Editorial

Stau – aber immerhin mit grandiosem Ausblick! Der letzte Stuttgarter Tatort machte diese banale Alltagssituation zum Filmset und die viel befahrene »Weinsteige« zur Hauptdarstellerin. Die Lage der Stadt im Talkessel und an weinbergdurchzogenen Hängen ist reizvoll und problematisch zugleich. In der Zuzugsregion Stuttgart ist der Platz knapp und die Luft dünn; jede Planung wird zur Herausforderung, doch als Belohnung winken außergewöhnliche Blickbeziehungen und spektakuläre Ausblicke. In diesem Heft gehen wir auf die Stuttgarter (Architektur)-Besonderheiten ein und stellen beispielhafte Einzelgebäude sowie Quartiersplanungen vor. Denn in der baden-württembergischen Landeshauptstadt tut sich so einiges – wie könnte es auch anders sein, die Stadt gilt als Wiege der Ingenieurbaukunst und weist deutschlandweit die höchste Architekten- und Bauingenieursdichte auf. | Ulrike Kunkel

Stuttgart, deine Bauingenieure

(SUBTITLE) Stuttgart: Wiege der Ingenieurbaukunst

Auf den Spuren der Ingenieurbaukunst besuchte unsere ­
Autorin Ursula Baus sieben Stuttgarter Bauingenieurbüros ­älterer und jüngerer Generation und sammelte bei ihnen Ideen für ein lebenswertes Stuttgart von morgen ein. Unbefangene ­Vorschläge frei von politischen Regularien und planeri­schen Zwängen.

Stuttgart ist unbestritten ein geschichtsträchtiger Ort der Ingenieurbaukunst. Emil Mörsch, Fritz Leonhardt und Wolfhart Andrä, Frei Otto, Jörg Schlaich und Rudolf Bergermann, ­Peter und Lochner, Werner Sobek, Jan Knippers und Thorsten Helbig, Stephan Engelsmann, Thomas Auer und Matthias Schuler von Transsolar und die jüngere Equipe wie beispielsweise Michael Herrmann und Alexander Michalski vom Büro str.ucture – hier wirkt eine Dichte des who-is-who der Zunft, die es andernorts nicht gibt.

Wenn es irgendwo in der Welt kompliziert mit dem wird, was Bauingenieure zur Baukunst beizutragen haben, ruft man gern in Stuttgart an. Und wer in Stuttgart als Architekt baut, hat die Qual der Wahl, wenn es um exzellentes Zusammenarbeiten mit Ingenieuren geht.

Auch wenn der Fernsehturm von Fritz Leonhardt und Erwin Heinle zum Wahrzeichen gereift ist, der Killesbergturm und alle Brücken von Schlaich Bergermann von einzigartiger Ingenieurbaukunst zeugen und die hippen ­Automuseen für Mercedes und Porsche ohne diese nicht entstanden wären und auch, wenn es mit dem kleinen Haus B10 (Werber Sobek) in der Weißenhofsiedlung wieder eine energetisch relevante Pionierleistung anzuschauen gibt, so sieht man der Stadt die Segnungen konstruktiven Erfindergeistes an vielen Stellen kaum an und spürt keine Aufbruchsstimmung.

Schon Jörg Schlaich war vor Jahrzehnten – und das macht das Einzigartige aus, ohne je damit beauftragt worden zu sein – Pionier solarer Energiegewinnung. Auch sein einstiger Mitarbeiter Werner Sobek verschrieb sich diesem Anliegen. Aber damit, dass Ingenieurbaukultur zur Identität Stuttgarts ­beiträgt, identifiziert sich die Stadt nicht. Tübingen als Stadt Hölderlins, Pforzheim als Schmuckstadt und Stuttgart eine Stadt der Ingenieurbaukultur? Vielleicht möchte die Stadt diesen Ruf gar nicht, weil er sie zu mehr verpflichten könnte.

Ingenieure, Gesellschaft und Politik

Andererseits ist den Bauingenieuren – das zeigte sich in Gesprächen, die ich in sieben Ingenieurbüros geführt habe – durchaus bewusst, dass dem Berufsstand insgesamt Kreativität und Bereitschaft fehlen, sich in Diskussionen zur Stadtentwicklung einzumischen oder auch ungefragt Vorschläge zu erarbeiten, die öffentlich diskutiert werden sollten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Werner Sobek mischt sich auf vielen Ebenen in politische, gesellschaftsrelevante Diskurse ein, gründet Vereine und Stiftungen.

