Editorial

In Österreich stieg die Zahl der zwischen Unternehmen und ihren KundInnen verschickten Pakete von 2016 auf 2017 um 27,3 Prozent auf über 100 Millionen. Bei etwa 40 Prozent davon handelt es sich um Retouren. Gleichzeitig verschwinden große, traditionelle Logistikareale aus den Städten, weil sie sich, einst an den Rändern gelegen, mittlerweile auf teuren zentralen Grundstücken befinden. Der Effekt: Weniger große LKWs, die in die Zentren fahren, dafür viel mehr Kleintransporter auf den Straßen.

»Die Ökobilanz dieser Verlagerung fällt eindeutig negativ aus«, schreiben Michael Hieslmair und Michael Zinganel in ihrem Beitrag Der Wiener Nordwestbahnhof – Geschichte eines Logistik-Knotens.

Die ereignisreiche und wechselvolle Geschichte des Nordwestbahnhofs wird dem- nächst zu Ende gehen, weil auf seinem Areal Wohnungen für 15.000 Menschen gebaut werden. Für uns Grund genug, einen Blick zurück zu werfen und seine Geschichte zu erzählen.

Nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Logistik ist eines der Themen in Benjamin Herrs Artikel Alle Macht den Rädern – Fahrradkuriere und Plattformen im urbanen Kapitalismus, in dem es auch um Prekarität im Gewerbe der Botendienste sowie Arbeitsrechte und -kämpfeim Zeitalter der Digitalisierung geht. Benjamin Herr war zum selben Thema übrigens auch Gast in der Aprilsendung von Radio dérive, die auf unserer Website – ebenso wie alle anderen Sendungen von Radio dérive – nachgehört werden kann.

Neben Logistik gibt es einen zweiten kleinen Schwerpunkt in dieser Sampler-Ausgabe, der sich mit Widerstand und Protestkultur, Sichtbarkeit und Hegemonie im öffentlichen Raum beschäftigt. Schließlich finden in vielen europäischen Städten seit Monaten regelmäßig Demonstrationen und Proteste statt – von Belgrad und Sarajevo über Berlin, Wien und Budapest bis zu den Gelbwesten in Paris und anderen französischen Städten. Eine der derzeit kontinuierlichsten Protestformen in Wien und anderen österreichischen Städten bilden die sogenannten Donnerstagsdemos: Sie richten sich einerseits gegen die rechts-rechtsextreme österreichische Regierung und sollen andererseits eine Bühne und einen Vernetzungsraum für die Vielfalt an Menschen bieten, die an einer Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse arbeiten. »Fix z’am« lautet der Slogan. Wir haben mit Gabu Heindl und Can Gülcü zwei VertreterInnen des Organisations-Teams zum Interview gebeten.

Was die Proteste in Wien mit jenen in Budapest eint, ist das Streben nach einer demokratischeren Gesellschaft und die Kritik an einer autoritären, antiurbanen Regierung.

In Budapest, zeigt Gabriella Csoszó in ihrem Text für dérive, geht es konkret um ganz bestimmte Plätze, wie etwa den Kossuth-Platz, und um die laufenden Versuche, die Definitionshoheit über sie zu gewinnen. Dieser Kampf wird mit dem Aufstellen und Entfernen von Denkmälern, mit Präsenz, Subversion und Protest ausgetragen.

Gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn gingen Anfang April in Berlin und anderen deutschen Städten Tausende auf die Straßen. Die Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen macht seit Monaten internationale Schlagzeilen und erhält bei Meinungsumfragen unerwartet großen Rückhalt aus der Bevölkerung. Gleichzeitig erfährt sie immer schrillere Kritik (»DDR-Methoden«) von den ideologischen UnterstützerInnen und ökonomischen ProfiteurInnen des herrschenden Systems, das weder in der Lage, noch gewillt zu sein scheint, Wohnraum zu leistbaren Mieten für die Berliner Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Andrej Holm, aktuell Partner von dérive bei einem Forschungsprojekt über Neues Soziales Wohnen an der TU Wien, hat Daten, Fakten und Argumente rund um die Kampagne und ihr Thema zusammengetragen und dazu einen Artikel für die vorliegende Ausgabe verfasst.

