Editorial

Berlin ist schrill, bisweilen skurril, Berlin ist vielschichtig und vielfarbig und kann doch ziemlich grau und trostlos sein. Berlin ist lebendig und strebt voran und leidet gleichzeitig unter dem Beharrungsvermögen der Institutionen und Entscheider. Berlin ist Großstadt und dabei trotzdem unglaublich provinziell. Berlin ist – aufgrund seiner Geschichte – (nahezu) einzigartig und hat sich in den Jahrzehnten nach dem Mauerfall definitiv so stark verändert und entwickelt, wie keine andere Stadt Deutschlands. Allemal viele gute Gründe, um sich eingehender und kritisch mit der Stadt, ihrer Architektur und ihren Akteuren auseinanderzusetzen. Bei der Recherche ist Beispielhaft-Gelungenes, aber auch weniger Überzeugendes zu Tage getreten. Die Auswahl in db 10/2019 spiegelt diese besondere Berliner Mischung wider. | Ulrike Kunkel

Konstruktive Konzepte

(SUBTITLE) Quartier am ehemaligen Blumengroßmarkt

Rund um die ehemalige Blumengroßmarkthalle in Kreuzberg, die von Daniel Libeskind 2012 fürs gegenüberliegende Jüdische Museum zur Akademie umgebaut wurde, sind mit drei Wohn-, Gewerbe- und Atelierhäusern die Resultate von Berlins erstem planerischen Konzeptverfahren zu begutachten. Sinnfällig ergänzt wird das Quartier durch das neue Verlagshaus der taz. Weitere Bausteine sind im Entstehen. Mit Fug und Recht lässt sich hier, in Nachbarschaft zu einigen herausragenden Bauten der IBA 1987, von »anderes Bauen« sprechen.

Der feine Schleier des Nieselregens verleiht dem matten Schwarz der Fassade aus karbonisiertem Lärchenholz des Gebäudes Frizz23 eine besondere Intensität. Passt gut, denke ich und suche vor dem Wetter trotzdem lieber Unterschlupf im kleinen Café »Nullpunkt«, im EG dieses Multifunktionsgebäudes für kulturelles Gewerbe. Das Frizz23, entworfen von Deadline Architekten aus Berlin, ist einer von vier Bausteinen des Areals rund um die ehemaligen Blumengroßmarkthalle in Kreuzberg. Die stammt von Bruno Grimmek, dem heute zu Unrecht fast vergessenen Leiter der Entwurfsabteilung des Berliner Hochbauamts. Daniel Libeskind hat die Halle aus den 60er Jahren zur Akademie des Jüdischen Museums umgebaut, dessen Hauptgebäude gleich gegenüber an der Lindenstraße liegt. Die Akademie beherbergt die Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin mit öffentlich zugänglichem Lesesaal, das Archiv sowie das für Veranstaltungen genutzte Klaus Mangold Auditorium und ­Seminar- und Workshop-Räume. Im Januar 2016 wurde die Akademie nach dem Gründungsdirektor des Museums in W. Michael Blumenthal Akademie umbenannt. Neben dem Frizz23 umfasst das Areal das neue Verlagsgebäude der taz von e2a aus Zürich, das IBeB – kurz für »Integratives Bauprojekt am ­ehemaligen Blumengroßmarkt« – der ARGE ifau und Heide & von Beckerath (beide Berlin) sowie das Metropolenhaus von bfstudio-architekten (ebenfalls Berlin).

Im Nullpunkt, das präzise eingemessen auf dem Standort von Berlins erster Sternwarte liegt, bestelle ich mir einen Kaffee. Dazu gibt es statt laktosefreier Milch lieber vegane Hafermilch. Die Bestellung gerne auf Englisch. Dit is Berlin 2019. Seit meinem ersten Besuch im Frizz23 (db 02/2019) hat sich zwar einiges auf dem Areal getan. Ganz fertig ist es aber immer noch nicht. Die ­Ladengeschäfte in den Erdgeschossen beleben sich erst nach und nach. Auf den Freiflächen zwischen den Häusern wird weiter gewerkelt. Der angrenzende Besselpark ist noch mit Baugittern abgesperrt. Gleich dahinter erhebt sich der feine Turm von John Hejduk, der an Westberliner IBA-Zeiten erinnert. Dauert halt alles seine Zeit, denke ich mir. Gleichwohl sorgt das Quartier bereits international für Aufsehen und gilt als eines der interessanteren Architekturorte der Stadt. Das liegt ebenso an den qualitätvollen Gebäuden wie am inhaltlichen Konzept. Möglich wurde die kleinteilige gemischte Nutzung durch die Grundsatzentscheidung, nicht auf den Höchstpreis für das Gelände zu schielen, sondern seine Vergabe über einen Konzeptwettbewerb zu regeln. Dabei ist der festgeschriebene Inhalt für die Neubauten wichtiger als der gebotene Preis. Eine sinnvolle Möglichkeit, um städtische Entwicklungen mitzusteuern.

