Editorial

Die Lage der beiden Kulturbauten ist denkbar unterschiedlich: hier der Origen-­Turm an einer Transit­achse über die Alpen – dort die Interimsspielstätte der Tonhalle mitten im angesagten Zürich-West, einem ehemaligen Industrieareal.

Beiden gemeinsam ist das Rohmaterial für ihre Konstruktion: Fichte ist günstig, lässt sich gut und schnell verarbeiten und eignet sich daher speziell für Provisorien. Es scheint, dass sich bei neueren Holzbauten – noch viel mehr als bei ­anderen ­Materialien – die Trennung zwischen vorüber­gehend und permanent auflöst. Baurechtlich gibt es eine solche Unterscheidung gar nicht, da im Kanton Zürich und an vielen anderen ­Orten jeder Eingriff zonenkonform sein muss.
Provisorien ordnet man ausserdem oft einen archi­tektonisch eher zurückhaltenden Charakter zu. Gegenwärtig jedoch entstehen viele Holzbauten, die nicht nur kostengünstig, sondern auch qualitativ hochwertig und gestalterisch eigenständig sind. Sie rücken die Thematik seit geraumer Zeit in ein anderes Licht – und ­machen den Begriff «provisorisch» zu einem rein programmatischen.

Was will man mehr? Warum kann man nicht öfters so bauen, auch bei sogenannt permanenten Bauten – die ja auch nicht für die Ewigkeit ­stehen? Der Konzertsaal in der Maag-Halle hält länger als drei Jahre, und auch der Origen-Turm ist dazu gedacht, an einem anderen Ort wieder aufgebaut zu werden. Wo legt man den Massstab an? Oder anders gefragt: Wäre das, was für Proviso­rien recht ist, nicht auch für andere Bauten gut?

Danielle Fischer

Inhalt

03 EDITORIAL

07 WETTBEWERB
Ausschreibungen/Preise | Zug um Zug

12 VERKEHR
Die Kunst des Schiebens

15 PLANUNGS- UND BAUPROZESSE
Ein Hospiz braucht Privatinitiative

17 ESPAZIUM
Aus unserem Verlag

18 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

19 WEITERBILDUNG
Holz – einen Schritt voraus

20 AGENDA

22 HOLZBÜHNEN AUF ZEIT

22 ZUGABE GEFÄLLIG!
Danielle Fischer
Die Interimsspielstätte der Tonhalle von Spillmann Echsle Architekten auf dem Zürcher Maag-Areal vereint gute Akustik mit Eleganz und Angemessenheit.

28 ROTES HOLZZEICHEN
Charles von Büren
Der Origen- Theaterturm auf dem Julier ist ein starkes Zeichen für Kultur und Wirtschaft und darüber hinaus Teil eines lokalen Entwicklungsprogramms.

33 STELLENMARKT

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Rotes Holzzeichen

Auf dem Julierpass in der Gemeinde Bivio steht bis Ende Sommer 2020 ein einzigartiger roter Turm: das Origen-Theater. Entstanden ist er auf Initiative von Giovanni Netzer, der damit zur ­Standortentwicklung der Bergregion beitragen will.

Wie kommt ein Theater in Form eines Holzturms auf 2284 m ü. M. zwischen Berggipfel zu stehen? Um das zu begreifen, empfiehlt sich ein Blick auf die Vorgeschichte dieses Vorhabens, ein Erkunden der Ideen des Intendanten und Initianten Giovanni Netzer, der das Theaterfestival Origen im Jahr 2005 gegründet hat. «Origen» ist ein rätoromanisches Wort, gleichbedeutend mit «Ursprung». Der lateinische Wortstamm enthält auch den Begriff der Schöpfung, das Erschaffen originärer, also eigenständiger Werke. Für Giovanni Netzer ist dieser Name Programm. Er arbeitet mit archaischen Theaterformen, erobert Landschaftsräume so gut wie den sakralen Raum, errichtet temporäre Bauten und sucht den theatralen Bezug zur Realität und auch zur Landschaft, die zur imposanten Kulisse wird.

