Editorial

In Sichtweite des neu eröffneten Konzertzentrums Seine Musicale – ein Entwurf des japanischen Architekten Shigeru Ban – steht der Eiffelturm, der vor rund 130 Jahren Massstäbe in der Konstruktion setzte. Und auch wenn das neue Auditorium der Seine Musicale dem Pariser Wahrzeichen punkto konstruktiver Innovation wohl nicht ganz die Spitze reicht, so hat es doch vieles mit ihm gemeinsam. Das Material Holz hat für unsere Zeit eine ähnliche Wichtigkeitwie Stahl für das 19. Jahrhundert. Freiformen, wie sie bei der Seine Musicale Anwendung finden, sind beim Holzbau in Mode und gelten als Ausdruck von Transparenz und entwerferischer Freiheit – so wie das Stahlfachwerk des Turms zu seiner Entstehungszeit.

Schweizer Firmen erbringen bei der konstruktiven Entwicklung und bei der Herstellung dieser Bauwerke in Freiformen aus Holz international wichtige Leistungen: Gerade entstehen der Hauptsitz der Swatch Group in Biel und die Cambridge Mosque in England.

Wie bei diesen Projekten ist die Hülle des Auditoriums der Seine Musicale aus Holz-Polyedern aufgebaut. Berechnet hat die Statik der in zehn Monaten errichteten Struktur ein Ingenieurbüro aus der Schweiz. Ein anderes einheimisches Unternehmen modellierte die doppelt gekrümmte Primär- und Sekundärstruktur und implementierte ein parametrisches 3-D-CAD-Modell.

Entstanden ist ein Auditorium, das dem Komplex Seine Musicale ein Gesicht verleiht und ihn optisch, aber auch qualitativ über den Sockelbau abhebt.

Danielle Fischer

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Die Suche nach dem ­Dazwischen

14 PANORAMA
Bewahren, verdichten oder neu interpretieren? | u40 | Neuer Einsatz gesucht für zwei CFK-Spannkabel | Die Anti-Scherben-Richtlinie

18 VITRINE
Weiterbildung | Neues aus der Baubranche

23 SIA
«Ich möchte eine Brücke zu den anderen Berufsgruppen ­schlagen» | Bekenntnis des SIA zur baulichen Identität der Schweiz | Datenaustausch standardisiert

28 VERANSTALTUNGEN

THEMA
30 LA SEINE MUSICALE

30 PREZIOSE AUF BETONFUSS
Hubertus Adam
Vor den Toren von Paris wurde im Frühjahr 2017 das Musikzentrum Seine Musicale eröffnet. Entworfen hat es Shigeru Ban.

36 HOLZ, GLAS UND KARTON IM EINKLANG
Charles von Büren
Ihre ­charakteristische Form verdankt die Seine Musicale der Hülle des Auditoriums
in Freiform-Bauweise.

AUSKLANG
40 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Preziose auf Betonfuss

25 Jahre nachdem dort der letzte Renault vom Band rollte, hat die bei Paris in der Seine gelegene Île Seguin eine neue Funktion: Im Frühjahr 2017 wurde nach dem Entwurf von Shigeru Ban und Jean de Gastines das Musikzentrum Seine Musicale eröffnet. Blickfang ist das Auditorium aus Glas und Holz.

Nach Museen und Bibliotheken sind es in den letzten Jahren verstärkt neu gebaute oder eingerichtete Konzert­gebäude, die als kulturelle Ikonen und urbane Leuchttürme gelten. Die Hamburger Elbphilharmonie war nur die Spitze des Eisbergs. Ein Blick allein auf Polen und Deutschland: Kattowitz und Stettin, Dresden, Berlin und selbst das Dorf Blaibach im Bayerischen Wald erhielten in den letzten drei Jahren spektakuläre neue Musiksäle, in München konnte sich unlängst das Bregenzer Büro Cukrowicz Nachbaur mit seinem Entwurf für das neue Konzerthaus durchsetzen. Für prognostizierte 360 Mio. Euro wird einer der teuersten zeitgenössischen Kulturbauten der Bundesrepub­lik Deutschland errichtet.

In der Metropolitanregion Paris sind in dichter Folge gleich drei neue Konzertsäle entstanden: 2014 das Auditorium von AS Architecture Studio in der Maison de la Radio, 2015 die Philharmonie von Pritzker-­Preisträger Jean Nouvel am Parc de la Villette und 2017 die Seine Musicale von den Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines auf der Île Seguin. Die in der Seine gelegene Insel gehört zum südwestlichen Vorort Boulogne-Billancourt und beherbergte bis vor einigen Jahren einen der eindrucksvollsten Industriekomplexe Europas.