Wer vom Jüdischen Museum kommt, dem öffnet sich die trapezförmig angeordnete Trias aus IBeB, der Akademie des Jüdischen Museums und dem Metropolenhaus. Dazwischen erstreckt sich der weite, gepflasterte Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz, dem man einige Bäume und auch sonst mehr Grün wünschen würde. Dafür hat man nun freien Blick auf die Keramikfassade des langgestreckten Riegels des IBeB (db 8/2018), mit seinen Wohnungen und Ateliers sowie dem luftigen Metropolenhaus gegenüber. Dort werden die Eigentumswohnungen durch das querfinanzierte »aktive Erdgeschoss« , zu dem u. a. die Projekträume der nicht kommerziellen Kulturplattform »feldfünf« gehören. Das Metropolenhaus bündelt Wohnen und Arbeiten und verknüpft beides mit Kultur, Gastronomie und kleinen Läden. Mit seinem Nutzungskonzept schafft es Raum für ein Zusammentreffen der Kulturen und sichert mittels des Konzepts der Querfinanzierung zugleich die ökonomische Basis der Projekträume.

Ein kleinteiliges, intensiv von lokalen Akteuren und Nachbarschaftsinitiativen in Zusammenarbeit mit Bezirk und Senat erarbeitetes Nutzungskonzept liegt auch dem Frizz23 zugrunde. Dort beschreiten das FORUM Berufsbildung e. V., FrizzZwanzig sowie das kleine Hotel Miniloft Kreuzberg einen neuen Weg und schaffen Berlins erste gemeinsame Gewerbebaugruppe. Die Trias der Bauherrschaft lässt sich in groben Zügen an der Gliederung des Gebäudes ablesen. Das bereits im Bezirk etablierte Forum Berufsbildung benötigte dringend zusätzliche Seminarräume. Die hat es nun in dem an den taz-Neubau anschließenden, fünfgeschossigen Bauteil des Frizz23 gefunden. Das EG ist je nach Veranstaltungsformat in unterschiedliche Einheiten gliederbar. Darüber schließen sich funktional gestaltete Gruppenräume an. Bekrönt wird das Ganze von einer Dachterrasse. Am anderen Ende des Bauköpers sind in einem kleinen, siebengeschossigen Turm unterschiedlich große Minilofts untergebracht, die von den entwerfenden Architekten Deadline zugleich betrieben werden. Schick möbliert und ordentlich ausgestattet, lässt sich von dort aus die Berliner Mitte bestens erkunden. Im EG befindet sich auch das kleine Café, von dem aus ich auf das Areal schaue. Zwischen diesen beiden Bauteilen findet die Berliner Kreativwirtschaft Werkstätten und Büros. Das reicht von eingeschossigen Miniateliers und größeren Open Offices bis zu dreigeschossigen Wohn- und Arbeitsräumen. Mittenmang die neuen Räume für die Arch+, für deren Ausgestaltung Arno Löbbecke und Anh-Linh Ngo, Mitherausgeber der Zeitschrift, selbst verantwortlich zeichnen.

Das fügte sich zu dem Ansatz von Matthew Griffin und Britta Jürgens von Deadline, den unterschiedlichen Nutzungen einen möglichst flexibel bespielbaren Rahmen zu eröffnen. Die Betonkonstruktion des Hauses mit einer Fassade aus nachtblauem Aluminium und schwarzem Holz setzt durch die ungewohnte Farb- und Materialkombination nach Außen ungewöhnliche eigene Akzente. Mit dem sanften Holz-Zick-Zack zwischen EG und erstem OG wird zudem die Erinnerung an die kriegszerstörte ­»Markthalle 2« aufgegriffen, die hier einst Schinkels Sternwarte nachfolgte. Ein Berliner Architekturpalimpsest.

