Editorial

Wien feiert dieses Jahr bekanntlich 100 Jahre Rotes Wien, eine Ära die, wie man ohne Übertreibung behaupten kann, weltweit Maßstäbe für die Wohnraumversorgung gesetzt hat. Nicht oft genug kann man darauf hinweisen, dass das Rote Wien nicht nur der Gemeindebau, sondern auch die SiedlerInnenbewegung war. Sie hat es in einer Zeit unglaublicher Not geschafft, mit bewundernswert schlauen Maßnahmen die von Materialbeschaffung über Finanzierung bis zur Arbeitsorganisation und Bodenbeschaffung reichten, Wohnraum für tausende Familien zu schaffen und selbstorganisiert zu verwalten. Einige der besten ArchitektInnen der damaligen Zeit haben sich für die SiedlerInnenbewegung engagiert, darunter Margarete Schütte-Lihotzky, Josef Frank oder Adolf Loos, Otto Neurath war eine ihrer zentralen Figuren.

Leider verlor die SiedlerInnenbewegung nach anfänglicher Unterstützung, vor allem durch Jakob Reumann, den ersten Bürgermeister des Roten Wien, rasch an Bedeutung. Die große Chance, die demokratischen Alltagserfahrungen, die gemeinwirtschaftliche Expertise und die Fähigkeit zur kollektiven Selbstorganisation der SiedlerInnenbewegung in die DNA der SDAP (heute SPÖ) aufzunehmen, wurde damals vergeben und bis heute nicht mehr aufgegriffen.

Klaus Novy, dem leider viel zu früh verstorbenen Experten für die SiedlerInnen- und Genossenschaftsbewegung, ist es unter anderem zu verdanken, dass die Geschichte der Wiener SiedlerInnenbewegung nicht auf ewig unentdeckt blieb. Er hat zahlreiche Texte darüber publiziert und in den 1980er-Jahren eine Ausstellung über die SiedlerInnenbewegung zusammengestellt, die in Wien und zahlreichen deutschen Städten zu sehen war. Auch die GründerInnen des Mietshäuser Syndikats sind irgendwann auf Texte von Klaus Novy gestoßen und haben von ihm die Idee des Solidarfonds aufgegriffen, der heute sowohl Teil des Konzepts von Mietshäuser Syndikat und Habitat als auch den jungen Schweizer Genossenschaften ist.

In dieser Ausgabe zur Wohnungsfrage veröffentlichen wir einen Text von Klaus Novy aus den frühen 1980er-Jahren, weil er den Schwerpunkt bereichert, aber natürlich auch, weil er im Jubiläumsjahr auf die weniger bekannten Wohnkonzepte des Roten Wien verweist. Über die jungen Schweizer Genossenschaften haben wir ein ausführliches Interview mit Andreas Wirz, einem Mitbegründer der Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 und Vorstand im Regionalverband Zürich der Wohnungsbaugenossenschaften Schweiz, geführt. Sieht man sich an, wo die Ursprünge all dieser Bewegungen (Siedle- rInnenbewegung, Mietshäuser Syndikat, Schweizer Genossenschaftsbewegung) liegen, stößt man schnell auf Haus- bzw. Landbesetzungen. Das zeigt, dass in kollektiver Selbstorganisation eine hohe Innovationskraft und ein demokratiepolitisches Potential liegen, die, wie bei der Wohnungsfrage sichtbar wird, für gesellschaftspolitische Herausforderungen immer wieder gute Lösungen ermöglichen. Die Notwendigkeit einer MieterInnen-Selbstorganisation am Beispiel Los Angeles verdeutlicht der Schwerpunkttext von School of Echoes über den Aufbau der LA Tenants Union.