Die Urzelle: das Dorf Riom

Das Origen Festival Cultural findet seit 2006 jedes Jahr in Riom statt, einem Dorf mit 180 Einwohnern im Tal Oberhalbstein (Gemeinde Surses) zwischen Tiefencastel und Julierpass. Stammhäuser von Origen sind die mittelalterliche Burg Riom und eine umgebaute Scheune, die «Clavadeira des Monsieur Carisch». In die um 1227 erbaute Burg, die Origen im Baurecht zur Verfügung steht, soll nach einem Projekt von Architekt Peter Zumthor eine «Salle modulable» eingebaut werden, die eine ganzjährige Spielzeit erlaubt. Doch dieses Projekt muss warten – anders die Ende des 19. Jahrhunderts erstellte grosse Clavadeira, die etwa 80 Jahre leer stand. Sie wurde 2015 durch die Architekten Carmen Gasser und Remo Derungs, Präsident des Verbands der Schweizer Innenarchitekten, mit einem subtilen Umbau wachgeküsst und in eine Spielstätte für das Origen verwandelt.

Giovanni Netzer hat mit seinen Inszenierungen immer wieder ungewohnte, aber den Themen entsprechende Spielorte in der umliegenden Landschaft gesucht und gefunden: Dorfplätze, Gärten, Kirchen, Werkhallen, Eisenbahnwaggons, Reithallen, Ruinen und selbst die Oberfläche eines Stausees. Aber der Julierpass hat es Giovanni Netzer besonders angetan, er nennt ihn einen magischen, ja mystischen Ort. Der Pass, der das Engadin mit Oberhalbstein verbindet, wurde bereits von den Römern begangen. Sie errichteten dort einen Jupitertempel, von dem noch Säulenfragmente zeugen. Später im Mittelalter stand dort eine Sebastianskapelle.

Giovanni Netzer hat für eine auf vier Jahre beschränkte Zeit dort oben einen Theaterturm bauen lassen, der in nichts an herkömmliche Theaterarchitekturen erinnert, eher an den Turmbau zu Babel. Denn auch hier werden unterschiedliche Sprachen gesprochen, Graubünden kennt ja als einziger Kanton drei Amtssprachen: Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch, und Origen macht sowieso vor keinem Sprachgebrauch halt. Geplant hat Netzer den Turm zuerst in Eigenregie anhand unterschiedlicher Studienmodelle. In eine bau­fähige Form umgesetzt hat ihn Ingenieur Walter Bieler.

Wichtig waren Netzer die Fensteröffnungen. Sie lassen je nach Lichteinfall und herrschender Witterung die Umgebung Teil einer jeden Inszenierung im Turm­innern sein. Und es ist wirklich ein Erlebnis, die schattendunklen Treppen zu besteigen und in jedem der fünf Stockwerke eine andere Sicht zu erleben. Vollends umwerfend müsste der Blick vom flachen Dach aus sein. Allerdings ist es für das Publikum aus Sicherheitsgründen nicht zugänglich, da der Zugang über eine steile Treppe zu schmal ist.

Ein Tragwerk mit schwebender Bühne

Im Grundriss verbinden sich zehn fünfeckige Einzel­türme. Darin untergebracht sind auch die Zugangs­treppen zu den Publikumslogen. Konstruiert ist das Ganze mit einschaligen Wänden aus 900 und 120 mm dicken Massivholzplatten von 20 m² Fläche, gehalten von 28 000 Schrauben. Der Turm ist 30 m hoch und misst im Grundriss übereck 22 m. Zwölf Wochen investierte die Holzbaufirma Uffer für die Schwertransporte und die Montage der 900 Holzteile. Bis 220 Zuschauer finden in den Bogenfenstern mit ­ihren Logen Platz. Die Bühne schwebt an Stahlseilen aufgehängt im Zentrum, lässt sich heben und senken und schafft so unterschiedliche Raumkonstellationen. Die Zuschauer an der Brüstung der Logen haben gute Sicht auf das Bühnengeschehen, die hinteren Sitz- und Stehplätze sind in dieser Hinsicht indes nicht eben ­optimal. Die zehn Einzeltürme umfassen den Bühnenraum, sind untereinander verbunden und ­stützen  sich so gegenseitig. Die Konstruktion wider­steht Wind­ge­schwindigkeiten von bis zu 250 km/h.

Viel Würde und neue Perspektiven

An der Einweihung Ende Juli 2017 sprach Bundesrat Alain Berset davon, wie dieser Turm Resilienz, Robust­heit, Solidarität und Stabilität versinnbildliche. Er mache klar, dass Weltoffenheit kein fester Zustand sei, sondern ein starkes Bewusstsein dafür, dass Identitätsfindung nie zu Ende sei, nie zu Ende sein könne.