Durch sein berufspolitisches Engagement tauscht sich auch Stephan Engelsmann mit Kollegen anderer Disziplinen aus; er plädiert seit Langem dafür, dass ein kommunikativer Ort, eine Art Schaufenster für Architektur, Stadtentwicklung, Ingenieurbaukunst und Design gegründet wird. Zudem arbeitet er an der Neuauflage von Jörg Schlaichs »Ingenieurbauführer Baden-Württemberg«, der in dem Zuge um ein Drittel an Projekten und neue Rubriken erweitert wird.

Unisono wurden in den Gesprächen Reformen auch der Ingenieurausbildung gefordert, weil Ingenieurbaugeschichte, das Bewusstsein für eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung in der Lehre keine nennenswerte Rolle spielt – Ausnahmen sollten die Regel werden.

Handlungsbedarf und IBA

Denn in der Stadtentwicklung mit unerlässlicher Unterstützung der Bauingenieure steht eine immense Zeitenwende an. Nach einer im August 2017 veröffentlichten Umfrage des Statistischen Amts der Stadt Stuttgart nennen die Bürger als größte Probleme: 75 % zu viel Straßenverkehr, 73 % zu hohe Mieten, 67 % zu viele Baustellen, 59 % schlechte Luftqualität, 37 % zu hohe Lärmbelästigung. Hier zeigt sich die Dringlichkeit, mit der Stuttgart von und mit Bauingenieuren verändert werden müsste. Vergleiche mit Berlin seien erlaubt: 43 % der Befragten favorisieren, v. a. in den ÖPNV zu investieren. 29 % fordern mehr Geld für den Fahrradverkehr und 17 % für den Autoverkehr. (Quelle: Berlin Monitor, Civey)

Zugleich wird immer wieder anerkannt, dass sich Stuttgart in den letzten zwei Jahrzehnten auch zum Positiven verändert habe – ­atmosphärisch, weil viel mehr Menschen den öffentlichen Raum beleben. Noch sei auch der Charme der Topografie zu erkennen, der unter ökonomischem Druck extrem bedroht ist. Bemerkenswert dann aber doch: Wohl möchten viele junge Ingenieure in den Stuttgarter Büros arbeiten, aber nicht in Stuttgart, sondern lieber in Niederlassungen andernorts.

Alle Ingenieure sind sich der Probleme Stuttgarts bewusst und haben viel beizutragen, um die Stadt im Sinne der Lebensqualität, des Notwendigen und Modellhaften mit Einfallsreichtum und Risikobereitschaft zu entwickeln. Wo, wenn nicht in Stuttgart, wo Pioniere des Bauingenieurwesens und des Autobaus, außerdem vielfältig agierende Zulieferer zuhause sind, sollte eine Art Modellstadt für eine neue Mobilität und Stadtqualität in Angriff genommen werden? Jan Knippers und Achim Menges – Professoren an der Architekturfakultät der Uni –, erforschen und experimentieren nicht nur neue Material- und Konstruktionsweisen, sondern regen Interventionen an, mit denen Gewerbebetriebe auch in der Stadt gehalten werden könnten.

Manche Hoffnung auch der Ingenieure ruht auf der IBA, innerhalb derer sich u. a. die Ingenieurkammer engagiert. Dass sie dazu führt, Stuttgart zur international beachteten Modellstadt in umweltverträglicher Mobilität und neuem Zusammenwirken von Wohnen und Arbeiten reifen zu lassen, erwartet nach dem Fehlstart dieser IBA – noch – niemand.

Initiativen

Bis auf Leonhardt, Andrä und Partner waren alle Büros dabei, spontan und dadurch anregende, realisierbare Ideen für Stuttgarts Zukunft beizusteuern, ohne als weltfremde Utopisten abgekanzelt werden zu können. Bereits 2001 hatte Werner Sobek mit einem Vorschlag für die Überbauung der B14 – die »Kulturmeile« Stuttgarts zwischen Opernhaus und Museen – eine lange ­Diskussion aufgegriffen. Übrig blieb von seinen Ideen immerhin ein kleines Deckelchen über die B14, sodass Fußgänger und Fahrradfahrer einen überirdischen, angenehmen Weg durch den Verkehrsdschungel am Charlottenplatz finden können. Kleinmut und Regelungswut der Politik, so wird oft beklagt, degradieren den Erfindungsreichtum der Ingenieure nicht nur in der Landeshauptstadt beschämend. Bemerkenswert ist deswegen ein unbefangener Vorschlag des jungen Büros str.ucture, das sich auch in internationalem Rahmen forschend der Leichtbausparte widmet, für wandelbare Schirme auf der B 14.

