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30. April 2019Anita Aigner
dérive

Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen – eine internationale Rundschau

Besprechung der Ausstellung »together! Die neue Architektur der Gemeinschaft« im Vitra Design Museums

Besprechung der Ausstellung »together! Die neue Architektur der Gemeinschaft« im Vitra Design Museums

Bezahlbarer Wohnraum ist zu einem knappen Gut geworden. In europäischen Großstädten steigen seit der Finanzkrise 2007/2008 die Immobilienpreise, hergebrachte Konzepte des Wohnungsbaus taugen für viele nicht mehr. Bauen und Wohnen im Kollektiv erscheint immer mehr Menschen als Alternative, um den Zumutungen des Marktes, aber auch der Vereinzelung und Vereinsamung zu entgehen. Eine von Ilka und Andreas Ruby zusammen mit dem Architekturbüro EM2N kuratierte Ausstellung widmet sich unter dem Titel Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft diesem gesellschaftlichen Trend und gesellschaftspolitisch hochrelevanten Thema. Die bereits 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (Deutschland) und 2018 im centre d’innovation et de design in Le Grand Hornu (Belgien) präsentierte Wanderausstellung hat vom 28.11.2018–17.03.2019 im Grassimuseum in Leipzig Halt gemacht. Einem Museumsbau (1925–1929 aus dem Vermögen des aus Italien stammenden Leipziger Kaufmanns Franz Dominic Grassi erbaut), der für sich genommen schon einen Besuch wert ist.

Auch in der größten Stadt Sachsens, wo bis vor kurzem noch beachtliche öffentliche Mittel (allein zwischen 2003 und 2013 gut 45 Millionen Euro) in den Rückbau von Wohnungen gesteckt wurden, hat sich das Blatt gewendet. Leipzig ist kein Paradies der Altbauwohnungen und billigen Mieten mehr. Dass das Thema einen Nerv der Zeit trifft, zeigt sich schon am Andrang der BesucherInnen. Der junge Architekt, der am Sonntagnachmittag durch die Sonderausstellung führt, hat mit einer unerwartet großen Menge von Interessierten zu tun. Aus einer Führung werden dann zwei. Eng wird es trotzdem – und lebendig, nicht wenige sind mit Kleinkindern und Kinderwagen unterwegs. Die BesucherInnen, überwiegend junge Leute, werden durch vier Ausstellungsteile geführt.

Der erste Abschnitt soll zeigen, dass die neue Gemeinschaftsarchitektur nicht aus dem Nichts kommt, sondern eine (Vor)Geschichte hat. Beim Blick auf die Geschichte greift die Ausstellungsgestaltung das Motiv des Protests auf und betont damit das Moment der Auflehnung gegen bestehende Verhältnisse: Der Boden besteht aus Pflastersteinen, die Wände sind großflächig mit Fotos von öffentlichen Demos tapeziert, auf vertikal in die Höhe ragenden Protestschildern werden »historische Vorläufer« präsentiert. Allein die Auswahl der etwa 30 Beispiele gibt zu denken: Was haben die Phalanstère von Charles Fourier (1820), die Künstlerkolonie von Monte Verità in Ascona (um 1900), der Karl-Marx-Hof in Wien (1927–30), die Unité d’habitation von Le Corbusier in Marseille (1947–52), die Kommune 1 in Berlin (1967–69), Kurokawas Nakagin Capsule Tower in Tokyo (1970–72), Harry Glücks Wohnpark Alt-Erlaa (1973–85) und die seit 1971 bestehende autonome Wohnsiedlung Freistadt Christiana in Kopenhagen gemeinsam bzw. mit »der neuen Architektur der Gemeinschaft« zu tun? Es liegen Welten zwischen den Beispielen: politisch, finanziell, soziostrukturell, organisatorisch, rechtlich, formal.

Bei manchen Projekten stehen zentrale Serviceeinrichtungen zur Alltagserleichterung im Vordergrund, bei anderen geht es darum, im Zuge von Hausbesetzungen alternative Formen des Zusammenlebens zu erproben; mal materialisieren sich lebensreformerische Ideen einer Elite, mal entwickeln völlig Mittellose aus Wohnungsnot genossenschaftliche Formen der Selbsthilfe und des Selbstbaus; manchmal ist Gemeinschaft von oben verordnet, manchmal kommt sie selbstorganisiert von unten daher. Auch wenn auf den ersten Blick kein gemeinsamer Nenner auszumachen ist – der Brückenschlag gelingt dennoch, wenn man sich vor Augen führt, dass es bei den versammelten Projekten doch meistens um Alternativen zur Norm kapitalistischer Wohnungsproduktion, um Benutzen statt Besitzen von Wohnraum geht.

Im zweiten Ausstellungsraum bewegen sich die BesucherInnen durch ein Meer von Modellen (im recht ungewöhnlichen Maßstab 1:24). Sie repräsentieren internationale Gegenwartsprojekte aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Niederlande und Dänemark, aber auch aus Japan und den USA. Die 22 Modelle bilden zusammen »eine fiktive Stadt«, die auf der Utopie basiert, dass sich Grund und Boden nicht in Privatbesitz befinden und der Staat Regularien geschaffen hat, die dafür sorgen, dass der Boden bei der Errichtung von Wohnraum nicht zum Kostenfaktor wird. Die gemeinschaftlich genutzten Flächen sind farblich hervorgehoben. In knappen, an der Seitenfläche der Modelle angebrachten Steckbriefen erfährt man, dass die Projekte sehr unterschiedlichen (Finanzierungs- und Rechts-) »Modellen« folgen – es wird zwischen Baugruppe, Genossenschaft, Sozialem Wohnbau und Mischmodellen unterschieden. Fragen zur Finanzierung und Bewirtschaftung der Wohnimmobilien, aber auch zur sozialen Zusammensetzung der Kollektive bleiben jedoch (vorerst) offen. Im dritten Ausstellungsteil werden die BesucherInnen durch eine sogenannte Cluster-Wohnung geführt. Dabei handelt es sich um das 1:1-Modell eines Grundrisses (genauer eines Ausschnitts davon), der dem einfachen Prinzip der Minimierung von privaten Wohneinheiten bei gleichzeitiger Maximierung von Gemeinschaftsflächen folgt. Diese Wohnungstypologie kombiniert privaten Rückzug mit der Möglichkeit sozialer Interaktion in großzügigen Küchen und Gemeinschaftswohnräumen. Sie ist auch verbunden mit schonendem Ressourcenverbrauch.

Der Flächenbedarf pro Kopf kann reduziert werden (am Beispiel des Projekts Kalkbreite in Zürich von durchschnittlich 50 m² auf 33 m²). Den fiktiven BewohnerInnen der Cluster-Wohnung wird mit von der Decke hängenden Sprechblasen eine Stimme verliehen. Sie erzählen vom Alltagsleben in dieser gemeinschaftlichen Wohnkonstellation – davon, was Menschen in verschiedenen Lebensphasen (z. B. alleinerziehende Mutter oder Pensionistin) hier als vorteilhaft und positiv erachten. Verlebendigt wird die Installation auch durch die zur Benutzung einladende Ausstattung: BesucherInnen sitzen am großen Tisch der Ausstellungsküche und unterhalten sich; Kinder hantieren mit Spielzeug, das im Kinderzimmer eigentlich ausgestellt ist. Die illusionistischen Fototapeten des Fotografen Daniel Burchard verleihen den begrenzten Ausstellungsräumen Tiefenwirkung, vermitteln Ausblicke auf ein urbanes, aber freundliches Draußen. Das vierte Ausstellungssegment ist gedacht als Anstiftung zum Nachmachen. Hier gibt es Gelegenheit, sich an fünf Computerarbeitsplätzen über den Prozess der Umsetzung zu informieren.

Die Filme (über die Sargfabrik in Wien, Zwicky-Süd in Zürich, LaBorda in Barcelona, R50 in Berlin und ein kleines Apartmenthaus mit Restaurant in Tokyo) stellen das wertvollste Ausstellungsmaterial dar, insofern die BesucherInnen nun etwas über das Machen, die komplexen Aushandlungs- und Planungsprozesse, die Beschaffenheit und Arbeit der Kollektive und vor allem die ökonomische Dimension der Projekte, die unterschiedlichen Bewirtschaftungs- und Finanzierungsmodelle sowie die Realisierbarkeit unter unterschiedlichen Förderregimen erfahren. Die Inszenierung als Co-Working Space darf einerseits als Verweis auf gemeinschaftlich genutzte Flächen gelesen werden. Andererseits erinnert das Sitzen am Computer daran, dass die Präsentation der Projekte auf Webseiten einen zentralen Aspekt des Austauschs und des (Voneinander)Lernens von Baugruppen darstellt, das Internet aber auch neue Möglichkeiten der Finanzierung (Crowdfunding) offeriert. Ergänzt und abgerundet wird die Ausstellung am Ende mit einschlägigen Fallbeispielen aus Leipzig.

Diese lokale Fortschreibung mit Beispielen, die in Opposition zu Standardformaten des Immobilienmarktes stehen, macht die Ausstellung auch für weitere Städte attraktiv. Ob es Gelegenheit geben wird, die Ausstellung in Wien zu sehen? Das ist derzeit noch ungewiss. Sie wird im Anschluss nach Genf ins Maison d’Architecture Genève wandern.

Weitere Stationen, darunter auch Wien, sind in Planung, aber nach Auskunft der KuratorInnen noch nicht in trockenen Tüchern. Wünschenswert wäre es. Nicht nur, um aktuelle Wiener Projekte einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, sondern auch, um einen öffentlichen Diskurs über Neues soziales Wohnen – das Leitthema der 2022 in Wien stattfindenden Internationalen Bauausstellung (IBA) – anzuregen.

Über das Together, über Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, soziales Miteinander und Wir-Gefühl wird noch nachzudenken (und empirisch zu forschen) sein. Zieht gemeinschaftliche Planung doch nicht notwendig gemeinschaftliches Wohnen nach sich. Ebenso tut eine differenziertere Darstellung und Bewertung von Baugruppen Not. Liegen doch Welten zwischen einer Eigentümergemeinschaft, bei der Mitglieder ihre Wohnungen bei Auszug auf dem freien Markt veräußern können, und einer genossenschaftlich organisierten Gemeinschaft, die Wohnraum dauerhaft dem freien Markt entzieht. Der Ausstellung ist jedenfalls zu wünschen, dass sie noch an vielen Orten Ansteckungskraft entfacht. Sie ist wichtig, weil sie den politischen Diskurs über Wohnen, die Frage, wie wir zusammenleben wollen, an der Wurzel packt.

Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft
Eine Ausstellung des Vitra Design Museums kuratiert von Ilka und Andreas Ruby sowie EM2N.
Grassi – Museum für angewandte Kunst Leipzig
28.11.2018–17.03.2019
Der Katalog zur Ausstellung ist leider vergriffen.

dérive, Di., 2019.04.30



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31. Oktober 2013Anita Aigner
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Architektur als soziale Praxis

Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll...

Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll...

Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll sie denn sonst sein), im Feld der Architektur liegt dies anders. Hier kann man mit einer solchen Ankündigung bzw. Aussage noch Stellung beziehen. Abgesehen davon, dass natürlich auch das naive Alltagsdenken ein Schnippchen schlagen kann (welcher Architekt möchte seine Praxis nicht als eine ‚menschliche’ und ‚menschenwürdige’ sehen), lässt die Rede von Architektur als sozialer Praxis vor allem eine Erwartung entstehen. Die Erwartung, dass nicht das (ästhetische) Objekt im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, sondern der ‚gesellschaftliche Rahmen’ – also die gesellschaftlichen Bedingungen des Entstehens, des Gebrauchs und der Rezeption von Architektur, die sozialen Akteure, die in die Prozesse des Planens und Bauens eingebunden sind, und die Diskurse, in denen Gebautes verhandelt und Architektur (als symbolisches Gut) gesellschaftlich hergestellt wird. Dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in Architektur nicht nur abbilden, sondern sich Architektur auch gesellschaftlich auswirkt ist ein Stehsatz, mit dem heute in der ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Stadtforschung und auch in der neueren Architektursoziologie das Verständnis von Architektur als sozialer Praxis untermauert wird.

Günther Prechter, der sich mit seiner akteurszentrierten Studie über das gegenwärtige Bauwesen in Vorarlberg diesem Forschungskontext und seiner analytischen Grundausrichtung einschreibt, gelingt mit dem prägnanten Titel seiner Arbeit eine Verdichtung. Er rammt einen Pflock ein: Hier befinden wir uns nicht im feldinternen Legitimierungsdiskurs! Hier wird in anderer Weise über Architektur gesprochen! Hier wird nicht das Ding selbst, sondern ‚das Soziale’ zum Gegenstand gemacht! Dass er sich ein genaueres Eingehen auf den so zentral positionierten Begriff der Praxis erspart, hat wohl auch damit zu tun, dass im besagten Forschungskontext zwar viel von Praxis und Praktiken die Rede ist, aber ihre Theoretisierung – wie sie in der Soziologischen Theorie und Wissen(schaft)ssoziologie aktuell im Diskurs um den ‚Practice Turn’ zu verfolgen ist1 – bislang kaum Eingang gefunden hat. Eine theoretische Vorstellung von Praxis und Handeln, ja auch eine Theorie der (Forschungs)Praxis (als Praxis) wären zur Fundierung empirischer Forschung zwar wünschenswert, sind aber auch nicht wirklich notwendig. Denn so wie der Vogel zum Fliegen keine theoretische Aufklärung über das Funktionieren seiner Flügel braucht, kann auch der empirische Forscher, ohne sich mit theoretischem Metawissen (wissenssoziologische Grundlagen miteingeschlossen) zu belasten, seinem Handwerk der Forschung nachgehen.

Natürlich hinkt dieser Vergleich und es hieße die Arbeit von Prechter zu verkennen, wollte man ihm mit Verweis auf einen vage bleibenden Praxisbegriff naives Forschertum unterstellen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann im Gepäck weiß Prechter, dass es sich bei Architektur um eine „gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit“ handelt, die sich in ihrer Entstehung, ihren Wirkungsweisen und in ihrer Konfrontation mit konfligierenden Wirklichkeiten systematisch beschreiben lässt. Vertraut mit der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, hat er eine Vorstellung von Architektur als Mittel gesellschaftlicher Distinktion und als wertverwaltende, nicht ohne den Staat zu denkende Institution entwickelt. Bourdieus (Individuum und Gesellschaft zusammenbringendes) Habituskonzept ist es auch, das ihn nicht nur die berufsspezifischen Dispositionen als stillschweigende kollektive Wissensdimension erkennen lässt, sondern ihn auch nach „habituellem Architekturwissen“ von Laien, nach Architektur als Alltagswissensbestand fragen lässt. Und schließlich ist ihm mit Ralf Bohnsacks Dokumentarischer Methode der Interpretation ein Werkzeug an die Hand gegeben, das ihm bei der Auswertung seiner Daten – Interviews mit PlanerInnen, BauherrInnen, gewerblichen BauträgerInnen, HandwerkerInnen und BehördenvertreterInnen – auch die eigene Forschungspraxis reflektieren lässt.

Weil Prechter darauf abzielt, die soziale Wirklichkeit des ‚Vorarlberger Architekturwunders’ zu rekonstruieren, er also die von Institutionalisierung und widerstreitender Wahrnehmung begleitete Durchsetzung von zeitgenössischer Architektur in einer traditionell von Bauhandwerk bestimmten Region verstehen will, muss er in einem ersten Schritt die Verwendung des Wortes Architektur klären. Unter Zurückweisung eines universellen (das gesamte Bauen einschließenden) Architekturbegriffs betrachtet er „nur solche Bauwerke als Architektur, denen ein Entwurf professioneller Architekten zugrunde liegt“. Damit übernimmt er die für das Feld bzw. System2 Architektur grundlegende Unterscheidung in Architektur und Nicht-Architektur (bzw. dem Rest außerhalb). Das ist kein Rückfall, kein Naturalisieren und unbewusstes Fortschreiben der Hauptkategorie professioneller Selbstwahrnehmung, sondern eine methodologische Notwendigkeit. Denn um die verschiedenen Teilbereiche des Bauens – konkret das gewerbliche Bauhandwerk und die (ArchitektInnen-)Architektur – als konkurrierende Baukulturen, in ihrer Relation, ihren Differenzen und Interferenzen erfassen zu können, müssen sie im theoretischen Modell auch auseinandergehalten werden.

Wenn Prechter die Frage „Was ist Architektur?“ als forschungsleitend vorstellt, mag man kurz zusammenzucken und die Falle des Essentialismus zuschnappen hören. Das wäre aber ein Missverständnis, denn Prechter stellt diese Frage seinen Gesprächspartnern mit dem Ziel, herauszufinden, wer welche Haltung zu gesellschaftlich als Architektur klassifizierten Bauten einnimmt bzw. wie, von wem und mit welchem Interesse Architektur (als ‚legitime’, mit künstlerischem Mehrwert attributierte Form des Bauens) konstruiert wird.

Bevor die ethnografische Arbeit im Hauptteil ausgebreitet wird, unternimmt der Autor in zwei vorangehenden, mit „Architektur?“ und „Vorarlberg“ überschriebenen Kapiteln zunächst den etwas mäandernden (eigentlich schon in der Einleitung begonnenen) Versuch, Architektur (als Profession, Institution und gleichermaßen sozial hierarchisiertes wie hierarchisierendes Kulturprodukt/„Hochkultur“) in ihrer historischen Gewordenheit bzw. gesellschaftlichen Gemachtheit darzustellen. An einem zeitgenössischen Fallbeispiel von „Architektur als Kunst“ (Supermarkt) wird auch die Frage der Zugänglichkeit von Architektur, die schichtspezifische Dimension ihres Erkennens und Anerkennens als Kunstform behandelt.

Es folgt eine kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einführung in drei – was das Eindringen von Architektur betrifft – sehr unterschiedlich geprägte Gebiete Vorarlbergs (Montafon, Bregenzerwald, Rheintal). Im Anschluss werden die „Vorarlberger Baukünstler“ und das „Vorarlberger Architekturwunder“ als Produkt einer von feldinternen InterpretInnen geleisteten Kanonisierungs- und Historisierungsarbeit rekonstruiert (also der autonome Fachdiskurs zum Gegenstand der Forschung gemacht).

Der Hauptteil gliedert sich in vier, mit den Titeln „Holz“, „Haus“, „Dorf“ und „Handwerk“ überschriebene Kapitel. Die Überschriften mögen frugal anmuten, der Inhalt ist es nicht. Im Kapitel „Holz“ gewinnen der Leser und die Leserin einen Eindruck, welche verantwortungsvolle Rolle PlanerInnen bei der Baustoffwahl zuwächst, wie sie mit Verwendung lokaler Produkte bewusst die Marktgesetze eines globalisierten Rohstoffmarktes außer Kraft setzen und einen Beitrag zur Ökonomie des kleinräumigen Wirtschaftens leisten können (oder bei üblichem Materialbezug aus dem Holzgroßhandel eben nicht). Auch wird man mit im Wandel begriffenen kulturellen Deutungsmustern, mit Wertungen und Umwertungen des Baustoffes Holz konfrontiert. Prechter widmet sich speziell jenem gesellschaftlichen Umwertungsprozess, der infolge des demonstrativen Einsatzes von Holz im architektonischen Kontext und seiner Verwissenschaftlichung (Holzbauforschung) aus dem armen, ehemals für mindere Bauaufgaben zum Einsatz gebrachten Baustoff eine kostbare, weil auch für die Region identitätsstiftende Ressource gemacht hat. Wo die Beziehung von Architektur und Handwerk auf der Ebene von Baupraxis und Baustelle untersucht wird, werden nicht nur Differenzen hervorgehoben – etwa das (ästhetische) Bildwissen der ArchitektInnen, das dem materialgestützten Verarbeitungswissen des Zimmermanns gegenübersteht –, sondern auch Transformationen, die sich (vor allem für das Bauhandwerk) aus der Kollaboration der konkurrierenden ExpertInnengruppen und der technischen Modernisierung ergeben.

Im Zentrum des Kapitels „Haus“ steht der Prozess der gesellschaftlichen Durchsetzung des ArchitektInnen-Hauses im ländlichen Raum, sein Weg vom singulären Fremdkörper mit sozialer Sprengkraft zum dörflichen, allgemein-anerkannten „Normalfall“. Interessant ist hier der Fall eines im Bau befindlichen Holzhauses, für den die lokale Baubehörde aus ästhetischen Gründen den Abbruchbescheid ausstellt, die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs aber den Staatspreis vergibt. Während die Bauherren bei der Sonntagsmesse nicht mehr gegrüßt werden, treffen laufend Reisebusse mit ArchitekturtouristInnen zur Besichtigung des Bauwerks ein. Der von außen aufgezeigte Wert wirkt auf das lokale Milieu der Dorfgemeinde zurück, stellt den lokalen Bauausschuss infrage, der schließlich abgeschafft und durch einen Gestaltungsbeirat ersetzt wird. Prechter knüpft an dieses Fallbeispiel nicht nur den Befund, dass „Architektur in Vorarlberg zur normativen und legislativen Institution geworden“ ist, er streicht auch heraus, dass der Wandel in der Bewertung der Ästhetik eng mit Verwaltungsstrukturen verflochten ist, in denen der Staat (neben Grad und Art der baulichen Nutzung) auch die ästhetische Gestalt der Bebauung regelt.

Dieser essentielle Aspekt der Beziehung zwischen Staat und Architektur wird im Kapitel „Dorf“ eingehend untersucht. So zeigt die Analyse der Vorarlberger Baugenehmigungs- und Raumplanungspraxis wie die Befürwortung zeitgenössischer Architektur seit den 1980er Jahren von den oberen in die unteren Instanzen der Baubehörde durchgesickert ist und mit der Etablierung der Gestaltungsbeiräte (in ca. 1/3 der Vorarlberger Kommunen) ein Governance-Modell Platz gegriffen hat, das der ArchitektInnenschaft das Privileg einräumt, in Baugenehmigungsverfahren direkt Einfluss auszuüben.

Auch wenn Prechter nicht darin zuzustimmen ist, dass „Ästhetisierung gegenseitige Abwendung und gesellschaftliche Vereinzelung bewirkt“, und seine These von der Architektur als „Ersatzreligion“ etwas platt anmutet (Architektur ist freilich, genau wie die Religion oder das Politische, sinnstiftend, dabei aber weniger ideologisch belastet und deutlich kompatibler mit der kapitalistischen Ökonomie), stellt seine vielschichtige Studie einen Beitrag zur Analyse der spätmodernen Gesellschaft als einer ästhetisierten dar. Die wesentlichen Bedingungen der Ästhetisierung des baulichen Bestandes der Dörfer identifiziert der Autor im Anwachsen der akademisch gebildeten Schicht auf dem Land als Trägerschicht, in der Einrichtung von Gestaltungsbeiräten und der wirtschaftspolitischen Indienstnahme von Architektur als Leitkultur zwecks Standortmarketing. Allerdings vergisst Prechter, dass auch die massenhafte ‚Produktion’ von AbgängerInnen an den Reproduktionsinstitutionen zusammen mit der zunehmenden Mediatisierung von Architektur (z.B. in populären Fernsehsendungen) und der Ausdehnung des Preis- und Würdigungssystems die Möglichkeit der Durchsetzung von Architektur im ländlichen Raum wesentlich bedingt. Wobei das feststellbare Mehr an Architektur nicht einfach nur Produkt von Demokratisierung ist, sondern zugleich auch Produkt eines ‚Kulturimperativs’, der sich mit den besitzindividualistischen Motiven der modernen Marktgesellschaft und dem hochgradig kulturalisierten Politikmodell eines Europa der Regionen aufs Harmonischste vereint.

Alles in allem stellt Prechters empirische Studie einen beachtenswerten Beitrag zur neueren Architektursoziologie dar. Nicht zuletzt deshalb, weil sie der gegenwärtig dominanten Stadtforschung eine Auseinandersetzung mit dem Dorf entgegenhält. Als freiberuflich in Vorarlberg lebender Architekt hat es der Autor geschafft, die für sozialwissenschaftliche Forschung notwendige Distanz aufrecht zu halten und die intime Kenntnis architektonischer Praxis (die dem professionellen Soziologen in der Regel verwehrt bleibt) für die Forschung zu nutzen. Vor seinem biografischen Hintergrund ist die Arbeit ein Akt der Selbstvergewisserung. Er hat sich nicht nur die Eigenheiten des eigenen Stammes, die Funktionsweise der Institution, die er selber bewohnt, sondern vor allem das eigene Tun, die architektonische Praxis im ländlich-dörflichen Umfeld etwas durchsichtiger gemacht. Sein Buch ist deshalb nicht nur ArchitektInnen, sondern auch all jenen zu empfehlen, die sich für Architektur auf dem Lande interessieren und stark machen. Kein Architekt, keine Architekturvermittlerin wird nach ernsthafter Lektüre je wieder naiv an die Arbeit gehen. Es sei jedoch auch angemerkt, dass es dafür ein gewisses Durchhaltevermögen braucht. Die überarbeitete, im Böhlau-Verlag nun gedruckt vorliegende Dissertation leidet mit ihren fast 500 Seiten ein wenig unter Akkumulitis. Man möchte dem Autor den Rat geben, vor das Kruzifix im Herrgottswinkel eines Bregenzerwälder Bauernhauses zu treten. Das war einmal ein Holzscheit, und man kann sehen, was es heißt: abtragen, wegnehmen, das Wesentliche herausbringen.


Anmerkungen:
[01] Wer die strenge Luft der ‚echten’ Theorie wittern und sich einen Eindruck über den Praxisbegriff (d.h. seinen Streit darüber) verschaffen will, konsultiere die Schriften zu dem u.a. von T. Schatzki, K. Knorr-Cetina und A. Reckwitz ausgerufenen ‚Practice Turn’; zum Überblick und als kritischer Kommentar dazu vgl. Gregor Bongaerts: „Soziale Praxis und Verhalten – Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 36/4, 2007, S. 246-260; siehe auch online: http://www.zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/1245/782 [12.8.2013]
[02] Eigentlich macht es keinen Unterschied, ob von Feld oder System gesprochen wird – das ist theoretische Geschmackssache. Dennoch ist festzuhalten, dass ein „System“ als durch eine grundlegende Operation der Unterscheidung erzeugt verstanden wird, während der Bourdieusche Feldbegriff (forschungspraktisch) vor allem auf das Ausnehmen von konkurrierenden Positionen angelegt ist. Vgl. A. Nassehi, G. Nollmann: Bourdieu und Luhmann: Ein Theorievergleich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.


Günther Prechter
Architektur als soziale Praxis
Akteure zeitgenössischer Baukulturen:
Das Beispiel Vorarlberg
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013
480 Seiten, 40,10 Euro

dérive, Do., 2013.10.31



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11. Mai 2011Anita Aigner
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Bourdieu für Architekten

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende...

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende...

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende in das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) einführen soll. So erfreulich es ist, dass die Schriften Bourdieus nun im Feld der Architektur eine verstärkte Rezeption erfahren, so schwierig und problematisch ist dieses Unternehmen jedoch auch. Den Umfang, die inhaltliche Breite und Komplexität seiner Schriften vor Augen hat Loïc Wacquant einmal angemerkt, dass es wahrscheinlich unmöglich ist, in das Denken Bourdieus einzuführen.1 Helena Webster hat sich dieser „unmöglichen“ Aufgabe gestellt und ihre Sache gut gemacht. Wenngleich ihre Einführung (was nicht zuletzt auch an der Text-Gattung selbst liegt) schnell an die Grenzen einer „echten“ Übersetzung stößt.

Zunächst jedoch ein kurzer Blick auf den „Rahmen“, die Einbettung der Bourdieu-Einführung in die vom englischen Routledge-Verlag herausgegebene Buchreihe. Wie bereits unschwer auf dem Umschlag zu erkennen, hat man es mit der Nummer 5 der Reihe „Thinkers for Architects“ tun. Damit ist bereits vor jeder Lektüre klar: Bourdieu wird uns hier als „Meisterdenker“ vorgeführt. Zusammen mit Martin Heidegger, Walter Benjamin, Maurice Merlau-Ponty, Homi K. Bhabha, Jaques Derrida, Gilles Deleuze und Felix Guattari. Lediglich eine weibliche Autorin, die feministische Psychoanalytikerin und Kulturtheoretikerin Luce Irigary, hat es in die Riege der männlichen Meisterdenker „geschafft“. Herr im Haus der Meisterdenker für Architekten ist – vielleicht doch nicht ganz zufällig – ein Mann: Adam Sharr, Lehrer an der Welsh School of Architecture der britischen Cardiff University und auch ausübender Architekt, der mit „Heidegger for Architects“ im Jahr 2007 gleich selbst den Grundstein für seine, wie er (auf seiner Website) selbst sagt, „best-selling book series“ geliefert hat. Erstaunlich wie problematisch dabei nun ist, dass Sharr ganz unbefangen, ja unschuldig-naiv einen Kanon architekturrelevanter Geistesgrößen konstruiert, also mit keinem Wort sein eigenes Ordnungsdenken reflektiert (was als Indiz dafür zu nehmen ist, dass die Lektüre manch vorgestellter Schlüsselautoren kaum Spuren hinterlassen hat).

„Architekten haben“, so der Herausgeber in seinem Vorwort, „immer schon nach Philosophen und Theoretikern zur Inspiration für ihre gestalterische Arbeit oder Suche nach einem kritischen Bezugsrahmen für die Praxis Ausschau gehalten.“ Weshalb es für ihn nur naheliegend ist, jene feldexternen „key thinkers”, „die über Architektur geschrieben“ oder „deren Schriften Architekten, Kritiker und Kommentatoren maßgeblich beeinflusst haben“, einmal in einer Serie von akkuraten, also knapp wie klar formulierten Einführungen zu präsentieren.

Man mag nun an der Konzeption der Reihe bemängeln, dass hier von großen Namen, vornehmlich „großen Männern“ ausgehend gedacht worden ist – was, nebenbei bemerkt, ganz der Logik im architektonischen Feld entspricht, wo werk- und autorbasierte Besprechungen vorherrschend sind. Auch könnte dem Herausgeber vorgeworfen werden, dass sich ihm die Frage, wie „Theorie“ für ArchitekInnen „praktisch“ werden, ja womöglich sogar emanzipativ wirksam werden kann, erst gar nicht stellt. Doch weder der schale Beigeschmack, dass man es hier mit einem auf Absatz schielenden Produkt des Buchmarktes zu tun hat (man darf auf weitere Reihen, etwa „Denker für Mediziner“ oder „Denker für Politiker“ gespannt sein, oder auf einen „Bourdieu für Künstler“, Ingenieure oder Juristen), noch die Befürchtung, dass hier „große Theorie“ auf ein leicht konsumierbares (Halb-)Wissen für ArchitektInnen zusammengestutzt wird, sollten dazu führen, das Einführungs-Unternehmen als solches zu diskreditieren.