Im Kulturerbejahr 2018 würdigte der Schwei­zer Heimatschutz die Nova Fundaziun Origen mit dem ­Wakkerpreis. Die Auszeichnung ging damit ausnahmsweise nicht an eine Gemeinde, sondern an eine Kultur­institution, die im Wissen um den Wert der Vergangenheit einem Dorf neue Impulse gibt und Perspektiven für eine stolze Zukunft eröffnet. Die Auszeichnung wurde der Bündner Kulturinstitution für ihren vorbildhaften Umgang mit der vorhandenen Baukultur im Berg­dorf Riom zugesprochen. Giovanni Netzer versteht die Auszeichnung als Ermutigung für zukünftige Vorhaben – und präsentierte anlässlich der Medienkonferenz das Entwicklungsprojekt «Malancuneia». Im historischen Dorfzentrum von Riom sollen vier leer stehende Gebäude umgenutzt und neu belebt werden. Mit Textilwerkstätten, Bildungsräumen, einem Besucherzentrum und sanft renovierten Wohnräumen will Origen neue Arbeitsplätze schaffen – und der drohenden Abwanderung aus dem Bergtal entgegen­treten. Um das Projekt «Malancuneia» zu realisieren, sind Investitionen in die In­frastruktur in einer Gesamthöhe von 7.6 Mio. Fr. ­notwendig. Erste Schritte für eine erfolgreiche Finanzierung sind getan: Die Regierung des Kantons Graubünden hat der Stiftung rund eine Million Franken in Aussicht gestellt, falls es Origen gelingt, die restlichen Gelder zu beschaffen.

2018 wurde der Turm auch mit dem Preis «Marketing und Architektur» ausgezeichnet. Durch ­seine expressive Form bildet er eine der Massnahmen, mit denen Netzer zur Standortentwicklung der Bergregion beiträgt. Gemäss Netzer hat der Turm 2.5 Mio. Fr. gekostet. Mit 700 000 Fr. unterstützte der Kanton Graubünden das Vorhaben, beigetragen haben auch Spenden von Sponsoren. Vier Jahre soll dieses einmalige Theaterhaus auf dem Julierpass stehen, bis es 2020 wieder ab­gebaut wird. Die Aufführungen waren letztes Jahr restlos ausverkauft, und auch für die verbleibenden Spielzeiten dürfte der Erfolg gesichert sein.

TEC21, Mi., 2019.06.12

12. Juni 2019 Charles von Büren

Zugabe gefällig!

Während der Zürcher Musentempel am See renoviert wird, konzertiert das Tonhalle-Orchester in einem Provisorium im Maag-Areal. Diese vorübergehende Spielstätte von Spillmann Echsle ­Architekten kündet von mutiger Voraussicht und einem Gespür für das ­Angemessene und Machbare. Keine Frage: Als Interimslösung ist der Saal zu schade.

Die ein überdimensioniertes sperrhölzernes Flugobjekt aus der Pionierzeit liegt der Konzertsaal in der Fabrik­halle. Entlang der Innenfassade der Maag-­Halle mit ihren feinen Industriefenstern kann der Besucher fast ganz um den Saal herumspazieren. Die leicht wirkenden Wand­elemente aus Holz sind an Stahlstützen eingespannt, die in den rohen Betonboden gerammt sind.

Dieser erste Eindruck mag auch mit der Ausgangslage der Spielstätte als Provisorium und Teil einer Umnutzung zusammenhängen. Temporäre Bauten sind aufgrund ihrer beschränkten Lebensdauer und der meist knappen Finanzen baulich nach dem Prinzip «so viel wie nötig und so wenig wie möglich» konzipiert. Wird dabei ein Altbau umgenutzt, lassen sich zugleich Geld und Material sparen. Umso überraschender, wenn sich ein solcher Bau – wie im Fall des temporären Ton­halle­saals – im Lauf seines Gebrauchs als dauerhafter, zweckmässiger, stabiler und vielleicht sogar schöner erweist als erwartet.

Auf dem Maag-Areal hat die Strategie der Umnutzung im Kontext seiner industriellen Nutzung seit 1907 Tradition: Nach dem Konkurs der Autofabrik Safir im Jahr 1913 übernahm Max Maag die Räumlichkeiten an der Zürcher Hardstrasse und begann hier Zahnräder und später Pumpen herzustellen. Die bis ins Jahr 2002 in Zürich produzierten, hochpräzisen Maschinenteile fanden weltweit Absatz. In der Folgezeit wurde das ehemals kleine Fabrikareal immer wieder erweitert und umgebaut. Max Maag, der 1935 aus der Firma austrat und sich als Orgelbauer selbstständig machte, hätte es wahrscheinlich gefreut, aber kaum erstaunt, wenn er von dieser weiteren Umnutzung und Funktionsänderung der Fabrik zum Konzerthaus erfahren hätte.