Wandelbare Möblierung der B 14

Wandelbare Schirme könnten funkti­onal und mit zeichenhafter Wirkung den Aufenthaltscharakter an der Kulturmeile erheblich stärken. Die Schirme sollen als Landmarke auf der B 14 zwischen der Oper auf der einen und der Staatsgalerie auf der anderen Seite verortet werden. Wenn diese geöffnet sind, ordnet sich der Autoverkehr den Passanten unter (shared space). Der Straßenraum soll so Platz für »smarte Interventionen« bereitstellen, die Kultur in den öffentlichen Raum verlagern und die Zäsur, die durch den ­inneren Cityring entsteht, an dieser Stelle temporär aufheben.
http://www.str-ucture.com

Grünbrücke

Ergebnis der Studie ist ein Konzept für die weltweit erste leichte Grünbrücke in dieser Größenordnung. Damit könnte künftig die Autobahn A 8 bei Stuttgart überspannt werden. Der Clou: Eine bestehende 5 m breite Massivbrücke wird durch die Addition von zwei Seilnetzen auf eine Gesamtbreite von 45 m erweitert. Hierdurch lässt sich im Vergleich zur herkömmlichen überschüttenden Tunnelbauweise eine Massenersparnis von über 90 % erzielen. Diese Lösung schont den Geld­beutel der Bauherren und die Umwelt. Für Fußgänger, Radfahrer und Tiere eröffnen sich durch das neue grüne Tor der Stadt im wahrsten Sinne neue Wege.

Die für das leichte Flächentragwerk notwendige doppelte Krümmung der Oberfläche wird mithilfe von Druckbögen und Randseilen erzeugt. Eine über dem Seilnetz liegende Membrane bildet den Untergrund für den extensiven Vegetationsaufbau. Für eine ­homogene Untersicht von der Autobahn wird zwischen dem Randseil und der Bestandsbrücke eine zusätz­liche Membrane aufgespannt.
http://www.str-ucture.com

Mobilität und Stadtklima

Nahezu alle Stuttgarter Bauingenieure räumen einer Aufwertung des öffentlichen Raums und besserer Luft in Stuttgart nur Chancen ein, wenn Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor aus der Stadt ausgeschlossen und der Individual­verkehr ohnehin drastisch reduziert wird.

Mit Verboten – auch darin herrscht ­Einigkeit – gehe es nicht. Thomas Auer von Transsolar fordert klipp und klar: Nur wenn der ÖPNV enorm an Quantität und Qualität und damit Akzeptanz gewinnt, kann sich in Stuttgart etwas ändern. Gewiss implizieren diese ­Szenarien politische Entscheidungen, aber mit Konzepten, was zur Be­reicherung der Lebensqualität in Stuttgart geschehen kann, warten auch ­Bauingenieure auf.

Thomas Auer sieht dabei in Stuttgarts dezentralen Strukturen exzellente ­Entwicklungschancen – beispielsweise am Neckar-Hafen, wo modellhaft die Transformation der alten Industriestrukturen zu gut verträglichem Miteinander von Wohnen und Arbeiten gelingen könnte. Für die dicht bebauten, ­innerstädtischen Quartiere fordert er – der Klimaexperte – dringend viel mehr vernetzte Flächen für Pflanzen und Bäume, die für das schwierige Stadtklima unerlässlich seien.

»Die« Stuttgarter Ingenieurbautradition lässt sich kaum auf den Punkt ­bringen, weil sie sich dankenswerterweise mit oder besser noch: vor der Zeit vielfältig entwickelt. Es fehlt jedoch ein öffentliches Bewusstsein für die Bedeutung des Ingenieurbauwesens für die Transformation der Stadt – eine Aufgabe für die Politik und die Ingenieure selbst. Zu überlegen, wie die autogerechte Stadt zu transformieren ist, duldet allerdings keinen Aufschub mehr.

db, Mo., 2017.10.02

02. Oktober 2017 Ursula Baus

Behnischs Erbe

(SUBTITLE) Gespräch mit Matthias Burkart, Andreas Ditschuneit und Ernst Ulrich Tillmanns von 4a Architekten aus Stuttgart

Durch Günter Behnisch entstand eine »süddeutsche ­Architekturschule«, die es nicht immer leicht hat, landesweit Gehör zu finden – so sehen es die Stuttgarter Behnisch-Schüler von 4a-Architekten. Ein Gespräch mit den Büroinhabern Matthias Burkart, Andreas ­Ditschuneit und Ernst Ulrich Tillmanns, die sich ­in der Nachfolge Behnischs sehen, sich aber auch von ­seinen Ansichten emanzipierten.