Im Gegenteil: Einführungen zu verfassen, ob nun in bestimmte Themen oder das Œuvre von „Riesen der Wissenschaft“, stellt eine gleichermaßen verdienst- wie verantwortungsvolle Aufgabe dar. Verdienstvoll, weil sich hier (im günstigen Fall) beschlagene Spezialisten die Mühe machen, Personen, die nicht eingeweiht, nicht mit einschlägiger Fachkenntnis (dafür aber mit Neugierde) ausgestattet sind, eine Sache verständlich zu machen. Verantwortungsvoll, weil die Neugierde nicht erstickt, die Interessierten nicht durch akademische Gelehrsamkeit eingeschüchtert, sondern zu reflexiven Einsichten und eigenständigem Weiterarbeiten mit „Theorie“ angeregt werden sollen.

Im Vergleich zu den mittlerweile zahlreich vorliegenden Bourdieu-Einführungen, die mal besser ausfallen, wenn sie die innere Logik und Offenheit seiner theoretischen Konzepte aufzeigen, mal schlechter, wenn sie schulbuchmäßig vermeintlich abgeschlossene Grundbegriffe von Bourdieus Kulturtheorie (Habitus, Feld, Kapital etc.) aneinanderreihen,2 handelt es sich hier nun um eine Einführung, die einen besonderen Zuschnitt verspricht. Mit Helena Webster, die selbst dem architektonischen Feld entstammt und sich in ihrer eigenen Forschung auch selbstreflexiv mit dem eigenen Umfeld auseinandersetzt – sie hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit Lehr- und Lernkultur an Architekturschulen beschäftigt3 –, ist dem Vorhaben bereits eine einschlägige Brauchbarkeitsperspektive eingeschrieben. Sie hat nicht nur eine konkrete Vorstellung davon, warum Bourdieu von Architekten gelesen werden soll – ihrer Meinung nach könnte Bourdieu ArchitektInnen, die aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Sozialisation die Welt durch eine „architektonische Linse“ sehen und infolgedessen zu Intoleranz gegenüber Laien und Menschen mit anderen Geschmacksvorstellungen neigen, dabei helfen, die eigenen Wert- und Handlungsmuster wie auch die eigene Rolle als ArchitektIn (innerhalb der Community wie der Gesellschaft) zu reflektieren. Sie hat auch eine klare Vorstellung davon, welche der zahlreichen und thematisch breit gestreuten Schriften Bourdieus (er hat über 40 Bücher und mehr als zweihundert Aufsätze geschrieben) für ArchitektInnen von Relevanz sind.

Verkürzt gesprochen erfolgt der Zugang zum Kultursoziologen Bourdieu. Es sind seine Kultur- und Gesellschaftsanalysen, seine Theorien und Befunde zu Kultur und sozialer Ungleichheit, die Webster als Anknüpfungspunkt dienen. Der Bildungssoziologe Bourdieu wird gestreift, seine Untersuchungen zu Staat, Politik, Recht, Sport und Sprache, seine wissenschaftssoziologischen Beiträge wie auch seine Soziologie der Intellektuellen bleiben ausgeklammert. Es ist Webster zu danken, dass sie von einer Gliederung nach „zentralen Begriffen“ absieht und Bourdieus wissenschaftliches Begriffsinstrumentarium, das bereits vielfach zum Gegenstand scholastischer Exerzitien geworden ist, in seiner forschungspraktischen Genese erläutert. Die verschiedenen um Kultur, Ästhetik und Klassenfragen kreisenden Forschungsarbeiten werden dabei in ihren theoretischen wie empirischen Zusammenhängen dargestellt. Die Kapitel gestalten sich weitgehend chronologisch.

Nach einem kurzen biografischen Überblick, der die persönliche und wissenschaftliche Laufbahn und die Entwicklung von Bourdieus Forschungen und Theorien im wissenschaftlichen Kontext aufzeigt, werden zunächst im zweiten Kapitel (The Social Construction of Space) die frühen Forschungen in Algerien (1956-1961) vorgestellt, wo Bourdieu während seines Militärdienstes zum Zeugen einer durch die Eingriffe französischer Kolonisatoren erodierenden indigenen Kultur geworden war. Seine Untersuchungen zur algerischen Übergangsgesellschaft, zu denen auch einige der raren Texte Bourdieus gehören, in denen Architektur explizit behandelt wird, werden von Webster als Arbeiten zu Macht und Raum gelesen. Sie skizziert aber auch die Konversion des frischgebackenen Philosophen zum verstehenden Ethnologen und Soziologen, dessen Sichtweise damals stark von Max Weber und Karl Marx, aber auch vom Strukturalismus Levi-Strauss’ (am stärksten spürbar in seiner berühmten Analyse zum kabylischen Haus, „Das Haus oder die verkehrte Welt“ 1960, 1970) geprägt war.

Im dritten Kapitel (The Anatomy of Taste) stellt Webster Bourdieus Analysen zur französischen Gegenwartsgesellschaft vor, in denen er Klassenlage und Lebensführung verknüpft: empirische Studien zum Kulturkonsum (etwa zum Museumsbesuch oder zum sozialen Gebrauch der Fotografie) und theoretische Überlegungen zur Wahrnehmung und Aneignung von Kunst münden 1979 in sein berühmtes Buch La Distinction (dt. Die feinen Unterschiede 1982), mit dem Bourdieu auf den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse verweist und aufzeigt, wie sehr sich Kunst und Kunstkonsum zur Erfüllung der (verschleierten) gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung und Stabilisierung sozialer Unterschiede eignen. Da die von Bourdieu entwickelte relationale Klassentheorie im Zuge der in den 1990er Jahren auftauchenden These vom Verschwinden traditioneller Klassen und Schichten in Zweifel gezogen wurde, wäre hier eine klärende Stellungnahme zu der bis heute kontrovers geführten soziologischen Debatte wünschenswert gewesen.

Im vierten Kapitel (Towards a Theory of Cultural Pratice) führt Webster vor, wie Bourdieu seine methodologischen Werkzeuge im Zuge seiner empirischen wie sozialgeschichtlichen Studien, die Bildungswesen, Wissenschaft, Recht und Religion genauso umfassen wie Literatur, bildende Kunst, Musik, Fotografie, Mode, Sport und Journalismus, zu einer Theorie der kulturellen Praxis ausbaut. Sie macht deutlich, wie und warum er sein Feld- und Habituskonzept gerade im Zusammenhang mit der Analyse jener Bereiche der sozialen Welt entwickelt hat, die der Produktion „besonderer“ kultureller Güter dienen. Drei Fallstudien – Webster greift neben dem Feld der Mode und der Literatur das Feld der Eigenhausproduktion heraus – sollen im fünften Abschnitt (Fields of cultural production) dann auch veranschaulichen, wie Bourdieus strukturale Feldanalyse funktioniert.

Die in den 1980er Jahren von Bourdieu und seinen MitarbeiterInnen durchgeführten Untersuchungen über den französischen Häusermarkt (zusammengefasst in dem zunächst auf Deutsch erschienenen Band Der Einzige und sein Eigenheim 1998) sind dabei von besonderer Bedeutung. Stellen doch die Beiträge (v. a. „Das Einfamilienhaus: Produktspezifik und Logik des Produktionsfeldes“, „Ein Vertrag unter Zwang“, „Der Eigentumssinn: Die soziale Genese von Präferenzsystemen“), in denen mithilfe von Interviews, Mitschnitten von Verkaufsgesprächen, der Analyse betrieblicher Daten und Werbematerialien das Phänomen der „Vereigenheimung“ (Margaretha Steinrücke/Franz Schultheis) unter ökonomischen, sozial(psychologisch)en, politischen und rechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird, ein hohes Anregungspotential für die Reflexion gegenwärtiger Alltagsarchitektur und der Rolle von in Eigenheimproduktion verwickelter ArchitektInnen dar.

Webster hat alles in allem das Material für die angepeilte Leserschaft gut gewählt. Sie hat als Nicht-Soziologin mit der dafür nötigen Geduld und Aufmerksamkeit ein wahrlich dickes soziologisches Brett gebohrt und Bourdieus Fragestellungen wie theoretische Konzepte auf knappe wie verständliche Weise dargestellt, und zwar ohne dabei an Komplexität einzubüßen. Sie hätte den Herrschaftssoziologen, den Theoretiker „symbolischer Macht“, den Intellektuellen, dem es um jene Art von Reflexivität geht, die es einem ermöglicht, sich das eigene (feldspezifische) Denken etwas durchsichtiger zu machen, vielleicht stärker herausstreichen können. Jedenfalls wird in Websters Bourdieu-Einführung nur unzureichend fühlbar, was es für PraktikerInnen, Lehrende und WissenschafterInnen im Feld der Architektur bedeuten könnte, die (eigene Fach-)Welt (und darin sich selbst) mit Bourdieus Augen zu sehen. Zu ihrer Verteidigung muss jedoch gesagt werden, dass Bourdieu ohnedies nur durch die Lektüre seiner Schriften und nicht durch Vermittlung zum eye opener werden kann.

Anzumerken ist auch, dass die (architektur)feldinterne Bourdieu-Rezeption, mag diese auch im Vergleich zu anderen Feldern erst schleppend in Gang gekommen sein, in Websters Einführung weitgehend im Dunkeln bleibt. Von einem profunden Überblick über die ziemlich verstreuten Untersuchungen, die bislang Bourdieus Theorie im Feld der Architektur haben produktiv werden lassen, kann bei der etwas eilig hingeworfenen Seite mit Hinweisen auf drei AutorInnen nicht gesprochen werden, jedenfalls wird sie dem Bedürfnis versierter LeserInnen nicht gerecht. Als weiterer Mangel muss angeführt werden, dass Webster es verabsäumt hat, und dies darf bei einer fachlich so zugespitzten Einführung durchaus erwartet werden, Perspektiven für eine von Bourdieu angeregte Architekturforschung zu entwickeln. Was es heißen könnte, das große Anregungspotential der Bourdieuschen Modelle und Befunde zu Kultur für eine architektursoziolgische Forschung nutzbar zu machen, muss also Gegenstand zukünftiger Anstrengungen bleiben. Was zu hoffen bleibt: dass in Zukunft weniger über Bourdieus Theorie gesprochen und mehr mit ihr gearbeitet wird.


Helena Webster
Bourdieu for Architects. Thinkers for Architects 05
Abingdon, New York: Routledge, 2010
144 S., 19,99 Euro


Anmerkungen:
[01] Wacquant zeichnet selbst für eine unkonventionelle Einführung in das Denken von Pierre Bourdieu verantwortlich. Hervorgegangen aus einem Forschungsseminar wurden in An Invitation to Reflexive Sociology (1992) die Grundanliegen Bourdieuscher Forschung im Dialog mit Bourdieu entwickelt. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp 1996.
[02] Zu empfehlen ist neben der mittlerweile in 6. Auflage erschienen Einführung von Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg: Junius, 2009 (1995), das Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (ersterer betreut zusammen mit seinem Linzer Kollegen Ingo Mörth die umfassendste, kontextorientierte und referentielle Online-Bibliografie und Mediendokumentation aller Werke und Stellungnahmen von Bourdieu unter http://hyperbourdieu.jku.at/), das auf über mehr als 400 Seiten einen Leitfaden durch Bourdieus Begrifflichkeiten und Themenfelder sowie einen Einblick in rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge bietet. Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2009.
[03] Vgl. etwa Webster, Helena: „The Analytics of Power – Re-presenting the design jury”, in: Journal of Architectural Education, Vol. 60, 2007/3, S. 21-27 (als zweithäufigst gelesener JAE-Artikel auf der Herausgeber-Homepage gelistet); dies.: „Architectural education after Schön: Cracks, blurs, boundaries and beyond”, in: Journal for Education in the Built Environment, Vol. 3, 2008/2, S. 63-74; dies.: „The Architectural Review: ritual, acculturation and reproduction in architectural education”, in: Arts and Humanities in Higher Education, 2005/4, S. 265-282; dies.: „The Design Diary: Promoting Reflective Practice in the Design Studio”, in: EAAE Transactions on Architectural Education, Vol. 24: Monitoring Architectural Design Education in European Schools of Architecture, 2004, S. 343-356; dies.: „Facilitating Reflective Learning- excavating the role of the design tutor”, in: Journal of Art, Design and Communication in Higher Education, Vol. 2, 2004/3, S. 101-111."

dérive, Mi., 2011.05.11



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11. Juni 2008Anita Aigner
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Erziehung, Kunst und Klasse

Warum es sich lohnen könnte eine vierzig Jahre alte Museums-Studie zu lesen

Warum es sich lohnen könnte eine vierzig Jahre alte Museums-Studie zu lesen

„Soziologie und Kunst vertragen sich nicht. Das liegt an der Kunst und an den Künstlern, die es nur schlecht ertragen, wenn an ihrem Selbstverständnis gerührt wird: Das Universum der Kunst ist ein Universums des Glaubens, des Glaubens an die Begabung, an die Einzigartigkeit, an die Einzigartigkeit des unerschaffenen Schöpfers, und der Einbruch des Soziologen, der verstehen und erklären will, wird darüber zum Skandalon. Entzauberung, Reduktionismus, mit einem Wort: Grobschlächtigkeit oder, was auf dasselbe hinausläuft, Sakrileg: Der Soziologe ist jener, der so, wie Voltaire die Könige aus der Geschichte gejagt hatte, die Künstler aus der Geschichte der Kunst verjagen will.“[1] Die Soziologie hat also einen schlechte­n Stand in Kunst- und Kunstliebhaberkreisen und die Dünkel, von denen sie im scharf bewachten Areal der Hochkultur umgeben ist – gegenüber der Statistik, die gemein macht, das Geniale mit dem Unbedeutenden auf eine Ebene stellt, gegen­über der Masse und dem Kollektiv, mit der die Soziologie im Bunde steht und die deshalb, weil sie mit dem Minderen und Mittelmäßigen gleichviel befasst ist wie mit dem Auserlesenen, nur als Bedrohung der Einzigartigkeit des Künstlers wie seiner Kreation gesehen werden kann –, derlei Vorbehalte machen ihr das Leben schwer und sind wahrscheinlich auch das größte Hindernis für ihre Rezeption. Wobei der Abwehrmechanismus, wenn er auch in seiner Logik nachvollziehbar ist, der Sache nach völlig unbegründet ist. Stellt die Soziologie doch nur ein Angebot zum besseren Verstehen der eigenen Vorlieben und Gewohnheiten im Umgang mit Kunst und keine Anleitung zu deren Verweigerung oder Abwertung dar.

Wenn nun ein französisches Buch, das in Kennerkreisen als „heimlicher Klassiker“ der Kunst- und Kultursoziologie gehandelt wird, ganze vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen ins Deutsche übertragen wird, so liegt die Vermutung nahe, dass dies dem Wunsch nach lückenloser Verbreitung eines zu Rang und Namen gekommenen Autors geschuldet ist. Zweifellos ist es der „Klassiker“ Bourdieu, der in den letzten Jahren posthum die Übersetzung früher, zum Teil weniger bekannter Arbeiten nach sich gezogen hat. Doch ist das mit dem Ableben und der Kanonisierung einhergehende Interesse an unübersetzt gebliebenen Texten nie ganz frei vom schalen Beigeschmack der Zweit- beziehungsweise Nachrangigkeit und bisweilen auch vom Vorwurf der Überholtheit eines Befunds. Mag auch für einen bestimmten Leserkreis, die spezialisierte Fach- und Fangemeind­e, die Leselust, also der Hunger auf Neue­s, selbst wenn es alt ist, per se vorhanden sein, so drängt sich im konkreten Fall doch die Frage auf, was denn heute mit einer soziologischen Untersuchung, die sich Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts die soziale Struktur und die Gewohnheiten der französischen MuseumsbesucherInnen im europäischen Vergleich zu ihrem Gegenstand machte, anzufangen wäre.

Entgegen erster, zugegeben nicht ganz von der Hand zu weisender Bedenken eine ganze Menge – und zwar nicht nur, weil angesichts des gegenwärtigen Booms von Museumsneubauten (vor allem jener für moderne Kunst) eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der kulturellen Praxis des Museumsbesuchs besonders ratsam scheint. Die Studie hat vor allem deshalb nichts an Aktualität verloren, weil ihre Befunde – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass das Schulsystem nach wie vor die Privilegierten privilegiert und Kunstmuseen im Wesentlichen noch immer nach dem Ausstellungsmodell des 19. Jahrhunderts funktionieren (Darbietung von „Meisterwerken“ mit der dazugehörigen Kulturheldenverehrung) – auch für die Gegenwart gültig sind.

Weil das soziologische Projekt also Aufklärung in Sachen Kunst verspricht, es die sozialen Bedingungen und distinktiven Effekte der Aneignung und des Gebrauchs kultureller Güter zu erhellen vermag, aber auch – und das wird von Leuten, die Bourdieus Theorie auf die Verknüpfung von Lebensführung und gesellschaftlicher Klasse verkürzen, leider allzu oft vergessen – Herrschaftsverhältnisse, die hierarchische und hierarchisierende Ordnung symbolischer Güter und die Mechanismen der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit durch und mit Bildung und Kultur freizulegen vermag, sollte dieses Buch im Besonderen für Museumsleute, KunstpädagogInnen und KulturpolitikerInnen, für all jene, die antreten, um Kunst zu vermitteln, zu fördern, zu bewahren, zu verbreiten und verstehbar zu machen, wertvolle Einsichten bereit halten. Wiewohl voraussehbar ist, dass es gerade an dieser Front kracht und professionelle Kunst- und KulturarbeiterInnen aus einer instinktiven Abwehrhaltung heraus zu simplifizierenden Interpretationen neigen, die aus dem Soziologen einen gegen die Kunst zu Felde ziehenden Philister machen.

Nun lässt sich die Kunstskepsis eines Bourdieu aber nicht einfach in die Schublade des gemeinen Kunstverächters stecken. Sie hat nichts mit den populistischen und anti­intellektuellen Vorurteilen gemein, wie sie etwa die moderne bildende Kunst das 20. Jahrhundert hindurch bis in die Gegenwart begleiten (von der nationalsozialistischen Diskreditierung abstrakter und expressionistischer Werke als „Entartete Kunst“ bis zur beispiellosen Hetze gegen den als „Fäkalkünstler“ diffamierten Kärntner Künstler Cornelius Kolig durch FPÖ-PolitikerInnen und deren Sprachrohre in der Kronen Zeitung Ende der 1990er Jahr­e). Ebenso wenig mit dem Kulturpessimismus jener Intellektuellen, die ihr Verlangen nach gesellschaftlicher Rache in orthodoxe Ordnungsrufe (Aufrufe zum Stil- und Wertebewusstsein, Besinnung auf Meisterschaft und strenge Form) oder in ein Anspruchsdenken umwandeln, das künstlerische Produktion (etwa durch Reduktion auf ihren Unterhaltungswert) verharmlost oder (durch Aufbürdung philosophischer Maßstäbe) nichtig erscheinen lässt; und schon gar nichts mit den von Polemik und Zynismus begleiteten ikonoklastischen Akten eines in Negativ-Theologie umgeschlagenen enttäuschten Glaubens, der, weil er keine differenzierte Bewertung mit Veränderungsvorschlägen anzubieten hat, nur in fatalistische Selbstaufgabe und totale Abkehr münden kann. Nichts liegt dem Soziologen ferner, „als zu jenem Reduktionismus und Zerstörungswerk anzustacheln, worin sich Verbitterung und Groll gefallen“.[2]

Bourdieus „Kritik der Kunst“, die nicht als Kritik der Kultur (der kulturellen Werke, ihrer ProduzentInnen und RezipientInnen), sondern als Kritik „des Gebrauchs der Kultur als Kapital und Instrument symbolischer Herrschaft“[3] zu verstehen ist, schreibt sich „Kritik“ aber nicht auf die Fahnen. Auch die Kritik der fetischistischen Gläubigkeit ist nicht das Ziel, sondern in gewisser Weise das Nebenprodukt (und zugleich Vorbedingung) einer Soziologie der Kunstinstitution, die sozialstrukturanalytische, bildungs- und herrschaftssoziologische Elemente miteinschließt. Eine­r Kultursoziologie also, der es um mehr geht als um eine Lehre vom Fetisch Kunstwerk: nämlich um soziale Ungleichheit (die mit den ungleichen Bedingungen der Aneignung bildungselitärer Güter gegeben ist), um symbolische Gewalt (mit der sich die legitime Kultur, die immer auch die materiellen und symbolischen Interessen der herrschenden sozialen Gruppen ausdrückt, allen Mitgliedern einer Gesellschaft aufzwingt), um die Rolle von Kultur und Bildung bei der Legitimation und Aufrechterhaltung einer auf Ungleichheit basierenden Sozialordnung.

Unter diesen Vorzeichen stellt die Studie L’amour de l’art einen Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftsanalyse dar und unterscheidet sich damit maßgeblich von herkömmlichen Museumsstudien, die in der Regel die Interessen derer bedienen, die ein Interesse am Fortbestand und an der Expansion des Systems der (in diesem Fall bildenden) Kunst haben, also entweder Argumente für die Durchsetzung eines Museumsneubaus liefern (wie etwa die Museumsstudie für Graz von Peter Weibel)[4] oder die Institutionen der Kunstschaustellerei mit Empfehlungen zur Attraktivitätssteigerung und Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit versorgen.

Im Gegensatz zu den sich als wissenschaftlich ausgebenden Befunden der Markt-, Meinungs-, Motiv- und Zielgruppenforschung bleibt Bourdieus Untersuchung der kulturellen Praxis nicht in der abstrakte­n Universalität von „Bedürfnissen“ oder „Motivationen“ (also letzten Ursachen und Gründen) stecken, die einen Museumsbesuch veranlassen oder nichtig erscheinen lassen. Statt sich mit Begründungen zufrieden zu geben, die die Befragten selbst zum Ausdruck bringen, fragen Bourdieu und seine MitarbeiterInnen nach den ökonomischen und sozialen Bedingungen, die den Museumsbesuch als kulturelle Freizeitbetätigung überhaupt möglich machen. Wo der motivationspsychologische Ansatz der Halb- und Spontanwissenschaft nur Kunstinteressierte und Uninteressierte erkennt und in den „Verweigerern“ nur eine über attraktive Namen und Events anzulockende Zielgruppe zu sehen vermag, unterscheidet Bourdieu zwischen sozial Privilegierten und Benachteiligten, zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von kulturellem Kapital. Wobei er die zu kurz Gekommenen für ihre „Defizite“, das heißt ihre Distanz zur Kultur, nicht selbst verantwortlich macht, sondern diese als kulturell Enteignete sichtbar macht, die kein Bewusstsein um das Entbehrte haben.

Doch nur da, wo die gesellschaftlich vermittelten Ursachen kultureller Enteignung offen gelegt und die Ungleichheiten gegenüber der Kultur nicht als Ungleichheit der Gaben sondern als Ungleichheit der Erziehung ausgewiesen werden, laufen auch Ungleichheitsverhältnisse nicht Gefahr – und dies ist wesentlich –, durch sozialwissenschaftliche Beschreibung naturalisiert zu werden. Weshalb die kritische und empirisch fundierte Soziologie von Bourdieu (im Unterschied zur „registrierenden“, der gesellschaftlichen Nachfrage nach Legitimierung nachkommenden soziologischen Forschung) nicht nur auf die Dekonstruktion der Vorstellung von einer in der Natur des Menschen verankerten „Liebe zur Kunst“ abzielt, sondern auch auf Enthüllung der wahren, aber verschleierten gesellschaftlichen Funktion von Kunst, soziale Unterschiede zu stabilisieren und zu legitimieren.

Das empirische Fundament einer verstehenden Soziologie

Für manche mag der ungeheure Aufwand der Erhebungen befremdlich erscheinen, tabellarisch in Form gebracht auf über fünfzig Seiten im Anhang. Schwer nachvollziehbar auch die eingangs gelieferte, im Vergleich zum übrigen Text etwas trocken anmutende Erläuterung der Untersuchungsmethoden. Ungeduldige und am soziologischen Handwerk weniger Interessierte mögen sich mit diesen Klammern, zwischen denen sich die Interpretation der Daten in drei Kapiteln ausbreitet, auch nicht lange aufhalten – was jedoch die empirische Behandlung des Gegenstandes betrifft, so darf L’amour de l’art bis heute als Maßstab gelten. Dies nicht nur, weil hier (im Gegensatz zur empirielosen, von der sozialen Realität ihres Gegenstandes oft meilenweit entfernten Kunst- und Kulturphilosophie) bestimmte Behauptungen und Hypothesen durch Daten abgesichert werden – es handelt sich schließlich um eine der größten und noch dazu europaweiten Befragungen von Besucherinnen und Besuchern von Kunstmuseen –, sondern weil die Datenerhebung selbst das Produkt eine­r methodisch strengen, hoch reflexiven wissenschaftlichen Arbeit ist. Einer Arbeit, in die entscheidende gesellschaftspolitische und theoretische Fragen eingearbeitet sind.

Weil der Umgang mit Daten nicht bloß ein registrierender ist, also Wissenschaft hier nicht einfach funktioniert wie ein Spiegel, liefert die theoretisch begründete empirische Soziologie, mit der sich Bourdieu in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vom, wie er selbst sagt, „positivistischen“ Lazarsfeld, aber auch von der „theoretizistischen“ (die empirische Forschung hinter sich lassenden) Sozialphilosophie Adornos absetzt, wichtige Anhaltspunkte für die Untersuchung von Kunst und Kultur. Was von Bourdieu gelernt werden kann, ist einerseits, dass öffentlich kommunizierte Kategorien und Begriffe nicht unreflektiert zu übernehmen sind, der öffentliche Diskurs um Kunst, Kultur und Bildung nicht bei seinem face value zu nehmen, sondern auf seine Vorbegriffe (Präkonstruktionen) zu untersuchen ist, daraufhin, was er nicht thematisiert, verschleiert und voraussetzt. Andererseits zeichnet sich eine an der Forschungslogik Bourdieus geschulte Perspektive auch dadurch aus, dass sie die Gewohnheiten und Vorlieben der sozialen AkteurInnen mit deren Positionen im sozialen Raum vermittelt (nicht aus ihnen ableitet!), was bedeutet, dass ein Verständnis kultureller Praktiken nicht ohne Schichtungstheorie zu haben ist.

Dass sich bei Bourdieu „Messen“ und erkenntniskritische Reflexion aufs Fruchtbarste verbinden, hat zum einen damit zu tun, dass ihm sein Philosophiestudium einen Zugang zu einer wissenschaftstheoretischen Tradition eröffnete, für die Bachelard, Canguilhem und Koyré stehen, zum anderen mit dem biographischen Glücksfall, dass er während seines Militärdienstes in Algerien und der dort unternommenen ethnologischen Forschungen mit Statistikern vom INSSE, dem Nationalen statistischen Amt, zusammenfand – unter ihnen Alain Darbel, der die Befragungen und die mathematischen Modelle der Museums­studie entworfen hat und auch als deren Mitherausgeber in Erscheinung tritt (während übrigens Dominique Schnapper, die, obschon sie gemeinsam mit Bourdieu die Untersuchung geleitet und den Text des Buches verfasst hat, nur als Mitarbeiterin Erwähnung findet.)

Demokratisierter Zugang zur Kultur?

Die mit besonderer Sorgfalt und großem Aufwand erhobenen und aufbereiteten Daten dienen zunächst einmal dem Beleg der evidenten Vermutung, dass der Zugang zu den gesellschaftlich als Kunst anerkannten Kulturprodukten ein Privileg der gebildeten Klassen ist. Wenn breite Schichten das Angebot ausschlagen, an den in Museen ausgestellten Werken teilzuhaben, dann ist dies, so die Schlussfolgerung der empirischen Studie, nicht das Ergebnis einer freien Wahl. Das Ausgeschlossen-Sein derer, die sich vermeintlich selbst ausschließen, ist nicht auf ein wenig ausgeprägtes (angeboren gedachtes) Interesse, sondern auf die mangelhafte Vermittlung jener Instrumente zurückzuführen, die es ihnen erlaubten, die ästhetischen Botschaften zu entziffern und so zu jenen kultivierten Lüsten vorzudringen, die das Kultur- und Bildungsspiel den Eingeweihten verschafft.

Obschon ein Zusammenhang zwischen Besuchshäufigkeit und Bildungsniveau feststellbar ist und der Kunstsinn als verallgemeinertes Verhalten immer häufiger wird, je weiter man in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben geht, zeigt die Studie, dass schulische Ausbildung weder das einzige noch das ausschlaggebende Kriterium für die anhaltende Ausübung legitimer kultureller Praktiken darstellt: entscheidender noch als die schulische Erziehung (mag diese auch Anregungen liefern und gelegentlich auch bei sozial weniger Begünstigten Neigungen hervorbringen) ist die familiale Erziehung, die durch frühe, in die vertrauten Abläufe des familiären Lebens eingebundene Praktiken (Konzert-, Theater- und Museumsbesuche, gemeinsames Musizieren oder Lesen von Büchern etc.) ein Gefühl der Vertrautheit mit der Welt der Kunst und Kultur zu verankern imstande ist.

Ein solcher durch langsames, unmerkliches Vertrautwerden und nicht durch gezieltes Lernen erworbener „Vorsprung“ ist jedoch, wie Bourdieu und seine MitarbeiterInnen auch im Zusammenhang mit anderen bildungssoziologischen Untersuchungen (Les héritiers 1964 [5], La reproduction 1970 [6]) argumentieren, durch institutionelle Vermittlung kaum aufzuholen. Die in der damaligen Bildungsdiskussion heftige Reaktionen auslösende und bis heute (trotz Bildungsexpansion) nicht widerlegte These lautet, dass das Bildungssystem nur sehr begrenzt in der Lage ist, die Ungleichheiten, die durch das soziale Herkunftsmilieu bedingt sind (von der Beherrschung der Sprache, den Umgangsformen bis zu den Mitteln, um sich Werke der bildenden Kunst anzueignen), aufzuheben. Mehr noch, das Bildungssystem sogar dazu tendiert, die Ungleichheiten zu verstärken, insofern es diejenigen, die bereits eingeführt sind, begünstigt (durch Bestätigung und Anregung zur Vertiefung bereits vorhandener, außerschulisch erworbener Kenntnisse und Kompetenzen) und bei den nicht Initiierten, die sich entsprechend der vorherrschenden (den Privilegierten die beste Rechtfertigung ihres kulturellen Privilegs verschaffenden) charismatischen Ideologie der natürlichen Gabe nur als unbegabt oder nicht kunstsinnig begreifen können, keine dauerhafte kulturelle Praxis zu verankern vermag.[7] „[I]ndem sie [die Schule] so tut, als könnten die Ungleichheiten im Bereich der Kultur nur von n­atürlichen Ungleichheiten herrühren, also Ungleichheiten der Begabung, und es gleichzeitig unterlässt, allen das zu geben, was nur einige Wenige ihren Familien verdanken, kann das Schulwesen diese anfänglichen Ungleichheiten nur fortschreiben und absegnen.“ (S. 106)

Der die formale Chancengleichheit als I­llusion entlarvende und die konservativ­e (die Privilegien der Privilegierten legitimierende und konservierende) Funktion des Bildungswesens offenlegende Blick des Soziologen mündet jedoch nicht, wie ihm bisweilen vorgehalten wird, in Ratlosigkeit und Resignation. Im Gegenteil, aus der Kenntnis um die objektiven Mechanismen der Verbreitung von Kultur leitet sich für Bourdieu die Forderung nach einer Bildungs- und Kulturpolitik ab, deren Ziel die „Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zu allgemeinen Gütern“ ist. Damit ist aber nicht bloß das „physische“ Zugänglich-Machen kultureller Güter gemeint. Bourdieu legt die Widersprüche eine­r auf Demokratisierung sich berufenden Kultur- und Bildungspolitik offen, wenn er betont, dass die Demokratisierung kultureller Güter nicht vollzogen ist, wenn nicht gleichzeitig zu ihrer Erreichbarkeit auch die für die Aneignung von Kulturgütern notwendigen Einstellungen und Techniken ihrer Handhabung allgemein verbreitet sind. Was nützt der freie Eintritt ins Museum, die physische Nähe zu den Werken, wenn die Mittel der (gebildeten) Aneignung nicht gegeben sind?