Zu dem Quartier zählt auch der neue Sitz der Tageszeitung taz mit der reizvollen rückwärtigen Skulptur der Fluchttreppen, die die U-förmige Grundfigur des Gebäudes schließt. Schade allerdings, dass die taz die Stahldreiecke der Fassade zur Friedrichstraße als Pinnwand für ihre Transparente missbraucht. Doch das ließe sich ja ebenso leicht revidieren, wie die Wochenendschließung der taz-Kantine im EG. Oder braucht das kreative Berlin ab und an mal eine Pause von sich selbst? Zusammen mit dem ungleich größeren Springer-Campus, der ganz in der Nähe gerade nach Entwurf von Rem Koolhaas/OMA entsteht, deutet das taz-Haus jedenfalls ein zartes Revival des alten Kreuzberger Zeitungsviertels an. In der Umgebung lassen sich die städtebaulichen Paradigmenwechsel Berlins wie unter dem Brennglas ablesen. Während der spätbarocke Stadtgrundriss und das zarte kleine Kammergericht als Entree zum Jüdischen Museum an die Entstehung dieser Berliner Stadterweiterung erinnern, sind die übrigen Layer vertrauter: Die Mietskasernen der Gründerzeit, der großmaßstäbliche Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne, der den Mehringplatz umschließt, die kleinteiligen Stadtreparaturen der IBA der 80er Jahre und schließlich Libeskinds silberner Museumsblitz. Was im ersten Moment wie eine Baugeschichtsvorlesung anmutet, wirkt in den sozialen Mikroklimata der Gegenwart fort. Ehemalige Blumengroßmarkthalle und Mehringplatz sind zwar nur wenige Schritte voneinander entfernt. Sozial liegen dazwischen jedoch Welten. Eine der Herausforderungen wird es sein, diese gegensätzlichen urbanen Milieus einander behutsam anzunähern.

Der Nieselregen hat sich verzogen, der Café ist ausgetrunken und die Berliner Sommersonne leuchtet freundlich über dem neuen Quartier. Bleibt die Frage nach dessen Vorbildwirkung. In Maßstab und Mischung erinnert es an die Wunschvorstellungen einer Jane Jacobs aus den 60er Jahren. Darin liegt seine Qualität. Allerdings ist auch klar, dass die gewaltigen Berliner Wohnungsbauprobleme mit solchen überschaubaren Interventionen ebenso wenig gelöst werden, wie mit dem Einsatz einzelner »konventioneller« Baugruppen und schon gar nicht mit dem fragwürdigen Rückkauf von Mietshäusern, durch den die Berliner Politik momentan lokale Klientelbedürfnisse auf Kosten der Allgemeinheit befriedigt. Doch auch wenn das Kreativquartier nur bedingt als urbane Blaupause dienen kann, stellt es gleichwohl eine wichtige Beimischung für einen klugen und vielschichtigen städtebaulichen Mix dar, der sich allerdings künftig endlich wieder an den großen Maßstab trauen müsste. Das sucht man in Berlin derzeit vergebens. Wichtig wäre eine Mischung, die wirtschaftlich tragfähig ist, das Stadtganze im Blick behält und sich zugleich verantwortungsvoll für die Integration aller lokalen Akteursinteressen einsetzt, ohne sich im Klienteldschungel zu verlaufen.

db, Mo., 2019.10.14

14. Oktober 2019 Jürgen Tietz

Mitte als Konstrukt

(SUBTITLE) Die James-Simon-Galerie und ihr Umfeld

Wo haben wir uns eigentlich verabredet, als es die James-Simon-Galerie noch nicht gab? So naheliegend ist als Treffpunkt in Berlins Mitte jetzt die große Freitreppe der Galerie, dass man sich kaum noch einen anderen Ort vorstellen kann. Die James-Simon-Galerie ist wahrhaftig wie ein gelungenes Geschenk, auf das lange gewartet wurde und an dem die Stadt und ihre Besucher nun täglich ihre Freude haben.

In liebevoller Belagerung haben sich einige Besucher auf der Treppe der neuen James-Simon-Galerie von David Chipperfield Architects niedergelassen. Entspannt schwatzen sie und schauen unter dem blauen Sommerhimmel auf die Museumsinsel. Im Zusammenspiel mit der feinen Betonarchitektur, die hell leuchtend in die Umgebung lächelt, wirken sie wie pointilistisch ver­streute Farbklekse. Gleich daneben beginnt schon auf der Treppe die lange Wartschlange, die sich durch das gesamte OG des Galerieneubaus zieht. Geduldig warten dort die Besucher auf ihren Einlass in den derzeit noch zu besuchenden Teil des Pergamonmuseums. Nur wenige Wochen nach ihrer Eröffnung ist die James-Simon-Galerie vom Publikum so angenommen, als hätte es sie schon immer an diesem Ort gegeben. Es ist eine Freude, in diesen feinen Tempel zurückzukehren, den ich schon einmal kurz schwärmend für die db beschreiben durfte (s. db 3/2019).