Volumen mit verschiedenen Funktionen

Von der Metro-Endstation Pont de Sèvres her kommend passiert man zunächst die 1979 fertiggestellte Grossüberbauung Quartier Pont-de-Sèvres, die sich mit ihrem Parkhaussockel wie ein Sperrriegel Richtung Fluss schiebt, und dann das «Trapèze» genannte Areal des ehemaligen Renault-Werks. Hier wurde in den vergangenen Jahren um den zentralen, von Agence TER geplanten Parc de Billancourt ein vollständig neues Wohn- und Geschäftsviertel aus dem Boden gestampft, das in Blockstrukturen gegliedert ist; aus der Schweiz sind auch Meili Peter sowie Diener & Diener mit Bauten vertreten. Jean Nouvels Tour Horizons fungiert als vertikale Dominante an der zentralen Achse, in deren Fortsetzung der Fussgängern vorbehaltene Pont Renault auf die Île Seguin führt.

Während der grösste Teil der 11.5 ha messenden Insel noch der Bebauung harrt, erstreckt sich die Seine Musicale von der Brücke aus Richtung Norden und füllt mit ihrem keilförmigen Grundriss von 280 m Länge die gesamte Inselspitze aus. Wände aus hellem Sichtbeton, in die diverse Öffnungen eingeschnitten sind, umhüllen das komplexe Raumprogramm und vereinheitlichen das Volumen, das auf einer breiteren Terrassensub­struktion aus dunkelgrauem Beton ruht.

Wohlwollend mag man diese Gesamtkonfiguration als Reminiszenz an die steinerne Fabrikinsel verstehen; auf architektonisch überzeugende Weise bewältigt wurden die schieren Baumassen jedoch nicht. Das gilt insbesondere für den eigentlichen Vorplatz an der der Insel zugewandten Schmalseite: Zu den mächtigen Betonmauern treten hier die Glasfronten der Eingangsbereiche; eine Freitreppe pharaonischen Zuschnitts führt hinauf zur Dachlandschaft, die als öffentlicher Park gestaltet wurde, und auf einem Riesenscreen werden die Veranstaltungen angezeigt. Er kann auch dazu genutzt werden, die Events auf den Vorplatz zu übertragen.

Ein riesiges Glas­portal, 12 m breit und 10 m hoch, wird zu den Veranstaltungen aufgeklappt und emporgefahren, sodass die Besucherinnen und Besucher direkt in das Foyer eintreten können. Von hier gelangt man in die verschiedenen Sektoren des grossen Saals «Grande Seine», der primär auf Rock- und Popkonzerte zugeschnitten ist und je nach Verhältnis von Sitz- und Stehplätzen zwischen 4000 und 6000 Besucher aufzunehmen vermag. Der steil ansteigende Zuschauerraum ist fächerförmig dimensioniert, sodass eine grösstmögliche Nähe zur Bühne entsteht. Diese gilt mit 35 m Breite, 40 m Tiefe und 17 m lichter Höhe als die grösste Frankreichs. ­Hydraulische Hubelemente erlauben es im Sinn einer salle modulable, unterschiedliche Bühnenkonfigura­tionen umzusetzen. Helle Stühle bestimmen das Bild des robust anmutenden Zuschauersaals, die Wände sind verkleidet mit einer schwarz-grauen Schachbrettstruktur aus Akustikelementen; der Saal wurde von Nagata Acoustics für die Darbietung elektronisch verstärkter Musik optimiert.

Vom Foyer der Grande Seine aus durchmisst die Grande Galerie auf einer Länge von 230 m das gesamte Gebäude. Diese innere Mall wird von Shops und Restaurants flankiert, erlaubt durch Fenster Einblicke in die tiefer liegenden Proberäume oder Aufnahmestudios und führt schliesslich zu einem weiteren Foyer, von dem man über Rolltreppen nach oben zum Auditorium befördert wird, dem Saal für klassische und zeitgenössische Musik mit 1150 Plätzen.

Dieser Raum ist die eigentliche Preziose der Seine Musicale: Das Volumen des Konzertsaals ist umhüllt von einer Tragwerkstruktur aus sich wabenförmig schneidendem Brettschichtholz, die aussen verglast ist und aus der Ferne wie ein gigantisches Ei erscheint, das auf dem breit gelagerten, sich Richtung Norden abtreppenden Betonsockel ruht. Die segelartig wirkende, mit 800 m² Solarzellen beplankte Metallstruktur, die sich auf Schienen um den Saal her­um bewegt, steigert die Ikonizität.