Unter den Gebildeten herrscht jedoch nach wie vor die Meinung vor, dass die kostbarsten Güter einer Gesellschaft bereits dann für alle verfügbar sind, wenn sie für alle billig und ohne Schranken „abholbar“ sind. Natürlich – nicht jeder kann sich eine Karte für die Traviata-Aufführung im Salzburger Festspielhaus oder die Aufführung von Torquato Tasso im Wiener Burgtheater leisten, und schon gar nicht ein Bild von Markus Lüpert­z. Aber, so der Einwand, für alle gäbe es die Malerei eines Lüpertz im Museum, die Sangeskünste einer Netrebko bei der Übertragung im Fernsehen oder im Radio, mit etwas Glück und spätabendlicher Wachheit sogar das Goethestück. Radio und Fernsehen, CD und DVD, Taschenbücher und Bibliotheken – alles Errungenschaften zur Verbreitung (hoch)kultureller Güter, dazu angetan, eine Gleichstellung beim Kulturkonsum herbeizuführen und wer da die kostbaren Früchte nicht zu pflücken versteht, wäre eben selber Schuld.
Gegen die Argumente derer, die allein im freien Zugang zur Kunst (Musik, Literatur, Malerei etc.) eine Demokratisierung der ehemals den Reichen und Gebildeten vorbehaltenen Vergnügungen sehen, wenden Bourdieu und seine MitarbeiterInnen ein, dass die Wahl der kulturellen Güter nicht einfach Sache einer bewussten freien Entscheidung ist und der Kulturgütermarkt nicht einfach ein Selbstbedienungsladen, in dem hoch- und populärkulturelle Produkte den KonsumentInnen gleichwertig und unvermittelt gegenüberstehen. Dem Gesetz folgend, dass etwa moderne Kunst (wie auch andere exklusive Güter) nur für diejenigen existiert, die gelernt haben, ihr einen Wert beizumessen und sich durch sie Befriedigung zu verschaffen (ob es sich dabei nun um den unmittelbaren ästhetischen Genuss oder um die mittelbaren Freuden der Distinktion handelt), bleibt sie für diejenigen, die nicht über die nötigen Einstellungen und Mittel ihrer Aneignung verfügen, trotz aller Zugänglichkeit doch immer unerreichbar. Oder anders formuliert: „Knapp sind nicht die Güter, sondern die Neigung, sie zu konsumieren, knapp ist ein „kulturelles Bedürfnis“, das, anders als die „Grundbedürfnisse“, Ergebnis von Erziehung bleibt.“ (S. 67)

Die gesellschaftliche Institution, die einzig dazu legitimiert und mit dem gesellschaftlichen Auftrag versehen wäre, die Benachteiligung derer auszugleichen, die von ihrer Herkunft her keine Anreize erfahren haben, sich mit Bildungsgütern zu befassen, ist und bleibt für Bourdieu die Schule. Nicht ein Mehr an Öffentlichkeitsarbeit, nicht freier Eintritt, nicht längere Öffnungszeiten oder noch diversifiziertere Angebote der Museumspädagogik – mögen diese Begleitmaßnahmen auch von Bourdieu gefordert sein[8] –, sondern nur eine längere Schulzeit und ein längerer, methodisch und systematisch vorgehender Kunstunterricht könnten zu e­iner wesentlichen Steigerung der kulturellen Praxis (des Besuchs von Museen, Theatern und Konzerten, aber auch des Leseverhaltens) führen. Insofern von den Informations-Angeboten in der Regel jene am meisten profitieren, die bereits zur Kunst bekehrt sind, und Berichte über Museumsausstellungen in Rundfunk und Fernsehen nur von denjenigen mit Interesse aufgenommen werden, die aufgrund ihres Bildungsniveaus zur Aufnahme disponiert sind, kommt Bourdieu zu dem Schluss, dass „die Investitionen in kulturelle Einrichtungen wenig rentabel (sind), solange es an Investitionen in die Schule fehlt, denn sie allein ist dazu in der Lage, die Nutzer solcher Einrichtungen zu „produzieren““. (S. 157)

Weil die Wahrnehmung von Werken der bildenden Kunst – ganz entgegen der widersinnigen Vorstellung eines angeborenen, vor jeder Erziehung vorhandenen Kunstsinns oder kulturellen Bedürfnisses, aber auch entgegen der kunstpädagogischen Illusion eines „unmittelbaren Verstehens“ – notwendig Bildung voraussetzt, also lehr- und lernbar ist (jedenfalls bis zu einer bestimmten Stufe der ästhetischen Kompetenz, die durch die Beherrschung von Begriffen bestimmt ist, welche ein Klassifizieren und Benennen von Merkmalen, also ein erstes Unterscheiden ermöglich­t), wären alle Schülerinnen und Schüler von der Schule mit entsprechenden Werkzeugen der Wahrnehmung auszustatten. Eine Forderung übrigens, die zunächst einmal gegen die Angriffe derjenigen zu verteidigen ist, die in einem Unterricht, der sich die Vermittlung von Namen, Epochen und Stilen zur Aufgabe macht, nur Etikettenwissen und Halbbildung sehen können. Ist es doch allemal besser, erst einmal und als Voraussetzung für alles weitere Sprechen über Kulturprodukte das Vokabular zur Beschreibung von Formen und die Prinzipien der ästhetischen Einteilung zu beherrschen, als einzig auf den Code des alltäglichen Lebens und die Logik unmittelbaren Wertens zurückgeworfen zu sein.

Was fehlt: die Verallgemeinerung einer kritisch-reflexiven Kunstwahrnehmung

Freilich darf aber angezweifelt werden, dass die Einverleibung des kunstgeschichtlichen Sortierapparats, die Orientierung am professionellen (für Laien ohnehin immer unerreichbar bleibenden) Expertenwissen, das sich nach Bourdieu von der Wahrnehmung des Laien „durch die Genauigkeit, den Reichtum und die Verfeinerung der angewandten Kategorien“ unterscheidet,[9] für einen aufgeklärten Umgang mit Artefakten hinreicht. Jedenfalls scheint Bourdieus Vorstellung von einer für alle zu erstrebenden Kunstkompetenz, die er in Anlehnung an die ikonologische und damals gerade aufblühende semiologische Tradition entwickelt,[10] aus mehrerlei Gründen überholt und vor allem befreiungstheoretisch nicht zu Ende gedacht.

Nicht nur, dass mit der traditionellen werk­ästhetischen Annäherung implizit so etwas wie die „endgültige Wahrheit“ eines Stils oder die „richtige Interpretation“ eines Werks mitschwingt – was angesichts der heute unhintergehbaren Pluralität von Interpretationsmethoden nur den Vorwurf der Rechthaberei und Wissenschaftsgläubigkeit einbringen kann –, sie kann auch einem Teil der Produktion, der nicht mehr „Werk“, sondern „Ereignis“ ist, nicht gerecht werden. Weil sich viele Kunstgattungen (Performances, Happenings, Installationen etc.) einer Kategorisierung über Formmerkmale entziehen und auch nicht überall, wo Form ist, eindeutig lesbarer Inhalt ist – denken wir nur an abstrakte Malerei –, kommt man mit stilistischen Merkmalszuweisungen und einem Modell des Dekodierens oft nicht weit. Vor allem aber kann die gelehrt­e Vorstellung von der Kunstwahrnehmung als einem Akt des Entschlüsselns bzw. der „Lektüre“, wie auch Heinz Steinert und Christine Resch mit ihrer „Interaktions-Ästhetik“ argumentieren,[11] nichts zum Verständnis der Gesamtsituation beitragen, in der Kunst produziert, präsentiert und rezipiert, also als „Kunst“ wahrgenommen und anerkannt wird.

Bourdieu hat wohl später in Die Regeln der Kunst (1992)[12] mit seinem Forschungsprogramm einer „Wissenschaft von den Kulturprodukten“ (das sowohl die Rekonstruktion der allmählichen Herausbildung eines relativ autonomen Produktionsfeldes, als auch die Rekonstruktion der Herausbildung der reinen ästhetischen Einstellung umfasst) der Kunstgeschichte das Prinzip der Reflexivität verordnet. Er hat also mit Verweis auf die Geschichtlichkeit der (kunsthistorischen) Einteilungsprinzipien, auf die Geschichtlichkeit der ästhetischen Einstellung (das Auge des Kunstliebhabers, das sich selbst als Naturgabe und gültige Norm vorkommt) und auf die Mitarbeit der professionellen KommentatorInnen an der (Re)Produktion der Institution Kunst die Grundpfeiler einer reflexiven, das heißt einer der Geschichtlichkeit des eigenen Kennerauges bewussten, die stillschweigenden Vorannahmen sich enthüllenden und damit der Falle „essentialistischen“ Denkens entkommenden (nicht beim sichtbaren Objekt stehen bleibenden) Kunstwissenschaft formuliert; damit aber auch einen Rahmen für reflexive Kunstwahrnehmung bereitgestellt, der es Gebildeten ermöglicht, sich selbst als Teil des Ereignisses „Kunst“ zu denken und dabei nach den eigenen (vermeintlich persönlichen) Interessen, Wünschen und Erwartungen, nach den gesellschaftlichen Normen und Grundmechanismen zu fragen.

Bedauernswerter Weise hat es Bourdieu jedoch verabsäumt, die reflexiven Elemente soziologischer Betrachtung in ein (utopisches) Modell der institutionalisierten Unterweisung zu integrieren. Zu sehr bleibt er dem damals vorherrschenden Modell der „internen“ Lektüre (der von Erwin Panofsk­y begründeten ikonologischen Tradition) verpflichtet, zu sehr setzt er die gelehrte Rezeption von Kunstwerken als pädagogisches Leitbild voraus, als dass er auf die Idee käme, den Beitrag der Soziologie (zum besseren Verstehen der Institution Kunst wie auch zum eigenen Kunstkonsum) selbst zum Vermittlungsinhalt zu machen. Problematisch also ist, dass Bourdieu eine bestimmte, traditionell an Werkinterpretation ausgerichtete kunstwissenschaftliche Wahrnehmung als ideales (und in diesem Sinne für alle zu erstrebendes) Wissen voraussetzt: Für ihn gibt die Kunstwissenschaft die Latte vor, was es über Kunstwerke zu wissen und zu sagen gibt, weshalb der Grad der Kunstkompetenz auch an der Beherrschung des historisch konstituierten Klassifikationssystems der Kunstgeschichte zu bemessen wäre. Ausgangspunkt für angemessenes Verstehen bleibt hier nach wie vor das „Werk“, dessen immanenter Sinn und Gehalt (bei verfeinerten Interpretationsinstrumenten natürlich auf der obersten Bedeutungsebene) in einem Übersetzungsakt freizulegen wäre.

Wenn es aber die soziologische Beobachtung gestattet, verschiedene Wahrnehmungsformen (vom alltäglichen Erleben bis zum gebildeten Verstehen) zu unterscheiden, warum dann nicht den Heranwachsenden vermitteln, dass jedes kulturelle Produkt, von einem Rubens über Comics bis zur Pop-Musik, zum Gegenstand verschiedener Arten von Verständnis werden kann? Warum sie nicht damit konfrontieren, dass persönlicher Geschmack so individuell nicht ist und letztlich doch ein gruppen- bzw. schichtspezifisches Phänomen darstellt? Wenn die Soziologie in der Lage ist, das Universum der Kunst als ein Universum des Glaubens zu enttarnen, warum dann nicht bei der leidigen Frage ansetzen, was ein Kunstwerk von einem Alltagsgegenstand (oder formal ähnlichem Eigenprodukt) unterscheidet und die Mechanismen der Kunstwerdung gleich an beispielhaften Aktionen (etwa Duchamps Pissoir oder Warhols Suppendosen) veranschaulichen? Warum bei einem „gotischen“ Sakralbau nicht auch auf den Einsatz von Rundbogenfenstern hinweisen und damit bewusst machen, dass die nach Formmerkmalen vorgenommene Klassifikation nach Stilen (hier die Formel Spitzbogen = gotisch) zu kurz greift und vor allem keine natürliche, sondern eine von KunsthistorikerInnen im nachhinein geschaffene, den ProduzentInnen bisweilen selbst völlig fremde Ordnung darstellt. Und lieferte nicht, etwa im Fall der Begegnung mit afrikanischen Masken im Museum, die einfache Feststellung, dass die Gegenstände hier ihrem ursprünglichen lebensräumlichen Kontext entrissen sind, wertvolle Ansatzpunkte, um die Institution Museum selbst als einen Ort zu denken, der Gegenständen, die in ganz anderer Absicht geschaffen wurden, ein neues Sein und BesucherInnen eine Norm der Erfahrung dieser Gegenstände aufzwingt?

Wenn Bourdieu nun aber davon ausgeht, dass sich Kunstkompetenz an der Beherrschung von Unterteilungsprinzipien misst, die sich mehr oder weniger leicht durch institutionalisierte Unterweisung aneignen lassen – was im Fall des letzten Beispieles hieße, die Masken als „primitive Kunst“ zu klassifizieren und die Objekte auf ihr Sein als ästhetische Werke zu reduzieren – dann setzt er nicht nur die Verallgemeinerung eine­r bestimmten ästhetischen Haltung und Wahrnehmungsform (nämlich die einer reinen, nicht-reflexiv gewordenen Kunstgeschichtsschreibung) voraus und bestätigt diese, er unterminiert damit eigentlich auch das von ihm selbst angestrebte Projekt einer emanzipatorischen Bildung.

Ein Kunstunterricht, der sich bei der Auswahl der Gegenstände und ihrer Interpretation völlig an der „reinen“ internen Lektüre orientiert und damit sämtliche Fragen, die die vorgegebene Ordnung ins Wanken bringen, radikal ausschließt, kann nur auf die bedingungslose Anerkennung bestimmter kultureller Güter als „Kunst“, nur auf einen noch reibungsloser funktionierenden, weil für alle zur Norm gewordenen Kult der geweihten Werke hinauslaufen. Wenn man also will, dass schulische Vermittlung (auf allen Ebenen) nicht nur die bestehende Ordnung reproduziert und Legitimationsfunktion erfüllt – was sie natürlich immer tut, allein durch den Rückgriff auf kanonisierte Bildungsgüter und die Weihe, die sie den Werken der Bildungskultur verleiht, indem sie sie durch ihre Vermittlung als bewunderungswürdig festlegt –, sondern von ihr erwartet, dass sie zur kritischen Befragung der bestehenden Ordnung befähigt, dann wäre auch jenes reflexiv-soziologische Wissen, das zu einer von Personenkult und Anbetung befreiten Kunsterfahrung ermächtigen kann, dazu beitragen kann, echte Erfahrungen aus der Begegnung mit Kulturgütern zu machen, in den Unterricht einzulassen bzw. zunächst einmal in der Ausbildung von KunstpädagogInnen zu verankern.

Wert und Wirkung einer (über praktisches Arbeiten hinausgehenden) Kunstpädagogik wären dann weniger (oder nicht nur) daran zu messen, dass die Heranwachsenden über die Wahrnehmungs-, Denk- und Ausdrucksschemata verfügen, die ein Einordnen und Klassifizieren der Bildungs­güter erlauben, sondern vor allem auch an ihrem emanzipativen Potenzial, das sich für gewöhnlich im Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben, in einer gewissen Distanz zu Normenkenntnissen, in einem Relativieren vorgegebener Wertzuschreibungen, in einem Wissen über die Historizität (und damit auch Willkür) der Einordnungsinstrumente und in der Reflexion eigener Vorannahmen zeigt. Jedenfalls bedeutete eine um reflexiv-emanzipative Elemente erweiterte und in diesem Sinn gebildete Kunstwahrnehmung dann nicht einfach die Reproduktion der vom westlichen Kunst-Kultur-System geforderten ästhetischen Haltung, und Vermittlung von Kunstwerken beschränkte sich dann auch nicht auf ein formalistisches (vom sozialen und historischen Kontext absehendes) Lesen des Gegenstandes. Die Formulierung der Grundsätze für eine rationale Kunstpädagogik, die einen aufgeklärten, reflexiven Umgang mit Kunstwerken zum Ziel hat, steht allerdings noch aus. Absehbar ist, dass – aufgrund der Eigenlogik des künstlerischen Feldes – ein solches Programm a­llerdings kaum innerhalb des akademischen Feldes der Kunstausbildung, dem ja die Ausbildung von KunstpädagogInnen angeschlossen ist, entwickelt werden kann.

[Anita Aigner, Studium der Architektur an der TU-Wien, Promotion mit einer bauhistorischen Arbeit zum Wiener Wohnbau der Zwischenkriegszeit, seit 1994 Universitätsassistentin am Institut für Künstlerische Gestaltung der TU Wien]

[1] Bourdieu, Pierre: „Aber wer hat denn die „Schöpfer“ geschaffen?“, im April 1980 an der Ecole nationale supérieure des arts décoratifs gehaltener Vortrag. In: ders.(1993)): Soziologische Fragen. (Questions de sociologie. Paris: Les Éditions de Minuit, 1980) Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 197-211, S. 197.
[2] Bourdieu, Pierre: Leçon sur la leçon. In: ders.(1985): Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 63.
[3] Bourdieu, Pierre & Wacquant, Loïc J.D. (2006; 1996): Reflexive Anthropologie. (Réponses pour une anthropologie réflexive. Paris: Édition du Seuil, 1992) Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 190.
[4] Vgl. http://rurban.xarch.at/weibel-ori.html
[5] Bourdieu, Pierre & Passeron, Jean-Claude (1964): Les héritiers. Les étudiants et la culture. Paris: Éditions de Minuit. Die deutsche Übersetzung „Bildungsprivileg und Bildungschancen“ bildet den ersten Teil des Buches Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett, 1971.
[6] Bourdieu, Pierre & Passeron, Jean-Claude (1970): La réproduction. Éléments pour une théorie du système d‘enseignement. Paris: Éditons de Minuit. Der erste Teil des Buches, Fondements d’une théorie de la violence, liegt in deutscher Fassung vor in: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. Der zweite Teil des Buches La réproduction ist in deutscher Übersetzung eingegangen in den Band Die Illusion der Chancengleichheit, a.a.O.
[7] Außer vielleicht bei den Wenigen, die eine Einstellung zum sozialen Aufstieg und einen Hang zur – oft inhaltsleeren, vom Prinzip der immateriellen Schatzbildung dominierten – Bildungsbeflissenheit entwickelt haben. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang auch treffend von einer „Art kulturellen Bulimie“ (S. 98), die der Wechsel auf die Universität, insofern dieser immer auch den Zutritt zur gebildeten Welt bedeutet, bisweilen bei Studierenden aus bildungsfernen Schichten auslöst.
[8] Wenn sich Bourdieu angesichts der weihevollen Stille im musealen Andachtsraum fragt „Warum keine Musik einsetzen, die den Besuchern das Gefühl geben könnte, ein paar Worte aussprechen zu können, ohne damit das religiöse Schweigen zu stören? Warum die Dienstleistungen im Bereich des Informationsangebots nicht insgesamt verstärken und die Museen nicht mit Bibliotheken, Konzertsälen, Buchhandlungen und Geschäften ausstatten, die Reproduktionen, Schmuck und folkloristische Gegenstände anbieten? Warum Museen nicht einladender machen, indem man Bars, Shops, Salons oder Restaurants einrichtet, die es den Besuchern ermöglichen, ihren Tag im Museum verbringen?“ – so klingt das heute, da die geforderten Belebungsprogramme weitgehend eingelöst sind, überholt. Aber eben auch zu kurz gegriffen in Anbetracht der Tatsache, dass die Mittel zur Aneignung, speziell zur kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit Kunst und ihren Institutionen bildungspolitisch bislang nicht formuliert und sanktioniert wurden.
[9] Bourdieu, Pierre : Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 159-201, S. 187.
[10] Vgl. auch Bourdieu, Pierre (1974;1970): „Elemente zu einer soziolo gischen Theorie der Kunstwahrnehmung“. In: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 159-201.
[11] Resch, Christine & Steinert, Heinz (2003): Die Widerständigkeit der Kunst. Entwurf einer Interaktions-Ästhetik. Münster: Westfälisches Dampfboot.
[12] Bourdieu, Pierre (2001;1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. (Les règles de l’art. 1992) Frankfurt am Main: Suhrkamp.]

dérive, Mi., 2008.06.11



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18. Juni 2005Anita Aigner
UmBau

Ein Entwurf, der zu früh kommt

Gesetze der Preisbildung am Beispiel von Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast

Gesetze der Preisbildung am Beispiel von Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast

Architekturproduktion spielt sich in der Zeit, in der Zeitgenossenschaft von Ungleichzeitigen wiewohl auch unter Zeitdruck ab und der beste Entwurf ist nichts wert, wenn er zu spät oder zu früh kommt, dazu verdammt, in den Raum des Nichts verstoßen zu werden, wenn er den Geschmack der Auftraggeber oder den »Geist der Zeit« nicht trifft, das heißt den jeweils vorherrschenden Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien nicht entspricht. Dass es möglich ist, einen Nichterfolg einzufahren und dennoch Kapital daraus zu schlagen, ist jedoch im Feld der Architektur so ungewöhnlich nicht. Das Ungebaute ist im Kanon der Architekturgeschichte genauso verankert wie das Gebaute und unausgeführte Projekte, sofern sie in der Fachwelt die dazu nötige Aufmerksamkeit erhalten, vermögen ihren Autoren ebenso zu Ruhm zu verhelfen wie ausgeführte. Zurecht spricht Adolf Max Vogt im Zusammenhang mit dem negativen Ausgang des Völkerbundwettbewerbs für Le Corbusier und Pierre Jeanneret zugleich von der »Demütigung und Glorie« von Genf,(1) und auch Alfred Roth, einer der sechs Mitarbeiter am Wettbewerbsprojekt im Atelier rue de Sèvres, bringt die Niederlage, die er als die »bitterste Episode« im Leben Le Corbusiers bezeichnet, mit dem »kometenhaften Aufstieg des Künstlers« in Verbindung.(2) Dass es ein unfreiwilliger Nichterfolg zu einem »Markstein in der Geschichte der Architektur«(3) bringen, also Eingang in die ewige Gegenwart der kanonisierten Architektur finden kann, ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.

Es setzt die Architektur als ein relativ autonomes kulturelles Produktionsfeld voraus, das über eigene Gesetze, Profite und Interessen verfügt, ein Universum, in dem weltlicher Erfolg und künstlerischer Wert nicht notwendig in eins gesetzt sind und in dem auch erfolglose (nicht zur Ausführung gelangende) oder »reine« (als Grenzfall der möglichen Form produktiver Tätigkeit – nicht zur Ausführung bestimmte) Produktion,(4) eben weil sie den eigentümlichen, aus der Geschichte der Autonomisierung erwachsenen Ansprüchen folgt, Anerkennung als kostbarste Gegengabe erwarten darf. Dass unausgeführte Projekte eine Kapitalisierung erfahren (ihnen ein immaterieller, nur innerhalb des architektonischen Feldes sich konstituierender und funktionierender Wert zugesprochen wird), setzt nicht nur voraus, dass der Architekt mit seinen Einsätzen die in der Gegenwart angelegte Zukunft des Spielverlaufs antizipiert – er positioniert sich nicht da, wo die anderen schon sind und die Profite einheimsen, sondern wo sie gleich anfallen –, es bedarf auch der Anerkennungs- und Legitimierungsarbeit durch feldinterne Instanzen (KollegInnen, KritikerInnen, KunsthistorikerInnen). Jedenfalls genügt es nicht, die riskanten, auf Positionierung im Feld zielenden Einsätze, die bisweilen unter größten Entbehrungen und gegen die Gesetze ökonomischer Vernunft hervorgebracht werden, einfach nur zu produzieren und sich selbst zu überlassen – sie müssen auch gut platziert, mit Überzeugung vorgetragen, verbreitet und besprochen werden. Vor allem dann, wenn niemand sie haben will.

Ruhm- und Rangsicherung durch Medienarbeit

Was den Punkt der Verbreitung betrifft, so hat bereits Vasari erkannt, dass der Ruhmesmechanismus durch Publizieren planmäßig in Gang gesetzt und gehalten werden kann. Seiner Einschätzung nach hätte Alberti seinen Ruf eher seinen Schriften als seinen Werken zu verdanken, die in Wahrheit nicht besser sind als die anderer Künstler: »Man kann daraus die Erfahrung ableiten, dass Schriften, was den Ruhm und den Klang eines Namens angeht, größte und dauerhafteste Wirkung haben. Denn die Bücher, sofern sie wahrhaftig und nicht lügenhaft sind, wandern leicht von Hand zu Hand und finden allenthalben Glauben.«(5)

Sicherlich verdankt auch Le Corbusier einen großen Teil seines Erfolges der Erkenntnis, dass die Flugbahn der Fama nicht nur von der praktischen Meisterschaft des Architekten, sondern auch maßgeblich von der schriftlichen Übersetzung künstlerisch-architektonischer Absichten und Ambitionen sowie ihrer massenhaften Verbreitung abhängig ist. Selbst aus heutiger Sicht, da aufwändige Buchpublikationen zu einem Standard der Selbstvermarktung geworden sind, nimmt Le Corbusier mit seinen Akten der unmittelbaren Selbstautorisierung eine Sonderstellung ein. Noch bevor er große Bauten vorzuweisen hat, kann der mit ausgesprochenem Orientierungs- und Platzierungssinn ausgestattete Mehrfachbegabte, der vom Kunsthandwerker, Zeichenlehrer, Maler und Kunstkritiker zum international beachteten Architekten avanciert, mit einer beachtlichen Reihe von Publikationen aufwarten, in denen er in apodiktischer und provokanter Sprache, einer Art »Poesie der Gewalt«(6) schrittweise den Bruch mit der vorherrschenden Ordnung vollzieht. Noch unter dem Namen Charles-Edouard Jeanneret publiziert er mit seinem Freund und Malerkollegen Amédée Ozenfant 1918 einen kämpferischen Text mit dem Titel Après le Cubisme (mit dem sie die im Feld der Kunst vorherrschenden Kubisten in die Vergangenheit verweisen), unter dem Pseudonym »Le Corbusier« veröffentlicht er von 1920–1925 in der gemeinsam mit Ozenfant und dem Dichter Paul Dermée herausgegebenen und in 28 Heften erschienenen Zeitschrift L’Esprit Nouveau seine häretischen Ansichten zu Kunst und Architektur, die sogleich auch in Buchform in der Reihe L’Esprit Nouveau der Editions Crès erscheinen (Vers une architecture, 1923; L’art décoratif d’aujourd’hui, 1925; La peinture moderne, 1925), zudem noch eine (seit längerem in Arbeit befindliche und mehrfach, bis hin zum Wechsel der Standpunkte überarbeitete) ketzerische Schrift zum Städtebau (Urbanisme, 1925). Die in ihrer Bedeutung für das künstlerische Selbstverständnis des Architekten nicht zu unterschätzende Parallelaktion in Sachen bildender Kunst und Architektur, mit der er die Richtung seiner Entwicklung eine Zeit lang in Schwebe hält, entscheidet sich zugunsten der Architektur, nachdem er mit Vers une architecture den Resonanzkörper des architektonischen Universums nachhaltig zum Schwingen gebracht hat und schlagartig bekannt wird. Seine draufgängerische Überzeugungsarbeit als »Theoretiker« wie auch seine vorneweg auf Aufmerksamkeit und Beeindruckung berechneten, spekulativen Entwürfe (Ville contemporaine, 1922) zielen vor allem auf Anerkennung innerhalb der »Community«, nicht zuletzt gerade der arrivierten Kollegen und Kritiker, von denen – dem Gesetz folgend, dass Ruhm nur derjenige spenden kann, der ihn selbst schon besitzt – der größte Legitimationseffekt ausgeht. Deshalb verschickt er auch einzelne Publikationen an ausgewählte Architekten, unter anderen Bruno Taut und Erich Mendelsohn,(7) er versucht aber auch, Industrielle und einflussreiche politische Entscheidungsträger in den Bann zu ziehen, um die Ausarbeitung seiner »Laboratoriumsarbeit« zu finanzieren und die Ergebnisse in der Öffentlichkeit so gut wie möglich zu präsentieren. So gelingt ihm unter anderem ein großer Auftritt auf der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes (1925), auf der er mit seinen urbanistischen Visionen das tradierte Programm des Kunstgewerbes konterkariert.(8)

All die schon geleisteten, ökonomisch sich nicht unmittelbar rechnenden Investitionen, die auf Revolution im Bereich der Architektur abzielen und zugleich darauf, sich im Feld zu positionieren, sämtliche auf Durchsetzung neuer Produktions- und Bewertungsnormen zielenden Akte als Publizist, Buchautor und Vortragender, in denen der als uneigennützig und interesselos wahrgenommene Kampf für eine »wahrere« Praxis den eigentlichen (vom Feld offerierten) Profit verschleiert (nämlich den, sich einen Namen zu machen), sind in Erinnerung zu rufen, will man nun die großen Erwartungen und die Verarbeitung der bitteren Enttäuschung verstehen, die für Le Corbusier mit dem Völkerbundwettbewerb verknüpft sind.