Im Kern entpuppt sich die Galerie als ein dienendes Multifunktionsgebäude für die umgebenden Schatzhäuser der Museumsinsel. Hier kann gegessen und gewartet werden, können Bücher gekauft, Vorträge gehört und Sonderausstellungen gesehen werden. Und Tickets für die Museumsinsel gibt es ebenfalls. Der Name des Galerieneubaus, das kann nicht oft genug dankbar erklärt werden, ist eine Referenz an den Sammler und Mäzen James Simon (1851-1932), dem die Staatlichen Museen u. a. die Büste Nofretetes verdanken.

In der belebten Galerie bestätigt sich einmal mehr, dass sich jedes Haus unter der Benutzung noch einmal ganz anders präsentiert. Dann verliert sich eine mögliche Monumentalität durch die vielen hohen Stützen ganz schnell im bunten Gewusel der Besucher. Und es zeigt sich, dass der Lärm ihres dröhnenden Geschnatters kaum absorbiert wird. Bestens besucht ist auch die Aussichtsterrasse des kleinen Cafés. Von dort blickt man nicht nur auf den Kupfergraben, sondern auch auf das Haus Bastian. Ebenfalls von Chipperfield entworfen, dient es den Staatlichen Museen nach dem Umbau durch Raumlabor künftig als Zentrum für kulturelle Bildung. Eine Ebene unter dem Café kann in den Regalen des großzügigen Buchladens gestöbert werden, während darunter im rund 650 m² großen Sonderausstellungsraum bis März kommenden Jahres Arbeiten der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu sehen sind. Einzig das Auditorium mit seinen Sichtbetonwänden und den elegant geschwungenen hölzernen Deckensegeln bleibt mir heute verschlossen. Wer durch das noble, sichtbetonklare Haus streift, zu dem sich die ausdrucksstark gemaserten Paneele aus Nussbaumholz stimmig fügen, über breite Treppen und den Bodenbelag aus Crailsheimer Kalkstein wandert, der fühlt sich trotz der unterschiedlichen Raumebenen nie verloren. Dafür sorgen die zahlreichen Blickbezüge in den Außenraum, die viel Naturlicht ins Haus lassen. So wird es für die Besucher möglich, sich stets räumlich zu verorten. Das gilt selbst für den am tiefsten gelegenen Punkt des Galerieneubaus. Dort liegt der Übergang zum Neuen Museum und weiter zur »archäologischen Promenade«, die die einzelnen Häuser der Museumsinsel einmal unterirdisch verknüpfen soll. Von oben flutet üppiges Tageslicht in den Raum und stets schauen ein paar neugierige Blicke von Besuchern hinab, durch die großen Scheiben am Innenhof zwischen James-Simon-Galerie und Neuem Museum. Neben einigen Erläuterungen zur Museumsinsel wird der Verbindungsbau durch einen der hölzernen Gründungspfeiler von Schinkels altem Packhof dominiert, der hier einst am Ufer des Kupfergrabens stand. Für den Galerieneubau mussten rund 1 200 neue Betonpfähle bis zu 50 m tief in den schwierigen Baugrund der Spreeinsel getrieben werden.