Meister des kleinen Formats

Die Rohheit des Sockels weicht, sobald man in den ­Wandelgängen zwischen der gläsernen Haut und dem Volumen des Auditoriums steht, der Liebe zum Detail. Irisierende Fliesen schaffen in den organisch fliessenden Aufgängen eine geheimnisvolle Atmosphäre, die Ausblicke auf die Hügel von Meudon oder auf den Trapèze und Paris in der Ferne sind fantastisch. Und dann das Auditorium: Wabenförmige Akustikelemente aus Abachi-Holz und Pappröhren bilden die ondulierend geschwungene Deckenuntersicht, eine geflochtene Textur von Buchenholzstreifen umspielt die Wände, die rot bezogenen Stühle bestehen aus hölzernen Wangen, in die Pappröhren für Sitzmulden und Lehnen eingelassen sind. Die Atmosphäre ist sinnlich, warm, intim; die Anzahl der Zuschauerplätze beträgt nur etwa die Hälfte der gros­sen Säle, wie sie in der Pariser Philharmonie oder in der Elbphilharmonie entstanden sind. Der ebenfalls von Nagata Acoustics perfektionierte Raumklang ist deutlich sanfter und gnädiger als die eher trockene und analytische Akustik in Hamburg.

Harte Schale, weicher Kern: Die gestalterischen Ambitionen Shigeru Bans haben sich ganz auf das Auditorium konzentriert. Das ist einerseits konzeptionell verständlich, denn es bedarf in einem Haus, das für ganz unterschiedliche Konzertformate und heterogene Publika ausgelegt ist, nicht überall des gleichen Grads an Verfeinerung. Und das wäre auch angesichts des begrenzten Gesamtbudgets nicht möglich gewesen.

Andererseits beweist die Seine Musicale nach dem Centre Pompidou Metz aufs Neue, dass Shigeru Ban ein Meister in kleinen Formen ist, Präzision und Poesie im gros­sen Massstab aber deutlich nachlassen. Und der Japaner ist eben kein Architekt, der angesichts von Druck und Beschränkung für Rauheit einen adäquaten Ausdruck findet. Gäbe es das mirakulöse Ei mit dem Auditorium nicht, niemand käme auf den Gedanken, in Shigeru Ban den Autor des Sockelbauwerks zu sehen.

TEC21, Fr., 2018.03.23

23. März 2018 Hubertus Adam

Holz, Glas und Karton im Einklang

Die hölzerne Freiform des von Weitem sichtbaren Auditoriums gibt der Seine Musicale ihr charakteristisches Äusseres. Die Konstruktion besteht aus über 3000 Einzelteilen aus Brettschichtholz mit 2800 unterschiedlichen Kreuzungspunkten.

Die Architekten sehen in der Seine Musicale ein Symbol für eine der Umwelt angepasste Technik. Gemeint ist damit das mächtige, 45 m hohe Metallsegel ausserhalb der gerundeten Auditoriumsstruktur. Das Segel umfährt täglich langsam auf Luftkissen gelagert und in Schienen geführt diese Baustruktur auf einer Strecke von rund 100 m und richtet dabei seine 800 m² Photovoltaikzellen stets in optimalem Winkel zur Sonne aus.

Die Energieversorgung weist einen Anteil von 65 % erneuerbarer Energie auf. Das mobile Segel aus PV-Modulen erzeugt zusätzlich Strom vor Ort. Weil es die Fassade abschattet, gewährleistet das Segel zudem den thermischen Komfort im Sommer und verringert den Kühlbedarf.

Der markante, bei näherem Hinsehen eher eiförmige als runde Aufbau ist mit einem Tragwerk aus 700 m³ Brettschichtholz konstruiert und mit einer Verglasung von insgesamt 4000 m² versehen. Die Brettschicht­holzstäbe aus Fichte sind untereinander über Holz-Holz-Verbindungen zu einem Sechseckmuster zusam­men­gefügt. Die Diagonalen kreuzen sich schubfest in Überblattungen. An den Stabenden der horizontalen Gurten übernehmen gezackte Schäfte grosse Zugkräfte. Die dazu benutzten Nockenleisten bestehen aus Buchensperrholz. Diese Fassadenkonstruktion aus Holz und Glas umfasst die darin liegende, komplexe Betonstruktur mit dem Konzertsaal und gibt der Anlage ihre architektonische Identität.