Der Neununddreißigjährige steht nun jedenfalls am Beginn jener Phase seines Berufslebens, da er mit der Verwertung des symbolischen Kapitals rechnen darf, das er mit seinen kämpferischen Wortspenden und spekulativen Entwürfen mühsam verdient hat. Der Bau des Volkshauses der Heilsarmee in Paris (1926) darf als erstes Anzeichen genommen werden und nun, wo mit cinq points (1926) auch eine knappe, die Revolution zusammenfassende Formel gefunden ist, scheint der Zeitpunkt gekommen, um endlich »Großes« zu schaffen und die bereits in kleineren Projekten formulierten Neuerungen im Maßstab eines repräsentativen Großbaus aufgehen zu lassen. Mit fünf Moser-Schülern aus Zürich, die sich unmittelbar nach einem offensichtlich beeindruckenden Vortrag Le Corbusiers im November 1926 im Atelier rue de Sèvres als Helfer eingefunden haben, und einem jungen Architekten aus Zagreb wird das Wettbewerbsprojekt in knapp zwei Monaten unter opferbereiter und letztlich unbezahlt bleibender Einsatzbereitschaft der jungen Mitarbeiter ausgearbeitet.(9) Die achtzehn großformatigen Plandrucke werden rechtzeitig, noch vor dem 25. Jänner 1927 nach Genf geschickt – nicht ohne vor dem Einpacken in berechnender Absicht noch schnell für einen Fototermin arrangiert zu werden. Mit dem »Erinnerungsbild«, das Roth auf Geheiß von Le Corbusier seinem Lehrer schickt, um ihm ein »Bild seiner so fleißig gewesenen Schüler« zu geben, wird dem Preisrichter Moser eine Vorabinformation über das Wettbewerbsprojekt zugespielt.(10)

Als sich die international besetzte, aus neun renommierten Architekten bestehende Fachjury nicht auf die Ausführung eines bestimmten Projektes einigen kann (vorgesehen war: ein erster Preis, zwei zweite und drei dritte Preise),(11) kommt es am 5. Mai 1927 zu einem »kläglichen Kompromiss«: Aus den 377 eingereichten Projekten werden neun Entwürfe mit einem ersten Preis ex aequo ausgezeichnet, darunter auch der Beitrag von Le Corbusier und Jeanneret (der übrigens als einziger der ausgewählten Entwürfe die im Programm festgesetzte Bausumme nicht überschreitet). Dem vorsichtigen Urteil der Jury,(12) welche sich damit aus der Verantwortung stiehlt, folgt eine ganze Sturmflut von Meldungen in der Tages- und Fachpresse. In den verschiedenen Ländern werden die prämierten Entwürfe veröffentlicht und deren Verfasser als Nationalhelden gefeiert,(13) Architekturkritiker ergreifen für einzelne Projekte Partei, Wettbewerbsteilnehmer melden sich zu Wort, um ihr Projekt zu lancieren, angeregt von involvierten Akteuren richten Fachverbände Protestschreiben an den Völkerbund, wobei das Dossier an Meinungsäußerungen zum Projekt von Le Corbusier und Jeanneret bei weitem das umfangreichste sein dürfte.(14) Bei all den publizistischen Aktivitäten, die Le Corbusier als legitimen Anwärter für den Auftrag ausweisen, ragt die groß angelegte Pressekampagne heraus, mit der Christian Zervos im Novemberheft (1927) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Cahiers d’Art Schützenhilfe leistet. Wohl auf seine Anfrage und Initiative hin, hat eine ganze Reihe von etablierten Architekten, Künstler- und Berufsverbänden unterstützende Stellungnahmen für den Aspiranten abgegeben (etwa Tony Garnier, Henry van de Velde, Oswald Haerdtl, Frantz Jourdain und der Preisrichter Karl Moser); der Name anderer »großer Meister«, die sich entweder nur für ein »modernes Projekt« aussprechen (wie Hendrik Petrus Berlage, der als Juror in seiner Bewertung dem Projekt Le Corbusiers keinen Preis zukommen ließ) oder auf die Anfrage gar nicht reagierten (wie etwa Hugo Häring, Walter Gropius, Mies van der Rohe oder Ernst May), wird auf unzulässige Weise vereinnahmt. Was für Le Corbusier zunächst noch mit Hoffnungen verbunden ist, entpuppt sich am 22. Dezember 1927, da sich eine neu ins Leben gerufene Fachkommission (Comitée de Cinq, mit dem nicht mehr Architekten, sondern fünf Botschafter das Sagen haben) für das französisch-schweizerische Team Nénot und Flegenheimer entscheidet und diese beauftragt, gemeinsam mit Broggi, Lefèvre und Vago die definitive Projektierung und Ausführung zu übernehmen, als herbe Niederlage.

Die Enttäuschung darüber, am Dirigieren des Großprojektes gehindert worden zu sein, lässt Le Corbusier jedoch nicht aufgeben, im Gegenteil, er wird zum Ankläger, der keine Mittel scheut, um seinem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Er beeinflusst Medien und Kritiker, kontaktiert Politiker (er wird beim Schweizer Bundespräsidenten Giuseppe Motta vorstellig) und Preisrichter (den französischen Akademieprofessor Lemaresquier), verfasst formelle Protestschreiben – die äußerst umfangreiche requête (eine »Anklageschrift«, in der er die Vorzüge seines Entwurfs erläutert, zum fragwürdigen und undurchsichtigen Prozedere des Wettbewerbsverfahrens Stellung bezieht und sich durch Abdruck einer Auswahl von Artikeln der Tages- und Fachpresse auf die Unterstützung namhafter Persönlichkeiten beruft) – und greift schließlich zum bewährten Mittel der Selbstautorisierung: Noch im selben Jahr, da der Völkerbundsrat den Antrag der Spezialkommission genehmigt, legt er mit Une maison – un palais (1928) ein Buch vor, mit dem der Rang seines Projektes für alle Zeiten außer Streit gestellt werden soll.(15) Da er sich, wie auch die Vertreter der neuen Avantgarde in anderen Feldern kultureller Produktion (Literatur, Malerei, Theater etc.), zur Rechtfertigung seiner ikonoklastischen Neuerungen auf die Reinheit des Ursprungs berufen muss, hebt er im ersten Teil (»Thèse«) dieses Buchs zu einer Wesensbestimmung der Architektur an und fordert – wie schon in seinen vorgängigen Schriften (Vers une architecture, 1923; Urbanisme, 1925; Almanach d’Architecture moderne, 1926) – eine Rückkehr zur ursprünglichen und idealen Definition architektonischer Praxis, um sodann im zweiten Teil (»Explications«) die zuvor an einzelnen Villenbauten exemplifizierten Neuerungen im Großprojekt des Völkerbundpalastes kulminieren zu lassen und im Anhang (»Appendice«) die Belege sicherzustellen, mit denen das Bild des einer Intrige zum Opfer gefallenen und um einen verdienten Auftrag geprellten Vorkämpfers einer »zeitgemäßen« Architektur gezeichnet werden soll.

Der enorme Aufwand an Überzeugungs-, Mobilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit, den Le Corbusier und seine Freunde auch noch nach der Absegnung des Entscheids durch den Völkerbundsrat im März 1928 betreiben, hat zwar nicht zum Auftrag für den bedeutendsten Repräsentativbau jener Zeit geführt, doch in jedem Fall dazu beigetragen, dass seine Aktien im Feld gestiegen sind, er vom Außenseiter zum Anwärter auf eine Position in die »Oberliga« aufgestiegen ist und ihm im begrenzten Kräftefeld der limitierten Produktion fortan eine unübergehbare Position zugesprochen wird.

Nun kann Le Corbusier wohl als Musterbeispiel dafür genommen werden, dass, um den Status eines Stararchitekten zu erringen, derjenige am erfolgreichsten verfährt, der am besten gleich selbst den Part des Oberpriesters des eigenen Kultes übernimmt – doch dass sein Genfer Wettbewerbseinsatz in die ewige Gegenwart der kanonisierten Architektur Eingang gefunden hat, lässt sich nicht einfach nur durch die Akte der Selbststilisierung und die »dauerhafte Wirkung« seiner Bücher erklären, ebensowenig nur durch die Besonderheit und Einzigartigkeit des Entwurfs. Nicht unbegründet stellt sich der Architekturhistoriker Werner Oechslin in seiner sechzig Jahre nach dem Wettbewerb vorgelegten Dokumentation des Wettbewerbsprojektes (mit der die von ihm veranlasste Restaurierung der Projektunterlagen im Jahre 1986 zu einem würdigen Abschluss kommt) in einem Nebensatz die Frage, was wohl aus den Plänen geworden wäre, hätte es sich beim Verfasser um einen weniger bekannten Architekten gehandelt. Derselbe Entwurf von einem unbekannten Autor oder gar einer unbekannten Autorin, so ließe sich antworten, hätte weder die Solidarität der Zeitgenossen noch die gesteigerte Aufmerksamkeit des Architekturhistorikers bewirkt. Ganz in der Logik seiner Praxis befangen sieht der Architekturhistoriker in der herausragenden Stellung des Autors die Rechtfertigung für sein Unternehmen: »Die Person Le Corbusiers und der prominenteste internationale Wettbewerb lassen ein detailliertes Eingehen auf noch so geringfügige Einzelheiten [...] angemessen erscheinen.«(16) Neben der Prominenz des Wettbewerbes ist es also der Seltenheitswert der Produzenten, der das Interesse der KommentatorInnen und InterpretInnen erklärt, der jedoch – und dies scheint diesen zu entgehen – immer auch mit das Produkt ihrer eigenen Arbeit ist.

Der Name des Produzenten wie auch die Bedeutung seiner Produkte lässt sich nämlich nicht auf die Arbeit des Architekten selbst beschränken – auf seine aktiven, gestalterisch-erfinderischen Fähigkeiten, die es ihm erlauben, eine virtuelle Lücke zu besetzen, das heißt in einer Zeit des Übergangs die in der Luft liegenden Themen und Problemzusammenhänge (Industrialisierung des Bauens, Massenwohnbau) zu verarbeiten und in einer neuen architektonischen Grammatik mit stilbildender Kraft zu formulieren, und auf seine publizistischen Aktivitäten, mit denen er seine Einsätze zu verbreiten und sich im Feld zu schaffen versucht –, sondern ist mit das Produkt der Legitimierungs- und Konsekrationsarbeit der feldinternen Instanzen (Historiker, Kritiker, Journalisten, Kollegen, Ausstellungsmacher). Insofern nämlich, als diese in den Auseinandersetzungen, in denen die Bedeutung der Einsätze ausverhandelt wird, zunächst selber Partei ergreifen (wie etwa Giedion), und sie später (nachdem es der Produzent im Feld der Architektur zu exklusiver Legitimität gebracht hat, seine Bauten und Entwürfe es geschafft haben, »in die Geschichte einzugehen«) die Produkte in einem nicht zu Ende kommenden Besprechungsprozess immer wieder einer Neubetrachtung unterziehen. In Erinnerung gerufen sei hier nur beispielhaft die vom Begriff der »Transparenz« ausgehende, positivistische »reine« Lektüre durch Robert Slutzky und Colin Rowe, die das Völkerbundprojekt einer rein formalistischen und zugleich ahistorisierenden Lesart unterziehen,(17) oder die »archäologische Betrachtung« von Adolf Max Vogt, der das im Großprojekt kulminierende Leitmotiv der auf Pfahlstützen abgehobenen Schachtel (boîte en l’air) mit historischen Bezügen anreichert.(18) Mit Bourdieu ist in Erinnerung zu rufen, dass der von professionellen (das heißt zur Suche nach Sinn und Begründung von Besonderheiten und Unterschieden entschlossenen) InterpretInnen geführte Diskurs nicht bloß unterstützendes Mittel zum besseren Verstehen und der Würdigung einer architektonischen Leistung ist, sondern immer auch ein Moment der Produktion des Werks, also zugleich ein Mittel, das den Wert der architektonischen Produkte und den Namen der Produzenten (ja bisweilen auch den Namen der InterpretInnen) schafft.(19)

Wenn Architekturhistoriker dem von Auftraggeberseite verschmähten Wettbewerbsprojekt mehr als fünfzig Jahre nach seiner Herstellung einräumen, dass es einen »Höhepunkt« in Le Corbusiers »puris
tischer Periode«, einen Höhepunkt »in der Entwicklung der modernen Architektur«, einen »Markstein in der Geschichte der Architektur« darstellt,(20) und damit das wahr werden lassen und bestätigen, was der Autor schon zehn Jahre nach der endgültigen Absage für sich reklamiert hat (»ce projet [...] a marqué une date dans l'histoire de l'architecture«(21)), so ist daran zu erinnern, dass solche bewerten
den und klassifizierenden Einschätzungen nur möglich sind, weil die AkteurInnen, die mit der Archivierung, Konservierung und Erforschung kanonisierter Produkte beschäftigt sind, dem Produktionsfeld in einer Beziehung des komplizenhaften Einverständnisses unterworfen sind. »Wenn die Kunstwissenschaft heute noch in den Kinderschuhen steckt, so rührt dies gewiss daher, dass die mit ihr Befassten, vornehmlich die Kunsthistoriker und -theoretiker, in den Auseinandersetzungen, in denen Sinn und Wert des Kunstwerks [beziehungsweise des architektonischen Werks, A. A.] produziert werden, selber Partei sind, und dies ohne es zu ahnen oder doch jedenfalls ohne daraus alle Konsequenzen zu ziehen: Sie selbst sind Teil des Gegenstands, den sie zum Gegenstand zu haben meinen.«(22) Weil die Architekturhistoriker, wie »die Literatur- und Kunsthistoriker, die, ohne es zu wissen, die Sichtweise der Produzenten für die Produzenten übernehmen, die (mit Erfolg) Anspruch auf das Monopol auf die Bezeichnung Künstler oder Schriftsteller [beziehungsweise Architekt, A. A.] erheben«, entsprechend der Logik ihrer Praxis »nur das Unterfeld der limitierten Produktion (kennen und anerkennen), [...] verfälscht sich auch die ganze Darstellung des Feldes und seiner Geschichte«.(23)

Nicht nur, dass die Baugeschichte nicht einfach auf die Geschichte der großen Bauten und Köche der Architektur reduziert werden kann, es lässt sich auch die Geschichte der limitierten Produktion, also das, was Feldgeschichte macht, nicht angemessen verstehen, wenn die einzelnen Akteure in einer Summe von kunstgeschichtlichen Einzeldarstellungen unverbunden nebeneinander stehen. Die verschiedenen Positionen der Avantgarde der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die heute im Kanon verewigt sind, lassen sich gemäß Bourdieus strukturaler Feldanalyse nur dann wirklich verstehen, wenn sie in ihrer objektiven Relation zu allen anderen bestimmt werden, also auch und vor allem im Verhältnis zu jenen, gegen die sie sich gemäß der Logik des Kampfes abgrenzen, also zu den »überholten« Architekten, die innerhalb einer Geschichte der »modernen Architektur« für gewöhnlich ausgeblendet sind.

Der Wettbewerb: Enthüllung der Struktur des Feldes der Gegenwart

Mehr als andere Gelegenheiten scheint ein internationaler öffentlicher, das heißt für alle Architekturschaffenden zugänglicher Wettbewerb, die Struktur des Feldes der Gegenwart, den Stand der Machtverhältnisse beziehungsweise den Raum der zeitlich hierarchisierten Positionen, die von den um Legitimität miteinander konkurrierenden Personen beziehungsweise Gruppen eingenommen werden, zum Vorschein zu bringen. Auf Seite der Teilnehmer synchronisiert er Neulinge und Alteingesessene, Namenlose und Etablierte, Positionsinhaber und Anwärter (weshalb er auch den an Kapital Schwachen Chancen bietet), auf Seite der Jury bündelt er Akteure, die es bereits »geschafft« haben (also über ein hohes auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung beruhendes symbolisches Kapital verfügen) und aufgrund ihres biologischen und künstlerischen Alters tendenziell im Gegensatz zu den (oft zweifach »jungen«) avantgardistischen Architekten stehen, er lässt aber auch Kritiker, Kommentatoren, Journalisten und Ausstellungsmacher auf den Plan treten, die entsprechend der Logik ihres Produktionsfeldes dazu neigen, dem »Neuen« und den Produkten, die Aufmerksamkeit erregen, den Vorrang einzuräumen – der Wettbewerb führt also sämtliche Akteure des Feldes auf einen Punkt in der Gegenwart zusammen, trennt und polarisiert sie aber auch sogleich.

Die mit den neun erstprämierten Entwürfen gegebene (»postmoderne«) Vielfalt unterschiedlicher Stilrichtungen – das Ergebnis spiegelt die Wahrnehmung der das europäische Feld dominierenden, von neun Nationen entsandten, »aufgrund ihres Werks« zu Berühmtheit gekommenen Architekten wider – stellt einen Zustand äußerster Unsicherheit und Verunsicherung, ja eine Krise im Feld der Architektur dar. Insofern schon mit den Jurymitgliedern unterschiedliche Positionen aufeinandertreffen, werden auch die Gegensätze zwischen den durch die Zeit und im Bezug zur Zeit getrennten Akteuren virulent, »zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen; zwischen den Herrschenden, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen, und den Beherrschten, den Neuankömmlingen, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht.«(24)

Was nicht heißt, dass sich Architekten bei der Produktion bewusst auf andere Positionen beziehen, doch existieren sie nur in objektiver Relation zu anderen Positionen und sind deshalb darauf angewiesen, ihre Positionierungen mit Differenz zum Bestehenden vorzunehmen. Gerade der Wettbewerb, insofern hier unterschiedliche ästhetische Produktionsweisen unmittelbar aufeinander prallen, fordert die Produzenten wie die Beurteilenden heraus, die (mehr oder weniger feinen und mehr oder weniger gesuchten) Unterschiede herauszustellen. Es ist der Anreiz des materiellen und immateriellen Profits, der mit der Ausführung eines so großen Bauvorhabens verbunden ist, mitunter die existenzielle Not (auch Le Corbusier befindet sich in einer finanziell misslichen Lage(25)), die die avantgardistischen Produzenten dazu treibt, für ihr neues Erzeugungsschema und zugleich auch gegen verbreitete und anerkannte Produktions-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata Stellung zu beziehen.

Jedenfalls wird der Schwebezustand, den das Preisgericht hinterlässt, nicht zufällig gerade von denen aufgebrochen, die ihr Publikum in der Zukunft haben. Tendenziell blasen immer diejenigen zum Angriff, die eine dominierte Position einnehmen und Interesse an der Veränderung der bestehenden Kräfteverhältnisse haben. Wobei sich ihr Kampf um Anerkennung nicht einfach auf eine Begründung der neuen Produktionsmuster beschränkt (deren Explikation übernehmen zumeist ohnehin die »Theoretiker« im Feld), sondern immer mehr in Absetzungsarbeit aufgeht, das heißt in einer negativen Beziehung auf andere beziehungsweise auf das vorherrschende Geschmackssystem (das in ihren Augen einen »alten Zopf« darstellt).

Der Kampf für eine Sache wird also immer mehr zu einem Kampf gegen eine Sache. Obschon Le Corbusier es nicht verabsäumt, immer wieder die Vorzüge seines Entwurfs zu erläutern (die organisatorischen und technischen Qualitäten, die Rücksichtnahme auf die natürliche Umgebung – seine conception paysagiste, das Einhalten der veranschlagten Bausumme etc.), so verlagert sich seine Argumentation doch zusehends auf die Zurückweisung anerkannter Produktionsmuster. Wobei die Diskreditierung der internen Konsekration (der »Akademie«), die (was seine Biografie betrifft) ganz der »Völkerbundaffaire« entkeimt, sich erst 1932 mit Croisade ou le crépuscule des académies vollends entlädt. Aber auch bei den Stellungnahmen in der Fach- und Tagespresse fällt auf, dass es immer weniger um ein bestimmtes Projekt geht, sondern immer mehr um zwei Lager. Die Rede ist vom Kampf zwischen dem esprit moderne und dem esprit ancien, von der »Epoche, die stirbt« und dem »neuen Zeitalter«, vom Projekt, »das einzig den modernen Geist repräsentiert«.(26) Die Erfordernisse des Kampfes bringen es mit sich, dass die Akteure des Feldes kollektiv eine Repräsentation des Feldes erzeugen, die, auch wenn sie der Realität nicht entspricht, besonders wirkmächtig und fortpflanzungsfähig ist – einfach deshalb, weil sie spontane Vorstellungen und Vorurteile bestärkt. Wobei der die Welt der Architektur in zwei Lager teilende Diskurs seine praktische Kohärenz der Tatsache verdankt, dass er auf der Anwendung generativer Schemata beruht, die sich auf den Gegensatz zwischen einer überholten Vergangenheit und einer fortschrittlichen Zukunft, zwischen Tradition und Moderne zurückführen lassen.

Wie bei jeder Krise, insofern sie dazu zwingt, sich zu entscheiden und alle Stellungnahmen auf eine in einem bestimmten Feld eingenommene Position hin zu organisieren, wird der in Wahrheit fließend-verschwommene Verlauf zwischen zwei Polen durch eine Trennung in klar geschiedene Lager ersetzt. So besteht das Ergebnis für Le Corbusier ganz klar aus cinq projets académiques und quatre modernes.(27) Der Schnitt in ein an sich diffuses Gewebe, zu dem in normalen Zeiten keine Notwendigkeit besteht, bewirkt, dass selbst die unterschiedlichsten Akteure in Lager eingeschmolzen werden. So wird den Juroren Moser, Berlage, Hoffmann und Tengbom gleichwie den von ihnen erwählten »modernen« Preisträgern (Le Corbusier und Jeanneret, Schweiz; Fahrenkamp und Deneke, Deutschland; Pulitz, Klophaus und Schoch, Deutschland; Eriksson, Schweden) eine Kohärenz unterstellt, die jedoch nur schwer begründbar ist. Was gestalterische Grundmuster betrifft, können freilich klare Unterschiede zwischen Le Corbusiers Projekt und den fünf der klassischen Formensprache verpflichteten Projekten ausgemacht werden – mit asymmetrischen Kompositionsmustern, dem Verzicht auf das Frontalitätsprinzip, dem frei gewichteten Spiel von klaren Baukörperformen und der Beziehung zur Umgebung sind einige Merkmale des Herausforderers benannt –, doch die unterstellte Einheit der als »modern« benannten Projekte ist selbst mit oberflächlichsten Merkmalen kaum zu fassen.(28) Die Vagheit und Unschärfe des Begriffs »modern« hält jedoch – obwohl ihm zunächst eigentlich nur die praktische Funktion zukommt, die Zeit zwischen unterschiedlichen Produktionsmustern einzuführen – von seiner Verwendung nicht ab. Im Gegenteil, der nur aus dem Kampf beziehungsweise der Mobilisierungsarbeit heraus zu verstehende Begriff »modern« wird fortan von internen Interpreten, Kunst- und Architekturhistorikern übernommen und zu einem praktischen Instrument der Klassifizierung, zu einem Stilbegriff ausgebaut – weshalb es uns heute (nachdem die Genese des Begriffs vergessen worden ist) auch möglich ist, ganz unmissverständlich von »moderner Architektur« oder der »klassischen Moderne« zu sprechen.

Die antagonistische Spaltung in Lager wird von Le Corbusier in Une maison – un palais auch in einem Bild symbolisch zum Ausdruck gebracht. Den mit Lorbeer und Eichblatt als siegreich ausgewiesenen »Akademikern« stehen die mit einem Totenkopf versehenen »Anderen« gegenüber, wobei freilich auf der Seite der unterlegenen Partei nur sein eigenes Projekt aufscheint (das wie die Gegnerprojekte in Zahlen Gestalt annimmt, den von Experten geschätzten Baukosten). Die weiteren »Anderen«, die ebenso in die engere Auswahl gekommen sind, finden in der Abbildung (wie übrigens in der gesamten Dokumentation des Wettbewerbes) keine Berücksichtigung. Das Bild spricht damit auch vom mutigen Einzelkämpfer, auf dessen Schultern die ganze Last eines Epochenkampfes lastet, der nicht nur die Ungerechtigkeit zu verkraften hat, dass diejenigen zum Zug gekommen sind, die die Baukosten um das Vielfache überschritten haben, sondern auch noch die Schmach, von Akteuren vom Platz verwiesen worden zu sein, die bereits alle Anzeichen sozialer Alterung aufweisen. Wobei letztere, durch den Sieg als Hüter der kulturellen Ordnung bestätigt, im Übertrumpfungsversuch des Herausforderers freilich nur eine ungeheuerliche Anmaßung sehen können. So spricht Nénot von »Barbarei« und »Antiarchitektur, die seit einigen Jahren Furore macht, [...] Sie negiert alle schönen Epochen der Geschichte und stellt auf alle Fälle eine Beleidigung für die Sinne und den guten Geschmack dar«. Doch der Sieg gibt ihm Recht, weshalb er erleichtert feststellt: »Sie ist unterlegen, alles ist gut.«(29)

Nun spielt sich die Revolution Le Corbusiers zwar im Rahmen der permanenten Revolution ab, die sich im Feld der Architektur als legitimer Transformationsmodus durchgesetzt hat, doch was die Struktur des Feldes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auszeichnet ist, dass sich der fortwährende, als querelles des anciens et modernes bekannte Konflikt zwischen den Etablierten und den Neuankömmlingen ausgesprochen zuspitzt, sind doch im Gegensatz zu den Neuerern der Vergangenheit, die ihre Innovationen innerhalb bestehender Grundmuster vollziehen, die Neuerer der Gegenwart dazu entschlossen, die überkommenen ästhetischen Programme völlig hinter sich zu lassen. Der Bruch mit alten Produktionsmustern ist also vergleichsweise radikal, weshalb selbst ein Neuerungen gegenüber aufgeschlossener Juror wie Tengbom dem Entwurf von Le Corbusier und Jeanneret keinerlei Chancen einräumt: »Ich habe niemals an die Möglichkeit geglaubt, Corbusiers Projekt durchführen zu können; es war zu einseitig, zu neu, zu ungewohnt. Es war künstlerisch hochstehend, aber mehr Papier als Wirklichkeit. Ich bin überzeugt, dass es besser gewesen wäre, wenn wir uns geeinigt und nicht einen so herausfordernden Entwurf hervorgeführt hätten.«(30) Vor allem macht auch die Stellungnahme von Jungo, dem schweizerischen Direktor für Bundesbauten, deutlich, dass der Entwurf nicht den vorherrschenden Vorstellungen eines Repräsentativbaus entspricht: »Es bricht radikal mit gewissen überlieferten Gewohnheiten und weist auf eine Neuorientierung in der Architektur hin. In ihrem Bestreben, Neuerungen herbeizuführen, wenden die beiden Architekten bei diesem Gebäude, das trotz allem eine repräsentative Funktion erfüllen muss, eine Formensprache und Konstruktionsweise an, die in dieser schematischen Ausgestaltung doch eher für einen reinen Zweckbau geeignet wären.«(31) Gemessen am Alter (das heißt an der Ära des Auftretens) des neuen Produktionsmusters in der relativ autonomen Geschichte des Feldes der Architektur kam der Entwurf also zu »früh«.

Dass die akademischen Fortsetzer althergebrachter Stile den Kampf für sich entscheiden konnten, hat nun aber nicht nur mit den Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern der Beurteilenden zu tun, sondern auch mit verborgenen Mechanismen der Macht. Denn so gleichwertig die Produkte auch nebeneinander stehen mögen, solange die Anonymität der Produkte gewahrt ist, so ungleichwertig stehen sie einander in der engeren Auswahl gegenüber, wenn die Verfasser der Projekte bekannt sind. Faktum ist, dass manche Akteure über ein spezifisches symbolisches Kapital verfügen (ein ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital, das als symbolisches Kapital funktioniert),32 das den Neuankömmlingen (und vor allem Autodidakten wie Le Corbusier) nicht zu eigen ist – ausgestattet mit Titeln und gekrönt mit herausragenden Funktionen und Mitgliedschaften in den Konsekrations-, Legitimations- und Reproduktionsinstanzen (Nénot etwa ist, den Angaben in der »Appendice« zufolge,(33) Präsident der Académie des Beaux-Arts, des Institut de France und des Salon des Artistes Français, aber auch Erbauer der Sorbonne) steht hinter bestimmten Entwürfen auch das Gewicht eines Namens beziehungsweise das Gewicht einer Institution, das wiederum an nationale Vormachtstellung geknüpft ist.

Gerade die französische Académie, die sich im absolutistischen Frankreich zu einem Machtinstrument des Staates auf künstlerischem Gebiet entwickelt hat und im 18. und 19. Jahrhundert das Monopol auf Konsekration in baukünstlerischen Belangen für sich beansprucht, dürfte in diplomatischen Kreisen noch immer einen Vertrauensvorschuss genießen, und auch der Umstand, dass französische Politiker in der übernationalen Vereinigung des Völkerbundes auf die Vormachtstellung Frankreichs als Kulturnation pochen, darf nicht vergessen werden.

Auf mehreren Ebenen ist also eine Form der symbolischen Macht im Spiel, die aus den Akteuren mit vermeintlich gleichen Chancen sehr ungleiche Teilnehmer macht und die Akteure beziehungsweise ihre Position ganz unabhängig von den erbrachten Leistungen mit Gewinnchancen ausstattet. Eine Macht, die umso reibungsloser zirkulieren, umso besser ihre Wirksamkeit entfalten kann, je bedingungsloser sie Anerkennung findet. Und das tut sie vor allem – wie im Fall der zweiten, aus fünf Diplomaten bestehenden Fachkommission zu sehen – bei feldexternen Personen, also jenen, die keine (oder nur begrenzt über) fachspezifische Kompetenz verfügen und geneigt sind, die Realität der sozialen Fiktionen (Ehrentitel, Würden) über die Projekte zu stellen. Le Corbusier selbst spricht es an, wenn er sagt: »Anstatt ein Projekt zu wählen, haben sie einen Architekten gewählt.«(34) Mit der einseitigen Bestallung des Komitees durch feldexterne Personen, gegen die freilich nicht nur Le Corbusier, sondern auch die Fachverbände Sturm laufen (womit sich die Architekten für die Autonomie ihres Feldes einsetzen – dem Prinzip der Ehre folgend, will niemand von »Dilettanten« bewertet werden), sind aber auch die spezifischen Geschmacksausprägungen einer konservativen Elite im Spiel. Die heteronomen Kommissionsmitglieder sind nämlich nicht nur für den durch Titel und Institution verbrieften Rang und Namen arrivierter Architekten empfänglich, sie gehören auch einem Personenkreis an, für den in der Regel Avantgardeprodukte erst dann anerkennungswürdig sind, wenn diese kanonisiert sind.

Le Corbusier, der sich bislang eher mit kleineren Projekten (vor allem exquisiten Villenbauten) durchgeschlagen hat, das heißt Abnehmer in jenem spezifischen Milieu gefunden hat, das dem avantgardistischen Geschmack der Künstler immer aufgeschlossen gegenüber ist (etwa den Banker Raoul la Roche oder den wohlhabenden amerikanischen Journalisten William Cook), der auch dank seiner persönlichen Überzeugungskraft Vertreter einer ökonomisch potenten Elite zur Durchführung seiner Experimente gewinnen konnte (etwa Großindustrielle wie Henri Frugès oder Daniel Voisin), ist im Zuge der Auftragsvergabe eines Großprojektes auf die ganze Realität seines Feldes zurückgeworfen. Auf ein Feld, das nicht nur als ein Kräftefeld zu denken ist, in dem einzelne Produzenten, künstlerische Generationen und ästhetische Präferenzsysteme um Legitimität konkurrieren, sondern auch als ein Feld, das externen Zwängen unterworfen ist, das in seinen Beziehungen zum Feld der Macht beziehungsweise in seiner Abhängigkeit von Auftraggebern und Politik zu sehen ist. Auf ein Feld, das zugleich aber auch selbst Zwänge und symbolische Gewalt hervorbringt und auszuüben vermag (in Form von Sprache, Klassifikationen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata etc.) – und spätestens da, wo auch die nicht unmittelbar bewussten Formen symbolischer Macht ihre Produktions-, Funktions- und Wirkungsweisen in einer Befragung einberechnet werden, wäre das Forschungsprogramm Bourdieus in seinen Grundlagen erkannt, könnten die Forschungsinstrumente (wie sie etwa mit seiner Kapitaltheorie oder den Begriffen »Feld« und »Habitus« gegeben sind) als aufklärerisches Werkzeug wirksam werden und wären davor gefeit, zu sinnentleerten Gemeinplätzen zu werden.