Kritik an den Auswüchsen bzw. mittlerweile leider schon Selbstverständlichkeiten des aktuellen Immobilienmarkts formuliert auch Anita Aigner: Sie hat sich das Konzept der Vorsorgewohnungen im Detail angesehen, das Wohnen tatsächlich nur mehr als Ware und Anlageprodukt sieht und speziell auf KleininvestorInnen zugeschnitten ist.

Die Brücke zum Interview mit den drei StadtforscherInnen Selin Yazıcı, Ahmet Yıldırım und Erbatur Çavuşoğlu über Raumpolitik als Herrschaftsinstrument in der Türkei gelingt noch einmal über das Thema Widerstand und Protest. Mahalleler Birliği heißt eine Plattform von Stadtteilinitiativen, die sowohl für die rechtliche Sicherheit in ihren Wohnvierteln ein- treten als auch gegen Projekte der Stadterneuerung ohne Involvierung der BewohnerInnen kämpfen. Dabei geht es auch um die Zerstörung der Altstadt von Diyarbakır im Zuge einer monatelangen Militäraktion im Jahr 2015, was uns zum letzten Beitrag dieses Samplers führt. Die Soziologin und Kriminologin Andrea Kretschmann setzt sich darin mit Urban Warfare auseinander: Sie beforscht artifizielle Städte, die welt- weit von Armeen errichtet werden, um den Krieg in den Städten zu trainieren.

Das Kunstinsert Transport und Transformation stammt von Sonja Gangl, die großformatige, minutiöse Zeichnungen von Abfallprodukten der Konsumgesellschaft erstellt. »Die einzigartige Akribie ihres Bleistiftstriches wird zum Stilmittel, das den Sujets – kontrastierend zum Nichtwert der Objekte – für den Betrachter einen Wert verleiht,« schreibt Paul Rajakovics im Text zum Insert.

Ein Hinweis zum Abschluss: Das Frühjahrsprogramm der Reihe Stadt Streifen von Cinema dérive beschließen wir am 28. April, wie immer um 13 Uhr, im Wiener Filmcasino mit einem brandneuen Dokumentarfilm über die weltweite Wohnungskrise als Preview-Vorstellung: Der bereits bei der Weltpremiere ausgezeichnete Film PUSH von Fredrik Gertten folgt der UN-Sonderberichterstatterin Leilani Farha auf den Spuren der Finanzialisierung der Immobilienmärkte rund um die Welt. Die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen trifft dabei verzweifelte BewohnerInnen und Nachbarschaftsinitiativen ebenso wie Soziologin Saskia Sassen, Ökonomie-Nobelpreisträger Josef Stiglitz, Mafia-Aufdecker Roberto Saviano oder PAH-Gründerin und Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau. Im Anschluss bitten wir zum Filmgespräch mit Lukas Tockner, Referent für Wohnpolitik der AK Wien.

Die Redaktion

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

04—11
Der Wiener Nordwestbahnhof
Michael Hieslmaier, Michael Zinganel

12—16
Es könnten unsere Plätze sein
Gabriella Csoszo

17—25
Wohnraum als Investment
Anita Aigner

26—31
Viele fragten sich: Was tun?
Gabu Heindl, Can Gülcü

Kunstinsert
32—36
Sonja Gangl
Transport und Transformation

37—41
Alle Macht den Rädern
Benjamin Herr

42—46
Raumpolitik als Herrschaftsinstrument in der Türkei
Erbatur Cavusoglu, Selin Yazici, Ahmet Yildirim

47—50
Krieg und artifizieller Städtebau
Andrea Kretschmann

51—53
Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung
Andrej Holm

Besprechungen
54—62

Die Normierung der alltäglichen Unmenschlichkeit S. 54
Die österreichische Architektur im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit S. 55
Eloge für einen Nazi S. 56
Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen – eine internationale Rundschau S. 57 Dichtefrust im land der hohen Berge? S. 59
Die Poesie der Ziegelsteine ist obsolet S. 60
Streetart goes underground S. 58

68
Impressum

Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen – eine internationale Rundschau

Besprechung der Ausstellung »together! Die neue Architektur der Gemeinschaft« im Vitra Design Museums

