 geflossen, das vermutlich nur zustande kommen kann, wenn wie hier Bauherr, Architekt und Bauunternehmer in Personalunion agieren: ein ganz aus Kork aufgeschichtetes, kleines Wohnhaus, dessen eigentümliche Formen Sehgewohnheiten hinterfragen und ein wenig das Klischee britischer Exzentrik bedienen.

Wunder-Material?

Die Suche nach einem Material, das Wandbaustoff, Dämmung, Fassade und innerer Raumabschluss zugleich sein kann, führte die Architekten zu Backkork – einem natürlichen, naturnah belassenen Werkstoff mit bisweilen unwahrscheinlich erscheinenden Eigenschaften, von wasserdicht und gleichzeitig diffusionsoffen, über schwer entflammbar bis hin zu schimmelresistent und insektensicher. Aus Stanzabfällen der Flaschenkorkenproduktion werden unter Einwirkung heißen Wasserdampfs Blöcke oder Platten gepresst. Dabei dehnen sich die Korkpartikel aus, was die Dämmeigenschaften optimiert. Zudem tritt Harz (Suberin) aus, das die Partikel umfließt, um sich beim Erkalten wieder zu verfestigen; künstlicher Bindemittel bedarf es somit nicht.

Mit ihren professionellen Partnern zusammen haben die Architekten Bausteine entwickelt, die sich über Nuten und Falze unverschieblich aufeinanderstapeln lassen, um daraus sowohl die Hauswände wie auch die Dächer aufzuschichten. Kaum zu glauben: Die vom Roboter akkurat gefrästen Korkblöcke (hier kam die Bartlett School of Architecture ins Spiel) sitzen ganz ohne Mörtel, Kleber oder sonstige Ausgleichsschichten aufeinander, allein durch Reibung und den Druck aus dem Eigengewicht der Konstruktion verbleiben sie an Ort und Stelle und – man staune – sind luft- und wasserdicht. Nebenbei bemerkt: Aus dem Fräsabfall wurden Briketts zum Heizen der Fräswerkstatt gepresst.

Einziger Wermutstropfen: ein 10 mm dickes selbstklebendes Komprimierband auf der wetterabgekehrten Seite, also innen, das Luftströme hemmt, sollten in den Fugen doch einmal Spalte entstehen.

Dem Bau des Hauses gingen umfangreiche Tests voraus: Zusammen mit der University of Bath und der BRE Group wurden im Labor einzelne Elemente auf Bewitterung, Dichtigkeit, Feuerbeständigkeit, Dämmeigenschaften usw. hin geprüft.

Die Statiker hatten das richtige Verhältnis zwischen Materialdichte (Tragfähigkeit) und Dämmeigenschaften (Wanddicke) und daraufhin auch das Kriechverhalten (Kommpression bei Auflast) zu berechnen.

Man ließ sich Zeit – auch um die nötigen Fördergelder anzapfen zu können – und erkundete die Eigenschaften von Material und Konstruktion über die Jahreszeiten hinweg zunächst anhand von Prototypen, die immer noch im Garten stehen und seit Jahren der Witterung trotzen. An ihnen wurde deutlich, dass ein ausgeklügeltes System aus Dränagerinnen innerhalb der Blockstruktur unbrauchbar und an den Materialeigenschaften vorbei gedacht war. Vielmehr durfte man zur Kenntnis nehmen, dass der Kork unabhängig von Fugen und Rinnen Feuchtigkeit durch Diffusion ebenso leicht wieder abgibt wie er sie bei Regen aufnimmt.

Form und Lebenszyklus

Einmal gebacken, lässt sich der Kork zwar nicht mehr neu in Form pressen, dafür aber als Granulat für diverse andere Anwendungen, v. a. im Außenbereich hernehmen. Biologisch abbaubar ist er ohnehin. Der Grundstoff, die feuerhemmende Rinde der Korkeiche, kann alle neun Jahre geerntet werden. Das regelmäßige Schälen erhöht sogar den Feuerwiderstand der Bäume durch die Bildung einer noch dickeren Korkschicht. Korkeichen binden etwa fünf mal so viel CO2 wie andere Baumarten, und der Betrieb von Korkplantagen gilt mitunter als besonders nachhaltig, weil das Entfernen von Buschwerk mögliche Brandherde eliminiert und erstaunlicherweise eine höhere Biodiversität hervorbringt.