Veränderungen mit Wirkung

Doch die Vorgeschichte, wie es zu dem neuen Saal kam, ist alles andere als gradlinig. In den Jahren 2001 bis 2003 wurde die ehemalige fünfschiffige Industriehalle in ein Musicaltheater und eine zweischiffige Event­halle umgenutzt. Aufgrund der umliegenden neuen Wohnbauten ertüchtigten Spillmann Echsle Architekten im Auftrag der Grundeigentümerin im Jahr 2015 die Gebäudehülle der Maag-Halle lärmtechnisch. Gleichzeitig wurden energetische Auflagen erfüllt und für den Gesamtkomplex eine Lüftungsanlage eingebaut. Obschon die Renovation der Tonhalle am See feststand, gab es erst vage Andeutungen, dass das Orchester im Maag-Areal eine Interimsspielstätte finden könnte. Die Abstimmung über den Baukredit und die Entschuldung der Tonhalle-Gesellschaft lag noch in weiter Ferne. Klar war allerdings: Sollte das Tonhalle-Orchester als Ensemble weiterbestehen, konnte es nicht während des Umbaus jahrelang pausieren.

Trotz der unklaren Situation machten Spillmann Echsle Architekten für die Tonhalle-Gesellschaft eine Machbarkeitsstudie in der sich bereits im Umbau befindenden ehemaligen Eventhalle und bestätigten, dass er Platz für 1200 Zuschauer bot. Allerdings war die Raumhöhe für eine gute Akustik zu niedrig. Um das Volumen zu vergrössern, hoben sie darum das Dach um einen Meter an. Ausserdem entfernten sie eine Stützenreihe in der Mitte der Halle und unterteilten aus akustischen Gründen die zur Nachbarhalle durchlaufenden Dachträger. Zwischen die zukünftigen Räumlichkeiten der Ton­halle und jene der Maag Music & Arts mit dem Musicaltheater schalteten sie schliesslich eine zusätzliche Brandschutzwand. Zusammen mit der alten Hallentrennwand spart diese nun auch eine Zone als zusätzlichen akustischen Schallpuffer aus. All das geschah innerhalb von knapp drei Monaten.

Erst Mitte 2016, nach der Annahme des Kredits durch das Zürcher Stimmvolk an der Urne, war sicher, dass das Orchester für drei Jahre im Maag-Areal unterkommen würde. Im Januar 2017 begannen die Architekten mit dem Einbau des Holzsaals und dem Innenausbau der alten Halle sowie der Nebenräume darum herum. Sechs Monate später fanden die ersten Probekonzerte statt.

Alte Hülle, neuer Kern

Nichts ist pompös, das Provisorium wirkt weitaus schlichter als die Tonhalle am See. Der heutige Haupt­eingang mit Entree, Kasse und Besuchergarderoben befindet sich in einem umgestalteten, langen Lagerraum. Von dort gelangt man in die ehemalige Härterei, die als Besucherfoyer dient. Hier und auch in den anderen umgebauten Räumen erfolgten neue Eingriffe an der Archi­tektur zurückhaltend. Grundsätzlich baute man das zurück, was im Lauf der Zeit baulich hinzugefügt worden war. Die Böden sind fast so, wie sie waren, als man mit dem Umbau begann. Zahlreiche Spuren von baulichen Anpassungen, die im Lauf der industriellen Nutzung des Areals gemacht wurden, blieben sichtbar: Die Fundamente längst entfernter Wände, Reste gelber Verkehrs- oder Parklinien für Transportvehikel oder zubetonierte Schächte erzählen von der industriellen Vergangenheit und wirken wie abstrakte Kunstfragmente. Auch alte technische Installationen an Wänden und Decken blieben am Ort, und die von Maschinen und Fahrzeugen abgeschlagenen Wandecken sind ungeflickt. Gleichwohl prägt eine neue Farbigkeit die Räume – wo früher ein funktionaler Industrieanstrich die Wände überzog, gibt es heute in der Besuchergarderobe und im Foyer einen feinen, mattgoldenen Horizont, um die festliche Funktion der Räume zu unterstreichen.

