Editorial

Die Sehnsucht nach Stille, Ruhe, Beschaulichkeit und vielleicht auch innerer Einkehr kennen wir alle. Der hektische Alltag mit viel Kommunikation, fachlichem Austausch und Leistungsdruck lässt für die Konzentration auf das Wesentliche kaum noch Zeit. So ist es bezeichnend, dass die Stille ihren architektonischen Ausdruck hauptsächlich in sakralen Räumen und in Bauten der Bestattungskultur erfährt – Gebäuden also, in deren Raumprogramm ganz eigene, universelle Themen eingeschrieben sind, wie z. B. Reizverminderung, Innerlichkeit, Konzentration.

Der Bedeutungsverlust der christlichen Konfessionen und die gleichzeitig zunehmende Diversität der Weltanschauungen verlangen verstärkt nach neutraler Gestaltung solcher, vom Alltag abgeschirmter Rückzugs- und Versammlungsräume.

Man darf das nicht mit Langeweile oder Austauschbarkeit verwechseln – im Gegenteil, die Kunst der Reduktion ist ein Feld für Könner und Kenner des Materials und berührt vielerlei technische und gestalterische Fragen, von der Fügung bis hin zur Lichtführung. Im Folgenden finden Sie einige Beispiele dafür, auf welche Art und für welche unterschiedlichen Anforderungen das gelingen kann. | Achim Geissinger

Gang zur Ewigkeit

(SUBTITLE) Aussegnungshallen des jüdischen Friedhofs Bushey (GB)

Der jüdische Begräbnisritus verlangt nach einer prozessionshaften Abfolge räumlicher Situationen. Im Grüngürtel der britischen Hauptstadt ließ sich ein raumgreifendes Programm mit überdachten Wandelgängen und einzelnen Gebäuden für Zusammenkunft, Gebet und Technik realisieren. Die archaisch anmutenden Formen aus zementgebundenem Stampflehm sind im Gegensatz zu den Gräbern durchaus nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeitlichkeit alles Seins ist im Entwurfsgedanken enthalten, der Rückbau bereits einkalkuliert.

Der stärkste Eindruck, der sich bei der Annäherungen an die neuen Gebäude auf dem New Jewish Cemetery in der kleinen Schlafstadt nordwestlich von London ergibt, ist jener extremer Einfachheit in Form und Material, gestützt durch das Fehlen aufdringlicher Details. Doch ist es genau diese gestalterische Zurückhaltung, insbesondere die schmucklose körperliche Präsenz, die das Projekt so bemerkenswert macht.

Auch die Verhandlungen zwischen den Architekten und dem Bauherrn »United Synagogue«, einer Vereinigung orthodoxer Synagogen in Großbritannien, verliefen ungewöhnlich. Die Architekten hatten es nicht mit einem einzelnen Repräsentanten des Bauherrn zu tun, nicht einmal nur mit einem Ausschuss: Bei Gestaltungsfragen waren stets mehrere Gruppen beteiligt; jedes Entwurfsdetail wurde mehrfachen, voneinander unabhängigen Begutachtungen unterzogen.

Dass es sich bei diesem bescheiden auftretenden Arrangement aus Gebäuden und Landschaftsgestaltung um Friedhofsbauten handelt, ist nicht offensichtlich. Sie entsprechen keiner Typologie, und sie sind außerdem nur auf Zeit gebaut: Wenn die 17.000 neuen Grabstellen südöstlich des angestammten Friedhofsgeländes belegt sind, wird es hier keine Bestattungen mehr geben, denn die Gräber bleiben bestehen. Stattdessen werden die Gebets- und die Aufbahrungshalle obsolet. Dies ist einer der Gründe, weshalb Andrew Waugh, Mitbegründer des Büros Waugh Thistleton Architects, entschied, die Gebetshallen aus verstärktem Stampflehm (mit Ton- und Zementanteilen) zu errichten. Alle Gebäude, auch die Stützen aus Lärchen-Leimholz, die die begleitenden Kolonnaden entlang einer Nord-Süd-Achse bilden, sind – in der Theorie – biologisch abbaubar; ein möglicher Zustand als Ruine ist mit hinein gedacht, die Formel »Erde zu Erde« liegt nicht fern. Tatsächlich sind die zementverstärkten Wände aber sehr dauerhaft, und so wird man am Ende der Nutzungsdauer zunächst die Dächer aus Brettschichtholzträgern samt PIR-Dämmung und Zinkeindeckung separat rückbauen müssen.