UmBau, Sa., 2005.06.18



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Presseschau 12

30. April 2019Anita Aigner
dérive

Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen – eine internationale Rundschau

Besprechung der Ausstellung »together! Die neue Architektur der Gemeinschaft« im Vitra Design Museums

Besprechung der Ausstellung »together! Die neue Architektur der Gemeinschaft« im Vitra Design Museums

Bezahlbarer Wohnraum ist zu einem knappen Gut geworden. In europäischen Großstädten steigen seit der Finanzkrise 2007/2008 die Immobilienpreise, hergebrachte Konzepte des Wohnungsbaus taugen für viele nicht mehr. Bauen und Wohnen im Kollektiv erscheint immer mehr Menschen als Alternative, um den Zumutungen des Marktes, aber auch der Vereinzelung und Vereinsamung zu entgehen. Eine von Ilka und Andreas Ruby zusammen mit dem Architekturbüro EM2N kuratierte Ausstellung widmet sich unter dem Titel Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft diesem gesellschaftlichen Trend und gesellschaftspolitisch hochrelevanten Thema. Die bereits 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (Deutschland) und 2018 im centre d’innovation et de design in Le Grand Hornu (Belgien) präsentierte Wanderausstellung hat vom 28.11.2018–17.03.2019 im Grassimuseum in Leipzig Halt gemacht. Einem Museumsbau (1925–1929 aus dem Vermögen des aus Italien stammenden Leipziger Kaufmanns Franz Dominic Grassi erbaut), der für sich genommen schon einen Besuch wert ist.

Auch in der größten Stadt Sachsens, wo bis vor kurzem noch beachtliche öffentliche Mittel (allein zwischen 2003 und 2013 gut 45 Millionen Euro) in den Rückbau von Wohnungen gesteckt wurden, hat sich das Blatt gewendet. Leipzig ist kein Paradies der Altbauwohnungen und billigen Mieten mehr. Dass das Thema einen Nerv der Zeit trifft, zeigt sich schon am Andrang der BesucherInnen. Der junge Architekt, der am Sonntagnachmittag durch die Sonderausstellung führt, hat mit einer unerwartet großen Menge von Interessierten zu tun. Aus einer Führung werden dann zwei. Eng wird es trotzdem – und lebendig, nicht wenige sind mit Kleinkindern und Kinderwagen unterwegs. Die BesucherInnen, überwiegend junge Leute, werden durch vier Ausstellungsteile geführt.

Der erste Abschnitt soll zeigen, dass die neue Gemeinschaftsarchitektur nicht aus dem Nichts kommt, sondern eine (Vor)Geschichte hat. Beim Blick auf die Geschichte greift die Ausstellungsgestaltung das Motiv des Protests auf und betont damit das Moment der Auflehnung gegen bestehende Verhältnisse: Der Boden besteht aus Pflastersteinen, die Wände sind großflächig mit Fotos von öffentlichen Demos tapeziert, auf vertikal in die Höhe ragenden Protestschildern werden »historische Vorläufer« präsentiert. Allein die Auswahl der etwa 30 Beispiele gibt zu denken: Was haben die Phalanstère von Charles Fourier (1820), die Künstlerkolonie von Monte Verità in Ascona (um 1900), der Karl-Marx-Hof in Wien (1927–30), die Unité d’habitation von Le Corbusier in Marseille (1947–52), die Kommune 1 in Berlin (1967–69), Kurokawas Nakagin Capsule Tower in Tokyo (1970–72), Harry Glücks Wohnpark Alt-Erlaa (1973–85) und die seit 1971 bestehende autonome Wohnsiedlung Freistadt Christiana in Kopenhagen gemeinsam bzw. mit »der neuen Architektur der Gemeinschaft« zu tun? Es liegen Welten zwischen den Beispielen: politisch, finanziell, soziostrukturell, organisatorisch, rechtlich, formal.

Bei manchen Projekten stehen zentrale Serviceeinrichtungen zur Alltagserleichterung im Vordergrund, bei anderen geht es darum, im Zuge von Hausbesetzungen alternative Formen des Zusammenlebens zu erproben; mal materialisieren sich lebensreformerische Ideen einer Elite, mal entwickeln völlig Mittellose aus Wohnungsnot genossenschaftliche Formen der Selbsthilfe und des Selbstbaus; manchmal ist Gemeinschaft von oben verordnet, manchmal kommt sie selbstorganisiert von unten daher. Auch wenn auf den ersten Blick kein gemeinsamer Nenner auszumachen ist – der Brückenschlag gelingt dennoch, wenn man sich vor Augen führt, dass es bei den versammelten Projekten doch meistens um Alternativen zur Norm kapitalistischer Wohnungsproduktion, um Benutzen statt Besitzen von Wohnraum geht.

Im zweiten Ausstellungsraum bewegen sich die BesucherInnen durch ein Meer von Modellen (im recht ungewöhnlichen Maßstab 1:24). Sie repräsentieren internationale Gegenwartsprojekte aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Niederlande und Dänemark, aber auch aus Japan und den USA. Die 22 Modelle bilden zusammen »eine fiktive Stadt«, die auf der Utopie basiert, dass sich Grund und Boden nicht in Privatbesitz befinden und der Staat Regularien geschaffen hat, die dafür sorgen, dass der Boden bei der Errichtung von Wohnraum nicht zum Kostenfaktor wird. Die gemeinschaftlich genutzten Flächen sind farblich hervorgehoben. In knappen, an der Seitenfläche der Modelle angebrachten Steckbriefen erfährt man, dass die Projekte sehr unterschiedlichen (Finanzierungs- und Rechts-) »Modellen« folgen – es wird zwischen Baugruppe, Genossenschaft, Sozialem Wohnbau und Mischmodellen unterschieden. Fragen zur Finanzierung und Bewirtschaftung der Wohnimmobilien, aber auch zur sozialen Zusammensetzung der Kollektive bleiben jedoch (vorerst) offen. Im dritten Ausstellungsteil werden die BesucherInnen durch eine sogenannte Cluster-Wohnung geführt. Dabei handelt es sich um das 1:1-Modell eines Grundrisses (genauer eines Ausschnitts davon), der dem einfachen Prinzip der Minimierung von privaten Wohneinheiten bei gleichzeitiger Maximierung von Gemeinschaftsflächen folgt. Diese Wohnungstypologie kombiniert privaten Rückzug mit der Möglichkeit sozialer Interaktion in großzügigen Küchen und Gemeinschaftswohnräumen. Sie ist auch verbunden mit schonendem Ressourcenverbrauch.

Der Flächenbedarf pro Kopf kann reduziert werden (am Beispiel des Projekts Kalkbreite in Zürich von durchschnittlich 50 m² auf 33 m²). Den fiktiven BewohnerInnen der Cluster-Wohnung wird mit von der Decke hängenden Sprechblasen eine Stimme verliehen. Sie erzählen vom Alltagsleben in dieser gemeinschaftlichen Wohnkonstellation – davon, was Menschen in verschiedenen Lebensphasen (z. B. alleinerziehende Mutter oder Pensionistin) hier als vorteilhaft und positiv erachten. Verlebendigt wird die Installation auch durch die zur Benutzung einladende Ausstattung: BesucherInnen sitzen am großen Tisch der Ausstellungsküche und unterhalten sich; Kinder hantieren mit Spielzeug, das im Kinderzimmer eigentlich ausgestellt ist. Die illusionistischen Fototapeten des Fotografen Daniel Burchard verleihen den begrenzten Ausstellungsräumen Tiefenwirkung, vermitteln Ausblicke auf ein urbanes, aber freundliches Draußen. Das vierte Ausstellungssegment ist gedacht als Anstiftung zum Nachmachen. Hier gibt es Gelegenheit, sich an fünf Computerarbeitsplätzen über den Prozess der Umsetzung zu informieren.

Die Filme (über die Sargfabrik in Wien, Zwicky-Süd in Zürich, LaBorda in Barcelona, R50 in Berlin und ein kleines Apartmenthaus mit Restaurant in Tokyo) stellen das wertvollste Ausstellungsmaterial dar, insofern die BesucherInnen nun etwas über das Machen, die komplexen Aushandlungs- und Planungsprozesse, die Beschaffenheit und Arbeit der Kollektive und vor allem die ökonomische Dimension der Projekte, die unterschiedlichen Bewirtschaftungs- und Finanzierungsmodelle sowie die Realisierbarkeit unter unterschiedlichen Förderregimen erfahren. Die Inszenierung als Co-Working Space darf einerseits als Verweis auf gemeinschaftlich genutzte Flächen gelesen werden. Andererseits erinnert das Sitzen am Computer daran, dass die Präsentation der Projekte auf Webseiten einen zentralen Aspekt des Austauschs und des (Voneinander)Lernens von Baugruppen darstellt, das Internet aber auch neue Möglichkeiten der Finanzierung (Crowdfunding) offeriert. Ergänzt und abgerundet wird die Ausstellung am Ende mit einschlägigen Fallbeispielen aus Leipzig.

Diese lokale Fortschreibung mit Beispielen, die in Opposition zu Standardformaten des Immobilienmarktes stehen, macht die Ausstellung auch für weitere Städte attraktiv. Ob es Gelegenheit geben wird, die Ausstellung in Wien zu sehen? Das ist derzeit noch ungewiss. Sie wird im Anschluss nach Genf ins Maison d’Architecture Genève wandern.

Weitere Stationen, darunter auch Wien, sind in Planung, aber nach Auskunft der KuratorInnen noch nicht in trockenen Tüchern. Wünschenswert wäre es. Nicht nur, um aktuelle Wiener Projekte einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, sondern auch, um einen öffentlichen Diskurs über Neues soziales Wohnen – das Leitthema der 2022 in Wien stattfindenden Internationalen Bauausstellung (IBA) – anzuregen.

Über das Together, über Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, soziales Miteinander und Wir-Gefühl wird noch nachzudenken (und empirisch zu forschen) sein. Zieht gemeinschaftliche Planung doch nicht notwendig gemeinschaftliches Wohnen nach sich. Ebenso tut eine differenziertere Darstellung und Bewertung von Baugruppen Not. Liegen doch Welten zwischen einer Eigentümergemeinschaft, bei der Mitglieder ihre Wohnungen bei Auszug auf dem freien Markt veräußern können, und einer genossenschaftlich organisierten Gemeinschaft, die Wohnraum dauerhaft dem freien Markt entzieht. Der Ausstellung ist jedenfalls zu wünschen, dass sie noch an vielen Orten Ansteckungskraft entfacht. Sie ist wichtig, weil sie den politischen Diskurs über Wohnen, die Frage, wie wir zusammenleben wollen, an der Wurzel packt.

Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft
Eine Ausstellung des Vitra Design Museums kuratiert von Ilka und Andreas Ruby sowie EM2N.
Grassi – Museum für angewandte Kunst Leipzig
28.11.2018–17.03.2019
Der Katalog zur Ausstellung ist leider vergriffen.

dérive, Di., 2019.04.30



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31. Oktober 2013Anita Aigner
dérive

Architektur als soziale Praxis

Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll...

Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll...

Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll sie denn sonst sein), im Feld der Architektur liegt dies anders. Hier kann man mit einer solchen Ankündigung bzw. Aussage noch Stellung beziehen. Abgesehen davon, dass natürlich auch das naive Alltagsdenken ein Schnippchen schlagen kann (welcher Architekt möchte seine Praxis nicht als eine ‚menschliche’ und ‚menschenwürdige’ sehen), lässt die Rede von Architektur als sozialer Praxis vor allem eine Erwartung entstehen. Die Erwartung, dass nicht das (ästhetische) Objekt im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, sondern der ‚gesellschaftliche Rahmen’ – also die gesellschaftlichen Bedingungen des Entstehens, des Gebrauchs und der Rezeption von Architektur, die sozialen Akteure, die in die Prozesse des Planens und Bauens eingebunden sind, und die Diskurse, in denen Gebautes verhandelt und Architektur (als symbolisches Gut) gesellschaftlich hergestellt wird. Dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in Architektur nicht nur abbilden, sondern sich Architektur auch gesellschaftlich auswirkt ist ein Stehsatz, mit dem heute in der ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Stadtforschung und auch in der neueren Architektursoziologie das Verständnis von Architektur als sozialer Praxis untermauert wird.

Günther Prechter, der sich mit seiner akteurszentrierten Studie über das gegenwärtige Bauwesen in Vorarlberg diesem Forschungskontext und seiner analytischen Grundausrichtung einschreibt, gelingt mit dem prägnanten Titel seiner Arbeit eine Verdichtung. Er rammt einen Pflock ein: Hier befinden wir uns nicht im feldinternen Legitimierungsdiskurs! Hier wird in anderer Weise über Architektur gesprochen! Hier wird nicht das Ding selbst, sondern ‚das Soziale’ zum Gegenstand gemacht! Dass er sich ein genaueres Eingehen auf den so zentral positionierten Begriff der Praxis erspart, hat wohl auch damit zu tun, dass im besagten Forschungskontext zwar viel von Praxis und Praktiken die Rede ist, aber ihre Theoretisierung – wie sie in der Soziologischen Theorie und Wissen(schaft)ssoziologie aktuell im Diskurs um den ‚Practice Turn’ zu verfolgen ist1 – bislang kaum Eingang gefunden hat. Eine theoretische Vorstellung von Praxis und Handeln, ja auch eine Theorie der (Forschungs)Praxis (als Praxis) wären zur Fundierung empirischer Forschung zwar wünschenswert, sind aber auch nicht wirklich notwendig. Denn so wie der Vogel zum Fliegen keine theoretische Aufklärung über das Funktionieren seiner Flügel braucht, kann auch der empirische Forscher, ohne sich mit theoretischem Metawissen (wissenssoziologische Grundlagen miteingeschlossen) zu belasten, seinem Handwerk der Forschung nachgehen.

Natürlich hinkt dieser Vergleich und es hieße die Arbeit von Prechter zu verkennen, wollte man ihm mit Verweis auf einen vage bleibenden Praxisbegriff naives Forschertum unterstellen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann im Gepäck weiß Prechter, dass es sich bei Architektur um eine „gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit“ handelt, die sich in ihrer Entstehung, ihren Wirkungsweisen und in ihrer Konfrontation mit konfligierenden Wirklichkeiten systematisch beschreiben lässt. Vertraut mit der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, hat er eine Vorstellung von Architektur als Mittel gesellschaftlicher Distinktion und als wertverwaltende, nicht ohne den Staat zu denkende Institution entwickelt. Bourdieus (Individuum und Gesellschaft zusammenbringendes) Habituskonzept ist es auch, das ihn nicht nur die berufsspezifischen Dispositionen als stillschweigende kollektive Wissensdimension erkennen lässt, sondern ihn auch nach „habituellem Architekturwissen“ von Laien, nach Architektur als Alltagswissensbestand fragen lässt. Und schließlich ist ihm mit Ralf Bohnsacks Dokumentarischer Methode der Interpretation ein Werkzeug an die Hand gegeben, das ihm bei der Auswertung seiner Daten – Interviews mit PlanerInnen, BauherrInnen, gewerblichen BauträgerInnen, HandwerkerInnen und BehördenvertreterInnen – auch die eigene Forschungspraxis reflektieren lässt.

Weil Prechter darauf abzielt, die soziale Wirklichkeit des ‚Vorarlberger Architekturwunders’ zu rekonstruieren, er also die von Institutionalisierung und widerstreitender Wahrnehmung begleitete Durchsetzung von zeitgenössischer Architektur in einer traditionell von Bauhandwerk bestimmten Region verstehen will, muss er in einem ersten Schritt die Verwendung des Wortes Architektur klären. Unter Zurückweisung eines universellen (das gesamte Bauen einschließenden) Architekturbegriffs betrachtet er „nur solche Bauwerke als Architektur, denen ein Entwurf professioneller Architekten zugrunde liegt“. Damit übernimmt er die für das Feld bzw. System2 Architektur grundlegende Unterscheidung in Architektur und Nicht-Architektur (bzw. dem Rest außerhalb). Das ist kein Rückfall, kein Naturalisieren und unbewusstes Fortschreiben der Hauptkategorie professioneller Selbstwahrnehmung, sondern eine methodologische Notwendigkeit. Denn um die verschiedenen Teilbereiche des Bauens – konkret das gewerbliche Bauhandwerk und die (ArchitektInnen-)Architektur – als konkurrierende Baukulturen, in ihrer Relation, ihren Differenzen und Interferenzen erfassen zu können, müssen sie im theoretischen Modell auch auseinandergehalten werden.

Wenn Prechter die Frage „Was ist Architektur?“ als forschungsleitend vorstellt, mag man kurz zusammenzucken und die Falle des Essentialismus zuschnappen hören. Das wäre aber ein Missverständnis, denn Prechter stellt diese Frage seinen Gesprächspartnern mit dem Ziel, herauszufinden, wer welche Haltung zu gesellschaftlich als Architektur klassifizierten Bauten einnimmt bzw. wie, von wem und mit welchem Interesse Architektur (als ‚legitime’, mit künstlerischem Mehrwert attributierte Form des Bauens) konstruiert wird.

Bevor die ethnografische Arbeit im Hauptteil ausgebreitet wird, unternimmt der Autor in zwei vorangehenden, mit „Architektur?“ und „Vorarlberg“ überschriebenen Kapiteln zunächst den etwas mäandernden (eigentlich schon in der Einleitung begonnenen) Versuch, Architektur (als Profession, Institution und gleichermaßen sozial hierarchisiertes wie hierarchisierendes Kulturprodukt/„Hochkultur“) in ihrer historischen Gewordenheit bzw. gesellschaftlichen Gemachtheit darzustellen. An einem zeitgenössischen Fallbeispiel von „Architektur als Kunst“ (Supermarkt) wird auch die Frage der Zugänglichkeit von Architektur, die schichtspezifische Dimension ihres Erkennens und Anerkennens als Kunstform behandelt.

Es folgt eine kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einführung in drei – was das Eindringen von Architektur betrifft – sehr unterschiedlich geprägte Gebiete Vorarlbergs (Montafon, Bregenzerwald, Rheintal). Im Anschluss werden die „Vorarlberger Baukünstler“ und das „Vorarlberger Architekturwunder“ als Produkt einer von feldinternen InterpretInnen geleisteten Kanonisierungs- und Historisierungsarbeit rekonstruiert (also der autonome Fachdiskurs zum Gegenstand der Forschung gemacht).

Der Hauptteil gliedert sich in vier, mit den Titeln „Holz“, „Haus“, „Dorf“ und „Handwerk“ überschriebene Kapitel. Die Überschriften mögen frugal anmuten, der Inhalt ist es nicht. Im Kapitel „Holz“ gewinnen der Leser und die Leserin einen Eindruck, welche verantwortungsvolle Rolle PlanerInnen bei der Baustoffwahl zuwächst, wie sie mit Verwendung lokaler Produkte bewusst die Marktgesetze eines globalisierten Rohstoffmarktes außer Kraft setzen und einen Beitrag zur Ökonomie des kleinräumigen Wirtschaftens leisten können (oder bei üblichem Materialbezug aus dem Holzgroßhandel eben nicht). Auch wird man mit im Wandel begriffenen kulturellen Deutungsmustern, mit Wertungen und Umwertungen des Baustoffes Holz konfrontiert. Prechter widmet sich speziell jenem gesellschaftlichen Umwertungsprozess, der infolge des demonstrativen Einsatzes von Holz im architektonischen Kontext und seiner Verwissenschaftlichung (Holzbauforschung) aus dem armen, ehemals für mindere Bauaufgaben zum Einsatz gebrachten Baustoff eine kostbare, weil auch für die Region identitätsstiftende Ressource gemacht hat. Wo die Beziehung von Architektur und Handwerk auf der Ebene von Baupraxis und Baustelle untersucht wird, werden nicht nur Differenzen hervorgehoben – etwa das (ästhetische) Bildwissen der ArchitektInnen, das dem materialgestützten Verarbeitungswissen des Zimmermanns gegenübersteht –, sondern auch Transformationen, die sich (vor allem für das Bauhandwerk) aus der Kollaboration der konkurrierenden ExpertInnengruppen und der technischen Modernisierung ergeben.

Im Zentrum des Kapitels „Haus“ steht der Prozess der gesellschaftlichen Durchsetzung des ArchitektInnen-Hauses im ländlichen Raum, sein Weg vom singulären Fremdkörper mit sozialer Sprengkraft zum dörflichen, allgemein-anerkannten „Normalfall“. Interessant ist hier der Fall eines im Bau befindlichen Holzhauses, für den die lokale Baubehörde aus ästhetischen Gründen den Abbruchbescheid ausstellt, die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs aber den Staatspreis vergibt. Während die Bauherren bei der Sonntagsmesse nicht mehr gegrüßt werden, treffen laufend Reisebusse mit ArchitekturtouristInnen zur Besichtigung des Bauwerks ein. Der von außen aufgezeigte Wert wirkt auf das lokale Milieu der Dorfgemeinde zurück, stellt den lokalen Bauausschuss infrage, der schließlich abgeschafft und durch einen Gestaltungsbeirat ersetzt wird. Prechter knüpft an dieses Fallbeispiel nicht nur den Befund, dass „Architektur in Vorarlberg zur normativen und legislativen Institution geworden“ ist, er streicht auch heraus, dass der Wandel in der Bewertung der Ästhetik eng mit Verwaltungsstrukturen verflochten ist, in denen der Staat (neben Grad und Art der baulichen Nutzung) auch die ästhetische Gestalt der Bebauung regelt.

Dieser essentielle Aspekt der Beziehung zwischen Staat und Architektur wird im Kapitel „Dorf“ eingehend untersucht. So zeigt die Analyse der Vorarlberger Baugenehmigungs- und Raumplanungspraxis wie die Befürwortung zeitgenössischer Architektur seit den 1980er Jahren von den oberen in die unteren Instanzen der Baubehörde durchgesickert ist und mit der Etablierung der Gestaltungsbeiräte (in ca. 1/3 der Vorarlberger Kommunen) ein Governance-Modell Platz gegriffen hat, das der ArchitektInnenschaft das Privileg einräumt, in Baugenehmigungsverfahren direkt Einfluss auszuüben.

Auch wenn Prechter nicht darin zuzustimmen ist, dass „Ästhetisierung gegenseitige Abwendung und gesellschaftliche Vereinzelung bewirkt“, und seine These von der Architektur als „Ersatzreligion“ etwas platt anmutet (Architektur ist freilich, genau wie die Religion oder das Politische, sinnstiftend, dabei aber weniger ideologisch belastet und deutlich kompatibler mit der kapitalistischen Ökonomie), stellt seine vielschichtige Studie einen Beitrag zur Analyse der spätmodernen Gesellschaft als einer ästhetisierten dar. Die wesentlichen Bedingungen der Ästhetisierung des baulichen Bestandes der Dörfer identifiziert der Autor im Anwachsen der akademisch gebildeten Schicht auf dem Land als Trägerschicht, in der Einrichtung von Gestaltungsbeiräten und der wirtschaftspolitischen Indienstnahme von Architektur als Leitkultur zwecks Standortmarketing. Allerdings vergisst Prechter, dass auch die massenhafte ‚Produktion’ von AbgängerInnen an den Reproduktionsinstitutionen zusammen mit der zunehmenden Mediatisierung von Architektur (z.B. in populären Fernsehsendungen) und der Ausdehnung des Preis- und Würdigungssystems die Möglichkeit der Durchsetzung von Architektur im ländlichen Raum wesentlich bedingt. Wobei das feststellbare Mehr an Architektur nicht einfach nur Produkt von Demokratisierung ist, sondern zugleich auch Produkt eines ‚Kulturimperativs’, der sich mit den besitzindividualistischen Motiven der modernen Marktgesellschaft und dem hochgradig kulturalisierten Politikmodell eines Europa der Regionen aufs Harmonischste vereint.

Alles in allem stellt Prechters empirische Studie einen beachtenswerten Beitrag zur neueren Architektursoziologie dar. Nicht zuletzt deshalb, weil sie der gegenwärtig dominanten Stadtforschung eine Auseinandersetzung mit dem Dorf entgegenhält. Als freiberuflich in Vorarlberg lebender Architekt hat es der Autor geschafft, die für sozialwissenschaftliche Forschung notwendige Distanz aufrecht zu halten und die intime Kenntnis architektonischer Praxis (die dem professionellen Soziologen in der Regel verwehrt bleibt) für die Forschung zu nutzen. Vor seinem biografischen Hintergrund ist die Arbeit ein Akt der Selbstvergewisserung. Er hat sich nicht nur die Eigenheiten des eigenen Stammes, die Funktionsweise der Institution, die er selber bewohnt, sondern vor allem das eigene Tun, die architektonische Praxis im ländlich-dörflichen Umfeld etwas durchsichtiger gemacht. Sein Buch ist deshalb nicht nur ArchitektInnen, sondern auch all jenen zu empfehlen, die sich für Architektur auf dem Lande interessieren und stark machen. Kein Architekt, keine Architekturvermittlerin wird nach ernsthafter Lektüre je wieder naiv an die Arbeit gehen. Es sei jedoch auch angemerkt, dass es dafür ein gewisses Durchhaltevermögen braucht. Die überarbeitete, im Böhlau-Verlag nun gedruckt vorliegende Dissertation leidet mit ihren fast 500 Seiten ein wenig unter Akkumulitis. Man möchte dem Autor den Rat geben, vor das Kruzifix im Herrgottswinkel eines Bregenzerwälder Bauernhauses zu treten. Das war einmal ein Holzscheit, und man kann sehen, was es heißt: abtragen, wegnehmen, das Wesentliche herausbringen.


Anmerkungen:
[01] Wer die strenge Luft der ‚echten’ Theorie wittern und sich einen Eindruck über den Praxisbegriff (d.h. seinen Streit darüber) verschaffen will, konsultiere die Schriften zu dem u.a. von T. Schatzki, K. Knorr-Cetina und A. Reckwitz ausgerufenen ‚Practice Turn’; zum Überblick und als kritischer Kommentar dazu vgl. Gregor Bongaerts: „Soziale Praxis und Verhalten – Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 36/4, 2007, S. 246-260; siehe auch online: http://www.zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/1245/782 [12.8.2013]
[02] Eigentlich macht es keinen Unterschied, ob von Feld oder System gesprochen wird – das ist theoretische Geschmackssache. Dennoch ist festzuhalten, dass ein „System“ als durch eine grundlegende Operation der Unterscheidung erzeugt verstanden wird, während der Bourdieusche Feldbegriff (forschungspraktisch) vor allem auf das Ausnehmen von konkurrierenden Positionen angelegt ist. Vgl. A. Nassehi, G. Nollmann: Bourdieu und Luhmann: Ein Theorievergleich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.


Günther Prechter
Architektur als soziale Praxis
Akteure zeitgenössischer Baukulturen:
Das Beispiel Vorarlberg
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013
480 Seiten, 40,10 Euro

dérive, Do., 2013.10.31



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11. Mai 2011Anita Aigner
dérive

Bourdieu für Architekten

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende...

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende...

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende in das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) einführen soll. So erfreulich es ist, dass die Schriften Bourdieus nun im Feld der Architektur eine verstärkte Rezeption erfahren, so schwierig und problematisch ist dieses Unternehmen jedoch auch. Den Umfang, die inhaltliche Breite und Komplexität seiner Schriften vor Augen hat Loïc Wacquant einmal angemerkt, dass es wahrscheinlich unmöglich ist, in das Denken Bourdieus einzuführen.1 Helena Webster hat sich dieser „unmöglichen“ Aufgabe gestellt und ihre Sache gut gemacht. Wenngleich ihre Einführung (was nicht zuletzt auch an der Text-Gattung selbst liegt) schnell an die Grenzen einer „echten“ Übersetzung stößt.

Zunächst jedoch ein kurzer Blick auf den „Rahmen“, die Einbettung der Bourdieu-Einführung in die vom englischen Routledge-Verlag herausgegebene Buchreihe. Wie bereits unschwer auf dem Umschlag zu erkennen, hat man es mit der Nummer 5 der Reihe „Thinkers for Architects“ tun. Damit ist bereits vor jeder Lektüre klar: Bourdieu wird uns hier als „Meisterdenker“ vorgeführt. Zusammen mit Martin Heidegger, Walter Benjamin, Maurice Merlau-Ponty, Homi K. Bhabha, Jaques Derrida, Gilles Deleuze und Felix Guattari. Lediglich eine weibliche Autorin, die feministische Psychoanalytikerin und Kulturtheoretikerin Luce Irigary, hat es in die Riege der männlichen Meisterdenker „geschafft“. Herr im Haus der Meisterdenker für Architekten ist – vielleicht doch nicht ganz zufällig – ein Mann: Adam Sharr, Lehrer an der Welsh School of Architecture der britischen Cardiff University und auch ausübender Architekt, der mit „Heidegger for Architects“ im Jahr 2007 gleich selbst den Grundstein für seine, wie er (auf seiner Website) selbst sagt, „best-selling book series“ geliefert hat. Erstaunlich wie problematisch dabei nun ist, dass Sharr ganz unbefangen, ja unschuldig-naiv einen Kanon architekturrelevanter Geistesgrößen konstruiert, also mit keinem Wort sein eigenes Ordnungsdenken reflektiert (was als Indiz dafür zu nehmen ist, dass die Lektüre manch vorgestellter Schlüsselautoren kaum Spuren hinterlassen hat).

„Architekten haben“, so der Herausgeber in seinem Vorwort, „immer schon nach Philosophen und Theoretikern zur Inspiration für ihre gestalterische Arbeit oder Suche nach einem kritischen Bezugsrahmen für die Praxis Ausschau gehalten.“ Weshalb es für ihn nur naheliegend ist, jene feldexternen „key thinkers”, „die über Architektur geschrieben“ oder „deren Schriften Architekten, Kritiker und Kommentatoren maßgeblich beeinflusst haben“, einmal in einer Serie von akkuraten, also knapp wie klar formulierten Einführungen zu präsentieren.

Man mag nun an der Konzeption der Reihe bemängeln, dass hier von großen Namen, vornehmlich „großen Männern“ ausgehend gedacht worden ist – was, nebenbei bemerkt, ganz der Logik im architektonischen Feld entspricht, wo werk- und autorbasierte Besprechungen vorherrschend sind. Auch könnte dem Herausgeber vorgeworfen werden, dass sich ihm die Frage, wie „Theorie“ für ArchitekInnen „praktisch“ werden, ja womöglich sogar emanzipativ wirksam werden kann, erst gar nicht stellt. Doch weder der schale Beigeschmack, dass man es hier mit einem auf Absatz schielenden Produkt des Buchmarktes zu tun hat (man darf auf weitere Reihen, etwa „Denker für Mediziner“ oder „Denker für Politiker“ gespannt sein, oder auf einen „Bourdieu für Künstler“, Ingenieure oder Juristen), noch die Befürchtung, dass hier „große Theorie“ auf ein leicht konsumierbares (Halb-)Wissen für ArchitektInnen zusammengestutzt wird, sollten dazu führen, das Einführungs-Unternehmen als solches zu diskreditieren.