Die 1 268 Korkblöcke, aus denen das gesamte Korkhaus besteht, sind so dimensioniert, dass sie sich leicht von einer Person bewegen lassen. Matthew Barnett Howland ist stolz, ohne Gerüst oder Hilfskonstruktion die meisten Blöcke selbst von Hand eingebaut zu haben – und alles auf demselben Wege wieder auseinandernehmen zu können.

Als Fundament dienen 14 Stahlschrauben auf der eine (korkgedämmte) Bodenplatte aus Kreuzlagenholz (Fichte) aufliegt. Darauf lagern die Korkblöcke, die es trotz Breite und präzisem Zuschnitt statisch in sich haben – um Bauchungen und Kippen zu verhindern mussten die frei stehend errichteten Wände solange mit Hölzern und Spannriemen zusammengebunden werden, bis die Stürze und Ringbalken aus acetyliertem Holz eingebaut waren und das statische System wirksam wurde.

Ihren Grundgedanken in Bezug auf nachhaltiges Bauen umschreiben die Architekten mit dem Schlagwort »form follows life-cycle«. Dabei versuchen sie, alle Aspekte von der Materialerzeugung, über das Zusammenfügen und die Nutzung bis hin zu Demontage und Wiederverwertung gedanklich zu durchdringen. Dido Milne betont dazu, dass eine Konstruktion umso nachhaltiger ausfällt, je simpler die Geometrie gehalten wird, denn mit jeder Verschneidung wächst der Bedarf an Sonderlösungen mit viel Verschnitt, weiteren Materialien und letztlich Abfall.

Daraus erklärt sich die eigentümliche Struktur des Gebäudes, das sich aus fünf, jeweils von einem Pyramidendach bekrönten Kompartimenten zusammensetzt. Die Frage, wie auch ein Dach einheitlich aus Kork, ohne separate Haut und ohne Sparren ausgeführt werden kann, führte zum uralten Prinzip des falschen Gewölbes, wie man es etwa aus Mykene oder auf den britischen Inseln von Bienenkorb-Häusern her kennt. Schicht um Schicht kragen die Korkblöcke raumwärts ein wenig aus und formen so hohe Dachräume, die dem Innern eine erstaunliche Großzügigkeit verleihen.

Wohngefühl

Das Grundstück mit einem denkmalgeschützten Mühlenhaus aus dem frühen 19. Jahrhundert, das man sich nach der Veräußerung deutlich weniger idyllisch gelegener Liegenschaften leisten konnte, bietet drei unterschiedliche Gartenbereiche. Das Korkhaus fungiert als Trennung und zugleich als Bindeglied zwischen den beiden rückwärtig gelegenen. Die erste von fünf Pyramiden überdeckt eine Art zweiseitig geöffnete Loggia, von der aus Haus und Garten zugänglich sind. Die zweite beinhaltet das Bad und darüber eine per Leiter erreichbare Ebene mit denkbar einfach gehaltenen Gästebetten.

Nummer 3 und 4 überspannen die Essküche und das Wohnzimmer. Dahinter folgt, abgetrennt, das Schlafzimmer.

Von 44 m² BGF ist die Rede. Das Haus wirkt größer. Dazu trägt sicher die Höhe der Räume bei und auch das großflächige Schiebefenster im Wohnzimmer, das den Garten von Norden her förmlich hereinholt. Es mag aber auch am dunklen Material der Wände liegen, das enorme Mengen Lichts schluckt und der Eindeutigkeit der Raumbegrenzung entgegenwirkt. Nach Süden hin gibt es kaum Öffnungen, denn man schaut nur auf eine Gartenmauer und das städtische Wasserwerk. Entsprechend staunt der Gast über den Raumeindruck, denn der ist durchaus kein düsterer. Selbst an einem wolkenverhangenen Tag erscheinen alle Gegenstände und Personen hell, sind sie doch in Zenitallicht getaucht, das aus den Oberlichtern herunterflutet – Oberlichter deren Gewicht im Übrigen bewirkt, dass die Korkschichten auch bei Sturm an Ort und Stelle verbleiben.