Jenseits gewohnter Pfade

»Wir hatten nie zuvor ein Gebäude außerhalb einer Stadt gebaut«, erklärt Andrew Waugh. »Immer hatte sich alles darum gedreht, das Baufenster einzuhalten und dabei alle Räume mit ausreichend Licht zu versorgen. Von daher war es eine neue Erfahrung, an einem regnerischen Tag hier inmitten von Kohlfeldern zu stehen.« Eine der ersten Entscheidungen war, die Gebäude an der tiefst liegenden Ecke des Geländes zu platzieren, um ihre Präsenz zu minimieren. Die Grabfelder werden durch einen Weg erschlossen, der die zentrale Achse des alten Friedhofs fortsetzt.

Auch der Einsatz von Stampflehm war neu für Waugh Thistleton. Doch das Büro zeichnet sich u. a. durch seinen starken Hang zur Vorreiterschaft aus. Beispielsweise war es das erste in Großbritannien, das große Projekte in furniertem Brettschichtholz ausführte (Gelegenheit zu einem Werkvortrag von Andrew Waugh gibt es auf der Fachtagung Holzbau am 7. November in Stuttgart). Der Versuch, den österreichischen Stampflehm-Spezialisten Martin Rauch (s. u. a. Hort Allenmoos in Zürich db 12/2013) zu kontaktieren, scheiterte zwar, doch machten die Tragwerksplaner Elliot Wood ein australisches Fachunternehmen mit einem auf der Insel ansässigen Partner, Bill Swaney, ausfindig, der eine Musterwand aus 500 mm dicken Stampflehmblöcken errichtete, die aus Sand, Kalkstein, Kies und 5 % Zement sowie Ton bestehen. Dieser stammt aus eigens angelegten Gruben und Tümpeln an den beiden tiefstgelegenen und feuchtesten Stellen des Baugrundstücks. Swaney und sein kleines Team hausten dort in Wohnwagen, die neben dem Schiffscontainer mit stählernen Schaltafeln standen, und stellten in zehn Wochen die Stampflehm-Konstruktion fertig.

Form und Grundriss der Friedhofsgebäude nehmen klaren Bezug auf die Kapellen und das Krematorium von Erik Gunnar Asplund und Sigurd Lewerentz auf dem Waldfriedhof in Farsta bei Stockholm. Anders als dort sind die Bauten in Bushey jedoch keine Etüde in architektonischer Raffinesse. Die Lehmwände der Kapelle strahlen eine poetisch uneindeutige Monumentalität aus, und ihre Erscheinung ist so unspektakulär wie die koscheren Särge aus Hartfaserplatten mit Tragegriffen aus Hanf, die bei jüdischen Begräbnissen meistens zum Einsatz kommen (in Israel werden die Toten vor der Bestattung lediglich in Tallitot, Gebetsmäntel, gehüllt).

Die Art und Weise, wie eine Beerdigung abläuft, definierte die Grundrisse, und die Anordnung der Gebäude – nämlich linear. Abgesehen vom Empfangsgebäude, das aus Rücksicht auf eine sehr alte Eiche aus der Achse heraus­gedreht wurde, ist der Ausrichtung der Hallen und der Wandelgänge bereits etwas Prozessionshaftes eigen, von der Ankunft bis zur Beisetzung. Es entstehen erinnerliche, aber nicht überdramatische Stimmungen für die Trauerriten in den Gebetshallen und in den offenen Versammlungsbereichen.

Trauergesellschaft trifft im Südosten auf dem Parkplatz ein und sammelt sich unter der Kolonnade vor dem hölzernen Empfangsgebäude, um der Stützenreihe dann entlang der Fassaden der Gebetshallen zu folgen.