Wer dérive regelmäßig liest, dem wird nicht entgangen sein, dass wir dem Konzept, Wohnraum als Ware zu behandeln, ablehnend gegenüberstehen, weil es gesellschaftlich höchst unerwünschte Folgen zeitigt. Wohnen ist ein nicht substituierbares Gut und daher ein UN-Menschenrecht. Es gab und gibt zahlreiche Möglichkeiten, der Spekulation mit Wohnraum einen Riegel vorzuschieben, umso unverständlicher ist es, dass es mittlerweile trotzdem als normaler Vorgang gilt, wenn Wohnhäuser in immer kürzeren Abständen die EigentümerInnen wechseln. Aus einer nicht profitorientierten Perspektive erscheint es im Sinne des Gemeinwohls völlig absurd, dass jede/r EigentümerIn aufs Neue erwarten darf, mit einem durch meist jahrzehntelange Mieteinnahmen längst abbezahlten Haus Profit zu machen. Ebenso absurd ist es, gut 40 Jahre nach Maggie Thatchers katastrophaler Right-to-buy-Politik, wenn eine österreichische Regierung in der aktuellen Lage am Wohnungsmarkt beschließt, den Verkauf von gemeinnützigen Wohnungen zu erleichtern, wie es vor wenigen Monaten passiert ist. Nichts anderes lässt sich über die Möglichkeit von befristeten Mieten oder Lagezuschlägen sagen. Das Wiener Forum Wohn-Bau-Politik hat sich angesichts der ungeklärten Probleme, der verhärteten Positionen der Parteien und der fehlenden Lösungsorientierung auf Bundesebene in Sachen Wohnungsfrage entschlossen, selbst einen Wohnrechtskonvent zu organisieren, der seit einigen Monaten läuft. Wie der Stand der Dinge ist, berichtet Barbara Ruhsmann in ihrem Beitrag für den Schwerpunkt.

Des Weiteren bietet der Schwerpunkt einen Beitrag über die Positionen zur Wohnungsfrage von rechtsextremen Parteien wie der AfD sowie der FPÖ und ein Interview über die Situation von Wohnungs- und Obdachlosen in Wien. Mehr über das Schwerpunktthema und die einzelnen Beiträge findet sich im Einleitungsartikel.

Seit dem letzten urbanize! Festival, das im Oktober 2018 in der Wiener Nordbahnhalle stattgefunden hat, engagieren wir uns für den Erhalt dieses wichtigen Raums, dem der Abriss droht. Wie es dazu kam, wie der Stand der Dinge ist und wie es weitergehen soll, ist im Magazinteil nachzulesen. Wer sich uns anschließen oder uns unterstützen will, ist herzlich willkommen.
Einer Halle, die in Wien vor genau 40 Jahren abgerissen wurde und die ebenfalls die Chance geboten hätte, ein Stadtteilzentrum zu werden, widmet Andreas Zeese einen Artikel in diesem Heft. Darin geht es nicht nur um die damals kurzfristig besetzte Halle, sondern um einen ganzen Stadtraum, der aus dem Wiener Stadtbild verschwundenen ist.

Das zehnte urbanize! Festival steht vor der Tür und widmet sich mit dem Jubiläumsprogramm Alle Tage Wohnungsfrage dem Wohnen aus der Perspektive von Architektur und Stadtplanung, Politik und Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie – und fahndet dabei nach konkreten Utopien fürs Wohnen der Gegenwart und Zukunft. Wir freuen uns auf interessiertes und diskussionsfreudiges Publikum.

Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—05
Alle Tage Wohnungsfrage!
Christoph Laimer

06—12
»Teilt alles und spielt fair«
Andreas Wirz

13—18
Von Schlafsiedlungen und dem
Traum vom Einzelhaus
Die Wohnungsfrage im Diskurs der Rechten
Peter Bescherer, Gisela Mackenroth, Luzia Sievi

18
FPÖ-Positionen zur Wohnungsfrage
Silvester Kreil

19—26
La comuna o nada
Building an Autonomous Tenants Movement in Los Angeles
School of Echoes

27—31
Der Wohnrechtskonvent
Ein konsultativ-demokratisches Experiment
Barbara Ruhsmann

Kunstinsert
32—36
Claudia Märzendorfer
Für die Vögel

Schwerpunkt
37—38
Recht auf Wohnen
Initiative Sommerpaket

39—45
»Die Pioniere vom Rosenhügel«
Zur wirklichen Revolution des ArbeiterInnenwohnens durch die Wiener SiedlerInnen
Klaus Novy