So zurückhaltend Foyer, Erschliessung und Garderoben angepasst sind, so viel gestalterische Konzentration steckt im Saal. Der an Stahlträgern präzise in der Industriehalle befestigte Klangkörper ist eine leicht und einfach wirkende Holzkonstruktion. Was auf den ersten Blick selbstverständlich wirkt, ist jedoch durch Voraussicht, durch akustischen Konsens zwischen neuer Struktur und alter Substanz sowie durch die geringen finanziellen Mittel entstanden.

Karlheinz Müller, wichtigster Konkurrent zum Elbphilharmonie-Akustiker Yasuhisa Toyota, begleitet das Tonhalle-Orchester schon seit Jahren. Dass der kristallene Klang der Akkordeons und jener der vollmundigen Hörner in der räumlichen Tiefe miteinander kommunizieren und ein Gesamtes bilden, ist unter anderem sein Verdienst: Er stellte fest, dass der Nachhall in der Maag-Halle bei leisen Konzerten ungenügend ist, und empfahl Elemente zu seiner Verlängerung. Der Nachhall hängt unter anderem von der Saalhöhe ab, die etwas zu gering ist. Im Jahr 2015 konnte die Höhe – trotz der vorausschauenden Vorgehensweise der Architekten – wegen der Gebäudekante des Nachbarbaus nur um 1 m angehoben werden. Grundsätzlich ist die Akustik im Saal aber gut, und auch die Musiker arbeiten gern darin. Sie konnten sich musikalisch sogar weiterent­wickeln. Die alte Tonhalle an der Gotthardstrasse hat akustisch einen weitaus grösseren Spielraum, jene im Maag-Areal ist dagegen sensibler, jeder falsche Ton springt ins Ohr.

Karlheinz Müller half den Architekten, die ­Winkel der Wandelemente und das Raumvolumen im Innern der Halle zu gliedern. Er ist überzeugt, dass der architektonische Entwurf eines Konzertsaals die akustischen Eigenschaften eines Raums in sich tragen muss – sie stehen also bereits mit dem Rohbau fest. Konkret weisen beim Maag-Provisorium die Holzelemente eine bestimmte Eigenschwingung auf. Die Pa­neele der Saalwände sind mit der Biegung eines Kugelradius von 110 m gegen innen doppelt gebogen und die Brüstungen leicht nach innen geneigt. Der Innenausbau machte dann noch Verbesserungen oder Korrekturen möglich, zum Beispiel beim Stoff der Sitze.

Durch den Einsatz verschiedener Mittel unter fachlicher Kompetenz ist trotz der etwas zu geringen Raumhöhe ein funktionierender Saal entstanden.

Holz im Gleichgewicht

Es gibt insgesamt 1224 Sitzplätze, und von der Estrade aus können die Zuschauer auf 440 Plätzen der Dirigentin oder dem Dirigenten direkt in die Augen schauen. Damit hat der Bau etwa 300 Plätze weniger als die Tonhalle am See. Die Stühle und sogar die Bühne lassen sich herausräumen und können bei Bedarf ins Untergeschoss abgesenkt werden.

Alle 3.22 m hohen und 8 cm dicken Holzelemente der Saalwände gelangten durch das alte Haupttor ins Halleninnere und wurden dort an eine Stahlstruktur montiert. Die nordische Fichte ist in Lettland langsamer gewachsen, als dies in der Schweiz der Fall gewesen wäre. Das Holz ist daher ausgesprochen feinporig und dicht und hat in der Qualitätsstufe A fast keine Astlöcher. «Dreischichtplatten in so grossen Dimensionen, aus so gutem Holz und so präzise verleimt – das kann die Schweizer Holzindustrie nicht leisten», sagt Architekt Harald Echsle. Die Holzelemente sind transparent gestrichen, und der von einer Langenthaler Firma «fast geschenkte» Stoff, mit dem die Holzstühle bezogen sind, verleiht dem Raum dezenten Glanz. Wichtig ist das ganzjährig konstante Raumklima im Saal­innern: Es wird im Winter mit stündlich 425 l Wasserdampf aufrecht erhalten. Wenn das Publikum zahlreich ist, muss der Luft hingegen Wasser entzogen werden. In jedem Fall gelangt währenddessen Zuluft durch über 2 Mio. Löcher im Eichenboden unhörbar in den Saal.

Zurückhaltend und voraussichtig

Die Tonhalle-Gesellschaft hat damit gerechnet, im Provisorium Stammpublikum zu verlieren. Da aber in diesem Fall weniger Prestige nicht mit weniger Ambiente verbunden ist und schon gar nicht mit geringerer musikalischer Qualität, besucht ein neues und jüngeres Publikum die Vorstellungen. Die Gäste haben zudem entdeckt, dass sie von fast überall her schneller im Maag-Areal sind als bei der Tonhalle am See.