Bezahlbarer Wohnraum ist zu einem knappen Gut geworden. In europäischen Großstädten steigen seit der Finanzkrise 2007/2008 die Immobilienpreise, hergebrachte Konzepte des Wohnungsbaus taugen für viele nicht mehr. Bauen und Wohnen im Kollektiv erscheint immer mehr Menschen als Alternative, um den Zumutungen des Marktes, aber auch der Vereinzelung und Vereinsamung zu entgehen. Eine von Ilka und Andreas Ruby zusammen mit dem Architekturbüro EM2N kuratierte Ausstellung widmet sich unter dem Titel Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft diesem gesellschaftlichen Trend und gesellschaftspolitisch hochrelevanten Thema. Die bereits 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (Deutschland) und 2018 im centre d’innovation et de design in Le Grand Hornu (Belgien) präsentierte Wanderausstellung hat vom 28.11.2018–17.03.2019 im Grassimuseum in Leipzig Halt gemacht. Einem Museumsbau (1925–1929 aus dem Vermögen des aus Italien stammenden Leipziger Kaufmanns Franz Dominic Grassi erbaut), der für sich genommen schon einen Besuch wert ist.

Auch in der größten Stadt Sachsens, wo bis vor kurzem noch beachtliche öffentliche Mittel (allein zwischen 2003 und 2013 gut 45 Millionen Euro) in den Rückbau von Wohnungen gesteckt wurden, hat sich das Blatt gewendet. Leipzig ist kein Paradies der Altbauwohnungen und billigen Mieten mehr. Dass das Thema einen Nerv der Zeit trifft, zeigt sich schon am Andrang der BesucherInnen. Der junge Architekt, der am Sonntagnachmittag durch die Sonderausstellung führt, hat mit einer unerwartet großen Menge von Interessierten zu tun. Aus einer Führung werden dann zwei. Eng wird es trotzdem – und lebendig, nicht wenige sind mit Kleinkindern und Kinderwagen unterwegs. Die BesucherInnen, überwiegend junge Leute, werden durch vier Ausstellungsteile geführt.

Der erste Abschnitt soll zeigen, dass die neue Gemeinschaftsarchitektur nicht aus dem Nichts kommt, sondern eine (Vor)Geschichte hat. Beim Blick auf die Geschichte greift die Ausstellungsgestaltung das Motiv des Protests auf und betont damit das Moment der Auflehnung gegen bestehende Verhältnisse: Der Boden besteht aus Pflastersteinen, die Wände sind großflächig mit Fotos von öffentlichen Demos tapeziert, auf vertikal in die Höhe ragenden Protestschildern werden »historische Vorläufer« präsentiert. Allein die Auswahl der etwa 30 Beispiele gibt zu denken: Was haben die Phalanstère von Charles Fourier (1820), die Künstlerkolonie von Monte Verità in Ascona (um 1900), der Karl-Marx-Hof in Wien (1927–30), die Unité d’habitation von Le Corbusier in Marseille (1947–52), die Kommune 1 in Berlin (1967–69), Kurokawas Nakagin Capsule Tower in Tokyo (1970–72), Harry Glücks Wohnpark Alt-Erlaa (1973–85) und die seit 1971 bestehende autonome Wohnsiedlung Freistadt Christiana in Kopenhagen gemeinsam bzw. mit »der neuen Architektur der Gemeinschaft« zu tun? Es liegen Welten zwischen den Beispielen: politisch, finanziell, soziostrukturell, organisatorisch, rechtlich, formal.

Bei manchen Projekten stehen zentrale Serviceeinrichtungen zur Alltagserleichterung im Vordergrund, bei anderen geht es darum, im Zuge von Hausbesetzungen alternative Formen des Zusammenlebens zu erproben; mal materialisieren sich lebensreformerische Ideen einer Elite, mal entwickeln völlig Mittellose aus Wohnungsnot genossenschaftliche Formen der Selbsthilfe und des Selbstbaus; manchmal ist Gemeinschaft von oben verordnet, manchmal kommt sie selbstorganisiert von unten daher. Auch wenn auf den ersten Blick kein gemeinsamer Nenner auszumachen ist – der Brückenschlag gelingt dennoch, wenn man sich vor Augen führt, dass es bei den versammelten Projekten doch meistens um Alternativen zur Norm kapitalistischer Wohnungsproduktion, um Benutzen statt Besitzen von Wohnraum geht.