Magazin
46—52
Der vergessene Stadtraum
Wie der Wiener Phorusplatz entstand – und wieder verschwand
Ein Beitrag zur Geschichte des öffentlichen Raums in Wien
Andreas Zeese

54—57
Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum
Christoph Laimer, Elke Rauth

Besprechungen
58—61
S. 58 Tech-Urbanismus, (an)greifbar gemacht
S. 59 Steirische Wohnbau-Identitätspolitik
S. 60 Betroffenheit kollektivieren, Wohnungsfrage politisieren

Impressum

Alle Tage Wohnungsfrage

»In der Umgehung des Kapitalmarktes
liegt die entscheidende Option einer neuen Wohnungspolitik.«
Novy 1982, S. 52

Das Witzige am Wohnen ist, dass es einerseits so selbstverständlich und alltäglich ist, es sich andererseits jedoch als furchtbar schwer herausstellt, es zu definieren. Wenn man geht, schläft oder isst, ist relativ klar, was man macht, aber was tut man, wenn man wohnt? Ein Blick ins etymologische Wörterbuch bringt wohnen in Zusammenhang mit gewöhnen und gewohnt, aber auch mit Wonne. »Lieben, schätzen«, ist zu lesen, »wäre demnach die Ausgangsbedeutung« (Kluge 2002, S. 995). Viel einfacher ist es mit der Wohnungsfrage. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird sie breit diskutiert und ist aufs Engste mit der Industrialisierung und dem Städtewachstum verknüpft. Ausschlaggebend für ihr Auftauchen ist, dass die Schaffung von Wohnraum ein Geschäftsmodell und Wohnraum somit zur Ware wurde.

Wohnen ist ein nicht substituierbares Gut und daher ein UN-Menschenrecht. Wir alle müssen Wohnen und brauchen ein Dach über dem Kopf. Wohnformen sind mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen unauflöslich verbunden und dadurch geprägt. Das reicht von den feudal und patriarchal geprägten Zeiten, in denen Bauer und Knecht sowie Handwerker und Geselle unter einem Dach lebten, zu den späteren, von Unternehmern geschaffenen Arbeiterunterkünften, über das kleinfamiliäre Massenwohnen der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert bis zu den Gated Communities und der Warenförmigkeit des Wohnens in der neoliberalen Gegenwart. Die Wohnungsfrage berührt Fragen der Ökonomie und Politik, der Ökologie und Nachhaltigkeit, der Architektur und Soziologie gleichermaßen.

Setzt man Wohnung nicht einfach nur mit Behausung gleich, zeigt sich, so seltsam es auch klingen mag, dass nicht immer schon gewohnt wurde. Wohnen im heutigen Sinne ist eine Folge gesellschaftlicher Verhältnisse und war nicht immer Teil menschlichen Lebens. Hartmut Häußermann und Walter Siebel setzen die Anfänge des Wohnens mit der Entstehung von Lohnarbeit und Freizeit an. Lohnarbeit findet nicht in der eigenen Unterkunft, sondern an einem externen Ort statt. Die unproduktiven Zeiten verteilen sich nicht mehr über den ganzen Tag, sondern werden am Ende des Arbeitstags konzentriert, wodurch erst so etwas wie Freizeit entsteht. »In diesem Prozess der räumlichen und zeitlichen Abspaltung von Teilen der produktiven Arbeit entsteht auch erst Wohnen im heutigen Sinn als räumliches, zeitliches und inhaltliches Gegenüber zur im Betrieb organisierten beruflichen Arbeit. Der Haushalt steht nicht mehr im Mittelpunkt der Wirtschaft. Markt und Erwerbswirtschaft drängen Selbstversorgung und ›Unterhaltswirtschaft‹ (Egner) an den Rand.« (Häußermann & Siebel 2000, S. 24–25)