Die Frage wird brisant: Was geschieht mit dem Raum, wenn das Orchester nächstes Jahr an den See zurückkehrt? Bestimmt ist er zu schade für ein bloss dreijähriges Bestehen. Was auf den Provisoriumscharakter hinweist, sind vor allem die relativ bescheidenen 6.5 Mio. Fr. Baukosten (siehe «Eigentum, Finanzen», S. 25). In anderen Aspekten unterscheidet sich der Bau nicht massgeblich von sogenannt «permanenten» Bauten, auch baurechtlich gibt es keinen Unterschied. Ein Verkauf des Saals durch die Tonhalle-Gesellschaft kommt aufgrund des beschränkten Budgets nicht infrage: Die Bauteile lassen sich nicht auseinandernehmen, ohne sie zu beschädigen – ein Wermutstropfen im architektonischen Konzept. Trotzdem zeigt das Beispiel, dass sich Umnutzungen nicht nur finanziell, sondern auch punkto Ressourcen lohnen. Angesichts der sich laufend weiterentwickelnden Bautechniken und -materialien ist Gebautes schneller veraltet, was wiederum den Kreislauf um Neubau und Abbruch beschleunigt. Der überwiegende Teil des Abfalls in der Schweiz stammt aus der Bauwirtschaft, und rezykliert wird das Wenigste davon. Zwar stehen Recyc­lingprojekte bei Hochschulen und Forschungsanstalten hoch im Kurs, doch Recycling allein ist nicht zielführend, um Bauen ökologischer zu machen. Dazu tragen neben Neubauten, die energetisch auf neuestem Stand sind, naheliegenderweise auch länger genutzte oder umgenutzte Altbauten bei.

Der verglichen mit anderen Ländern hochwertige Altbaubestand als reichste Bauressource unseres Landes verdient differenziertere Beachtung. Die Maag-­Halle ist ein gutes Beispiel, wie man konstruktiv und kreativ am Bestand weiterbauen und individuell angepasste Lösungen entwickeln kann – innerhalb derer auch punktuell die homogene architektonische Perfektion von Neubauten hinterfragt werden darf. Kontraste aus Alt und Neu, aus makellos und verblasst bilden einen menschlichen Massstab im Zeithorizont einer Stadt, verbinden sie mit ihrer Vergangenheit und tragen zum Ambiente und zur Lebendigkeit bei. Das erfordert aber, dass auch die alltägliche und unspektakuläre Altbausubstanz über denkmalpflegerische oder ökonomische Überlegungen hinaus in die Stadtplanung miteinbezogen wird.

Konkurrenz oder Ergänzung?

Der Bau ist das eine. Etwas anderes ist die Frage, wer den Betrieb der Kulturinstitution auf dem Maag-Areal zukünftig bezahlt – und ob Investoren oder Eigentümer bereit sind, auf hohe Renditen zu verzichten. Was mit dem Saal der Tonhalle geschieht, stellt sich diesen Sommer heraus, wenn die Stadt entschieden hat, ob sie den Kulturbau mit rund 600 000 Fr. jährlich subventio­niert. Doch dazu muss sich eine überzeugende Trägerschaft finden, der Subventionen zustehen. Tomic Aladen von SPS, dem Besitzer des Areals, sagt: «Wir sind in verschiedenen Gesprächen bezüglich der künftigen Nutzung der Flächen – mehr können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht dazu sagen.» Es gibt nicht beliebig viele Träger, die infrage kommen, darunter die Tonhalle-­Gesellschaft, das Kammerorchester oder die ZHdK.

Der Konzertsaal funktioniert. Aber eigentlich tut dies das ganze Maag-Areal seit mehr als 100 Jahren als ein flexibel anpassbares Gefäss. Der 2019 inven­tarisierte Bau K soll erhalten bleiben – und eventuell bleibt auch die Halle mit dem Tonhalle-Provisorium bestehen. Dass aber – wie in den Sonderbauvorschriften «Maag-­Areal Plus» optional aufgeführt – auch andere Bauten des Areals erhalten bleiben, ist bedauerlicherweise zweifelhaft, denn SPS will an ihrer Stelle Neubauten errichten.

TEC21, Fr., 2019.05.03

03. Mai 2019 Danielle Fischer

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