Der Säulengang darf die Trauerhallen nicht berühren, genauso wenig wie die kleinen Räume neben den Hallen für die Kohanim, die Priester, denn der jüdische ­Begräbnisritus verbietet den Kontakt zwischen weltlichen und spirituellen Bereichen. So darf sich auch der Kohen nicht im selben Raum wie ein Sarg mit Leichnam aufhalten und leitet daher die Feier von außen, von einem Platz aus, der sich etwa 1 m vor den östlichen Türen der Trauerhalle unter einer separaten Dachkonstruktion aus Corten befindet.

Durch massige Corten-Tore betreten die Gäste die Halle von Westen her, um hier zu beten und zu trauern, und verlassen sie anschließend durch ebenso großformatige Tore auf der Ostseite. Der trapezförmige Grundriss der beiden Gebäude enthält jeweils eine von der Geraden abweichende Fassade; diese liegen sich gegenüber und bilden einen offenen Platz, auf dem die Nachrufe gehalten werden, bevor die Gruppe dem Sarg zum Grab hin folgt.

Das Corten stellt einen reichhaltigen visuellen und haptischen Kontrast zu den Stampflehmblöcken her, deren Oberflächen sehr uneben sind und unregelmäßige Färbungen zeigen. Die unbehandelten Oberflächen sind von den Spannlöchern und groben Schalungsfugen strukturiert; die Farben und Texturen ändern sich je nach Lichteinfall. Die handgefertigte Anmutung ist angemessen – deutet sie doch auf jene Erdklumpen voraus, die nach jüdischer Tradition von den Begräbnisteilnehmern auf die Särge geworfen werden.

Transitionsraum

Die Zurückhaltung der Architektur wirkt v. a. in der Atmosphäre und Materialität der Gebetsräume. Insbesondere die Art und Weise, wie Licht und Schatten auf die Lehmwände fallen, schafft eine beruhigende Stimmung genau dort, wo die Trauernden ihren Gefühlen expressiv Ausdruck verleihen.

Eine Zweiteilung symbolisiert auch hier den Aspekt des Voranschreitens und das transitive Moment des Ritus: Von einem liegenden Fenster über dem Eingang aus streift Licht entlang der geneigten Dachfläche weiter in den mit ­Eichenlatten ausgeschlagenen vorderen Raumteil, der für das Hier und Jetzt steht. Gleichsam von hinten, aus zunächst unsichtbarer Quelle, erhellt ein weiteres Fenster von Westen her den überhöhten hinteren Teil der Halle, der die Stampflehmstruktur zeigt und damit auf die letzte Ruhe in der Erde ­vorausweist. Je nach Witterung und Lichteinfall ergeben sich leuchtende Streifen auf Wänden und Boden. Das Licht, und auch der Schatten, erzeugen ­wunderbar feine Abstufungen in der Textur der Oberflächen.

Der Boden fällt ganz leicht von Westen nach Osten, zum gegenüberliegenden Ausgang hin ab – eine Referenz sowohl an Le Corbusiers sakrale Bauten in Ronchamp und Firminy als auch an so manche Renaissancekirche. In Bushey ist die Neigung jedoch nicht einfach eine smarte architektonische Idee, sondern soll buchstäblich den Beginn der Rückkehr des Körpers zur Erde spürbar machen.

Die Hallen werden über Niedrigtemperatur-Konvektionsheizungen im Boden geheizt. Das genügt, denn Anwesende tragen stets einen Mantel und halten sich hier nie länger als 20 Minuten auf.

Die ganze Anlage atmet einen Geist von Rechtschaffenheit und Anstand, der sich aus den ungewöhnlich detaillierten Diskussionen mit den Bauherrenvertretern speist, aus der Sorgfalt, mit der man die Baukörper so positionierte, dass sie der Gefahr der Dominanz über das Gelände entgehen, und aus der bedeutungsvollen, sinnstiftenden Qualität der Materialien.

[Aus dem Englischen von Dagmar Ruhnau]

db, Mo., 2018.11.05

05. November 2018 Jay Merrick

Licht, Luft und Holz

(SUBTITLE) Bergkapelle bei Kendlbruck (A)

Diese Bergkapelle im Salzburger Lungau ist ein Statement – für konstruktive Klarheit, für die Ausdrucksmöglichkeiten eines archaisch anmutenden Raums und für den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Zugleich macht der Strickbau das Material Holz auf eine Weise spürbar, die unwillkürlich zum Nachdenken über das menschliche Sein in der Natur anregt.