Im zweiten Ausstellungsraum bewegen sich die BesucherInnen durch ein Meer von Modellen (im recht ungewöhnlichen Maßstab 1:24). Sie repräsentieren internationale Gegenwartsprojekte aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Niederlande und Dänemark, aber auch aus Japan und den USA. Die 22 Modelle bilden zusammen »eine fiktive Stadt«, die auf der Utopie basiert, dass sich Grund und Boden nicht in Privatbesitz befinden und der Staat Regularien geschaffen hat, die dafür sorgen, dass der Boden bei der Errichtung von Wohnraum nicht zum Kostenfaktor wird. Die gemeinschaftlich genutzten Flächen sind farblich hervorgehoben. In knappen, an der Seitenfläche der Modelle angebrachten Steckbriefen erfährt man, dass die Projekte sehr unterschiedlichen (Finanzierungs- und Rechts-) »Modellen« folgen – es wird zwischen Baugruppe, Genossenschaft, Sozialem Wohnbau und Mischmodellen unterschieden. Fragen zur Finanzierung und Bewirtschaftung der Wohnimmobilien, aber auch zur sozialen Zusammensetzung der Kollektive bleiben jedoch (vorerst) offen. Im dritten Ausstellungsteil werden die BesucherInnen durch eine sogenannte Cluster-Wohnung geführt. Dabei handelt es sich um das 1:1-Modell eines Grundrisses (genauer eines Ausschnitts davon), der dem einfachen Prinzip der Minimierung von privaten Wohneinheiten bei gleichzeitiger Maximierung von Gemeinschaftsflächen folgt. Diese Wohnungstypologie kombiniert privaten Rückzug mit der Möglichkeit sozialer Interaktion in großzügigen Küchen und Gemeinschaftswohnräumen. Sie ist auch verbunden mit schonendem Ressourcenverbrauch.

Der Flächenbedarf pro Kopf kann reduziert werden (am Beispiel des Projekts Kalkbreite in Zürich von durchschnittlich 50 m² auf 33 m²). Den fiktiven BewohnerInnen der Cluster-Wohnung wird mit von der Decke hängenden Sprechblasen eine Stimme verliehen. Sie erzählen vom Alltagsleben in dieser gemeinschaftlichen Wohnkonstellation – davon, was Menschen in verschiedenen Lebensphasen (z. B. alleinerziehende Mutter oder Pensionistin) hier als vorteilhaft und positiv erachten. Verlebendigt wird die Installation auch durch die zur Benutzung einladende Ausstattung: BesucherInnen sitzen am großen Tisch der Ausstellungsküche und unterhalten sich; Kinder hantieren mit Spielzeug, das im Kinderzimmer eigentlich ausgestellt ist. Die illusionistischen Fototapeten des Fotografen Daniel Burchard verleihen den begrenzten Ausstellungsräumen Tiefenwirkung, vermitteln Ausblicke auf ein urbanes, aber freundliches Draußen. Das vierte Ausstellungssegment ist gedacht als Anstiftung zum Nachmachen. Hier gibt es Gelegenheit, sich an fünf Computerarbeitsplätzen über den Prozess der Umsetzung zu informieren.

Die Filme (über die Sargfabrik in Wien, Zwicky-Süd in Zürich, LaBorda in Barcelona, R50 in Berlin und ein kleines Apartmenthaus mit Restaurant in Tokyo) stellen das wertvollste Ausstellungsmaterial dar, insofern die BesucherInnen nun etwas über das Machen, die komplexen Aushandlungs- und Planungsprozesse, die Beschaffenheit und Arbeit der Kollektive und vor allem die ökonomische Dimension der Projekte, die unterschiedlichen Bewirtschaftungs- und Finanzierungsmodelle sowie die Realisierbarkeit unter unterschiedlichen Förderregimen erfahren. Die Inszenierung als Co-Working Space darf einerseits als Verweis auf gemeinschaftlich genutzte Flächen gelesen werden. Andererseits erinnert das Sitzen am Computer daran, dass die Präsentation der Projekte auf Webseiten einen zentralen Aspekt des Austauschs und des (Voneinander)Lernens von Baugruppen darstellt, das Internet aber auch neue Möglichkeiten der Finanzierung (Crowdfunding) offeriert. Ergänzt und abgerundet wird die Ausstellung am Ende mit einschlägigen Fallbeispielen aus Leipzig.