So gelungen das neue Vielzweckgebäude im Innern ist, so bezaubernd sind seine Außenräume. Chipperfield führt dort die historischen Kolonnaden der Museumsinsel fort und übersetzt sie in filigrane, eckige Sichtbetonstützen. Sein Marburger Architekturtempel lässt grüßen. Doch geschenkt, denn mit den Betonstützen verleiht er der Galerie eine wunderbare Luftigkeit. Zusammen mit der gelungenen Gliederung der Baumasse lässt er das kräftige aus dem Spreewasser emporwachsende Haus zarter wirken. Die Pergolen artige Architektur umschließt einen neuen Hof, der sich zwischen James-Simon-Galerie und Neuem Museum erstreckt. Es ist ein öffentlicher und offener Ort, der eine wunderbare Ruhe verströmt. Er lädt dazu ein, sich auf der steinernen Bank unter dem Pfeilergang niederzulassen, um von dort dem Spiel von Wolken und Sonne auf den Fassaden zu folgen. Hier lässt es sich gut innehalten und ungestört darüber nachdenken, an welchem Ort man sich befindet und die Jahrhundertaufgabe zu würdigen, als die sich Sanierung und Umbau der Museumsinsel entpuppen. So selbstverständlich Chipperfields neues Erschließungsbauwerk heute erscheint, durch das nach wenigen Wochen bereits über 100 000 Besucher hindurchgewandert sind, so weit war der Weg dorthin. Er begann mit dem Wettbewerb für den Wiederaufbau des Neuen Museums 1993/94 (sic!). Erinnert sich noch jemand an den rationalistisch strengen Beitrag des Siegers Giorgio Grassi? Oder an das energische Votum der Staatlichen Museen für den exaltierten Beitrag Frank O. Gehrys und die spätere Entscheidung für den damals ja noch keineswegs so weltbekannten David Chipperfield? Begleitet wurde die Suche nach dem richtigen Entwurf von einer gelegentlich atemlos anmutenden Diskussion über den denkmalgerechten Umgang mit Friedrich August Stülers einzigartigem Neuen Museum, die in Chipperfields wegweisender Sanierung des Hauses und dem Masterplan (1999) mit dem Konzept der erwähnten Archäologischen Promenade mündete. Mittlerweile sind für die Museumsinsel einschließlich des Humboldtforums im neuen Berliner Schloss bereits mehrere Milliarden Euro (vom Bund) verbaut worden. Ein Ende ist nicht in Sicht. Gerade erst läuft der Architektenwettbewerb für den zweiten Bauabschnitt des Pergamonmuseums an.

Vielleicht führt das ja dazu, noch einmal über die Sinnhaftigkeit nachzudenken, Oswald Matthias Ungers siegreichen Entwurf aus dem Jahr 2000 weiterzuführen, der bereits damals quadratisch aus der Zeit gefallen schien. Die Grundsanierung von Schinkels Altem Museum steht noch aus. Wann sie beginnt ist ungewiss. Bis dahin wird die hässliche Glasfront zwischen den Säulen der großartigen Treppenhalle des Alten Museums die Blicke weiter verspiegeln und damit beweisen, welche Permanenz einem Provisorium zuwachsen kann. In der Planungs- und Baugeschichte der Museumsinsel nach 1990 drücken sich die wechselnden architektonischen-, museologischen und denkmalpflegerischen Paradigmen einer Generation aus. Zugleich präsentiert sich in der Museumsinsel ein Stück deutsches Selbstverständnis. Die Mitte der deutschen Hauptstadt wird durch einen Hort der Kultur gebildet. Welche europäische Hauptstadt kann das bieten? Hier, auf der Schlossinsel befand sich einst das herrschaftliche Zentrum der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln. Mit seinem Alten Museum startete Karl-Friedrich Schinkel 1830 die lange Transformation der Berlin-Mitte vom königlichen Regierungszentrum zum bürgerlichen Kulturzentrum. Mittlerweile ist die Museumsinsel zu einem Archipel der Kultur gewachsen und wuchert weiter. Daran knüpfen sich etliche Fragen, die auch die anderen Standorte der Staatlichen Museen berühren. Fragen nach der Qualität der umstrittenen Kunstscheune M20 von Herzog und de Meuron am Kulturforum und der ungeliebten Museumsmelange aus Gemäldegalerie und Kunstgewerbemuseum, die sich dahinter anschließt. Aber auch nach dem inzwischen komplett abgehängten Museumsstandort in Dahlem. Wie wird langfristig das ehemalige Kasernengelände gegenüber über dem Bodemuseum genutzt? Es gilt als eine potenzielle Erweiterungsfläche der Museen und wird derzeit mit einem 360° Pergamon-Panorama bespielt. Zieht die Gemäldegalerie irgendwann doch dorthin, in die Nachbarschaft des Bodemuseums, in die sie aus kunsthistorischer Sammlungslogik auch gehört? Und welche Konsequenzen hätte das für das Kulturforum? Fragen über Fragen. Wäre es da nicht an der Zeit, einen Masterplan 2.0 für die Staatlichen Museen aufzulegen?

Unter solchen Gedanken wandert mein Blick vorbei an Chipperfields feinen Pfeilern zur Kuppel des neuen alten Schlosses, die noch eingerüstet ist. Sandsteinlicht lockt die übrige Fassade dieses neuen Humboldtforums bereits. Doch es wird noch ein Jahr dauern, ehe dieses seltsam aus jeder Zeit gefallene Post-Postmoderne Haus mit spätrationalistischen Einsprengseln seine Pforten öffnet. Dann endlich dürfen die Besucher hinauf, hinauf zum Restaurant stürmen, dessen Baukörper wie ein Menetekel über Balustrade und Dachschräge des Schlosses lugt. Was für eine architektonische Peinlichkeit.