Allein der Weg zu dieser Bergkapelle ist schon ein Ereignis. Von Ramingstein bis dorthin sind es Luftlinie zwar nur 4 km, allerdings liegen zwischen den beiden Punkten 900 Höhenmeter, die sich nur in einer zwei bis drei Stunden langen Wanderung oder im Auto auf einer serpentinenreichen, 14 km langen Forststraße zurücklegen lassen – vorausgesetzt man verfügt über den Schlüssel für die Schranke im Tal.

Der Forstweg führt zu einem 200 ha großen Waldgrundstück, das Johann Müllners Familie seit vielen Generationen bewirtschaftet. Die Familie lebt seit jeher im Tal, hat aber vor 150 Jahren in 1 850 m Höhe ein Steinhaus errichtet, das seitdem als Alm dient. Der Standort von Haus und daneben in Holz ­gebauter Scheune direkt unterhalb eines Bergrückens ist klug gewählt, sind die Gebäude in einer kleinen, von Felsen flankierten Senke doch vor heftigen Winden und winterlichen Schneestürmen geschützt, während sich zugleich der Blick auf ein atemberaubendes Alpenpanorama eröffnet. Nutznießer dieses Ausblicks sind vereinzelte Wanderer und Tourenskigeher sowie allsommerlich die in den Wiesen rund um die Häuser grasenden Jungkühe eines benachbarten Bauern. Seit Mai letzten Jahres steht etwas oberhalb dieses Ensembles eine stets offene Bergkapelle, deren Bauherr Johann Müllner ist.

Diese Kapelle hat keinen Namen. Und sie ist, obwohl gesegnet, kein konsekrierter Gottesdienstraum im kirchlichen Sinn. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass sie keine spirituelle oder architektonische Bedeutung als ­Sakralraum hätte. Dass das Gegenteil der Fall ist, hat mit ihrer Geschichte zu tun, und mit den Menschen, die sie geformt haben.

Nutzung lokaler Ressourcen

Am Anfang stehen die Jugendfreunde Johann Müllner und Hannes Sampl, die sich vor einigen Jahren nach langer Zeit zufällig wiederbegegnet sind. Der eine studierte Holz- und Naturfasertechnik und hatte als Waldbauer kürzlich den elterlichen Hof übernommen, der andere begann nach einer Ausbildung zum Möbeltischler sowie einem Architekturstudium gerade mit dem postgradualen Lehrgang »überholz« an der Kunstuniversität Linz. Das Gespräch fiel schnell auf die Idee einer Kapelle, die Müllner gewissermaßen als Ersatz für die in den 60er Jahren wegen eines Straßenneubaus abgebrochene Hofkapelle errichten wollte. Als Baugrundstück hatten die beiden von Anfang an nicht etwa den Hof als vielmehr die Alm im Sinn – jenen Ort, der im Wortsinn über eine natürliche Erhabenheit verfügt. Sampl, der aus dem Projekt schließlich seine Abschlussarbeit machte, war begeistert, nicht zuletzt wegen der zwei einzigen Vorgaben, die zur Umsetzung der Idee im Raum standen: Erstens sollten sowohl das Baumaterial als auch sämtliche Ressourcen, wie z. B. Arbeitsmittel und -leistungen, im lokalen Umfeld verfügbar sein. Zweitens musste der Bau in Selbstbauweise realisiert werden können – aus eigenem Holz und gemeinsam mit der Familie und Freunden.

Es spielt keine Rolle, ob die Besucher, die den Weg zur Kapelle gefunden haben, von diesen Geschichten wissen oder nicht. Was sie dort so oder so sofort spüren, ist jene unprätentiöse Dezidiertheit, von der schon die Idee geprägt war. Ziel war ja kein opulenter Kirchenraum, der für wirtschaftliche und religiöse Potenz stehen sollte. Ja, es ging noch nicht einmal darum, die Kapelle allein dem christlichen Glauben zu widmen. Vielmehr sollte sie einen zwanglosen und in jeder Hinsicht stillen Andachtsraum für alle bieten, Raum der Kontemplation, des In-sich-Gehens und des Zu-sich-selbst-Findens. Dieses jedem Glauben innewohnende Streben nach Ursprünglichkeit und Reinheit widerspiegelt der fensterlose, ungedämmte Neubau ohne außen angebrachte religiöse Symbole nicht zuletzt in seiner einfachen Konstruktion.