Die Entwicklung vom »Ganzen Haus als autarker Selbstversorgungseinheit von Produktion und Konsum hin zum städtischen Konsumentenhaushalt« (ebd., S. 26) sowie derjenigen vom Großhaushalt von mehreren Familiengenerationen sowie Dienstpersonal, Gesellen, Knechten, Mägden hin zur Zweigenerationen-Kernfamilie schien unaufhaltsam. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch gezeigt, dass es in beiden Bereichen zu einer Umkehr dieses Prozesses kommt oder die Entwicklung eine Abzweigung nimmt – wenn auch anfangs nur in Nischen und einzelnen Teilbereichen. Sowohl kollektive Wohnformen abseits der klassischen Kleinfamilie als auch der Wohnraum als Ort der Arbeit, Produktion und Selbstversorgung sind längst nicht mehr rein historische Motive oder Phänomene in weniger entwickelten Weltgegenden. Sie sind viel eher dabei, zu Modellprojekten für ein neues Zusammenleben in westlichen Städten zu werden, in denen Themen wie Wohnkosten, Vereinzelung, Nachhaltigkeit und Selbstverwirklichung immer wichtiger werden. Die Mängel des fordistischen Massenwohnens werden dadurch ein weiteres Mal transparent. Es braucht daher dringend Alternativen, die es längst und zunehmend vermehrt und vielfältiger gibt, wie wir in diesem Heft zeigen.

Eine der erwähnten Alternativen sind die Hausprojekte der jungen Schweizer Genossenschaften. Ungefähr zur selben Zeit als in Deutschland das Mietshäuser Syndikat gegründet und in Wien am Wohn- und Kulturprojekt Sargfabrik geplant wurde, erschien in Zürich eine Broschüre, die das Konzept für Kraftwerk1 dargelegt hat. Einige Jahre später war die Genossenschaft Kraftwerk1 gegründet und das erste Hausprojekt Hardturm umgesetzt. Mit Andreas Wirz, einem der damaligen Initiatoren und dem heutigen Vorstand im Schweizer Verband der Wohnbaugenossenschaften, haben wir für diesen Schwerpunkt ein Interview geführt. Eine interessante Erkenntnis dabei: Die Erfahrungen aus den Züri-brennt-Hausbesetzungen in den 1980er-Jahren waren für die Genossenschaften in Zürich genauso wichtig wie die Häuserkämpfe in Freiburg für das Mietshäuser Syndikat. Sie haben neben vielem anderen maßgeblich beeinflusst, welche Rolle Mitbestimmung und Selbstorganisation spielen oder welche neuen Wohntypologien sich entwickelt haben.

Um Selbstorganisation geht es auch im Artikel der Initiative School of Echoes Los Angeles, allerdings in Zusammenhang mit MieterInnenkämpfen in Los Angeles. Die AutorInnen sehen in Selbstorganisation nicht nur die einzige Chance, die Lebens- und Wohnverhältnisse für MieterInnen tatsächlich zu verbessern und Kämpfe zu gewinnen, sondern auch als »an experience of the possibility of true participatory democracy«. Ihr Artikel ist eine radikale Kritik sowohl des NGO‐Non‐Profit‐Sektors als auch des US-amerikanischen Housing Movements.

Für Wohnungs- und Wohnrechtsfragen sind in Österreich viele Behörden, Magistrate und Ministerien auf unterschiedlichen Ebenen zuständig. Darüber hinaus gibt und gab es zwischen den ehemals bestimmenden Parteien ÖVP und SPÖ immer schon sich gegenseitig ausschließende ideologische Positionierungen. Wie auch im aktuellen Wahlkampf deutlich sichtbar, ist für die rechtskonservative ÖVP das Thema Wohnungseigentum von zentraler Bedeutung, während die SPÖ in ihrer aktuellen Kampagne die Mieten durch Abschaffung der Umsatzsteuer senken will. Die Voraussetzungen für eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen fürs Wohnen sind auf Bundesebene also denkbar schlecht. Das Forum Wohn-Bau-Politik hat deswegen einen Wohnrechtskonvent gestartet, um mit BürgerInnen und ExpertInnen über ein Jahr hinweg im Dialog mit politisch Verantwortlichen ein Weißbuch für ein neues österreichisches Wohnrecht zu erarbeiten. Wie es dazu kam, was die Erwartungen und die entscheidenden Knackpunkte sind, stellt Barbara Ruhsmann in ihrem Artikel Der Wohnrechtskonvent – ein konsultativ-demokratisches Experiment vor.