Schweizer Statik – deutscher Holzbau

Die äussere Holzstruktur weist geschliffene Oberflächen auf und verfügt über eine CTB-P -Imprägnierung gegen Pilze und Insekten und eine farb­lose Schutzlasur. Die Statik dieser innert zehn Monaten aufgerichteten Struktur konzipierte und berechnete das Schweizer Ingenieurbüro Kempter.Fitze. Die Firma designtoproduction modellierte die gesamte doppelt gekrümmte Primär- und Sekundärstruktur am Übergang zu den Fassadenelementen. Sie übernahm zudem eine aktive Rolle in der Konzeption der Montagesequenz der komplexen Struktur. Sie implementierte ein komplett parametrisches 3-D-CAD-Modell mit Detaillierung bis zur letzten Schraube sowie für die Roh- und Fertig­volumen aller Bauteile. Daraus wurden die Fertigungsdaten für Verleimung und Abbund der knapp 1300 Trägersegmente, ein Volumen­modell aller 3300 Fassadenrahmen und ein vollstän­diger Satz von Werkstatt- und Montageplänen erstellt.

Bei der Fläche aus Sechseckmustern handelt es sich genau genommen um 99 doppelt gekrümmte Holzträger, die sich an Knotenpunkten gegenseitig durchdringen. Die Planer von designtoproduction erläutern den Anspruch an die Konstruktionsweise dieser Holzstruktur wie folgt: «Normalerweise ist bei Brettschicht­holz ­eine gewisse Abweichung zwischen der Faserrichtung des Holzes und der Geometrie des Fertigteils unproblematisch. Für die Seine Musicale sollten die Fasern jedoch exakt der Fertigteilgeometrie folgen, um sichtbar angefräste Klebefugen vollständig zu vermeiden und somit ein störungsfreies Erscheinungsbild zu erlangen.»

Darum mussten die Rohlinge in einem mehrstufigen Prozess der Bauteilgeometrie angepasst und aus Stäbchenlamellen von nur 32 × 40 mm Querschnitt verleimt werden. Krümmung und Länge jedes einzelnen Bauteils machten eine von drei unterschiedli­chen Verleimungsmethoden notwendig. Jede erforderte ein eigenes Set an Fertigungsdaten, angefangen von detaillierten Zeichnungen über Tabellen bis hin zu maschinen­lesbaren Einstellungsdateien.

Komplexe Geometrie

Aufgrund der Freiformgeometrie sind keine zwei der 2800 Kreuzungspunkte im Gebäude identisch. Um dies zu bewältigen, wurden alle Details in parametrischer, regelbasierter Form angelegt und abhängig von statischen und konstruktiven Anforderungen in acht Familien mit insgesamt 120 Unterkategorien eingeteilt. Archi­tekten und Statiker definierten eine tabellenbasierte Schnittstelle, die es erlaubte, geometrisches und statisches Modell synchron zu halten und so sicherzustellen, dass die korrekten Detailtypen verwendet wurden.

Die X-förmigen und reihenweise platzierten Elemente bestehen aus vormontierten Trägern mit bis zu 24 m langen, in sie eingefahrenen und gefügten Ringsegmenten. Dieses Konzept stellte zu jeder Zeit eine selbsttragende Struktur sicher, die nur punktuell unterstützt werden musste, um zu verhindern, dass sie sich im Montagezustand verformt. Um das Einfahren der langen Ringsegmente zu ermöglichen, sind die Flanken der Ausschnitte an den Kreuzungspunkten individuell abgeschrägt. Hierzu wurde die exakte Einfahrrichtung aller Segmente vorab festgelegt. Durch das Eindrehen um das Segmentende können bei möglichst kleinem Abschrägungswinkel die Kreuzungspunkte nacheinander statt gleichzeitig eingefahren werden.

Fünf Monate nach Vertragsabschluss Ende 2014 legten die Planer der Parametrisierung die ersten Daten zur Verleimung der gekrümmten Brettschichtholzträger (CNC-Abbund) vor und drei Monate später erste Ab­bunddaten. Die Montage konnte rund ein Jahr nach Beginn der Berechnungen beginnen.

Die Hülle des Auditoriums auf der Seine Musicale aus 3000 Teilen macht neugierig, und den Bau als Publikumsmagneten auszubilden war eines der Ziele. Seine Herstellung war jedoch mittels CNC und dank präziser Angaben kein aussergewöhnlicher Aufwand, wenn man ihn mit anderen Bauwerken vergleicht, die zurzeit in der Freiformbauweise entstehen.

TEC21, Fr., 2018.03.23

23. März 2018 Charles von Büren

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