Gleiche Holzbalken für Boden, Wand und Dach

Über einem schlichten Sockel aus unweit des Bauplatzes gefundenen Natursteinen und einer umlaufend leicht zurückspringenden Lärchenholzschwelle erhebt sich die 3,24 m breite und 5,52 m lange Kapelle als reiner Holzbau. Wände, Boden und die Dachkonstruktion bestehen aus unbehandelten, sägerauen einheitlich 12 x 12 cm großen Fichtenholzbalken mit doppelter Nut-Feder-Verkämmung, die ohne zusätzliche Verbindungsmittel – wie z. B. Leim, Metallnägel oder -schrauben – zu einem Blockbau »verstrickt« wurden.

Mittels Schwalbenschwanzverzinkung übereck verbunden, bilden die Balken vier verwindungssteife Wände. Für zusätzliche Stabilität sorgen 16 mm dicke, vertikale Lärchenholzdübel, die immer zwei Balken miteinander verbinden. Ins abgebundene, aber noch feuchte Holz eingebracht, quollen die trockenen Dübel auf und sorgten dadurch für eine noch festere Verbindung. Zur Ausbildung des 63° steilen Satteldachs wurden die längsgerichteten Balken dann von Lage zu Lage jeweils um die halbe Balkenbreite nach innen versetzt, bis sie schließlich zwei geschlossene, abgetreppte Dachflächen ausbildeten. Den Witterungsschutz für das Dach übernehmen zweilagig auf eine Unterkonstruktion genagelte Lärchenholzschindeln.

Genaue Ausrichtung nach Osten

Zwischen den äußeren Holzlamellen im Giebeldreieck und der um 84 cm zurückversetzten Außenwand entsteht an der westlichen Eingangsseite ein leicht erhöhter Vorraum. Dieser kann von Wanderern als Rastplatz genutzt werden, v. a. aber bietet er Kapellenbesuchern die Möglichkeit, vor Eintritt ins Gebäudeinnere noch einmal kurz innezuhalten und im Schutz der Seitenwände die Berglandschaft wirken zu lassen. Wer nun durch Anheben eines runden Holzgriffs die schlichte Holztür öffnet, findet sich in einem vollkommen leeren Raum wieder, der nur aus geschichteten Holzbalken und Licht besteht. Die östliche Außenwand ist in gleißend helles Licht getaucht, das durch eine weitere Schicht aus Holzlamellen im äußeren Giebeldreieck auf den Boden fällt – ebenso wie eine sanfte Brise würziger Bergluft, die den Raum durchströmt und im Winter auch Schnee in den Raum weht. Die Lamellen werden – vom Eingang aus betrachtet – von einem massiven, ebenfalls um 84 cm eingerückten Giebeldreieck verdeckt, sodass hier ein dem Vorraum ganz ähnlicher Zwischenbereich entsteht. In dieses Giebeldreieck ist ein Kreuz einge­arbeitet, durch das dank der genauen Ausrichtung der Kapelle jedes Jahr am 15. August bei Sonnenaufgang direktes Sonnenlicht eintritt. Dieser Tag, das Fest Mariä Himmelfahrt, hat für die Familie eine besondere Bedeutung und wird daher alljährlich feierlich begangen. Als Kreuzform wurde bewusst nicht das an die Kreuzigung Jesu erinnernde lateinische Kreuz gewählt, sondern ein griechisches Kreuz, eines der einfachsten und ältesten Symbole religiösen Glaubens.

Spiritualität und Geborgenheit

Auch wer nicht selbst wahrgenommen hat, dass dieser Standort von einem Radiästheten als Kraftplatz identifiziert wurde, spürt doch die von diesem Raum ausgehende Spiritualität, die kraftvolle Stille, die Reduzierung auf das Sein in der Natur – das leise Rauschen der Bäume ist zu hören, sanfte Windstöße bewegen die Luft und halten das fantastische Landschaftsbild vor der Tür in der Vorstellung präsent. Das Gefühl von Entrücktheit bei gleichzeitiger Geborgenheit ist beim Verlassen der Kapelle fast noch stärker als beim Betreten, denn der Kontrast zum reduzierten Innern könnte kaum größer sein. Der Blick auf den umliegenden Wald rückt die Wirkung der im Umkreis von wenigen Kilometern geschlagenen Bäume ins Bewusstsein, als befinde man sich im Innern des Waldes, im Innern der Bäume gar. Das macht nicht der Raum allein, sondern auch die Tatsache, dass alles unmittelbar aus dem Umfeld stammt.