Hell sind auch die Böden aus aufgeschraubten, rau gesägten Eichendielen. Sie sind nicht hundertprozentig plan – die an anderen Stellen gepflegte Akkuratesse war hier nicht gewünscht, um ein Materialgefühl, die Faserigkeit des Werkstoffs, auch beim Gehen zu vermitteln. Hell auch Teile der beiden Schrankeinbauten, die als Scheiben der Queraussteifung dienen und neben Stauraum auch Platz für die Küchen- und Badarmaturen aus Messing bieten.

Vertraut wirkt die Hörsamkeit, wie in einem Blockhaus, recht ungewohnt hingegen die Mauerwerksanmutung der im Verband gesetzten Korkblöcke, deren Oberflächen auf Druck ganz leicht nachgeben.

In allen Einzelbereichen des kleinen Hauses ergibt sich ein merkwürdig zwittriger, gleichzeitig höhlig-gemütlicher aber auch offen-heller Raumeindruck, der kaum attraktiver sein könnte. … sicher nicht für jedes Gemüt geeignet, spätestens wenn der Holzofen bollert, aber behaglich und idealer Ausgangspunkt für »hyggelige« Gefühle, zumal überall der leicht rauchige, durchaus nicht aufdringliche typische Duft des gebackenen Korks präsent ist.
Das Korkhaus kann sicherlich nicht als Blaupause für flächendeckendes Bauen dienen. Als Experiment und Prototyp seiner selbst führt es aber den Beweis, dass die Kombination aus Natur-Materialien, altbewährten einfachen Konzepten und neuen Techniken zu vertretbarer Bautätigkeit führen kann.

Es gilt dranzubleiben und nach allen Richtungen zu forschen.

So bleibt abzuwarten, wie das Haus altert – voraussichtlich wird es weder Patina noch Flechten oder Moos ansetzen. Allein die Farbe kann sich unter UV-Einwirkung leicht verändern und, wenn es klappt, im selben Maße vergrauen wie die schützenden Planken aus dem Holz der Riesen-Thuja auf dem Dach.

Und es ist auch noch gar nicht geklärt, ob Dido und Matthew selbst einziehen, sobald der Hype um das Haus abgeklungen ist, oder ob doch die Mutter das Häuschen für sich allein haben darf.

db, Mo., 2019.12.09

09. Dezember 2019 Achim Geissinger

Innere Größe

(SUBTITLE) Haus mit zwei Wohnungen in Pfinztal-Berghausen

Das kleine Gebäude mit zwei Mietwohnungen, das einen Puffer zwischen dem Haus der Bauherren und einer stark befahrenen Straße bildet, ist ein Anlageprojekt. Mit ihm ist Milla Architekten aus Karlsruhe vermeintlich Unvereinbares gelungen: an einem Standort mit herausfordernden Bedingungen kostengünstigen und zugleich großzügig wirkenden Wohnraum in hoher architektonischer Qualität zu verwirklichen.

Berghausen ist mit seinen rund 8 000 Einwohnern der größte von vier Ortsteilen der zwischen Karlsruhe und Nordschwarzwald gelegenen Gemeinde Pfinztal. Mit zwei Bundesstraßen und dem Quellverkehr, der durch die notwendigen Wege zwischen den vier Ortsteilen entsteht, kämpft auch Berghausen wie die meisten Orte im Umkreis größerer Städte mit einer enormen Verkehrsbelastung.