Die Krise der Wohnraumversorgung, insbesondere in den wachsenden Großstädten, ist eine drängende sozialpolitische Frage. Kein Wunder also, dass sich auch die rechtsextremen Parteien AfD und FPÖ dazu positionieren. Wie nicht anders zu erwarten, verknüpfen sie auch diesen Themenbereich mit Migrations- und Sicherheitspolitik und vertreten nationalistisch-sozialprotektionistische Ansichten, gleichzeitig setzen sie auf Eigentum und unterstützen marktliberale Positionen. Diese Ansprüche sind nicht immer unter einen Hut zu bringen, eine inhaltlich stringente Politik kaum möglich.

Statements und Reaktionen enthalten je nach Situation und Konstellation immer wieder auch widersprüchliche Inhalte. Peter Bescherer, Gisela Mackenroth und Luzia Sievi analysieren in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt, wie die AfD mit der gegenwärtigen Wohnungsfrage umgeht. Silvester Kreil hat sich die diesbezügliche Politik der FPÖ angesehen.

Den Abschluss des Schwerpunkts bildet ein Interview mit der Initiative Sommerpaket. Sie spielt mit ihrem Namen darauf an, dass Wien für Obdach- und Wohnungslose zwar ein Winterpaket schnürt, das von November bis April rund 900 zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten bietet, es diese Plätze aber eigentlich auch im Sommer, und damit übers ganze Jahr, bräuchte. Die Initiative setzt sich nicht nur für eine Verbesserung der Versorgung von Obdach- und Wohnungslosen ein, sondern auch für bessere Arbeitsbedingungen für die MitarbeiterInnen von Hilfs- und Betreuungseinrichtungen.

Als Extrabonus zum Schwerpunkt drucken wir anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Rotes Wien einen Text über die sehr zu Unrecht immer ein wenig im Schatten des Gemeindebaus stehende Wiener Siedlerbewegung nach, den Klaus Novy 1981 geschrieben hat.

Der Schwerpunkt wirft somit Schlaglichter auf einzelne Aspekte der Wohnungsfrage, die in ihrer Komplexität weit über diese Ausgabe der dérive hinaus geht. Viele andere Facetten haben wir bereits in früheren Heften behandelt. Daher planen wir als spezielles Service, demnächst eine Sammlung von ausgesuchten Texten rund um Wohnen und Wohnbau als PDF zu veröffentlichen.


Literatur:
Häußermann, Hartmut & Siebel, Walter (2000): Soziologie des Wohnens – Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. 2. korrigierte Auflage. Weinheim/München: Juventa Verlag.
Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / New York: de Gruyter.
Novy, Klaus (1982): Anmerkungen zum Verhältnis von Trägerformen und Finanzierungsalternativen. In: Arch+, Nr. 61, Februar 1982, S. 52–53. Aachen.
Reulecke, Jürgen (Hg.) (1997): Geschichte des Wohnens, Band 3 – 1800–1918 Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

dérive, Do., 2019.10.24

24. Oktober 2019 Christoph Laimer

FPÖ-Positionen zur Wohnungsfrage

In den letzten Jahren ist leistbares Wohnen als Thema zumindest medial stark in den Fokus der FPÖ gerückt. Wurde bereits bei der Wiener Gemeinderatswahl 2015 der Kampf um den Gemeindebau ausgerufen, so stellt sich die FPÖ mittlerweile (2018/19) auf Bundesebene wie auch in Niederösterreich, Vorarlberg, der Steiermark und Wien als Schützerin der ÖsterreicherInnen gegen Spekulation und Mieterhöhungen dar.

»Wir wollen zudem einen gebührenden Zugang zum gemeinnützigen Wohnbau für die österreichische Bevölkerung sichern. Wir schützen außerdem hunderttausende Genossenschaftswohnungen und ihre Bewohner vor spekulativen Attacken. Denn leistbares Wohnen ist eine Säule der Daseinsvorsorge und kein Spekulationsobjekt.«
(FPÖ Nationalratswahlprogramm, 2019)

Das Thema Wohnen wird hierbei, wie auch von der AfD in Deutschland, mit einer vermeintlichen Migrationskrise verwoben und in den fremdenfeindlichen Parteikanon integriert.