Im Gegenteil: Einführungen zu verfassen, ob nun in bestimmte Themen oder das Œuvre von „Riesen der Wissenschaft“, stellt eine gleichermaßen verdienst- wie verantwortungsvolle Aufgabe dar. Verdienstvoll, weil sich hier (im günstigen Fall) beschlagene Spezialisten die Mühe machen, Personen, die nicht eingeweiht, nicht mit einschlägiger Fachkenntnis (dafür aber mit Neugierde) ausgestattet sind, eine Sache verständlich zu machen. Verantwortungsvoll, weil die Neugierde nicht erstickt, die Interessierten nicht durch akademische Gelehrsamkeit eingeschüchtert, sondern zu reflexiven Einsichten und eigenständigem Weiterarbeiten mit „Theorie“ angeregt werden sollen.

Im Vergleich zu den mittlerweile zahlreich vorliegenden Bourdieu-Einführungen, die mal besser ausfallen, wenn sie die innere Logik und Offenheit seiner theoretischen Konzepte aufzeigen, mal schlechter, wenn sie schulbuchmäßig vermeintlich abgeschlossene Grundbegriffe von Bourdieus Kulturtheorie (Habitus, Feld, Kapital etc.) aneinanderreihen,2 handelt es sich hier nun um eine Einführung, die einen besonderen Zuschnitt verspricht. Mit Helena Webster, die selbst dem architektonischen Feld entstammt und sich in ihrer eigenen Forschung auch selbstreflexiv mit dem eigenen Umfeld auseinandersetzt – sie hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit Lehr- und Lernkultur an Architekturschulen beschäftigt3 –, ist dem Vorhaben bereits eine einschlägige Brauchbarkeitsperspektive eingeschrieben. Sie hat nicht nur eine konkrete Vorstellung davon, warum Bourdieu von Architekten gelesen werden soll – ihrer Meinung nach könnte Bourdieu ArchitektInnen, die aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Sozialisation die Welt durch eine „architektonische Linse“ sehen und infolgedessen zu Intoleranz gegenüber Laien und Menschen mit anderen Geschmacksvorstellungen neigen, dabei helfen, die eigenen Wert- und Handlungsmuster wie auch die eigene Rolle als ArchitektIn (innerhalb der Community wie der Gesellschaft) zu reflektieren. Sie hat auch eine klare Vorstellung davon, welche der zahlreichen und thematisch breit gestreuten Schriften Bourdieus (er hat über 40 Bücher und mehr als zweihundert Aufsätze geschrieben) für ArchitektInnen von Relevanz sind.

Verkürzt gesprochen erfolgt der Zugang zum Kultursoziologen Bourdieu. Es sind seine Kultur- und Gesellschaftsanalysen, seine Theorien und Befunde zu Kultur und sozialer Ungleichheit, die Webster als Anknüpfungspunkt dienen. Der Bildungssoziologe Bourdieu wird gestreift, seine Untersuchungen zu Staat, Politik, Recht, Sport und Sprache, seine wissenschaftssoziologischen Beiträge wie auch seine Soziologie der Intellektuellen bleiben ausgeklammert. Es ist Webster zu danken, dass sie von einer Gliederung nach „zentralen Begriffen“ absieht und Bourdieus wissenschaftliches Begriffsinstrumentarium, das bereits vielfach zum Gegenstand scholastischer Exerzitien geworden ist, in seiner forschungspraktischen Genese erläutert. Die verschiedenen um Kultur, Ästhetik und Klassenfragen kreisenden Forschungsarbeiten werden dabei in ihren theoretischen wie empirischen Zusammenhängen dargestellt. Die Kapitel gestalten sich weitgehend chronologisch.

Nach einem kurzen biografischen Überblick, der die persönliche und wissenschaftliche Laufbahn und die Entwicklung von Bourdieus Forschungen und Theorien im wissenschaftlichen Kontext aufzeigt, werden zunächst im zweiten Kapitel (The Social Construction of Space) die frühen Forschungen in Algerien (1956-1961) vorgestellt, wo Bourdieu während seines Militärdienstes zum Zeugen einer durch die Eingriffe französischer Kolonisatoren erodierenden indigenen Kultur geworden war. Seine Untersuchungen zur algerischen Übergangsgesellschaft, zu denen auch einige der raren Texte Bourdieus gehören, in denen Architektur explizit behandelt wird, werden von Webster als Arbeiten zu Macht und Raum gelesen. Sie skizziert aber auch die Konversion des frischgebackenen Philosophen zum verstehenden Ethnologen und Soziologen, dessen Sichtweise damals stark von Max Weber und Karl Marx, aber auch vom Strukturalismus Levi-Strauss’ (am stärksten spürbar in seiner berühmten Analyse zum kabylischen Haus, „Das Haus oder die verkehrte Welt“ 1960, 1970) geprägt war.

Im dritten Kapitel (The Anatomy of Taste) stellt Webster Bourdieus Analysen zur französischen Gegenwartsgesellschaft vor, in denen er Klassenlage und Lebensführung verknüpft: empirische Studien zum Kulturkonsum (etwa zum Museumsbesuch oder zum sozialen Gebrauch der Fotografie) und theoretische Überlegungen zur Wahrnehmung und Aneignung von Kunst münden 1979 in sein berühmtes Buch La Distinction (dt. Die feinen Unterschiede 1982), mit dem Bourdieu auf den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse verweist und aufzeigt, wie sehr sich Kunst und Kunstkonsum zur Erfüllung der (verschleierten) gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung und Stabilisierung sozialer Unterschiede eignen. Da die von Bourdieu entwickelte relationale Klassentheorie im Zuge der in den 1990er Jahren auftauchenden These vom Verschwinden traditioneller Klassen und Schichten in Zweifel gezogen wurde, wäre hier eine klärende Stellungnahme zu der bis heute kontrovers geführten soziologischen Debatte wünschenswert gewesen.

Im vierten Kapitel (Towards a Theory of Cultural Pratice) führt Webster vor, wie Bourdieu seine methodologischen Werkzeuge im Zuge seiner empirischen wie sozialgeschichtlichen Studien, die Bildungswesen, Wissenschaft, Recht und Religion genauso umfassen wie Literatur, bildende Kunst, Musik, Fotografie, Mode, Sport und Journalismus, zu einer Theorie der kulturellen Praxis ausbaut. Sie macht deutlich, wie und warum er sein Feld- und Habituskonzept gerade im Zusammenhang mit der Analyse jener Bereiche der sozialen Welt entwickelt hat, die der Produktion „besonderer“ kultureller Güter dienen. Drei Fallstudien – Webster greift neben dem Feld der Mode und der Literatur das Feld der Eigenhausproduktion heraus – sollen im fünften Abschnitt (Fields of cultural production) dann auch veranschaulichen, wie Bourdieus strukturale Feldanalyse funktioniert.

Die in den 1980er Jahren von Bourdieu und seinen MitarbeiterInnen durchgeführten Untersuchungen über den französischen Häusermarkt (zusammengefasst in dem zunächst auf Deutsch erschienenen Band Der Einzige und sein Eigenheim 1998) sind dabei von besonderer Bedeutung. Stellen doch die Beiträge (v. a. „Das Einfamilienhaus: Produktspezifik und Logik des Produktionsfeldes“, „Ein Vertrag unter Zwang“, „Der Eigentumssinn: Die soziale Genese von Präferenzsystemen“), in denen mithilfe von Interviews, Mitschnitten von Verkaufsgesprächen, der Analyse betrieblicher Daten und Werbematerialien das Phänomen der „Vereigenheimung“ (Margaretha Steinrücke/Franz Schultheis) unter ökonomischen, sozial(psychologisch)en, politischen und rechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird, ein hohes Anregungspotential für die Reflexion gegenwärtiger Alltagsarchitektur und der Rolle von in Eigenheimproduktion verwickelter ArchitektInnen dar.

Webster hat alles in allem das Material für die angepeilte Leserschaft gut gewählt. Sie hat als Nicht-Soziologin mit der dafür nötigen Geduld und Aufmerksamkeit ein wahrlich dickes soziologisches Brett gebohrt und Bourdieus Fragestellungen wie theoretische Konzepte auf knappe wie verständliche Weise dargestellt, und zwar ohne dabei an Komplexität einzubüßen. Sie hätte den Herrschaftssoziologen, den Theoretiker „symbolischer Macht“, den Intellektuellen, dem es um jene Art von Reflexivität geht, die es einem ermöglicht, sich das eigene (feldspezifische) Denken etwas durchsichtiger zu machen, vielleicht stärker herausstreichen können. Jedenfalls wird in Websters Bourdieu-Einführung nur unzureichend fühlbar, was es für PraktikerInnen, Lehrende und WissenschafterInnen im Feld der Architektur bedeuten könnte, die (eigene Fach-)Welt (und darin sich selbst) mit Bourdieus Augen zu sehen. Zu ihrer Verteidigung muss jedoch gesagt werden, dass Bourdieu ohnedies nur durch die Lektüre seiner Schriften und nicht durch Vermittlung zum eye opener werden kann.

Anzumerken ist auch, dass die (architektur)feldinterne Bourdieu-Rezeption, mag diese auch im Vergleich zu anderen Feldern erst schleppend in Gang gekommen sein, in Websters Einführung weitgehend im Dunkeln bleibt. Von einem profunden Überblick über die ziemlich verstreuten Untersuchungen, die bislang Bourdieus Theorie im Feld der Architektur haben produktiv werden lassen, kann bei der etwas eilig hingeworfenen Seite mit Hinweisen auf drei AutorInnen nicht gesprochen werden, jedenfalls wird sie dem Bedürfnis versierter LeserInnen nicht gerecht. Als weiterer Mangel muss angeführt werden, dass Webster es verabsäumt hat, und dies darf bei einer fachlich so zugespitzten Einführung durchaus erwartet werden, Perspektiven für eine von Bourdieu angeregte Architekturforschung zu entwickeln. Was es heißen könnte, das große Anregungspotential der Bourdieuschen Modelle und Befunde zu Kultur für eine architektursoziolgische Forschung nutzbar zu machen, muss also Gegenstand zukünftiger Anstrengungen bleiben. Was zu hoffen bleibt: dass in Zukunft weniger über Bourdieus Theorie gesprochen und mehr mit ihr gearbeitet wird.


Helena Webster
Bourdieu for Architects. Thinkers for Architects 05
Abingdon, New York: Routledge, 2010
144 S., 19,99 Euro


Anmerkungen:
[01] Wacquant zeichnet selbst für eine unkonventionelle Einführung in das Denken von Pierre Bourdieu verantwortlich. Hervorgegangen aus einem Forschungsseminar wurden in An Invitation to Reflexive Sociology (1992) die Grundanliegen Bourdieuscher Forschung im Dialog mit Bourdieu entwickelt. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp 1996.
[02] Zu empfehlen ist neben der mittlerweile in 6. Auflage erschienen Einführung von Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg: Junius, 2009 (1995), das Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (ersterer betreut zusammen mit seinem Linzer Kollegen Ingo Mörth die umfassendste, kontextorientierte und referentielle Online-Bibliografie und Mediendokumentation aller Werke und Stellungnahmen von Bourdieu unter http://hyperbourdieu.jku.at/), das auf über mehr als 400 Seiten einen Leitfaden durch Bourdieus Begrifflichkeiten und Themenfelder sowie einen Einblick in rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge bietet. Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2009.
[03] Vgl. etwa Webster, Helena: „The Analytics of Power – Re-presenting the design jury”, in: Journal of Architectural Education, Vol. 60, 2007/3, S. 21-27 (als zweithäufigst gelesener JAE-Artikel auf der Herausgeber-Homepage gelistet); dies.: „Architectural education after Schön: Cracks, blurs, boundaries and beyond”, in: Journal for Education in the Built Environment, Vol. 3, 2008/2, S. 63-74; dies.: „The Architectural Review: ritual, acculturation and reproduction in architectural education”, in: Arts and Humanities in Higher Education, 2005/4, S. 265-282; dies.: „The Design Diary: Promoting Reflective Practice in the Design Studio”, in: EAAE Transactions on Architectural Education, Vol. 24: Monitoring Architectural Design Education in European Schools of Architecture, 2004, S. 343-356; dies.: „Facilitating Reflective Learning- excavating the role of the design tutor”, in: Journal of Art, Design and Communication in Higher Education, Vol. 2, 2004/3, S. 101-111."

dérive, Mi., 2011.05.11



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11. Juni 2008Anita Aigner
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Erziehung, Kunst und Klasse

Warum es sich lohnen könnte eine vierzig Jahre alte Museums-Studie zu lesen

Warum es sich lohnen könnte eine vierzig Jahre alte Museums-Studie zu lesen

„Soziologie und Kunst vertragen sich nicht. Das liegt an der Kunst und an den Künstlern, die es nur schlecht ertragen, wenn an ihrem Selbstverständnis gerührt wird: Das Universum der Kunst ist ein Universums des Glaubens, des Glaubens an die Begabung, an die Einzigartigkeit, an die Einzigartigkeit des unerschaffenen Schöpfers, und der Einbruch des Soziologen, der verstehen und erklären will, wird darüber zum Skandalon. Entzauberung, Reduktionismus, mit einem Wort: Grobschlächtigkeit oder, was auf dasselbe hinausläuft, Sakrileg: Der Soziologe ist jener, der so, wie Voltaire die Könige aus der Geschichte gejagt hatte, die Künstler aus der Geschichte der Kunst verjagen will.“[1] Die Soziologie hat also einen schlechte­n Stand in Kunst- und Kunstliebhaberkreisen und die Dünkel, von denen sie im scharf bewachten Areal der Hochkultur umgeben ist – gegenüber der Statistik, die gemein macht, das Geniale mit dem Unbedeutenden auf eine Ebene stellt, gegen­über der Masse und dem Kollektiv, mit der die Soziologie im Bunde steht und die deshalb, weil sie mit dem Minderen und Mittelmäßigen gleichviel befasst ist wie mit dem Auserlesenen, nur als Bedrohung der Einzigartigkeit des Künstlers wie seiner Kreation gesehen werden kann –, derlei Vorbehalte machen ihr das Leben schwer und sind wahrscheinlich auch das größte Hindernis für ihre Rezeption. Wobei der Abwehrmechanismus, wenn er auch in seiner Logik nachvollziehbar ist, der Sache nach völlig unbegründet ist. Stellt die Soziologie doch nur ein Angebot zum besseren Verstehen der eigenen Vorlieben und Gewohnheiten im Umgang mit Kunst und keine Anleitung zu deren Verweigerung oder Abwertung dar.

Wenn nun ein französisches Buch, das in Kennerkreisen als „heimlicher Klassiker“ der Kunst- und Kultursoziologie gehandelt wird, ganze vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen ins Deutsche übertragen wird, so liegt die Vermutung nahe, dass dies dem Wunsch nach lückenloser Verbreitung eines zu Rang und Namen gekommenen Autors geschuldet ist. Zweifellos ist es der „Klassiker“ Bourdieu, der in den letzten Jahren posthum die Übersetzung früher, zum Teil weniger bekannter Arbeiten nach sich gezogen hat. Doch ist das mit dem Ableben und der Kanonisierung einhergehende Interesse an unübersetzt gebliebenen Texten nie ganz frei vom schalen Beigeschmack der Zweit- beziehungsweise Nachrangigkeit und bisweilen auch vom Vorwurf der Überholtheit eines Befunds. Mag auch für einen bestimmten Leserkreis, die spezialisierte Fach- und Fangemeind­e, die Leselust, also der Hunger auf Neue­s, selbst wenn es alt ist, per se vorhanden sein, so drängt sich im konkreten Fall doch die Frage auf, was denn heute mit einer soziologischen Untersuchung, die sich Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts die soziale Struktur und die Gewohnheiten der französischen MuseumsbesucherInnen im europäischen Vergleich zu ihrem Gegenstand machte, anzufangen wäre.

Entgegen erster, zugegeben nicht ganz von der Hand zu weisender Bedenken eine ganze Menge – und zwar nicht nur, weil angesichts des gegenwärtigen Booms von Museumsneubauten (vor allem jener für moderne Kunst) eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der kulturellen Praxis des Museumsbesuchs besonders ratsam scheint. Die Studie hat vor allem deshalb nichts an Aktualität verloren, weil ihre Befunde – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass das Schulsystem nach wie vor die Privilegierten privilegiert und Kunstmuseen im Wesentlichen noch immer nach dem Ausstellungsmodell des 19. Jahrhunderts funktionieren (Darbietung von „Meisterwerken“ mit der dazugehörigen Kulturheldenverehrung) – auch für die Gegenwart gültig sind.

Weil das soziologische Projekt also Aufklärung in Sachen Kunst verspricht, es die sozialen Bedingungen und distinktiven Effekte der Aneignung und des Gebrauchs kultureller Güter zu erhellen vermag, aber auch – und das wird von Leuten, die Bourdieus Theorie auf die Verknüpfung von Lebensführung und gesellschaftlicher Klasse verkürzen, leider allzu oft vergessen – Herrschaftsverhältnisse, die hierarchische und hierarchisierende Ordnung symbolischer Güter und die Mechanismen der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit durch und mit Bildung und Kultur freizulegen vermag, sollte dieses Buch im Besonderen für Museumsleute, KunstpädagogInnen und KulturpolitikerInnen, für all jene, die antreten, um Kunst zu vermitteln, zu fördern, zu bewahren, zu verbreiten und verstehbar zu machen, wertvolle Einsichten bereit halten. Wiewohl voraussehbar ist, dass es gerade an dieser Front kracht und professionelle Kunst- und KulturarbeiterInnen aus einer instinktiven Abwehrhaltung heraus zu simplifizierenden Interpretationen neigen, die aus dem Soziologen einen gegen die Kunst zu Felde ziehenden Philister machen.

Nun lässt sich die Kunstskepsis eines Bourdieu aber nicht einfach in die Schublade des gemeinen Kunstverächters stecken. Sie hat nichts mit den populistischen und anti­intellektuellen Vorurteilen gemein, wie sie etwa die moderne bildende Kunst das 20. Jahrhundert hindurch bis in die Gegenwart begleiten (von der nationalsozialistischen Diskreditierung abstrakter und expressionistischer Werke als „Entartete Kunst“ bis zur beispiellosen Hetze gegen den als „Fäkalkünstler“ diffamierten Kärntner Künstler Cornelius Kolig durch FPÖ-PolitikerInnen und deren Sprachrohre in der Kronen Zeitung Ende der 1990er Jahr­e). Ebenso wenig mit dem Kulturpessimismus jener Intellektuellen, die ihr Verlangen nach gesellschaftlicher Rache in orthodoxe Ordnungsrufe (Aufrufe zum Stil- und Wertebewusstsein, Besinnung auf Meisterschaft und strenge Form) oder in ein Anspruchsdenken umwandeln, das künstlerische Produktion (etwa durch Reduktion auf ihren Unterhaltungswert) verharmlost oder (durch Aufbürdung philosophischer Maßstäbe) nichtig erscheinen lässt; und schon gar nichts mit den von Polemik und Zynismus begleiteten ikonoklastischen Akten eines in Negativ-Theologie umgeschlagenen enttäuschten Glaubens, der, weil er keine differenzierte Bewertung mit Veränderungsvorschlägen anzubieten hat, nur in fatalistische Selbstaufgabe und totale Abkehr münden kann. Nichts liegt dem Soziologen ferner, „als zu jenem Reduktionismus und Zerstörungswerk anzustacheln, worin sich Verbitterung und Groll gefallen“.[2]

Bourdieus „Kritik der Kunst“, die nicht als Kritik der Kultur (der kulturellen Werke, ihrer ProduzentInnen und RezipientInnen), sondern als Kritik „des Gebrauchs der Kultur als Kapital und Instrument symbolischer Herrschaft“[3] zu verstehen ist, schreibt sich „Kritik“ aber nicht auf die Fahnen. Auch die Kritik der fetischistischen Gläubigkeit ist nicht das Ziel, sondern in gewisser Weise das Nebenprodukt (und zugleich Vorbedingung) einer Soziologie der Kunstinstitution, die sozialstrukturanalytische, bildungs- und herrschaftssoziologische Elemente miteinschließt. Eine­r Kultursoziologie also, der es um mehr geht als um eine Lehre vom Fetisch Kunstwerk: nämlich um soziale Ungleichheit (die mit den ungleichen Bedingungen der Aneignung bildungselitärer Güter gegeben ist), um symbolische Gewalt (mit der sich die legitime Kultur, die immer auch die materiellen und symbolischen Interessen der herrschenden sozialen Gruppen ausdrückt, allen Mitgliedern einer Gesellschaft aufzwingt), um die Rolle von Kultur und Bildung bei der Legitimation und Aufrechterhaltung einer auf Ungleichheit basierenden Sozialordnung.

Unter diesen Vorzeichen stellt die Studie L’amour de l’art einen Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftsanalyse dar und unterscheidet sich damit maßgeblich von herkömmlichen Museumsstudien, die in der Regel die Interessen derer bedienen, die ein Interesse am Fortbestand und an der Expansion des Systems der (in diesem Fall bildenden) Kunst haben, also entweder Argumente für die Durchsetzung eines Museumsneubaus liefern (wie etwa die Museumsstudie für Graz von Peter Weibel)[4] oder die Institutionen der Kunstschaustellerei mit Empfehlungen zur Attraktivitätssteigerung und Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit versorgen.

Im Gegensatz zu den sich als wissenschaftlich ausgebenden Befunden der Markt-, Meinungs-, Motiv- und Zielgruppenforschung bleibt Bourdieus Untersuchung der kulturellen Praxis nicht in der abstrakte­n Universalität von „Bedürfnissen“ oder „Motivationen“ (also letzten Ursachen und Gründen) stecken, die einen Museumsbesuch veranlassen oder nichtig erscheinen lassen. Statt sich mit Begründungen zufrieden zu geben, die die Befragten selbst zum Ausdruck bringen, fragen Bourdieu und seine MitarbeiterInnen nach den ökonomischen und sozialen Bedingungen, die den Museumsbesuch als kulturelle Freizeitbetätigung überhaupt möglich machen. Wo der motivationspsychologische Ansatz der Halb- und Spontanwissenschaft nur Kunstinteressierte und Uninteressierte erkennt und in den „Verweigerern“ nur eine über attraktive Namen und Events anzulockende Zielgruppe zu sehen vermag, unterscheidet Bourdieu zwischen sozial Privilegierten und Benachteiligten, zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von kulturellem Kapital. Wobei er die zu kurz Gekommenen für ihre „Defizite“, das heißt ihre Distanz zur Kultur, nicht selbst verantwortlich macht, sondern diese als kulturell Enteignete sichtbar macht, die kein Bewusstsein um das Entbehrte haben.

Doch nur da, wo die gesellschaftlich vermittelten Ursachen kultureller Enteignung offen gelegt und die Ungleichheiten gegenüber der Kultur nicht als Ungleichheit der Gaben sondern als Ungleichheit der Erziehung ausgewiesen werden, laufen auch Ungleichheitsverhältnisse nicht Gefahr – und dies ist wesentlich –, durch sozialwissenschaftliche Beschreibung naturalisiert zu werden. Weshalb die kritische und empirisch fundierte Soziologie von Bourdieu (im Unterschied zur „registrierenden“, der gesellschaftlichen Nachfrage nach Legitimierung nachkommenden soziologischen Forschung) nicht nur auf die Dekonstruktion der Vorstellung von einer in der Natur des Menschen verankerten „Liebe zur Kunst“ abzielt, sondern auch auf Enthüllung der wahren, aber verschleierten gesellschaftlichen Funktion von Kunst, soziale Unterschiede zu stabilisieren und zu legitimieren.

Das empirische Fundament einer verstehenden Soziologie

Für manche mag der ungeheure Aufwand der Erhebungen befremdlich erscheinen, tabellarisch in Form gebracht auf über fünfzig Seiten im Anhang. Schwer nachvollziehbar auch die eingangs gelieferte, im Vergleich zum übrigen Text etwas trocken anmutende Erläuterung der Untersuchungsmethoden. Ungeduldige und am soziologischen Handwerk weniger Interessierte mögen sich mit diesen Klammern, zwischen denen sich die Interpretation der Daten in drei Kapiteln ausbreitet, auch nicht lange aufhalten – was jedoch die empirische Behandlung des Gegenstandes betrifft, so darf L’amour de l’art bis heute als Maßstab gelten. Dies nicht nur, weil hier (im Gegensatz zur empirielosen, von der sozialen Realität ihres Gegenstandes oft meilenweit entfernten Kunst- und Kulturphilosophie) bestimmte Behauptungen und Hypothesen durch Daten abgesichert werden – es handelt sich schließlich um eine der größten und noch dazu europaweiten Befragungen von Besucherinnen und Besuchern von Kunstmuseen –, sondern weil die Datenerhebung selbst das Produkt eine­r methodisch strengen, hoch reflexiven wissenschaftlichen Arbeit ist. Einer Arbeit, in die entscheidende gesellschaftspolitische und theoretische Fragen eingearbeitet sind.

Weil der Umgang mit Daten nicht bloß ein registrierender ist, also Wissenschaft hier nicht einfach funktioniert wie ein Spiegel, liefert die theoretisch begründete empirische Soziologie, mit der sich Bourdieu in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vom, wie er selbst sagt, „positivistischen“ Lazarsfeld, aber auch von der „theoretizistischen“ (die empirische Forschung hinter sich lassenden) Sozialphilosophie Adornos absetzt, wichtige Anhaltspunkte für die Untersuchung von Kunst und Kultur. Was von Bourdieu gelernt werden kann, ist einerseits, dass öffentlich kommunizierte Kategorien und Begriffe nicht unreflektiert zu übernehmen sind, der öffentliche Diskurs um Kunst, Kultur und Bildung nicht bei seinem face value zu nehmen, sondern auf seine Vorbegriffe (Präkonstruktionen) zu untersuchen ist, daraufhin, was er nicht thematisiert, verschleiert und voraussetzt. Andererseits zeichnet sich eine an der Forschungslogik Bourdieus geschulte Perspektive auch dadurch aus, dass sie die Gewohnheiten und Vorlieben der sozialen AkteurInnen mit deren Positionen im sozialen Raum vermittelt (nicht aus ihnen ableitet!), was bedeutet, dass ein Verständnis kultureller Praktiken nicht ohne Schichtungstheorie zu haben ist.

Dass sich bei Bourdieu „Messen“ und erkenntniskritische Reflexion aufs Fruchtbarste verbinden, hat zum einen damit zu tun, dass ihm sein Philosophiestudium einen Zugang zu einer wissenschaftstheoretischen Tradition eröffnete, für die Bachelard, Canguilhem und Koyré stehen, zum anderen mit dem biographischen Glücksfall, dass er während seines Militärdienstes in Algerien und der dort unternommenen ethnologischen Forschungen mit Statistikern vom INSSE, dem Nationalen statistischen Amt, zusammenfand – unter ihnen Alain Darbel, der die Befragungen und die mathematischen Modelle der Museums­studie entworfen hat und auch als deren Mitherausgeber in Erscheinung tritt (während übrigens Dominique Schnapper, die, obschon sie gemeinsam mit Bourdieu die Untersuchung geleitet und den Text des Buches verfasst hat, nur als Mitarbeiterin Erwähnung findet.)

Demokratisierter Zugang zur Kultur?

Die mit besonderer Sorgfalt und großem Aufwand erhobenen und aufbereiteten Daten dienen zunächst einmal dem Beleg der evidenten Vermutung, dass der Zugang zu den gesellschaftlich als Kunst anerkannten Kulturprodukten ein Privileg der gebildeten Klassen ist. Wenn breite Schichten das Angebot ausschlagen, an den in Museen ausgestellten Werken teilzuhaben, dann ist dies, so die Schlussfolgerung der empirischen Studie, nicht das Ergebnis einer freien Wahl. Das Ausgeschlossen-Sein derer, die sich vermeintlich selbst ausschließen, ist nicht auf ein wenig ausgeprägtes (angeboren gedachtes) Interesse, sondern auf die mangelhafte Vermittlung jener Instrumente zurückzuführen, die es ihnen erlaubten, die ästhetischen Botschaften zu entziffern und so zu jenen kultivierten Lüsten vorzudringen, die das Kultur- und Bildungsspiel den Eingeweihten verschafft.

Obschon ein Zusammenhang zwischen Besuchshäufigkeit und Bildungsniveau feststellbar ist und der Kunstsinn als verallgemeinertes Verhalten immer häufiger wird, je weiter man in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben geht, zeigt die Studie, dass schulische Ausbildung weder das einzige noch das ausschlaggebende Kriterium für die anhaltende Ausübung legitimer kultureller Praktiken darstellt: entscheidender noch als die schulische Erziehung (mag diese auch Anregungen liefern und gelegentlich auch bei sozial weniger Begünstigten Neigungen hervorbringen) ist die familiale Erziehung, die durch frühe, in die vertrauten Abläufe des familiären Lebens eingebundene Praktiken (Konzert-, Theater- und Museumsbesuche, gemeinsames Musizieren oder Lesen von Büchern etc.) ein Gefühl der Vertrautheit mit der Welt der Kunst und Kultur zu verankern imstande ist.

Ein solcher durch langsames, unmerkliches Vertrautwerden und nicht durch gezieltes Lernen erworbener „Vorsprung“ ist jedoch, wie Bourdieu und seine MitarbeiterInnen auch im Zusammenhang mit anderen bildungssoziologischen Untersuchungen (Les héritiers 1964 [5], La reproduction 1970 [6]) argumentieren, durch institutionelle Vermittlung kaum aufzuholen. Die in der damaligen Bildungsdiskussion heftige Reaktionen auslösende und bis heute (trotz Bildungsexpansion) nicht widerlegte These lautet, dass das Bildungssystem nur sehr begrenzt in der Lage ist, die Ungleichheiten, die durch das soziale Herkunftsmilieu bedingt sind (von der Beherrschung der Sprache, den Umgangsformen bis zu den Mitteln, um sich Werke der bildenden Kunst anzueignen), aufzuheben. Mehr noch, das Bildungssystem sogar dazu tendiert, die Ungleichheiten zu verstärken, insofern es diejenigen, die bereits eingeführt sind, begünstigt (durch Bestätigung und Anregung zur Vertiefung bereits vorhandener, außerschulisch erworbener Kenntnisse und Kompetenzen) und bei den nicht Initiierten, die sich entsprechend der vorherrschenden (den Privilegierten die beste Rechtfertigung ihres kulturellen Privilegs verschaffenden) charismatischen Ideologie der natürlichen Gabe nur als unbegabt oder nicht kunstsinnig begreifen können, keine dauerhafte kulturelle Praxis zu verankern vermag.[7] „[I]ndem sie [die Schule] so tut, als könnten die Ungleichheiten im Bereich der Kultur nur von n­atürlichen Ungleichheiten herrühren, also Ungleichheiten der Begabung, und es gleichzeitig unterlässt, allen das zu geben, was nur einige Wenige ihren Familien verdanken, kann das Schulwesen diese anfänglichen Ungleichheiten nur fortschreiben und absegnen.“ (S. 106)

Der die formale Chancengleichheit als I­llusion entlarvende und die konservativ­e (die Privilegien der Privilegierten legitimierende und konservierende) Funktion des Bildungswesens offenlegende Blick des Soziologen mündet jedoch nicht, wie ihm bisweilen vorgehalten wird, in Ratlosigkeit und Resignation. Im Gegenteil, aus der Kenntnis um die objektiven Mechanismen der Verbreitung von Kultur leitet sich für Bourdieu die Forderung nach einer Bildungs- und Kulturpolitik ab, deren Ziel die „Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zu allgemeinen Gütern“ ist. Damit ist aber nicht bloß das „physische“ Zugänglich-Machen kultureller Güter gemeint. Bourdieu legt die Widersprüche eine­r auf Demokratisierung sich berufenden Kultur- und Bildungspolitik offen, wenn er betont, dass die Demokratisierung kultureller Güter nicht vollzogen ist, wenn nicht gleichzeitig zu ihrer Erreichbarkeit auch die für die Aneignung von Kulturgütern notwendigen Einstellungen und Techniken ihrer Handhabung allgemein verbreitet sind. Was nützt der freie Eintritt ins Museum, die physische Nähe zu den Werken, wenn die Mittel der (gebildeten) Aneignung nicht gegeben sind?