Chipperfields James-Simon-Galerie überzeugt nicht nur durch ihre edle Harmonie und stille Größe, angesichts derer sich bei den Besuchern allfällige museale Schwellenangst schnell verflüchtigt. Das Haus veranschaulicht zugleich, was in Berlins Mitte an gebauter Qualität und an großartigen städtischen Räumen möglich gewesen wäre. Stattdessen hat man sich für ein rückwärtsgewandtes Geschichtskonstrukt entschieden und zugleich mit den Relikten der DDR-Architektur auch der gebauten Moderne die rote Karte gezeigt. Der großartigen Geste, die Mitte der Republik als Bildungs- und Kulturlandschaft zu definieren, steht die enttäuschende Mutlosigkeit gegenüber, der zeitgenössischen Architektur so wenig Raum zu gewähren. Welches Geschenk der Mut zur Gegenwart bedeutet, das haben David Chipperfield Architects mit ihren Bauten hier bewiesen. Mehr Gegenwart auf diesem Niveau hätte Berlins Mitte gutgetan. Die Museums- und Berlinbesucher jedenfalls hätte sie gewiss mit der gleichen liebevollen Neugier erobert, wie sie sich die James-Simon-Galerie ganz selbstverständlich zu eigen machen.

db, Mo., 2019.10.14

14. Oktober 2019 Jürgen Tietz

Eine vergebene Chance

(SUBTITLE) Campus Rütli – CR²

Einst ein Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration und das Scheitern der Schulform Hauptschule hat sich die Berliner Rütli Schule, die heute unter dem Namen Campus Rütli firmiert, zu einem pädagogischen und sozialen Vorzeigeprojekt entwickelt. Die Neubauten auf dem Campus aber, die in achtjähriger (!) Planungs- und Bauzeit entstanden, sind eher eine Enttäuschung.

Es war ein Brief, der die Rütli-Schule im Jahr 2006 bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Geschrieben hatte ihn das heillos überforderte Lehrerkollegium, der im nördlichen Teil des Berliner Bezirks Neukölln gelegenen Hauptschule. Berichtet wurde darin zum einen von der wachsenden Gewalttätigkeit und Disziplinlosigkeit einer Schülerschaft, die zu über 80 % aus Familien mit Migrationshintergrund stammte. Zum anderen aber auch von der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die sich in ihrer Lernunwilligkeit spiegele und das offensichtliche Scheitern der Schulform Hauptschule belege. Beklagt wurde daneben die extrem mangelhafte personelle Ausstattung der Schule sowie die fehlende Sprachkompetenz für eine effektive Kommunikation mit den Eltern. Der »Brandbrief« machte die Rütli-Schule zu einem Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration sowie für das Versagen der Berliner Schul- und Innenverwaltung. Das von ihm ausgelöste mediale Echo zwang die Politik zum Handeln. Dabei war klar, dass die hier aufgetretenen Probleme nicht allein mit schulischen Mitteln zu lösen waren.

Neuartiges Bildungskonzept

Bereits 2007 wurde auf Bezirksebene die Idee zu einem »Campus Rütli« entwickelt, die wesentlich darin bestand, ein neues, umfassendes Bildungskonzept zu erarbeiten und dies mit der Schaffung eines in den Kiez ausstrahlenden Sozialraums zu verbinden, in dem alle irgendwie betroffenen und beteiligten Akteure zusammenkommen und -wirken sollten.

Konzipiert wurde das »Campus Rütli CR2« getaufte Modellprojekt dezidiert als »sozialer Erlebnisraum«, der in seinen Modulen »einheitliche Bildungsbiographien von der Kindertagesstätte bis zum Eintritt in die Berufsausbildung« ermöglichen sollte und alle schulischen Abschlüsse bietet.

Ein erster Schritt zur Realisierung des Konzepts war der 2008/09 erfolgte Zusammenschluss der Rütli-Hauptschule, der Heinrich-Heine-Realschule (die sich bisher ein Schulgebäude teilten) sowie der wenige Blocks entfernten Franz-Schubert-Grundschule zur Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli. 2011 wurde eine gymnasiale Oberstufe geschaffen, die sich seither wachsender Beliebtheit erfreut. Zwei Kindertagesstätten sowie der Kinder- und Jugendclub an der Rütlistraße, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, wurden organisatorisch mit der Gemeinschaftsschule verkoppelt. 2012 konnte die vom Berliner Büro plus 4930 entworfene Quartierssporthalle fertiggestellt und als erster Neubau in den Campus integriert werden.