Objekt statt Häuschen

Der stark befahrene Straßenabschnitt unweit einer der drei S-Bahn-Stationen von Berghausen wird im Süden von einer geschlossenen, vorwiegend zweigeschossigen Bebauung relativ einfacher Wohngebäude gefasst. Nach Norden hin, wo vormals die großzügigen, ansteigenden Vorgärten der Doppelhäuser aus den 20er Jahren das Straßenbild prägten, wurden über die letzten Jahre sehr konventionelle Wohnbauten etwas zurückgesetzt von der Straße errichtet. Neben einer der letzten Lücken in der Reihe dieser Allerweltsbauten fällt ein Gebäude deutlich aus dem ernüchternden Rahmen. Obwohl jüngeren Datums, erweckt es aufgrund der furchtlos kräftig proportionierten Traufdetails und dem Gestaltungsansatz, Fenster als eigenständige Fassadenabschnitte und nicht als Öffnungen in geschlossenen Außenwänden zu definieren, 70er-Jahre-Assoziationen. Das diese zeitliche Zuordnung allerdings nicht zutreffen kann, wird in Anbetracht der schlecht gealterten Nachbargebäude aus den 80er bis 2 000er Jahren deutlich. Auch die fast durchgängig graue Farbigkeit und das flach geneigte Satteldach sprechen dagegen. Das Motiv der an den beiden Traufseiten nach oben hin geschossweise um 25 cm nach außen vorspringenden Fassade wiederum erinnert an die Bauweise mittelalterlicher Fachwerkgebäude und gibt einen ersten Hinweis auf die Holzbauweise, in der das Gebäude errichtet wurde. Zusammen mit der durchgängigen Farbigkeit von lasierten, vertikal angeordneten Holzlatten und matten, verzinkten Blechoberflächen ergibt sich so, insbesondere übereck betrachtet, ein geradezu skulpturaler Charakter – und dies nicht zufällig: Die verantwortlichen Planer des Büros Milla Architekten aus dem nahen Karlsruhe strebten bei Entwurf und Realisierung an, dem Haus objekthafte Charakterzüge zu verleihen, um es möglichst vor der sonst oft im privaten Wohnungsbau aufkommenden Banalität zu bewahren – mit Erfolg. Im Falle der Blechdeckung des Dachs kam zu diesem Zweck trotz Kostendeckelung sogar ausnahmsweise (statt einer Betonsteindeckung) nur die zweitgünstigste Ausführung zum Einsatz.

Die Giebelseite auf der Grenze zum Nachbarn im Westen wurde aus Brandschutzgründen mit Wellblech bekleidet: Hier wird früher oder später angebaut und damit die letzte größere Lücke entlang der Straße geschlossen.

Nebeneinander statt übereinander

Üblicherweise würden bei der Bauaufgabe, zwei Wohnungen von jeweils ca. 65 m² Wohnfläche in einem Gebäude unterzubringen, die beiden Wohnungen übereinandergestapelt und über einen Hauszugang und ein gemeinsames Treppenhaus erschlossen. Nicht so in diesem Fall: Trotz der relativ geringen Größe der beiden Wohneinheiten, sollte ihnen zu gleichen Teilen der Vorteil eines OGs zugutekommen. Bei zwei übereinanderliegenden Wohneinheiten hätten sich wegen der Hanglage und der Nähe zur lauten Straße eine Kellerwohnung mit Stau vor dem Fenster und eine privilegierte, helle Wohnung im OG ergeben. Und so dient der »Vorgarten« des Gebäudes auch nicht wie bei den Nachbarn als nur unzulänglich vor Lärm und Blicken geschützter Freisitz, sondern wird von der geschotterten Fläche zweier Stellplätze bestimmt. Der eigentliche Freisitz ist zwar ebenfalls nicht vor dem Straßenlärm geschützt, liegt aber eine Etage höher, auf einem Balkon.

Um nicht Assoziationen an ein Doppelhaus aufkommen zu lassen, läuft die Fassadengliederung der Traufseiten jeweils bruchlos von Giebelwand zu Giebelwand durch. Die wechselnd übereinander angeordneten geschlossenen Fassadenabschnitte und die Fensterbänder in Gebäudebreite verunklären, dass das Haus im Innern vertikal geteilt ist und tragen so ihren Teil zur objekthaften Wirkung des Baukörpers bei. Lediglich die beiden Hauseingänge und die flankierenden Zugänge zum Abstellraum verweisen darauf, dass hier zwei Wohneinheiten nebeneinander angeordnet sind.