Unter den Gebildeten herrscht jedoch nach wie vor die Meinung vor, dass die kostbarsten Güter einer Gesellschaft bereits dann für alle verfügbar sind, wenn sie für alle billig und ohne Schranken „abholbar“ sind. Natürlich – nicht jeder kann sich eine Karte für die Traviata-Aufführung im Salzburger Festspielhaus oder die Aufführung von Torquato Tasso im Wiener Burgtheater leisten, und schon gar nicht ein Bild von Markus Lüpert­z. Aber, so der Einwand, für alle gäbe es die Malerei eines Lüpertz im Museum, die Sangeskünste einer Netrebko bei der Übertragung im Fernsehen oder im Radio, mit etwas Glück und spätabendlicher Wachheit sogar das Goethestück. Radio und Fernsehen, CD und DVD, Taschenbücher und Bibliotheken – alles Errungenschaften zur Verbreitung (hoch)kultureller Güter, dazu angetan, eine Gleichstellung beim Kulturkonsum herbeizuführen und wer da die kostbaren Früchte nicht zu pflücken versteht, wäre eben selber Schuld.
Gegen die Argumente derer, die allein im freien Zugang zur Kunst (Musik, Literatur, Malerei etc.) eine Demokratisierung der ehemals den Reichen und Gebildeten vorbehaltenen Vergnügungen sehen, wenden Bourdieu und seine MitarbeiterInnen ein, dass die Wahl der kulturellen Güter nicht einfach Sache einer bewussten freien Entscheidung ist und der Kulturgütermarkt nicht einfach ein Selbstbedienungsladen, in dem hoch- und populärkulturelle Produkte den KonsumentInnen gleichwertig und unvermittelt gegenüberstehen. Dem Gesetz folgend, dass etwa moderne Kunst (wie auch andere exklusive Güter) nur für diejenigen existiert, die gelernt haben, ihr einen Wert beizumessen und sich durch sie Befriedigung zu verschaffen (ob es sich dabei nun um den unmittelbaren ästhetischen Genuss oder um die mittelbaren Freuden der Distinktion handelt), bleibt sie für diejenigen, die nicht über die nötigen Einstellungen und Mittel ihrer Aneignung verfügen, trotz aller Zugänglichkeit doch immer unerreichbar. Oder anders formuliert: „Knapp sind nicht die Güter, sondern die Neigung, sie zu konsumieren, knapp ist ein „kulturelles Bedürfnis“, das, anders als die „Grundbedürfnisse“, Ergebnis von Erziehung bleibt.“ (S. 67)

Die gesellschaftliche Institution, die einzig dazu legitimiert und mit dem gesellschaftlichen Auftrag versehen wäre, die Benachteiligung derer auszugleichen, die von ihrer Herkunft her keine Anreize erfahren haben, sich mit Bildungsgütern zu befassen, ist und bleibt für Bourdieu die Schule. Nicht ein Mehr an Öffentlichkeitsarbeit, nicht freier Eintritt, nicht längere Öffnungszeiten oder noch diversifiziertere Angebote der Museumspädagogik – mögen diese Begleitmaßnahmen auch von Bourdieu gefordert sein[8] –, sondern nur eine längere Schulzeit und ein längerer, methodisch und systematisch vorgehender Kunstunterricht könnten zu e­iner wesentlichen Steigerung der kulturellen Praxis (des Besuchs von Museen, Theatern und Konzerten, aber auch des Leseverhaltens) führen. Insofern von den Informations-Angeboten in der Regel jene am meisten profitieren, die bereits zur Kunst bekehrt sind, und Berichte über Museumsausstellungen in Rundfunk und Fernsehen nur von denjenigen mit Interesse aufgenommen werden, die aufgrund ihres Bildungsniveaus zur Aufnahme disponiert sind, kommt Bourdieu zu dem Schluss, dass „die Investitionen in kulturelle Einrichtungen wenig rentabel (sind), solange es an Investitionen in die Schule fehlt, denn sie allein ist dazu in der Lage, die Nutzer solcher Einrichtungen zu „produzieren““. (S. 157)

Weil die Wahrnehmung von Werken der bildenden Kunst – ganz entgegen der widersinnigen Vorstellung eines angeborenen, vor jeder Erziehung vorhandenen Kunstsinns oder kulturellen Bedürfnisses, aber auch entgegen der kunstpädagogischen Illusion eines „unmittelbaren Verstehens“ – notwendig Bildung voraussetzt, also lehr- und lernbar ist (jedenfalls bis zu einer bestimmten Stufe der ästhetischen Kompetenz, die durch die Beherrschung von Begriffen bestimmt ist, welche ein Klassifizieren und Benennen von Merkmalen, also ein erstes Unterscheiden ermöglich­t), wären alle Schülerinnen und Schüler von der Schule mit entsprechenden Werkzeugen der Wahrnehmung auszustatten. Eine Forderung übrigens, die zunächst einmal gegen die Angriffe derjenigen zu verteidigen ist, die in einem Unterricht, der sich die Vermittlung von Namen, Epochen und Stilen zur Aufgabe macht, nur Etikettenwissen und Halbbildung sehen können. Ist es doch allemal besser, erst einmal und als Voraussetzung für alles weitere Sprechen über Kulturprodukte das Vokabular zur Beschreibung von Formen und die Prinzipien der ästhetischen Einteilung zu beherrschen, als einzig auf den Code des alltäglichen Lebens und die Logik unmittelbaren Wertens zurückgeworfen zu sein.

Was fehlt: die Verallgemeinerung einer kritisch-reflexiven Kunstwahrnehmung

Freilich darf aber angezweifelt werden, dass die Einverleibung des kunstgeschichtlichen Sortierapparats, die Orientierung am professionellen (für Laien ohnehin immer unerreichbar bleibenden) Expertenwissen, das sich nach Bourdieu von der Wahrnehmung des Laien „durch die Genauigkeit, den Reichtum und die Verfeinerung der angewandten Kategorien“ unterscheidet,[9] für einen aufgeklärten Umgang mit Artefakten hinreicht. Jedenfalls scheint Bourdieus Vorstellung von einer für alle zu erstrebenden Kunstkompetenz, die er in Anlehnung an die ikonologische und damals gerade aufblühende semiologische Tradition entwickelt,[10] aus mehrerlei Gründen überholt und vor allem befreiungstheoretisch nicht zu Ende gedacht.

Nicht nur, dass mit der traditionellen werk­ästhetischen Annäherung implizit so etwas wie die „endgültige Wahrheit“ eines Stils oder die „richtige Interpretation“ eines Werks mitschwingt – was angesichts der heute unhintergehbaren Pluralität von Interpretationsmethoden nur den Vorwurf der Rechthaberei und Wissenschaftsgläubigkeit einbringen kann –, sie kann auch einem Teil der Produktion, der nicht mehr „Werk“, sondern „Ereignis“ ist, nicht gerecht werden. Weil sich viele Kunstgattungen (Performances, Happenings, Installationen etc.) einer Kategorisierung über Formmerkmale entziehen und auch nicht überall, wo Form ist, eindeutig lesbarer Inhalt ist – denken wir nur an abstrakte Malerei –, kommt man mit stilistischen Merkmalszuweisungen und einem Modell des Dekodierens oft nicht weit. Vor allem aber kann die gelehrt­e Vorstellung von der Kunstwahrnehmung als einem Akt des Entschlüsselns bzw. der „Lektüre“, wie auch Heinz Steinert und Christine Resch mit ihrer „Interaktions-Ästhetik“ argumentieren,[11] nichts zum Verständnis der Gesamtsituation beitragen, in der Kunst produziert, präsentiert und rezipiert, also als „Kunst“ wahrgenommen und anerkannt wird.

Bourdieu hat wohl später in Die Regeln der Kunst (1992)[12] mit seinem Forschungsprogramm einer „Wissenschaft von den Kulturprodukten“ (das sowohl die Rekonstruktion der allmählichen Herausbildung eines relativ autonomen Produktionsfeldes, als auch die Rekonstruktion der Herausbildung der reinen ästhetischen Einstellung umfasst) der Kunstgeschichte das Prinzip der Reflexivität verordnet. Er hat also mit Verweis auf die Geschichtlichkeit der (kunsthistorischen) Einteilungsprinzipien, auf die Geschichtlichkeit der ästhetischen Einstellung (das Auge des Kunstliebhabers, das sich selbst als Naturgabe und gültige Norm vorkommt) und auf die Mitarbeit der professionellen KommentatorInnen an der (Re)Produktion der Institution Kunst die Grundpfeiler einer reflexiven, das heißt einer der Geschichtlichkeit des eigenen Kennerauges bewussten, die stillschweigenden Vorannahmen sich enthüllenden und damit der Falle „essentialistischen“ Denkens entkommenden (nicht beim sichtbaren Objekt stehen bleibenden) Kunstwissenschaft formuliert; damit aber auch einen Rahmen für reflexive Kunstwahrnehmung bereitgestellt, der es Gebildeten ermöglicht, sich selbst als Teil des Ereignisses „Kunst“ zu denken und dabei nach den eigenen (vermeintlich persönlichen) Interessen, Wünschen und Erwartungen, nach den gesellschaftlichen Normen und Grundmechanismen zu fragen.

Bedauernswerter Weise hat es Bourdieu jedoch verabsäumt, die reflexiven Elemente soziologischer Betrachtung in ein (utopisches) Modell der institutionalisierten Unterweisung zu integrieren. Zu sehr bleibt er dem damals vorherrschenden Modell der „internen“ Lektüre (der von Erwin Panofsk­y begründeten ikonologischen Tradition) verpflichtet, zu sehr setzt er die gelehrte Rezeption von Kunstwerken als pädagogisches Leitbild voraus, als dass er auf die Idee käme, den Beitrag der Soziologie (zum besseren Verstehen der Institution Kunst wie auch zum eigenen Kunstkonsum) selbst zum Vermittlungsinhalt zu machen. Problematisch also ist, dass Bourdieu eine bestimmte, traditionell an Werkinterpretation ausgerichtete kunstwissenschaftliche Wahrnehmung als ideales (und in diesem Sinne für alle zu erstrebendes) Wissen voraussetzt: Für ihn gibt die Kunstwissenschaft die Latte vor, was es über Kunstwerke zu wissen und zu sagen gibt, weshalb der Grad der Kunstkompetenz auch an der Beherrschung des historisch konstituierten Klassifikationssystems der Kunstgeschichte zu bemessen wäre. Ausgangspunkt für angemessenes Verstehen bleibt hier nach wie vor das „Werk“, dessen immanenter Sinn und Gehalt (bei verfeinerten Interpretationsinstrumenten natürlich auf der obersten Bedeutungsebene) in einem Übersetzungsakt freizulegen wäre.

Wenn es aber die soziologische Beobachtung gestattet, verschiedene Wahrnehmungsformen (vom alltäglichen Erleben bis zum gebildeten Verstehen) zu unterscheiden, warum dann nicht den Heranwachsenden vermitteln, dass jedes kulturelle Produkt, von einem Rubens über Comics bis zur Pop-Musik, zum Gegenstand verschiedener Arten von Verständnis werden kann? Warum sie nicht damit konfrontieren, dass persönlicher Geschmack so individuell nicht ist und letztlich doch ein gruppen- bzw. schichtspezifisches Phänomen darstellt? Wenn die Soziologie in der Lage ist, das Universum der Kunst als ein Universum des Glaubens zu enttarnen, warum dann nicht bei der leidigen Frage ansetzen, was ein Kunstwerk von einem Alltagsgegenstand (oder formal ähnlichem Eigenprodukt) unterscheidet und die Mechanismen der Kunstwerdung gleich an beispielhaften Aktionen (etwa Duchamps Pissoir oder Warhols Suppendosen) veranschaulichen? Warum bei einem „gotischen“ Sakralbau nicht auch auf den Einsatz von Rundbogenfenstern hinweisen und damit bewusst machen, dass die nach Formmerkmalen vorgenommene Klassifikation nach Stilen (hier die Formel Spitzbogen = gotisch) zu kurz greift und vor allem keine natürliche, sondern eine von KunsthistorikerInnen im nachhinein geschaffene, den ProduzentInnen bisweilen selbst völlig fremde Ordnung darstellt. Und lieferte nicht, etwa im Fall der Begegnung mit afrikanischen Masken im Museum, die einfache Feststellung, dass die Gegenstände hier ihrem ursprünglichen lebensräumlichen Kontext entrissen sind, wertvolle Ansatzpunkte, um die Institution Museum selbst als einen Ort zu denken, der Gegenständen, die in ganz anderer Absicht geschaffen wurden, ein neues Sein und BesucherInnen eine Norm der Erfahrung dieser Gegenstände aufzwingt?

Wenn Bourdieu nun aber davon ausgeht, dass sich Kunstkompetenz an der Beherrschung von Unterteilungsprinzipien misst, die sich mehr oder weniger leicht durch institutionalisierte Unterweisung aneignen lassen – was im Fall des letzten Beispieles hieße, die Masken als „primitive Kunst“ zu klassifizieren und die Objekte auf ihr Sein als ästhetische Werke zu reduzieren – dann setzt er nicht nur die Verallgemeinerung eine­r bestimmten ästhetischen Haltung und Wahrnehmungsform (nämlich die einer reinen, nicht-reflexiv gewordenen Kunstgeschichtsschreibung) voraus und bestätigt diese, er unterminiert damit eigentlich auch das von ihm selbst angestrebte Projekt einer emanzipatorischen Bildung.

Ein Kunstunterricht, der sich bei der Auswahl der Gegenstände und ihrer Interpretation völlig an der „reinen“ internen Lektüre orientiert und damit sämtliche Fragen, die die vorgegebene Ordnung ins Wanken bringen, radikal ausschließt, kann nur auf die bedingungslose Anerkennung bestimmter kultureller Güter als „Kunst“, nur auf einen noch reibungsloser funktionierenden, weil für alle zur Norm gewordenen Kult der geweihten Werke hinauslaufen. Wenn man also will, dass schulische Vermittlung (auf allen Ebenen) nicht nur die bestehende Ordnung reproduziert und Legitimationsfunktion erfüllt – was sie natürlich immer tut, allein durch den Rückgriff auf kanonisierte Bildungsgüter und die Weihe, die sie den Werken der Bildungskultur verleiht, indem sie sie durch ihre Vermittlung als bewunderungswürdig festlegt –, sondern von ihr erwartet, dass sie zur kritischen Befragung der bestehenden Ordnung befähigt, dann wäre auch jenes reflexiv-soziologische Wissen, das zu einer von Personenkult und Anbetung befreiten Kunsterfahrung ermächtigen kann, dazu beitragen kann, echte Erfahrungen aus der Begegnung mit Kulturgütern zu machen, in den Unterricht einzulassen bzw. zunächst einmal in der Ausbildung von KunstpädagogInnen zu verankern.

Wert und Wirkung einer (über praktisches Arbeiten hinausgehenden) Kunstpädagogik wären dann weniger (oder nicht nur) daran zu messen, dass die Heranwachsenden über die Wahrnehmungs-, Denk- und Ausdrucksschemata verfügen, die ein Einordnen und Klassifizieren der Bildungs­güter erlauben, sondern vor allem auch an ihrem emanzipativen Potenzial, das sich für gewöhnlich im Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben, in einer gewissen Distanz zu Normenkenntnissen, in einem Relativieren vorgegebener Wertzuschreibungen, in einem Wissen über die Historizität (und damit auch Willkür) der Einordnungsinstrumente und in der Reflexion eigener Vorannahmen zeigt. Jedenfalls bedeutete eine um reflexiv-emanzipative Elemente erweiterte und in diesem Sinn gebildete Kunstwahrnehmung dann nicht einfach die Reproduktion der vom westlichen Kunst-Kultur-System geforderten ästhetischen Haltung, und Vermittlung von Kunstwerken beschränkte sich dann auch nicht auf ein formalistisches (vom sozialen und historischen Kontext absehendes) Lesen des Gegenstandes. Die Formulierung der Grundsätze für eine rationale Kunstpädagogik, die einen aufgeklärten, reflexiven Umgang mit Kunstwerken zum Ziel hat, steht allerdings noch aus. Absehbar ist, dass – aufgrund der Eigenlogik des künstlerischen Feldes – ein solches Programm a­llerdings kaum innerhalb des akademischen Feldes der Kunstausbildung, dem ja die Ausbildung von KunstpädagogInnen angeschlossen ist, entwickelt werden kann.

[Anita Aigner, Studium der Architektur an der TU-Wien, Promotion mit einer bauhistorischen Arbeit zum Wiener Wohnbau der Zwischenkriegszeit, seit 1994 Universitätsassistentin am Institut für Künstlerische Gestaltung der TU Wien]

[1] Bourdieu, Pierre: „Aber wer hat denn die „Schöpfer“ geschaffen?“, im April 1980 an der Ecole nationale supérieure des arts décoratifs gehaltener Vortrag. In: ders.(1993)): Soziologische Fragen. (Questions de sociologie. Paris: Les Éditions de Minuit, 1980) Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 197-211, S. 197.
[2] Bourdieu, Pierre: Leçon sur la leçon. In: ders.(1985): Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 63.
[3] Bourdieu, Pierre & Wacquant, Loïc J.D. (2006; 1996): Reflexive Anthropologie. (Réponses pour une anthropologie réflexive. Paris: Édition du Seuil, 1992) Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 190.
[4] Vgl. http://rurban.xarch.at/weibel-ori.html
[5] Bourdieu, Pierre & Passeron, Jean-Claude (1964): Les héritiers. Les étudiants et la culture. Paris: Éditions de Minuit. Die deutsche Übersetzung „Bildungsprivileg und Bildungschancen“ bildet den ersten Teil des Buches Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett, 1971.
[6] Bourdieu, Pierre & Passeron, Jean-Claude (1970): La réproduction. Éléments pour une théorie du système d‘enseignement. Paris: Éditons de Minuit. Der erste Teil des Buches, Fondements d’une théorie de la violence, liegt in deutscher Fassung vor in: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. Der zweite Teil des Buches La réproduction ist in deutscher Übersetzung eingegangen in den Band Die Illusion der Chancengleichheit, a.a.O.
[7] Außer vielleicht bei den Wenigen, die eine Einstellung zum sozialen Aufstieg und einen Hang zur – oft inhaltsleeren, vom Prinzip der immateriellen Schatzbildung dominierten – Bildungsbeflissenheit entwickelt haben. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang auch treffend von einer „Art kulturellen Bulimie“ (S. 98), die der Wechsel auf die Universität, insofern dieser immer auch den Zutritt zur gebildeten Welt bedeutet, bisweilen bei Studierenden aus bildungsfernen Schichten auslöst.
[8] Wenn sich Bourdieu angesichts der weihevollen Stille im musealen Andachtsraum fragt „Warum keine Musik einsetzen, die den Besuchern das Gefühl geben könnte, ein paar Worte aussprechen zu können, ohne damit das religiöse Schweigen zu stören? Warum die Dienstleistungen im Bereich des Informationsangebots nicht insgesamt verstärken und die Museen nicht mit Bibliotheken, Konzertsälen, Buchhandlungen und Geschäften ausstatten, die Reproduktionen, Schmuck und folkloristische Gegenstände anbieten? Warum Museen nicht einladender machen, indem man Bars, Shops, Salons oder Restaurants einrichtet, die es den Besuchern ermöglichen, ihren Tag im Museum verbringen?“ – so klingt das heute, da die geforderten Belebungsprogramme weitgehend eingelöst sind, überholt. Aber eben auch zu kurz gegriffen in Anbetracht der Tatsache, dass die Mittel zur Aneignung, speziell zur kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit Kunst und ihren Institutionen bildungspolitisch bislang nicht formuliert und sanktioniert wurden.
[9] Bourdieu, Pierre : Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 159-201, S. 187.
[10] Vgl. auch Bourdieu, Pierre (1974;1970): „Elemente zu einer soziolo gischen Theorie der Kunstwahrnehmung“. In: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 159-201.
[11] Resch, Christine & Steinert, Heinz (2003): Die Widerständigkeit der Kunst. Entwurf einer Interaktions-Ästhetik. Münster: Westfälisches Dampfboot.
[12] Bourdieu, Pierre (2001;1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. (Les règles de l’art. 1992) Frankfurt am Main: Suhrkamp.]

dérive, Mi., 2008.06.11



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18. Juni 2005Anita Aigner
UmBau

Ein Entwurf, der zu früh kommt

Gesetze der Preisbildung am Beispiel von Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast

Gesetze der Preisbildung am Beispiel von Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast

Architekturproduktion spielt sich in der Zeit, in der Zeitgenossenschaft von Ungleichzeitigen wiewohl auch unter Zeitdruck ab und der beste Entwurf ist nichts wert, wenn er zu spät oder zu früh kommt, dazu verdammt, in den Raum des Nichts verstoßen zu werden, wenn er den Geschmack der Auftraggeber oder den »Geist der Zeit« nicht trifft, das heißt den jeweils vorherrschenden Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien nicht entspricht. Dass es möglich ist, einen Nichterfolg einzufahren und dennoch Kapital daraus zu schlagen, ist jedoch im Feld der Architektur so ungewöhnlich nicht. Das Ungebaute ist im Kanon der Architekturgeschichte genauso verankert wie das Gebaute und unausgeführte Projekte, sofern sie in der Fachwelt die dazu nötige Aufmerksamkeit erhalten, vermögen ihren Autoren ebenso zu Ruhm zu verhelfen wie ausgeführte. Zurecht spricht Adolf Max Vogt im Zusammenhang mit dem negativen Ausgang des Völkerbundwettbewerbs für Le Corbusier und Pierre Jeanneret zugleich von der »Demütigung und Glorie« von Genf,(1) und auch Alfred Roth, einer der sechs Mitarbeiter am Wettbewerbsprojekt im Atelier rue de Sèvres, bringt die Niederlage, die er als die »bitterste Episode« im Leben Le Corbusiers bezeichnet, mit dem »kometenhaften Aufstieg des Künstlers« in Verbindung.(2) Dass es ein unfreiwilliger Nichterfolg zu einem »Markstein in der Geschichte der Architektur«(3) bringen, also Eingang in die ewige Gegenwart der kanonisierten Architektur finden kann, ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.

Es setzt die Architektur als ein relativ autonomes kulturelles Produktionsfeld voraus, das über eigene Gesetze, Profite und Interessen verfügt, ein Universum, in dem weltlicher Erfolg und künstlerischer Wert nicht notwendig in eins gesetzt sind und in dem auch erfolglose (nicht zur Ausführung gelangende) oder »reine« (als Grenzfall der möglichen Form produktiver Tätigkeit – nicht zur Ausführung bestimmte) Produktion,(4) eben weil sie den eigentümlichen, aus der Geschichte der Autonomisierung erwachsenen Ansprüchen folgt, Anerkennung als kostbarste Gegengabe erwarten darf. Dass unausgeführte Projekte eine Kapitalisierung erfahren (ihnen ein immaterieller, nur innerhalb des architektonischen Feldes sich konstituierender und funktionierender Wert zugesprochen wird), setzt nicht nur voraus, dass der Architekt mit seinen Einsätzen die in der Gegenwart angelegte Zukunft des Spielverlaufs antizipiert – er positioniert sich nicht da, wo die anderen schon sind und die Profite einheimsen, sondern wo sie gleich anfallen –, es bedarf auch der Anerkennungs- und Legitimierungsarbeit durch feldinterne Instanzen (KollegInnen, KritikerInnen, KunsthistorikerInnen). Jedenfalls genügt es nicht, die riskanten, auf Positionierung im Feld zielenden Einsätze, die bisweilen unter größten Entbehrungen und gegen die Gesetze ökonomischer Vernunft hervorgebracht werden, einfach nur zu produzieren und sich selbst zu überlassen – sie müssen auch gut platziert, mit Überzeugung vorgetragen, verbreitet und besprochen werden. Vor allem dann, wenn niemand sie haben will.

Ruhm- und Rangsicherung durch Medienarbeit

Was den Punkt der Verbreitung betrifft, so hat bereits Vasari erkannt, dass der Ruhmesmechanismus durch Publizieren planmäßig in Gang gesetzt und gehalten werden kann. Seiner Einschätzung nach hätte Alberti seinen Ruf eher seinen Schriften als seinen Werken zu verdanken, die in Wahrheit nicht besser sind als die anderer Künstler: »Man kann daraus die Erfahrung ableiten, dass Schriften, was den Ruhm und den Klang eines Namens angeht, größte und dauerhafteste Wirkung haben. Denn die Bücher, sofern sie wahrhaftig und nicht lügenhaft sind, wandern leicht von Hand zu Hand und finden allenthalben Glauben.«(5)

Sicherlich verdankt auch Le Corbusier einen großen Teil seines Erfolges der Erkenntnis, dass die Flugbahn der Fama nicht nur von der praktischen Meisterschaft des Architekten, sondern auch maßgeblich von der schriftlichen Übersetzung künstlerisch-architektonischer Absichten und Ambitionen sowie ihrer massenhaften Verbreitung abhängig ist. Selbst aus heutiger Sicht, da aufwändige Buchpublikationen zu einem Standard der Selbstvermarktung geworden sind, nimmt Le Corbusier mit seinen Akten der unmittelbaren Selbstautorisierung eine Sonderstellung ein. Noch bevor er große Bauten vorzuweisen hat, kann der mit ausgesprochenem Orientierungs- und Platzierungssinn ausgestattete Mehrfachbegabte, der vom Kunsthandwerker, Zeichenlehrer, Maler und Kunstkritiker zum international beachteten Architekten avanciert, mit einer beachtlichen Reihe von Publikationen aufwarten, in denen er in apodiktischer und provokanter Sprache, einer Art »Poesie der Gewalt«(6) schrittweise den Bruch mit der vorherrschenden Ordnung vollzieht. Noch unter dem Namen Charles-Edouard Jeanneret publiziert er mit seinem Freund und Malerkollegen Amédée Ozenfant 1918 einen kämpferischen Text mit dem Titel Après le Cubisme (mit dem sie die im Feld der Kunst vorherrschenden Kubisten in die Vergangenheit verweisen), unter dem Pseudonym »Le Corbusier« veröffentlicht er von 1920–1925 in der gemeinsam mit Ozenfant und dem Dichter Paul Dermée herausgegebenen und in 28 Heften erschienenen Zeitschrift L’Esprit Nouveau seine häretischen Ansichten zu Kunst und Architektur, die sogleich auch in Buchform in der Reihe L’Esprit Nouveau der Editions Crès erscheinen (Vers une architecture, 1923; L’art décoratif d’aujourd’hui, 1925; La peinture moderne, 1925), zudem noch eine (seit längerem in Arbeit befindliche und mehrfach, bis hin zum Wechsel der Standpunkte überarbeitete) ketzerische Schrift zum Städtebau (Urbanisme, 1925). Die in ihrer Bedeutung für das künstlerische Selbstverständnis des Architekten nicht zu unterschätzende Parallelaktion in Sachen bildender Kunst und Architektur, mit der er die Richtung seiner Entwicklung eine Zeit lang in Schwebe hält, entscheidet sich zugunsten der Architektur, nachdem er mit Vers une architecture den Resonanzkörper des architektonischen Universums nachhaltig zum Schwingen gebracht hat und schlagartig bekannt wird. Seine draufgängerische Überzeugungsarbeit als »Theoretiker« wie auch seine vorneweg auf Aufmerksamkeit und Beeindruckung berechneten, spekulativen Entwürfe (Ville contemporaine, 1922) zielen vor allem auf Anerkennung innerhalb der »Community«, nicht zuletzt gerade der arrivierten Kollegen und Kritiker, von denen – dem Gesetz folgend, dass Ruhm nur derjenige spenden kann, der ihn selbst schon besitzt – der größte Legitimationseffekt ausgeht. Deshalb verschickt er auch einzelne Publikationen an ausgewählte Architekten, unter anderen Bruno Taut und Erich Mendelsohn,(7) er versucht aber auch, Industrielle und einflussreiche politische Entscheidungsträger in den Bann zu ziehen, um die Ausarbeitung seiner »Laboratoriumsarbeit« zu finanzieren und die Ergebnisse in der Öffentlichkeit so gut wie möglich zu präsentieren. So gelingt ihm unter anderem ein großer Auftritt auf der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes (1925), auf der er mit seinen urbanistischen Visionen das tradierte Programm des Kunstgewerbes konterkariert.(8)

All die schon geleisteten, ökonomisch sich nicht unmittelbar rechnenden Investitionen, die auf Revolution im Bereich der Architektur abzielen und zugleich darauf, sich im Feld zu positionieren, sämtliche auf Durchsetzung neuer Produktions- und Bewertungsnormen zielenden Akte als Publizist, Buchautor und Vortragender, in denen der als uneigennützig und interesselos wahrgenommene Kampf für eine »wahrere« Praxis den eigentlichen (vom Feld offerierten) Profit verschleiert (nämlich den, sich einen Namen zu machen), sind in Erinnerung zu rufen, will man nun die großen Erwartungen und die Verarbeitung der bitteren Enttäuschung verstehen, die für Le Corbusier mit dem Völkerbundwettbewerb verknüpft sind.