Wie geplant, haben Müllner, Sampl sowie einige Familienmitglieder und Freunde die Kapelle gemeinschaftlich und unentgeltlich errichtet. Genauso sorgfältig wie den Bauplatz haben sie die Bäume ausgewählt und in der saftarmen Zeit im November bei abnehmendem Mond gefällt und anschließend bearbeitet. Die Frage, was die Kapelle kostete, können weder Sampl noch Müllner beantworten. Nicht weil sie diese für unangebracht halten, sondern schlicht weil eine solche Summe kaum berechenbar ist, wenn sämtliche Ressourcen und Arbeitsleistungen selbst eingesetzt werden. Das Teuerste am ganzen Bau, sagt Müllner scherzhaft, sei am Ende wohl die Verpflegung der Helfer gewesen.

db, Mo., 2018.11.05

05. November 2018 Roland Pawlitschko

Wald-Achtsamkeit mit Kompromissen

(SUBTITLE) Meditationshaus in Krün

Soll der Pavillon seinen Zweck erfüllen, müssen Architektur-Touristen unbedingt draußen bleiben: Er dient als Rückzugsraum für Yoga und die in Japan aufgekommene Therapieform »Waldbaden«. Als Architekten hat man sich gezielt einen Meister der Verbindung von Natur und sensiblen Bau-Kunstwerken ausgesucht – aber auch dieser unterlag beim Bauen in den Bergen dem Zwang zum Kompromiss und musste die angestrebte Einheit von Bild und Konstruktion aufgeben.

Auch wenn Kengo Kuma inzwischen große Kulturbauten realisiert – gerade erst das Victoria and Albert Museum im schottischen Dundee –, ist er ein Meister der kleinen Form geblieben. Für den Anti-Helden der japanischen Architektur ist »Smallness« viel mehr als eine Fingerübung; sie ist Lebensprogramm und Weltmodell. Dass er derzeit als Nr. 5 der Architektur-Weltmeister gehandelt wird, spricht für seine Virtuosität, zumal eben dieses Star-System Architektur bisher allein in den großen Metropolen und als laute Landmarke gelten ließ. Kengo Kuma profilierte sich dagegen meist auf dem Lande. International bekannt machten ihn vier Bauten in dem waldreichen Bergstädtchen Yusu­hara weit im Süden Japans.
Mitten im Wald steht auch sein neues Werk, bei einem Fünf-Sterne-Resort rund 15 km hinter Garmisch, für das nachhaltiges Bauen zur angebotenen Wellness gehört.

Vorigen Sommer lud der Hotelier ihn ein und man stapfte gemeinsam zwei Stunden durch den Wald, um den rechten Platz für das gewünschte Meditationshaus zu finden. Dass Kuma insgesamt viermal hierher kam, zeigt, wie nah ihm Landschaft und Bauaufgabe gingen: Die Szenerie des Hochtals am Fuße des Wettersteingebirges, auf über 1000 m zwischen Karwendel und Zugspitze gelegen, erinnert wirklich ein wenig an Japan, wie man es von Zeichnungen kennt. Kuma äußerte, dass er hier eine Verwandtschaft spürt. Und ein religiöses Gebäude fehlte bislang noch im umfangreichen Œuvre. Über seinen Bezug zum Wald sagt er im Gespräch: »Ich bin in einem alten Holzhaus aufgewachsen und gehe immer noch sehr gern in den Wald. Vielleicht ist das sogar eine noch ältere Erinnerung: Die Menschen wurden im Wald geboren, und er hat sie oft beschützt.«

Waldesruh und Mimikry

Wer dem schmalen Pfad folgt, der sich vom Hotelparkplatz 300 m durch den Fichtenwald schlängelt, lässt den Trubel des 130-Zimmer-Hotels bald hinter sich. Auf dem kleinen Hügel herrscht Waldesruh.