»Die Stadtregierung muss unverzüglich damit aufhören, muslimische Migranten mit Gemeindewohnungen zu versorgen, in der Hoffnung, dass diese sich mit ihrer Wählerstimme bedanken, sobald sie in Wien dazu berechtigt sind.«
(Dominik Nepp, Vizebürgermeister und nicht amtsführender Stadtrat in Wien, 14.11.2018 – oe24.at)

Die zweite Kernforderung der freiheitlichen Wohnpolitik und völlig diametral zur sozialprotektionistischen Darstellung oberhalb, ist die Erhöhung individuellen Wohneigentums. In der Tradition der Right-to-buy-Kampagne einer Margaret Thatcher wird hier ein wesentlich markt-(neo)liberalerer Ansatz verfolgt. FPÖ und AfD verhalten sich in diesem Punkt beinahe deckungsgleich.

»Langfristig ist Eigentum die leistbarste Form des Wohnens und daher haben wir uns zur Aufgabe gemacht, dass eben Eigentum auch wieder leistbar wird. Mit einem Miet-Kaufmodell zum Beispiel (...).«
Philipp Schrangl (Nationalratsabgeordneter FPÖ und Bereichssprecher Bauten und Wohnen – im Zuge der Debatte zum Mietrechtsgesetz und Wohnungseigentumsgesetz – Nationalrat, 31.01.2018.)

Unter anderem wird auch die Klimadiskussion herangezogen, um die politische Konkurrenz in der Wohnungsfrage zu kritisieren.

»Unsere Landsleute brauchen keine sündteuren Ökopaläste, sondern leistbaren Wohnraum.«
(FPÖ NÖ Sechs-Punkte Offensive für leistbares Wohnen in Niederösterreich: 20. Februar 2019)

Eine einheitliche Partei- und Kommunikationslinie ist nicht zu erkennen, stichhaltige Konzepte zur Wohnungsfrage gibt es praktisch keine. Es wird vieles versprochen, um der (Kern)-Wählerschaft zu gefallen, in den Gremien schwenkt die FPÖ dann meist auf die ÖVP-Linie ein. Wie etwa bei der Novelle des Wohngemeinnützigkeitsgesetzes (WGG-Novelle), die im Juli 2019 vom Nationalrat verabschiedet wurde.

dérive, Do., 2019.10.24

24. Oktober 2019 Silvester Kreil

Betroffenheit kollektivieren, Wohnungsfrage politisieren

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings, mit dem er dem kreativen Aufwertungsdilemma lustvoll-provokant nachgeht. Und tatsächlich: Die Debatte um Aufwertung und Verdrängung ist im deutschsprachigen Raum lange, um nicht zu sagen zu lange rund um die Schuldfrage geführt worden: Die kreativen Pionier-Kohorten aus prekären KünstlerInnen, StudentInnen oder Angehörigen linker Alternativszenen sind über viele Jahre in die individualisierte Gentrifizierungsfalle getappt, aus der sie sich halb selbst zerfleischend, halb mit dem Zeigefinger auf die jeweils anderen gerichtet, nicht zu befreien wussten. Eine Freude für all jene, die an der Gentrifizierung gut verdient und das konservative Storytelling in der medialen Öffentlichkeit genährt haben.

Nur langsam hat sich mit Manifesten der Recht auf Stadt Bewegung wie Not in our Name – Marke Hamburg (2009), Christoph Twickels Bestseller Gentrifidingsbums (2010) oder Andrej Holms Wir bleiben Alle! (2010) die Erkenntnis durchgesetzt, dass den Verwerfungen an den Wohnungsmärkten und der fortschreitenden Inwertsetzung des öffentlichen Raums nur mit einem kollektiven Ansatz auf der Ebene von Systemkritik in Theorie und Praxis beizukommen ist.