Die Grundrisse der beiden jeweils über alle Geschosse ineinander übergehenden Wohnungen sind spiegelsymmetrisch zueinander angeordnet. Im massiven EG findet sich, erschlossen über je einen kleinen Eingangsbereich, neben einem funktionalen Duschbad auch der ansonsten einzige abgeschlossene Raum der beiden Wohnungen mit Ausblick auf die hinter dem Haus ansteigende Wiese. Bereits unmittelbar hinter der Haustür eröffnet die Deckenaussparung der einläufigen Holztreppe, die zum eigentlichen Wohngeschoss hinaufführt, den Blick entlang der Giebelwand bis unter das geneigte Dach.

Das OG wirkt mit Zementestrichboden, unbehandelten Holzoberflächen der Deckenuntersicht sowie weniger Abschnitte der Wände, die sich ansonsten fast überall in Form gespachtelter und weiß gestrichener Trockenbauplatten zeigen, licht und großzügig. Der lang gestreckte Raum wird von Tageslicht, das durch die festverglasten Oberlichter beider Traufseiten (an der Gartenseite mit mattierter Verglasung) sowie die Fenstertüren zum Balkon auf der Straßenseite fällt, förmlich geflutet. Über eine Treppenleiter ist zudem noch eine kleine Galerie zu erreichen, die in der kompakten Wohnung Platz für einen Schreibtisch oder ein Bett bietet.

Die tatsächlich kostengünstige und schnelle Ausführung des eineinhalbgeschossigen OGs in Holzbauweise gründet sich auch auf die guten Vorkenntnisse die sich Boris Milla bei vorangegangenen sowohl planerischen als auch forschenden Tätigkeiten (u. a. bei Florian Nagler Architekten, Meck Architekten und am KIT bei Ludwig Wappner) aneignen konnte. Er wusste also, worauf er sich mit einem Holzbau einlässt und konnte den besonderen Herausforderungen während der Planung und Realisierung gerecht werden. Dies geschah auch in regem Austausch mit dem auf Holzbau spezialisierten Tragwerksplaner Peter Metzger (HOLZBAU INGENIEURE aus Karlsruhe). Dessen Vorschläge zur Optimierung des Tragwerks zogen teilweise gestaltbestimmende Modifikationen des Gesamtentwurfs, wie z. B. den aussteifenden Stahlrahmen, der der Straßenfassade im Bereich der Balkone vorgesetzt wurde, nach sich. Boris Milla, ganz dem Prozesshaften des Bauens verpflichtet, sieht darin sympathisch uneitel die »Nutzbarmachung bis dahin schlummernder Potenziale«. Bei der Umsetzung von Wärmedämmung, Fußbodenheizung und Luftwärmepumpe hielt man sich ganz pragmatisch und möglichst kostengünstig an die Vorgaben der EnEV.

In den lichten Räumen der beiden Wohnungen entfaltet sich dank der durchdachten Detaillierung und Anordnung der wenigen räumlich wirksamen Elemente über mehrere zueinander geöffnete Etagen eine Großzügigkeit, die sich auf dem Mietwohnungsmarkt ansonsten nur selten findet. Diese »innere Größe« den Bewohnern zur Verfügung zu stellen, ist aber auch der bewusste Versuch der Planer, einen Ausgleich zum mangelnden Abstand bedrängender äußerer Faktoren herzustellen. Um in Anbetracht der Nachverdichtung aller Orten vermehrt auch an vermeintlich unattraktiven Standorten Wohnraum zu realisieren, ist dies ein zukunftsträchtiger Ansatz, weil er neben den möglichst geringen Baukosten insbesondere das Wohl der Nutzer im Blick hat.

db, Mo., 2019.12.09

09. Dezember 2019 Martin Höchst

31. 1969

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