»Meine erster Gedanke war: Wie schaffe ich Harmonie mit dem Wald? Wir wollten ein bescheidenes Bauwerk schaffen«, erklärt der Architekt. »Der Wald ist wie eine Art Filter für das Licht, die Luft. Die Blätter, die Zweige, das schafft eine ›weiche‹ Atmosphäre. So ist der Wald das Vorbild für unsere Details.«

Die Rückseite des Gebäudes, der man sich zuerst nähert, folgt vollkommen dieser Mimikry: Ein Geflecht aus ineinander gesteckten kurzen Brettern beschirmt unter dem flachen Walmdach die Stirnwand. Das Material, Weiß­tanne aus der weiteren Umgebung, bezeichnet der Architekt als »leise«, weil sie sehr homogen wirkt und wenig Maserung erkennen lässt. Mit der Zeit, wenn das Holz vergraut und Flechten sich darauf ansiedeln, wird der Bau­körper in seiner Umgebung fast aufgehen, so eins ist er materiell mit ihr.

Mies mit Mütze – und Brettergewitter

Beim Umrunden des Gebäudes auf der kleinen Lichtung schält sich aus dem Geflecht indes ein kristalliner Glaskörper, wie wir ihn von Kuma schon kennen – etwa im filigranen Glass/Wood House in New Canaan und zuletzt im Coeda House in Shizuoka (s. db 9/2018, S. 62). In bester Mies‘scher Tradition trennt nur eine bodentiefe Scheibe den mit Eichenparkett belegten Hauptraum vom moosigen Außenraum. Das leicht auskragende Walmdach entpuppt sich indes als komplexere, aus fünf Dreiecken gefügte Konstruktion mit einem kleinen Fenster an der Spitze.

Was nun aber diesen »Mies mit Mütze« besonders macht, ist das Weiterweben oder eher -wabern des Holzgeflechts: Aus der noch disziplinierten, wohlgefügten Rückseite, hinter der übrigens eine massive Betonwand mit WDVS steht, entwickelt sich die hölzerne zweite Haut nach und nach zu einer Art Wolke oder Kissen, die mal hier, mal da in wechselnden Winkeln unter der Traufe hängt – Kumas Filterschicht in Analogie zum Wald. Bestand diese äußere Schicht bei seinen anderen Projekten aus sehr vielen feinen »Pixeln« unterschiedlichen Materials, so sind es hier insgesamt »nur« 1 550 Bretter, deren Mehrzahl im Innenraum das raumhaltige Dach ausfüllen.

Dort entlädt sich über dem transparenten Hauptraum ein regelrechtes Brettergewitter, das wenig von einer Akustikdecke hat, sondern eher an Kurt Schwitters’ expressionistisch wuchernden Merzbau von 1923 erinnert. Das ­Innen und das Außen des Holzgewölks sind dabei durch die rechtwinkligen Glasscheiben strikt getrennt.

Kumas Kompromiss mit Stahl: das Tragwerk

Wer von ferne noch mutmaßte, die Bretter hätten – aufgrund ihrer relativen Größe und nach Art von Kumas berühmten Kantholz-Stabwerken – tragende Funktion, hat die Rechnung ohne die enormen Schneelasten des Standorts gemacht. »Dies ist eine wahnsinnig raue Gegend«, sagt Kumas Projektleiterin aus dem Pariser Büro fast entschuldigend. Der Statiker aus dem nahen Garmisch erinnert an die Erdbebenzone und meint: »Rein aus Holz wäre das alles viel mächtiger geworden.« … Auch die geforderte Feuerwiderstandsklasse F30 wäre mit den dünnen Hölzern nicht zu erreichen gewesen, wie Barbara Poberschnigg, die den Bau vor Ort ausführende Architektin, anmerkt.