Das ambitionierte Konzept des Campus, aus dem sich ein erheblicher Raumbedarf ergab, hätte nicht entstehen bzw. realisiert werden können, wären an seinem Standort nicht glücklicherweise bereits große Flächen beiderseits der namensgebenden Rütlistraße im Besitz der öffentlichen Hand gewesen. Einer Autowerkstatt und einer Kleingartenkolonie, die bisher Teile des Areals nutzten, konnte kurzfristig gekündigt werden. So stand also genügend Platz für die notwendige baulichen Ergänzung des Campus zur Verfügung, der insgesamt eine Fläche von fast 5 ha umfasst. Im Einzelnen ging es dabei um eine Erweiterung des Schulhauses (zur Integration der Grundschule), ein Werkstattgebäude (für das Unterrichtsmodul Werkstatt, Arbeit, Technik), eine Erweiterung der Mensa sowie um ein Stadtteilzentrum (mit Räumlichkeiten für Elterncafé, Campusverwaltung, Pädagogische Werkstatt, Jugendamt, Zahnärztlicher Dienst und Volkshochschule Neukölln).

Für diese Neubauvorhaben wurde 2011 ein Realisierungswettbewerb lanciert, den das Büro Schulz und Schulz Architekten aus Leipzig gewann. Die Bauarbeiten begannen 2015. Mittlerweile sind das Werkstattgebäude und das Stadtteilzentrum vollendet. Der Schulerweiterungsbau kann möglicherweise in diesem Schuljahr bezogen werden, während die neue Mensa erst im kommenden Jahr fertig sein dürfte. Die Bauarbeiten auf dem Campus werden freilich noch eine Weile andauern: ab dem nächsten Jahr steht eine Grundsanierung des Altbaus an.

Überzeugender Städtebau und nüchtern-kühle Architektur

Zu den überzeugenden Qualitäten des Entwurfs von Schulz und Schulz gehört die damit verbundene städtebauliche Lösung. Quasi als Herzstück des Campus schlugen sie am Treffpunkt der Erschließungsachsen – der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Rütlistraße und der von Osten auf den Campus führende Ossastraße – eine zentral gelegene Platzanlage vor. Definiert und begrenzt wird sie einerseits vom winkelförmig angelegten, viergeschossigen Neubautrakt der Gemeinschaftsschule, dessen einer Flügel direkt an die nördliche Brandmauer der Bestandsschule anschließt, und andererseits vom diagonal gegenüberliegenden, zweigeschossigen Stadtteilzentrum, das ebenfalls einen winkelförmigen Baukörper aufweist. Das Werkstattgebäude verlegten die Architekten in den nördlichen Teil des Campus, in die Nachbarschaft zur Quatierssporthalle. Auch dieses, nur eingeschossige Gebäude besitzt einen winkelförmigen, in diesem Fall aber vom Straßenraum abgewandten Grundriss. Abweichend von diesem Schema haben Schulz und Schulz die Mensa-Erweiterung als achteckigen Pavillon entworfen und aus funktionalen Gründen (Verbindung zur bestehenden Schulküche) etwas versteckt hinter dem Altbau der Schule platziert.

Gestalterisch präsentieren sich die Neubauten mit ihren Betonfertigteil- und Putzfassaden – von der Mensa einmal ausdrücklich abgesehen – als denkbar nüchterne Zweckbauten. Man könnte ihre Anmutung, je nach Temperament, als kühl-sachlich, als unambitioniert oder als erschreckend uninspiriert beschreiben. Und es dürfte Leute geben, die angesichts dieser Fassaden eher an ein Finanzamt oder irgendeine andere Behörde als an eine Schule denken. So oder so, als Einladung zur positiven Identifikation der Nutzer mit den Campus-Neubauten wird man diese Fassaden schwerlich interpretieren – als Einladung an Graffiti-Sprayer hingegen schon. Darauf lässt sich wetten.

In ihrem überaus wortreichen Erläuterungstext erklären die Architekten »die zurücknehmende Gestaltung der Erweiterungsbauten« damit, dass sie »einen übergeordneten Campuscharakter« stärke und »das heterogene Erscheinungsbild in eine ausgeglichene, homogene Bildungslandschaft« überführe. Worin der Vorteil von »Homogenität« für den Campus liegen sollte, erschließt sich daraus nicht. Abgesehen davon ist und bleibt der Campus ein sehr heterogenes Gebäudekonglomerat. Man muss sagen: glücklicherweise!