Es ist das große Verdienst der Stadtforscherin und Stadtaktivistin Lisa Vollmer, in der ersten Hälfte ihres schmalen, konzentrierten Bandes eine ebenso detaillierte wie zugängliche Abhandlung zum Stand der Gentrifizierungsforschung zu liefern, um dann erfolgreiche »Strategien gegen Gentrifizierung«, so auch der Titel des Buchs, systematisiert und übersichtlich den LeserInnen in flüssiger und verständlicher Sprache zur Verfügung zu stellen. Es geht Vollmer ganz eindeutig darum, mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen Beitrag für die Praxis zu leisten, ein Handwerkszeug für die Selbstorganisation von MieterInnen, für StadtaktivistInnen und alle, die sich gegen die systematische Verdrängung durch Aufwertung wehren müssen. Ohne die LeserInnen zu bevormunden, nimmt die Publikation nichts als gegeben an: Fachbegriffe werden im Text kurz und verständlich erläutert, ökonomische und politische Zusammenhänge transparent gemacht. Vollmer stellt klar, dass Gentrifizierung Teil der kapitalistischen Stadtproduktion ist mit »ihrer Inwertsetzung der baulichen Infrastruktur wie ihrer kulturellen Urbanität«. Auf erstaunlich wenigen Seiten werden sämtliche Aspekte kurz und knapp in Beziehung gesetzt: Klassische Gentrifizierungsphasen, Verdrängung und ihre individuellen Folgen, Segregation und ihre Folgen für die urbane Gesellschaft, unterschiedliche Erklärungsansätze, kulturelle Dynamiken, Finanzialisierung der Wohnungsmärkte, die Rolle des Staats, von Touristifizierung, Gewerbe und Neubau.

Nachdem Vollmer das Feld aus allen Blickwinkeln beleuchtet hat, macht sie klar, dass Gentrifizierung verstanden als »Bevölkerungspolitik«, ebenso wie der Kapitalismus an sich, kein Naturgesetz darstellt: »Ob Aufwertung auch zu Verdrängung führt, ist von politischen Entscheidungen abhängig.« Damit diese im Sinne des Gemeinwohls getroffen werden, braucht es Druck durch »die Stadt von unten«, damit »Politiken gegen Inwertsetzung« wie ein effektiver MieterInnenschutz, der Ausbau der MieterInnen-Mitbestimmung und der (Wieder-)Aufbau des gemeinnützigen und nicht-gewinnorientierten Sektors implementiert werden.

An dieser Stelle beginnt auch die praxisorientierte kritische Analyse der »Strategien gegen Gentrifizierung« mit vielen Beispielen aus den Recht auf Stadt Netzwerken, von MieterInnen-Bündnissen wie Kotti+Co, Bizim Kiez, Deutsche Wohnen & Co enteignen, Esso Häuser St. Pauli, Gängeviertel, dem Bündnis Stadt für Alle Bochum und vielen mehr. Analysiert wer den Kampagnen-Strategien und kreative Werkzeuge, aufgestellte Fettnäpfchen und produktive Wege, um sich aus Sackgassen und Partizipationsfallen zu befreien, ebenso wie Möglichkeiten und Bedingungen für Bündnisse außerhalb des angestammten Milieus. Exkurse zum Transformative Community Organizing oder zum Mietshäuser Syndikat bilden wichtige Querverweise zu Methoden und Modellen der Selbstorganisierung.

Mit Strategien gegen Gentrifizierung ist Lisa Vollmer eine Analyse gelungen, die Theorie und Praxis verbindet und Möglichkeiten der Selbstorganisierung aufzeigt. Damit stellt es ein wertvolles Werkzeug für die Weitergabe von erarbeitetem Wissen von und für urbane soziale Bewegungen dar. Man wünscht sich, die Stadtforscherin bekäme die Mittel, um darauf aufbauend ein noch umfassenderes illustriertes Handbuch zu erstellen, um dieses Wissen auch grafisch breiter rezipierbar zu machen. Das Zeug zum Klassiker hätte es.

dérive, Do., 2019.10.24

24. Oktober 2019 Elke Rauth

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