Die Dachlast wird also von Stahlträgern auf einem traufparallelen Ringbalken aus verschraubten Doppel-T-Trägern aufgenommen, zusätzlich querversteift und mit einer 12 cm dicken Massivholzplatte gedeckt. Darauf ruhen Dichtung, Dämmung und Zinkblechdeckung samt Schneefängern. Die Lastabtragung geschieht über einen massiven Betonkern und die Rückwand sowie – innerhalb der Verglasung – schlanke eingespannte Stahlstützen, die man aus Kumas früheren Glashäusern kennt. Zwischen den in mühsamer Kletterarbeit abgehängten Brettern sind die kräftigen weißen Stahlträger zu erkennen. Kumas Konstruktionen sind bisweilen sehr raffiniert (etwa, wenn er im Coeda House das Stabwerk der zentralen Baumstütze mit unsichtbaren Karbonstäben verbindet), aber ist das hier noch konstruktiv klar und »ehrlich«?

Raumwirkung vor konstruktiver Klarheit

»Ich versuche immer, größtmögliche Transparenz zu schaffen«, sagt Kuma dazu und bestätigt, dass ein reiner Holzbau stärkere Querschnitte erfordert hätte: »Wir versuchten daher, einen guten Kompromiss zu finden, ähnlich wie im neuen Olympiastadion in Tokio, das wir zurzeit planen. Dort verbinden wir Stahlrohre mit Brettschichtholzträgern.«

Nun gut, Konstruktion ist nicht alles. Die Atmosphäre im Haus strahlt die vom Bauherrn gewünschte meditative Ruhe aus. Der Wald umfängt den Besucher, außen real und formal abstrahiert von oben und hinten, allerdings nur visuell. Denn thermisch wie akustisch ist das kontrolliert be- und entlüftete, als (per Kaminofen) beheiztes Nichtwohngebäude errichtete Haus rundum isoliert, die Drei-Scheiben-Verglasung beugt Zugerscheinungen vor. Es ist warm und fast zu still. Die Geräusche des Waldes dringen erst herein, wenn die breite Schiebetür auf der Westseite geöffnet wird.

Mehr Naturnähe bietet eine offene Yoga-Plattform in Sichtweite. Beim »Waldbaden« spielen ja gerade die ätherischen Elemente des Waldes eine Rolle.
Das Weißtannenholz, das frisch durchaus streng riechen kann, ist im Innenraum in dieser Hinsicht, zumindest bewusst, nicht mehr wirksam. Auch eine schalldämpfende Wirkung der zerklüfteten Holzkonstruktion war vor Ort nicht wahrnehmbar: Die hölzerne Höhle mit 270 °-Panorama klingt relativ hart, zumal das 160 m² große Haus absichtlich von Möbeln freigehalten wurde – bisher steht im Hauptraum nur ein Gong, und man kann fast eine Stecknadel fallen hören.
Wenige Downlights hängen versteckt in der Bretterskulptur (auch außen) und tauchen den Raum indirekt in gedämpftes Licht. Während bei Tag die Verglasung nur schemenhaft Einblick erlaubt, löst sich die Trennwirkung nachts auf, und die Höhle leuchtet überaus mystisch mitten im Wald.

Achtsamkeit beginnt auf der Baustelle

Ließ sich die Waldlichtung noch schonend roden und mit einem Rückepferd freiräumen, musste zum Bau doch schweres Gerät in den Wald: Dank sorgfältiger Nacharbeit sind Baustraße und -platz jedoch bereits wieder gut zu­gewachsen – auch das gehört für die Initiatoren zur Achtsamkeit. Diverse Auflagen waren zu erfüllen. So musste eine nötige Dränage auch deshalb gelegt werden, um Zink-Einträge ins Grundwasser zu verhindern. Kengo Kumas holzbauerfahrene Kontaktarchitektin vor Ort, Barbara Poberschnigg vom Innsbrucker STUDiO LOiS, ist des Lobes voll über die gute Zusammenarbeit mit dem Meister aus Fernost – sie plant bereits ein weiteres Gebäude mit ihm.

Das Meditationshaus ist ganzjährig nutzbar und verfügt neben WCs auch über einen Raum für die Teezeremonie. Dieser nüchterne Raum liegt introvertiert auf der Nordseite des Gebäudes und ist mit Tatami-Matten ausgelegt. Das Hotel vermietet das Haus auch stundenweise. Vorrangig wirbt es aber mit seinen Meditationsexperten, die den Besucher mitnehmen auf eine »Reise in die Stille«.

db, Mo., 2018.11.05

05. November 2018 Christoph Gunßer

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