Konventionell oder wegweisend?

Ein Blick ins Innere der Neubauten offenbart, dass Schulz und Schulz Architekten auch räumlich und grundrisstechnisch ihr Heil fast immer (die noch unvollendete Mensa bildet die Ausnahme) in durch und durch konventionellen Lösungen suchten. In ihrem Erläuterungstext heißt es zwar, »die Organisation der Raumstrukturen« ziele »auf die Belebung eines positiv besetzten Lebensumfelds, aus dem eine kreative und motivierende Lernatmosphäre resultiert«. Wie dieses Wunder gelingen soll, bleibt aber offen.

Cordula Heckmann, die engagierte, langjährige Direktorin der Schule und Campus-Leiterin, ist in erster Linie glücklich, dass die drängenden Raumbedürfnisse endlich erfüllt werden. Die gestalterische Qualität der Neubauten mag sie nicht kommentieren. Über den Erweiterungsbau der Schule aber meint sie, dass »das Modell Flurschule«, wie es hier realisiert wurde, »heutzutage schon für einen eher konservativen Ansatz« stehe, was aber der sozialräumlichen Idee, die sich im zentralen Campusplatz zeige, geschuldet sei.

Bemerkenswert übrigens, wie wenig sie und ihr Kollegium oder auch die Schülerschaft in die Planungen involviert waren. Die Bauherrschaft lag nicht bei der Schule, sondern beim Stadtbezirk.

Angesichts dieses Befunds stellt sich (wieder einmal) die Frage, was Architektur leisten kann und auch leisten muss, um ein bildungs- und sozialpolitisches Modellprojekt wie den Campus Rütli in seinen begrüßenswerten Zielsetzungen zu unterstützen und um ihm eine adäquate bauliche Form zu verleihen.

Schulz und Schulz Architekten haben für den Campus eine pragmatische und zumindest auf den ersten Blick zweckdienliche architektonische Lösung entwickelt. Und womöglich haben sie angesichts eines knappen Budgets, auch was Bauqualität und Materialwahl betrifft, herausgeholt, was herauszuholen war. Und sicher, Schüler- und Lehrerschaft erhalten neue, helle und zeitgemäß ausgestattete Klassenzimmer, über die sie sich natürlich freuen.

Die Konventionalität ihrer Lösung aber, die schon bei einer »normalen« Schule unbefriedigend wäre, ist bei einem Modellprojekt wie dem Campus Rütli enttäuschend. Wo, wenn nicht bei dieser Gelegenheit hätte die Chance bestanden Neues auszuloten und eine wegweisende Gestaltung zu entwickeln? Die Neubauten auf dem Campus Rütli aber sind nicht nur nicht wegweisend, sondern sie bleiben, wie etwa der Blick nach Skandinavien und nach Finnland offenbart, auch hinter dem zurück, was anderenorts hinsichtlich inspirierender Lernräume bereits erfolgreich umgesetzt wurde. Das mag auch etwas mit Geld zu tun haben – die Ausgaben für Bildung sind in Deutschland im europäischen Vergleich noch immer beschämend niedrig –, aber das ist keine Entschuldigung für eine weitgehend ideenlose Gestaltung.

Abschließend – weil das einfach nicht unkommentiert bleiben darf – ein Wort zum in städtebaulicher Hinsicht so überzeugenden zentrale Campus-Platz, der ja gewissermaßen als Herzstück und Visitenkarte des Areals gedacht war. Stefan Bernard Landschaftsarchitekten haben dafür einen wahrlich atemberaubenden Entwurf vorgelegt: zu rund 80 % präsentiert sich der großzügige Platz jetzt als graue Asphaltfläche! Jenseits aller ästhetischen Empfindungen ist das im Jahr 2019 eine völlig indiskutable Idee. Wem angesichts der berechtigten Forderung nach einer Verbesserung des städtischen Mikroklimas durch Begrünung – die nach dem zweiten Hitzesommer in Folge immer dringender erhobenen wird – und vor dem Hintergrund der schon längst bekannten Problematik der Flächenversiegelung nichts anderes einfällt, als einen solchen Platz ohne sachliche Notwendigkeit in eine öde Asphaltwüste zu verwandeln, der sollte einmal ernsthaft sein berufliches Selbstverständnis hinterfragen. Das gilt auch für die zuständigen Ämter, die eine solche »Lösung« genehmigt und finanziert haben.

db, Mo., 2019.10.14

14. Oktober 2019 Mathias Remmele

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