Diese lokale Fortschreibung mit Beispielen, die in Opposition zu Standardformaten des Immobilienmarktes stehen, macht die Ausstellung auch für weitere Städte attraktiv. Ob es Gelegenheit geben wird, die Ausstellung in Wien zu sehen? Das ist derzeit noch ungewiss. Sie wird im Anschluss nach Genf ins Maison d’Architecture Genève wandern.

Weitere Stationen, darunter auch Wien, sind in Planung, aber nach Auskunft der KuratorInnen noch nicht in trockenen Tüchern. Wünschenswert wäre es. Nicht nur, um aktuelle Wiener Projekte einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, sondern auch, um einen öffentlichen Diskurs über Neues soziales Wohnen – das Leitthema der 2022 in Wien stattfindenden Internationalen Bauausstellung (IBA) – anzuregen.

Über das Together, über Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, soziales Miteinander und Wir-Gefühl wird noch nachzudenken (und empirisch zu forschen) sein. Zieht gemeinschaftliche Planung doch nicht notwendig gemeinschaftliches Wohnen nach sich. Ebenso tut eine differenziertere Darstellung und Bewertung von Baugruppen Not. Liegen doch Welten zwischen einer Eigentümergemeinschaft, bei der Mitglieder ihre Wohnungen bei Auszug auf dem freien Markt veräußern können, und einer genossenschaftlich organisierten Gemeinschaft, die Wohnraum dauerhaft dem freien Markt entzieht. Der Ausstellung ist jedenfalls zu wünschen, dass sie noch an vielen Orten Ansteckungskraft entfacht. Sie ist wichtig, weil sie den politischen Diskurs über Wohnen, die Frage, wie wir zusammenleben wollen, an der Wurzel packt.

Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft
Eine Ausstellung des Vitra Design Museums kuratiert von Ilka und Andreas Ruby sowie EM2N.
Grassi – Museum für angewandte Kunst Leipzig
28.11.2018–17.03.2019
Der Katalog zur Ausstellung ist leider vergriffen.

dérive, Di., 2019.04.30

30. April 2019 Anita Aigner

Die österreichische Architektur im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit

Besprechung von »BauKultur in Wien 1938–1959« von Ingrid Holzschuh (Hg.) in Zusammenarbeit mit der Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs.

Mit dem Band Baukultur in Wien 1938–1959 leisten die Autorinnen einen wichtigen Beitrag zur österreichischen Architekturgeschichtsschreibung.

Denn anhand des Vereins Zentralvereinigung der ArchitektInnen (ZV) mit seiner überschaubaren Mitgliederzahl – 1937 waren es österreichweit etwas mehr als 500 – lassen sich politische Übergänge wie in einem Brennglas beobachten und damit auch Rückschlüsse auf andere Berufsgruppen bzw. die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ziehen. Die versammelten Texte lassen einerseits ein umfassendes Zeitpanorama sowohl für die Epoche des Nationalsozialismus als auch der Nachkriegszeit entstehen und ermöglichen andererseits spezielle Vertiefungen zu ausgewählten Aspekten – etwa zur Rolle von Frauen in der Architektur, zum internationalen Architekturdiskurs, zur Bedeutung der Architekturpublizistik oder zum Schicksal jüdischer Mitglieder.