Der Neununddreißigjährige steht nun jedenfalls am Beginn jener Phase seines Berufslebens, da er mit der Verwertung des symbolischen Kapitals rechnen darf, das er mit seinen kämpferischen Wortspenden und spekulativen Entwürfen mühsam verdient hat. Der Bau des Volkshauses der Heilsarmee in Paris (1926) darf als erstes Anzeichen genommen werden und nun, wo mit cinq points (1926) auch eine knappe, die Revolution zusammenfassende Formel gefunden ist, scheint der Zeitpunkt gekommen, um endlich »Großes« zu schaffen und die bereits in kleineren Projekten formulierten Neuerungen im Maßstab eines repräsentativen Großbaus aufgehen zu lassen. Mit fünf Moser-Schülern aus Zürich, die sich unmittelbar nach einem offensichtlich beeindruckenden Vortrag Le Corbusiers im November 1926 im Atelier rue de Sèvres als Helfer eingefunden haben, und einem jungen Architekten aus Zagreb wird das Wettbewerbsprojekt in knapp zwei Monaten unter opferbereiter und letztlich unbezahlt bleibender Einsatzbereitschaft der jungen Mitarbeiter ausgearbeitet.(9) Die achtzehn großformatigen Plandrucke werden rechtzeitig, noch vor dem 25. Jänner 1927 nach Genf geschickt – nicht ohne vor dem Einpacken in berechnender Absicht noch schnell für einen Fototermin arrangiert zu werden. Mit dem »Erinnerungsbild«, das Roth auf Geheiß von Le Corbusier seinem Lehrer schickt, um ihm ein »Bild seiner so fleißig gewesenen Schüler« zu geben, wird dem Preisrichter Moser eine Vorabinformation über das Wettbewerbsprojekt zugespielt.(10)

Als sich die international besetzte, aus neun renommierten Architekten bestehende Fachjury nicht auf die Ausführung eines bestimmten Projektes einigen kann (vorgesehen war: ein erster Preis, zwei zweite und drei dritte Preise),(11) kommt es am 5. Mai 1927 zu einem »kläglichen Kompromiss«: Aus den 377 eingereichten Projekten werden neun Entwürfe mit einem ersten Preis ex aequo ausgezeichnet, darunter auch der Beitrag von Le Corbusier und Jeanneret (der übrigens als einziger der ausgewählten Entwürfe die im Programm festgesetzte Bausumme nicht überschreitet). Dem vorsichtigen Urteil der Jury,(12) welche sich damit aus der Verantwortung stiehlt, folgt eine ganze Sturmflut von Meldungen in der Tages- und Fachpresse. In den verschiedenen Ländern werden die prämierten Entwürfe veröffentlicht und deren Verfasser als Nationalhelden gefeiert,(13) Architekturkritiker ergreifen für einzelne Projekte Partei, Wettbewerbsteilnehmer melden sich zu Wort, um ihr Projekt zu lancieren, angeregt von involvierten Akteuren richten Fachverbände Protestschreiben an den Völkerbund, wobei das Dossier an Meinungsäußerungen zum Projekt von Le Corbusier und Jeanneret bei weitem das umfangreichste sein dürfte.(14) Bei all den publizistischen Aktivitäten, die Le Corbusier als legitimen Anwärter für den Auftrag ausweisen, ragt die groß angelegte Pressekampagne heraus, mit der Christian Zervos im Novemberheft (1927) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Cahiers d’Art Schützenhilfe leistet. Wohl auf seine Anfrage und Initiative hin, hat eine ganze Reihe von etablierten Architekten, Künstler- und Berufsverbänden unterstützende Stellungnahmen für den Aspiranten abgegeben (etwa Tony Garnier, Henry van de Velde, Oswald Haerdtl, Frantz Jourdain und der Preisrichter Karl Moser); der Name anderer »großer Meister«, die sich entweder nur für ein »modernes Projekt« aussprechen (wie Hendrik Petrus Berlage, der als Juror in seiner Bewertung dem Projekt Le Corbusiers keinen Preis zukommen ließ) oder auf die Anfrage gar nicht reagierten (wie etwa Hugo Häring, Walter Gropius, Mies van der Rohe oder Ernst May), wird auf unzulässige Weise vereinnahmt. Was für Le Corbusier zunächst noch mit Hoffnungen verbunden ist, entpuppt sich am 22. Dezember 1927, da sich eine neu ins Leben gerufene Fachkommission (Comitée de Cinq, mit dem nicht mehr Architekten, sondern fünf Botschafter das Sagen haben) für das französisch-schweizerische Team Nénot und Flegenheimer entscheidet und diese beauftragt, gemeinsam mit Broggi, Lefèvre und Vago die definitive Projektierung und Ausführung zu übernehmen, als herbe Niederlage.

Die Enttäuschung darüber, am Dirigieren des Großprojektes gehindert worden zu sein, lässt Le Corbusier jedoch nicht aufgeben, im Gegenteil, er wird zum Ankläger, der keine Mittel scheut, um seinem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Er beeinflusst Medien und Kritiker, kontaktiert Politiker (er wird beim Schweizer Bundespräsidenten Giuseppe Motta vorstellig) und Preisrichter (den französischen Akademieprofessor Lemaresquier), verfasst formelle Protestschreiben – die äußerst umfangreiche requête (eine »Anklageschrift«, in der er die Vorzüge seines Entwurfs erläutert, zum fragwürdigen und undurchsichtigen Prozedere des Wettbewerbsverfahrens Stellung bezieht und sich durch Abdruck einer Auswahl von Artikeln der Tages- und Fachpresse auf die Unterstützung namhafter Persönlichkeiten beruft) – und greift schließlich zum bewährten Mittel der Selbstautorisierung: Noch im selben Jahr, da der Völkerbundsrat den Antrag der Spezialkommission genehmigt, legt er mit Une maison – un palais (1928) ein Buch vor, mit dem der Rang seines Projektes für alle Zeiten außer Streit gestellt werden soll.(15) Da er sich, wie auch die Vertreter der neuen Avantgarde in anderen Feldern kultureller Produktion (Literatur, Malerei, Theater etc.), zur Rechtfertigung seiner ikonoklastischen Neuerungen auf die Reinheit des Ursprungs berufen muss, hebt er im ersten Teil (»Thèse«) dieses Buchs zu einer Wesensbestimmung der Architektur an und fordert – wie schon in seinen vorgängigen Schriften (Vers une architecture, 1923; Urbanisme, 1925; Almanach d’Architecture moderne, 1926) – eine Rückkehr zur ursprünglichen und idealen Definition architektonischer Praxis, um sodann im zweiten Teil (»Explications«) die zuvor an einzelnen Villenbauten exemplifizierten Neuerungen im Großprojekt des Völkerbundpalastes kulminieren zu lassen und im Anhang (»Appendice«) die Belege sicherzustellen, mit denen das Bild des einer Intrige zum Opfer gefallenen und um einen verdienten Auftrag geprellten Vorkämpfers einer »zeitgemäßen« Architektur gezeichnet werden soll.

Der enorme Aufwand an Überzeugungs-, Mobilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit, den Le Corbusier und seine Freunde auch noch nach der Absegnung des Entscheids durch den Völkerbundsrat im März 1928 betreiben, hat zwar nicht zum Auftrag für den bedeutendsten Repräsentativbau jener Zeit geführt, doch in jedem Fall dazu beigetragen, dass seine Aktien im Feld gestiegen sind, er vom Außenseiter zum Anwärter auf eine Position in die »Oberliga« aufgestiegen ist und ihm im begrenzten Kräftefeld der limitierten Produktion fortan eine unübergehbare Position zugesprochen wird.

Nun kann Le Corbusier wohl als Musterbeispiel dafür genommen werden, dass, um den Status eines Stararchitekten zu erringen, derjenige am erfolgreichsten verfährt, der am besten gleich selbst den Part des Oberpriesters des eigenen Kultes übernimmt – doch dass sein Genfer Wettbewerbseinsatz in die ewige Gegenwart der kanonisierten Architektur Eingang gefunden hat, lässt sich nicht einfach nur durch die Akte der Selbststilisierung und die »dauerhafte Wirkung« seiner Bücher erklären, ebensowenig nur durch die Besonderheit und Einzigartigkeit des Entwurfs. Nicht unbegründet stellt sich der Architekturhistoriker Werner Oechslin in seiner sechzig Jahre nach dem Wettbewerb vorgelegten Dokumentation des Wettbewerbsprojektes (mit der die von ihm veranlasste Restaurierung der Projektunterlagen im Jahre 1986 zu einem würdigen Abschluss kommt) in einem Nebensatz die Frage, was wohl aus den Plänen geworden wäre, hätte es sich beim Verfasser um einen weniger bekannten Architekten gehandelt. Derselbe Entwurf von einem unbekannten Autor oder gar einer unbekannten Autorin, so ließe sich antworten, hätte weder die Solidarität der Zeitgenossen noch die gesteigerte Aufmerksamkeit des Architekturhistorikers bewirkt. Ganz in der Logik seiner Praxis befangen sieht der Architekturhistoriker in der herausragenden Stellung des Autors die Rechtfertigung für sein Unternehmen: »Die Person Le Corbusiers und der prominenteste internationale Wettbewerb lassen ein detailliertes Eingehen auf noch so geringfügige Einzelheiten [...] angemessen erscheinen.«(16) Neben der Prominenz des Wettbewerbes ist es also der Seltenheitswert der Produzenten, der das Interesse der KommentatorInnen und InterpretInnen erklärt, der jedoch – und dies scheint diesen zu entgehen – immer auch mit das Produkt ihrer eigenen Arbeit ist.

Der Name des Produzenten wie auch die Bedeutung seiner Produkte lässt sich nämlich nicht auf die Arbeit des Architekten selbst beschränken – auf seine aktiven, gestalterisch-erfinderischen Fähigkeiten, die es ihm erlauben, eine virtuelle Lücke zu besetzen, das heißt in einer Zeit des Übergangs die in der Luft liegenden Themen und Problemzusammenhänge (Industrialisierung des Bauens, Massenwohnbau) zu verarbeiten und in einer neuen architektonischen Grammatik mit stilbildender Kraft zu formulieren, und auf seine publizistischen Aktivitäten, mit denen er seine Einsätze zu verbreiten und sich im Feld zu schaffen versucht –, sondern ist mit das Produkt der Legitimierungs- und Konsekrationsarbeit der feldinternen Instanzen (Historiker, Kritiker, Journalisten, Kollegen, Ausstellungsmacher). Insofern nämlich, als diese in den Auseinandersetzungen, in denen die Bedeutung der Einsätze ausverhandelt wird, zunächst selber Partei ergreifen (wie etwa Giedion), und sie später (nachdem es der Produzent im Feld der Architektur zu exklusiver Legitimität gebracht hat, seine Bauten und Entwürfe es geschafft haben, »in die Geschichte einzugehen«) die Produkte in einem nicht zu Ende kommenden Besprechungsprozess immer wieder einer Neubetrachtung unterziehen. In Erinnerung gerufen sei hier nur beispielhaft die vom Begriff der »Transparenz« ausgehende, positivistische »reine« Lektüre durch Robert Slutzky und Colin Rowe, die das Völkerbundprojekt einer rein formalistischen und zugleich ahistorisierenden Lesart unterziehen,(17) oder die »archäologische Betrachtung« von Adolf Max Vogt, der das im Großprojekt kulminierende Leitmotiv der auf Pfahlstützen abgehobenen Schachtel (boîte en l’air) mit historischen Bezügen anreichert.(18) Mit Bourdieu ist in Erinnerung zu rufen, dass der von professionellen (das heißt zur Suche nach Sinn und Begründung von Besonderheiten und Unterschieden entschlossenen) InterpretInnen geführte Diskurs nicht bloß unterstützendes Mittel zum besseren Verstehen und der Würdigung einer architektonischen Leistung ist, sondern immer auch ein Moment der Produktion des Werks, also zugleich ein Mittel, das den Wert der architektonischen Produkte und den Namen der Produzenten (ja bisweilen auch den Namen der InterpretInnen) schafft.(19)

Wenn Architekturhistoriker dem von Auftraggeberseite verschmähten Wettbewerbsprojekt mehr als fünfzig Jahre nach seiner Herstellung einräumen, dass es einen »Höhepunkt« in Le Corbusiers »puris
tischer Periode«, einen Höhepunkt »in der Entwicklung der modernen Architektur«, einen »Markstein in der Geschichte der Architektur« darstellt,(20) und damit das wahr werden lassen und bestätigen, was der Autor schon zehn Jahre nach der endgültigen Absage für sich reklamiert hat (»ce projet [...] a marqué une date dans l'histoire de l'architecture«(21)), so ist daran zu erinnern, dass solche bewerten
den und klassifizierenden Einschätzungen nur möglich sind, weil die AkteurInnen, die mit der Archivierung, Konservierung und Erforschung kanonisierter Produkte beschäftigt sind, dem Produktionsfeld in einer Beziehung des komplizenhaften Einverständnisses unterworfen sind. »Wenn die Kunstwissenschaft heute noch in den Kinderschuhen steckt, so rührt dies gewiss daher, dass die mit ihr Befassten, vornehmlich die Kunsthistoriker und -theoretiker, in den Auseinandersetzungen, in denen Sinn und Wert des Kunstwerks [beziehungsweise des architektonischen Werks, A. A.] produziert werden, selber Partei sind, und dies ohne es zu ahnen oder doch jedenfalls ohne daraus alle Konsequenzen zu ziehen: Sie selbst sind Teil des Gegenstands, den sie zum Gegenstand zu haben meinen.«(22) Weil die Architekturhistoriker, wie »die Literatur- und Kunsthistoriker, die, ohne es zu wissen, die Sichtweise der Produzenten für die Produzenten übernehmen, die (mit Erfolg) Anspruch auf das Monopol auf die Bezeichnung Künstler oder Schriftsteller [beziehungsweise Architekt, A. A.] erheben«, entsprechend der Logik ihrer Praxis »nur das Unterfeld der limitierten Produktion (kennen und anerkennen), [...] verfälscht sich auch die ganze Darstellung des Feldes und seiner Geschichte«.(23)

Nicht nur, dass die Baugeschichte nicht einfach auf die Geschichte der großen Bauten und Köche der Architektur reduziert werden kann, es lässt sich auch die Geschichte der limitierten Produktion, also das, was Feldgeschichte macht, nicht angemessen verstehen, wenn die einzelnen Akteure in einer Summe von kunstgeschichtlichen Einzeldarstellungen unverbunden nebeneinander stehen. Die verschiedenen Positionen der Avantgarde der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die heute im Kanon verewigt sind, lassen sich gemäß Bourdieus strukturaler Feldanalyse nur dann wirklich verstehen, wenn sie in ihrer objektiven Relation zu allen anderen bestimmt werden, also auch und vor allem im Verhältnis zu jenen, gegen die sie sich gemäß der Logik des Kampfes abgrenzen, also zu den »überholten« Architekten, die innerhalb einer Geschichte der »modernen Architektur« für gewöhnlich ausgeblendet sind.

Der Wettbewerb: Enthüllung der Struktur des Feldes der Gegenwart

Mehr als andere Gelegenheiten scheint ein internationaler öffentlicher, das heißt für alle Architekturschaffenden zugänglicher Wettbewerb, die Struktur des Feldes der Gegenwart, den Stand der Machtverhältnisse beziehungsweise den Raum der zeitlich hierarchisierten Positionen, die von den um Legitimität miteinander konkurrierenden Personen beziehungsweise Gruppen eingenommen werden, zum Vorschein zu bringen. Auf Seite der Teilnehmer synchronisiert er Neulinge und Alteingesessene, Namenlose und Etablierte, Positionsinhaber und Anwärter (weshalb er auch den an Kapital Schwachen Chancen bietet), auf Seite der Jury bündelt er Akteure, die es bereits »geschafft« haben (also über ein hohes auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung beruhendes symbolisches Kapital verfügen) und aufgrund ihres biologischen und künstlerischen Alters tendenziell im Gegensatz zu den (oft zweifach »jungen«) avantgardistischen Architekten stehen, er lässt aber auch Kritiker, Kommentatoren, Journalisten und Ausstellungsmacher auf den Plan treten, die entsprechend der Logik ihres Produktionsfeldes dazu neigen, dem »Neuen« und den Produkten, die Aufmerksamkeit erregen, den Vorrang einzuräumen – der Wettbewerb führt also sämtliche Akteure des Feldes auf einen Punkt in der Gegenwart zusammen, trennt und polarisiert sie aber auch sogleich.

Die mit den neun erstprämierten Entwürfen gegebene (»postmoderne«) Vielfalt unterschiedlicher Stilrichtungen – das Ergebnis spiegelt die Wahrnehmung der das europäische Feld dominierenden, von neun Nationen entsandten, »aufgrund ihres Werks« zu Berühmtheit gekommenen Architekten wider – stellt einen Zustand äußerster Unsicherheit und Verunsicherung, ja eine Krise im Feld der Architektur dar. Insofern schon mit den Jurymitgliedern unterschiedliche Positionen aufeinandertreffen, werden auch die Gegensätze zwischen den durch die Zeit und im Bezug zur Zeit getrennten Akteuren virulent, »zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen; zwischen den Herrschenden, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen, und den Beherrschten, den Neuankömmlingen, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht.«(24)

Was nicht heißt, dass sich Architekten bei der Produktion bewusst auf andere Positionen beziehen, doch existieren sie nur in objektiver Relation zu anderen Positionen und sind deshalb darauf angewiesen, ihre Positionierungen mit Differenz zum Bestehenden vorzunehmen. Gerade der Wettbewerb, insofern hier unterschiedliche ästhetische Produktionsweisen unmittelbar aufeinander prallen, fordert die Produzenten wie die Beurteilenden heraus, die (mehr oder weniger feinen und mehr oder weniger gesuchten) Unterschiede herauszustellen. Es ist der Anreiz des materiellen und immateriellen Profits, der mit der Ausführung eines so großen Bauvorhabens verbunden ist, mitunter die existenzielle Not (auch Le Corbusier befindet sich in einer finanziell misslichen Lage(25)), die die avantgardistischen Produzenten dazu treibt, für ihr neues Erzeugungsschema und zugleich auch gegen verbreitete und anerkannte Produktions-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata Stellung zu beziehen.

Jedenfalls wird der Schwebezustand, den das Preisgericht hinterlässt, nicht zufällig gerade von denen aufgebrochen, die ihr Publikum in der Zukunft haben. Tendenziell blasen immer diejenigen zum Angriff, die eine dominierte Position einnehmen und Interesse an der Veränderung der bestehenden Kräfteverhältnisse haben. Wobei sich ihr Kampf um Anerkennung nicht einfach auf eine Begründung der neuen Produktionsmuster beschränkt (deren Explikation übernehmen zumeist ohnehin die »Theoretiker« im Feld), sondern immer mehr in Absetzungsarbeit aufgeht, das heißt in einer negativen Beziehung auf andere beziehungsweise auf das vorherrschende Geschmackssystem (das in ihren Augen einen »alten Zopf« darstellt).

Der Kampf für eine Sache wird also immer mehr zu einem Kampf gegen eine Sache. Obschon Le Corbusier es nicht verabsäumt, immer wieder die Vorzüge seines Entwurfs zu erläutern (die organisatorischen und technischen Qualitäten, die Rücksichtnahme auf die natürliche Umgebung – seine conception paysagiste, das Einhalten der veranschlagten Bausumme etc.), so verlagert sich seine Argumentation doch zusehends auf die Zurückweisung anerkannter Produktionsmuster. Wobei die Diskreditierung der internen Konsekration (der »Akademie«), die (was seine Biografie betrifft) ganz der »Völkerbundaffaire« entkeimt, sich erst 1932 mit Croisade ou le crépuscule des académies vollends entlädt. Aber auch bei den Stellungnahmen in der Fach- und Tagespresse fällt auf, dass es immer weniger um ein bestimmtes Projekt geht, sondern immer mehr um zwei Lager. Die Rede ist vom Kampf zwischen dem esprit moderne und dem esprit ancien, von der »Epoche, die stirbt« und dem »neuen Zeitalter«, vom Projekt, »das einzig den modernen Geist repräsentiert«.(26) Die Erfordernisse des Kampfes bringen es mit sich, dass die Akteure des Feldes kollektiv eine Repräsentation des Feldes erzeugen, die, auch wenn sie der Realität nicht entspricht, besonders wirkmächtig und fortpflanzungsfähig ist – einfach deshalb, weil sie spontane Vorstellungen und Vorurteile bestärkt. Wobei der die Welt der Architektur in zwei Lager teilende Diskurs seine praktische Kohärenz der Tatsache verdankt, dass er auf der Anwendung generativer Schemata beruht, die sich auf den Gegensatz zwischen einer überholten Vergangenheit und einer fortschrittlichen Zukunft, zwischen Tradition und Moderne zurückführen lassen.

Wie bei jeder Krise, insofern sie dazu zwingt, sich zu entscheiden und alle Stellungnahmen auf eine in einem bestimmten Feld eingenommene Position hin zu organisieren, wird der in Wahrheit fließend-verschwommene Verlauf zwischen zwei Polen durch eine Trennung in klar geschiedene Lager ersetzt. So besteht das Ergebnis für Le Corbusier ganz klar aus cinq projets académiques und quatre modernes.(27) Der Schnitt in ein an sich diffuses Gewebe, zu dem in normalen Zeiten keine Notwendigkeit besteht, bewirkt, dass selbst die unterschiedlichsten Akteure in Lager eingeschmolzen werden. So wird den Juroren Moser, Berlage, Hoffmann und Tengbom gleichwie den von ihnen erwählten »modernen« Preisträgern (Le Corbusier und Jeanneret, Schweiz; Fahrenkamp und Deneke, Deutschland; Pulitz, Klophaus und Schoch, Deutschland; Eriksson, Schweden) eine Kohärenz unterstellt, die jedoch nur schwer begründbar ist. Was gestalterische Grundmuster betrifft, können freilich klare Unterschiede zwischen Le Corbusiers Projekt und den fünf der klassischen Formensprache verpflichteten Projekten ausgemacht werden – mit asymmetrischen Kompositionsmustern, dem Verzicht auf das Frontalitätsprinzip, dem frei gewichteten Spiel von klaren Baukörperformen und der Beziehung zur Umgebung sind einige Merkmale des Herausforderers benannt –, doch die unterstellte Einheit der als »modern« benannten Projekte ist selbst mit oberflächlichsten Merkmalen kaum zu fassen.(28) Die Vagheit und Unschärfe des Begriffs »modern« hält jedoch – obwohl ihm zunächst eigentlich nur die praktische Funktion zukommt, die Zeit zwischen unterschiedlichen Produktionsmustern einzuführen – von seiner Verwendung nicht ab. Im Gegenteil, der nur aus dem Kampf beziehungsweise der Mobilisierungsarbeit heraus zu verstehende Begriff »modern« wird fortan von internen Interpreten, Kunst- und Architekturhistorikern übernommen und zu einem praktischen Instrument der Klassifizierung, zu einem Stilbegriff ausgebaut – weshalb es uns heute (nachdem die Genese des Begriffs vergessen worden ist) auch möglich ist, ganz unmissverständlich von »moderner Architektur« oder der »klassischen Moderne« zu sprechen.

Die antagonistische Spaltung in Lager wird von Le Corbusier in Une maison – un palais auch in einem Bild symbolisch zum Ausdruck gebracht. Den mit Lorbeer und Eichblatt als siegreich ausgewiesenen »Akademikern« stehen die mit einem Totenkopf versehenen »Anderen« gegenüber, wobei freilich auf der Seite der unterlegenen Partei nur sein eigenes Projekt aufscheint (das wie die Gegnerprojekte in Zahlen Gestalt annimmt, den von Experten geschätzten Baukosten). Die weiteren »Anderen«, die ebenso in die engere Auswahl gekommen sind, finden in der Abbildung (wie übrigens in der gesamten Dokumentation des Wettbewerbes) keine Berücksichtigung. Das Bild spricht damit auch vom mutigen Einzelkämpfer, auf dessen Schultern die ganze Last eines Epochenkampfes lastet, der nicht nur die Ungerechtigkeit zu verkraften hat, dass diejenigen zum Zug gekommen sind, die die Baukosten um das Vielfache überschritten haben, sondern auch noch die Schmach, von Akteuren vom Platz verwiesen worden zu sein, die bereits alle Anzeichen sozialer Alterung aufweisen. Wobei letztere, durch den Sieg als Hüter der kulturellen Ordnung bestätigt, im Übertrumpfungsversuch des Herausforderers freilich nur eine ungeheuerliche Anmaßung sehen können. So spricht Nénot von »Barbarei« und »Antiarchitektur, die seit einigen Jahren Furore macht, [...] Sie negiert alle schönen Epochen der Geschichte und stellt auf alle Fälle eine Beleidigung für die Sinne und den guten Geschmack dar«. Doch der Sieg gibt ihm Recht, weshalb er erleichtert feststellt: »Sie ist unterlegen, alles ist gut.«(29)

Nun spielt sich die Revolution Le Corbusiers zwar im Rahmen der permanenten Revolution ab, die sich im Feld der Architektur als legitimer Transformationsmodus durchgesetzt hat, doch was die Struktur des Feldes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auszeichnet ist, dass sich der fortwährende, als querelles des anciens et modernes bekannte Konflikt zwischen den Etablierten und den Neuankömmlingen ausgesprochen zuspitzt, sind doch im Gegensatz zu den Neuerern der Vergangenheit, die ihre Innovationen innerhalb bestehender Grundmuster vollziehen, die Neuerer der Gegenwart dazu entschlossen, die überkommenen ästhetischen Programme völlig hinter sich zu lassen. Der Bruch mit alten Produktionsmustern ist also vergleichsweise radikal, weshalb selbst ein Neuerungen gegenüber aufgeschlossener Juror wie Tengbom dem Entwurf von Le Corbusier und Jeanneret keinerlei Chancen einräumt: »Ich habe niemals an die Möglichkeit geglaubt, Corbusiers Projekt durchführen zu können; es war zu einseitig, zu neu, zu ungewohnt. Es war künstlerisch hochstehend, aber mehr Papier als Wirklichkeit. Ich bin überzeugt, dass es besser gewesen wäre, wenn wir uns geeinigt und nicht einen so herausfordernden Entwurf hervorgeführt hätten.«(30) Vor allem macht auch die Stellungnahme von Jungo, dem schweizerischen Direktor für Bundesbauten, deutlich, dass der Entwurf nicht den vorherrschenden Vorstellungen eines Repräsentativbaus entspricht: »Es bricht radikal mit gewissen überlieferten Gewohnheiten und weist auf eine Neuorientierung in der Architektur hin. In ihrem Bestreben, Neuerungen herbeizuführen, wenden die beiden Architekten bei diesem Gebäude, das trotz allem eine repräsentative Funktion erfüllen muss, eine Formensprache und Konstruktionsweise an, die in dieser schematischen Ausgestaltung doch eher für einen reinen Zweckbau geeignet wären.«(31) Gemessen am Alter (das heißt an der Ära des Auftretens) des neuen Produktionsmusters in der relativ autonomen Geschichte des Feldes der Architektur kam der Entwurf also zu »früh«.

Dass die akademischen Fortsetzer althergebrachter Stile den Kampf für sich entscheiden konnten, hat nun aber nicht nur mit den Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern der Beurteilenden zu tun, sondern auch mit verborgenen Mechanismen der Macht. Denn so gleichwertig die Produkte auch nebeneinander stehen mögen, solange die Anonymität der Produkte gewahrt ist, so ungleichwertig stehen sie einander in der engeren Auswahl gegenüber, wenn die Verfasser der Projekte bekannt sind. Faktum ist, dass manche Akteure über ein spezifisches symbolisches Kapital verfügen (ein ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital, das als symbolisches Kapital funktioniert),32 das den Neuankömmlingen (und vor allem Autodidakten wie Le Corbusier) nicht zu eigen ist – ausgestattet mit Titeln und gekrönt mit herausragenden Funktionen und Mitgliedschaften in den Konsekrations-, Legitimations- und Reproduktionsinstanzen (Nénot etwa ist, den Angaben in der »Appendice« zufolge,(33) Präsident der Académie des Beaux-Arts, des Institut de France und des Salon des Artistes Français, aber auch Erbauer der Sorbonne) steht hinter bestimmten Entwürfen auch das Gewicht eines Namens beziehungsweise das Gewicht einer Institution, das wiederum an nationale Vormachtstellung geknüpft ist.

Gerade die französische Académie, die sich im absolutistischen Frankreich zu einem Machtinstrument des Staates auf künstlerischem Gebiet entwickelt hat und im 18. und 19. Jahrhundert das Monopol auf Konsekration in baukünstlerischen Belangen für sich beansprucht, dürfte in diplomatischen Kreisen noch immer einen Vertrauensvorschuss genießen, und auch der Umstand, dass französische Politiker in der übernationalen Vereinigung des Völkerbundes auf die Vormachtstellung Frankreichs als Kulturnation pochen, darf nicht vergessen werden.

Auf mehreren Ebenen ist also eine Form der symbolischen Macht im Spiel, die aus den Akteuren mit vermeintlich gleichen Chancen sehr ungleiche Teilnehmer macht und die Akteure beziehungsweise ihre Position ganz unabhängig von den erbrachten Leistungen mit Gewinnchancen ausstattet. Eine Macht, die umso reibungsloser zirkulieren, umso besser ihre Wirksamkeit entfalten kann, je bedingungsloser sie Anerkennung findet. Und das tut sie vor allem – wie im Fall der zweiten, aus fünf Diplomaten bestehenden Fachkommission zu sehen – bei feldexternen Personen, also jenen, die keine (oder nur begrenzt über) fachspezifische Kompetenz verfügen und geneigt sind, die Realität der sozialen Fiktionen (Ehrentitel, Würden) über die Projekte zu stellen. Le Corbusier selbst spricht es an, wenn er sagt: »Anstatt ein Projekt zu wählen, haben sie einen Architekten gewählt.«(34) Mit der einseitigen Bestallung des Komitees durch feldexterne Personen, gegen die freilich nicht nur Le Corbusier, sondern auch die Fachverbände Sturm laufen (womit sich die Architekten für die Autonomie ihres Feldes einsetzen – dem Prinzip der Ehre folgend, will niemand von »Dilettanten« bewertet werden), sind aber auch die spezifischen Geschmacksausprägungen einer konservativen Elite im Spiel. Die heteronomen Kommissionsmitglieder sind nämlich nicht nur für den durch Titel und Institution verbrieften Rang und Namen arrivierter Architekten empfänglich, sie gehören auch einem Personenkreis an, für den in der Regel Avantgardeprodukte erst dann anerkennungswürdig sind, wenn diese kanonisiert sind.

Le Corbusier, der sich bislang eher mit kleineren Projekten (vor allem exquisiten Villenbauten) durchgeschlagen hat, das heißt Abnehmer in jenem spezifischen Milieu gefunden hat, das dem avantgardistischen Geschmack der Künstler immer aufgeschlossen gegenüber ist (etwa den Banker Raoul la Roche oder den wohlhabenden amerikanischen Journalisten William Cook), der auch dank seiner persönlichen Überzeugungskraft Vertreter einer ökonomisch potenten Elite zur Durchführung seiner Experimente gewinnen konnte (etwa Großindustrielle wie Henri Frugès oder Daniel Voisin), ist im Zuge der Auftragsvergabe eines Großprojektes auf die ganze Realität seines Feldes zurückgeworfen. Auf ein Feld, das nicht nur als ein Kräftefeld zu denken ist, in dem einzelne Produzenten, künstlerische Generationen und ästhetische Präferenzsysteme um Legitimität konkurrieren, sondern auch als ein Feld, das externen Zwängen unterworfen ist, das in seinen Beziehungen zum Feld der Macht beziehungsweise in seiner Abhängigkeit von Auftraggebern und Politik zu sehen ist. Auf ein Feld, das zugleich aber auch selbst Zwänge und symbolische Gewalt hervorbringt und auszuüben vermag (in Form von Sprache, Klassifikationen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata etc.) – und spätestens da, wo auch die nicht unmittelbar bewussten Formen symbolischer Macht ihre Produktions-, Funktions- und Wirkungsweisen in einer Befragung einberechnet werden, wäre das Forschungsprogramm Bourdieus in seinen Grundlagen erkannt, könnten die Forschungsinstrumente (wie sie etwa mit seiner Kapitaltheorie oder den Begriffen »Feld« und »Habitus« gegeben sind) als aufklärerisches Werkzeug wirksam werden und wären davor gefeit, zu sinnentleerten Gemeinplätzen zu werden.

UmBau, Sa., 2005.06.18



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