Eine wichtige Quellenbasis bilden die bisher verschollen geglaubten Mitgliederakten der NS-Reichskammer der bildenden Künste, Fachgruppe Architekten, die 1945 zur ZV gelangten und von ihr weitergeführt wurden. Sie geben Einblicke sowohl in individuelle Lebenswege als auch den Berufsstand Architekt in seiner Gesamtheit. Auf grauem Hintergrund gedruckt durchziehen abfotografierte ausgewählte Schriftstücke, Dias, zeitgenössische Publikationen oder Plakate das gesamte Buch und verleihen ihm damit anschaulich Authentizität. Einmal mehr zeigt sich dabei, wie rasch der Übergang in die NS-Strukturen verlief: Bereits am 16. März 1938 wurde vom damaligen ZV-Präsidenten, dem Architekten Hans Jaksch, eine Versammlung einberufen und dabei Adolf Hitler als »Schutzherrn der bildenden Künste« gehuldigt. Seit 1936 fungierte Jaksch als Präsident und wurde als politisch derart zuverlässig angesehen, dass ihm Anfang April auch die kommissarische Leitung der Zentralvereinigung und ihre Überführung in die Reichskammer der bildenden Künste übertragen wurde. Negativ wirkte sich dies für ihn auch in der Nachkriegszeit nicht aus – beim Festakt anlässlich des 50-jährigen Bestehens der ZV im November 1957 wurde er als eines der ältesten Mitglieder offiziell geehrt.

Aufgezeigt wird auch, wie rasch jene Personen die Folgen des politischen Wechsels zu spüren bekamen, die entweder aus rassischen oder ideologischen Gründen nun an der Berufsausübung gehindert wurden: der geforderte Ariernachweis bis zu den Großeltern (ebenfalls von den EhepartnerInnen) sowie eine politische Beurteilung zwangen diese Menschen in die Emigration und viele, meist der älteren Generation, die sich nicht mehr verändern wollten oder konnten, fielen der NS-Vernichtungsmaschinerie zum Opfer. Aufnahme fanden nun aber auch ausführende Baumeister ohne akademische Ausbildung, womit Abstammung und politische Zuverlässigkeit mehr zählten als qualitative Kriterien – eine Entwicklung, die in der Nachkriegszeit bei der Wiederentstehung der ZV zu Konflikten führte.

Auch diese Neukonstituierung funktionierte überraschend schnell: trotz teilweise chaotischer Zustände fand bereits am 10. Mai 1945 die erste Sitzung der Kammer der bildenden Künstler statt und schon im September erhielt die ZV ein eigenes Sekretariat. Tonangebend waren oftmals jene Personen, die bereits in der Ersten Republik und im Austrofaschismus wichtige AkteurInnen gewesen waren und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters vielfach vor Ort waren. Der ZV kam nun auch eine Rolle bei der Entnazifizierung zu, die von ihr, wie allgemein, recht großzügig gehandhabt wurde.

Deutlich wird auch die Rolle, welche die ZV für die kulturpolitische Aufklärungsarbeit der Nachkriegszeit spielte: bereits Ende der 1940er-Jahre wurden erste Vorträge und Ausstellungen organisiert sowie die Zeitschrift Der Bau als wichtiges Architekturmedium herausgegeben. Damit konnte schnell an die frühere Bedeutung angeknüpft werden. Internationale Architekturstars, wie Alvar Aalto oder Richard Neutra, boten Einblicke ins aktuelle Architekturgeschehen und wurden damals sogar vom Wiener Bürgermeister empfangen. Als 1957 die Ziviltechnikerkammer als Berufsvertretung etabliert wurde und die ZV diese Aufgabe verlor, erfolgte 1959 die Neugründung als kulturelle Vereinigung, die für Architekturqualität eintritt und diesem Anliegen bis heute verpflichtet ist.

Es ist zu hoffen, dass weitere Archivrecherchen ebenso anregende Ergebnisse bringen werden – sehr zu bedauern ist allerdings, dass für die Zeitspanne von der Gründung im Jahr 1907 bis zur Auflösung im Jahr 1938 keine Bestände erhalten sind – diese hätten einen spannenden Einblick in die Kinderjahre der Architekturvermittlung ermöglicht.

Ingrid Holzschuh (Hg.) in Zusammenarbeit mit der Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs BauKultur in Wien 1938–1959
Basel: Birkhäuser Verlag, 2019
200 Seiten,
29,95 Euro

dérive, Di., 2019.04.30

30. April 2019 Barbara Feller

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