Falk Jaeger: Sie sind Vertreter jener südwestdeutschen Architekturschule, die auf Günter Behnisch zurückgeht. Was war aus Ihrer Sicht das Wesentliche seiner Architekturauffassung?
Ernst Ulrich Tillmanns: Am wichtigsten waren ihm Leichtigkeit, Offenheit und Transparenz sowie das Verschmelzen von Innen- und Außenräumen. Die steinerne Schwere der Postmoderne – die zu unserer Zeit im Büro Behnisch in der Architekturwelt große Aufmerksamkeit erhielt – hat ihm nie gefallen.

Matthias Burkart: Ein weiteres zentrales Thema war für ihn das demokratische Bauen. Dafür stehen besonders zwei Hauptwerke: Das eine ist der Olympiapark in München als sehr offener, freier Landschaftsentwurf mit der gemeinsam mit Frei Otto geplanten Zeltkonstruktion. Das zweite Beispiel ist der Bundestag in Bonn, an dem wir mitgearbeitet haben. Dabei wurde eine »Landschaftsaue« aufgenommen – in Form des versenkten Plenarsaals mit einem freien Dach darüber. Diesen offenen, transparenten, vom Bürger einsehbaren, im übertragenen Sinn kontrollierbaren Raum hat Behnisch als »demokratische Architektur« verstanden.

Andreas Ditschuneit: Allerdings weisen beide Projekte sehr unterschiedliche Formen auf: Der Olympiapark ist stark organisch angelegt, während der Bundestag ein für Behnisch ungewöhnlich orthogonales, strenges Gebäude ist. Allerdings gibt es auch darin verspielte Dinge, z. B. das Vogelnesttreppengeländer.

War es Ihr erklärter Wunsch, im Büro Behnisch zu arbeiten oder war auch Zufall im Spiel?
Tillmanns: Die Stimmung der Zeit war geprägt durch verschiedene Protestbewegungen, z. B. gegen Atomkraft, den Nato-Doppelbeschluss oder die Startbahn West. Ich hatte das Bedürfnis, etwas Konstruktives zu tun, den Protest in etwas Positives zu wenden. Behnisch faszinierte mich damals, weil er einen Geist der Veränderung in Architektur umsetzte. Nicht der postmoderne formale Schnickschnack war für ihn interessant, sondern wie man ein Gebäude organisiert, wie es sich zur Landschaft verhält und wie man im Team arbeitet.

Was unterscheidet die südwestdeutsche Szene z. B. von Berlin oder ­Aachen?
Burkart: Berliner Architektur ist für uns Süddeutsche ja immer charakterisiert durch geschlossene, steinerne Fassaden. Behnischs Architektur war nie ­steinern. Seine Häuser zeigen Stahl und Glas und haben einen Bezug zur ­offenen Landschaft. Den suchen die Berliner nicht. Wie Behnisch bevorzugen auch wir heute noch Bauaufgaben, bei denen es um Solitäre in einem freien Umfeld geht.

Für Behnisch war das Experiment von großer Bedeutung. Lässt sich das heute noch durchhalten?
Burkart: Das Experimentelle wurde im Büro Behnisch nicht nur zugelassen, sondern gefördert. Bei seinem Hysolar-Gebäude für die Uni Stuttgart am Pfaffenwald konnten wir vieles ausprobieren. Heute dürfen wir bei keiner Bewerbung oder bei keinem Bauherrn erwähnen, dass wir experimentieren wollen.

Ditschuneit: Wir haben viel mit Materialien gespielt, auch mit neuen, z. B. mit Kunststoffplatten oder mit Doppelstegplatten. Ungewöhnlich war auch, wie man die Dinge dann zusammengefügt hat, wobei es auf Präzision nicht so sehr ankam. Manchmal gab es Brüche, aber die waren eigentlich willkommen, oft sogar gewollt. Hierzu erinnere ich mich besonders an das Postmuseum in Frankfurt: Um die Rotunde herum gibt es eine Verkleidung, deren Platten eine gezackte Kontur bildeten und der Rundung folgend abgesägt werden sollten. Behnisch war gerade auf der Baustelle und sagte: »Bloß nicht, lasst das! Es ist gerade gut, dass die Verkleidung eine ganz andere Geometrie einnimmt.«
Burkart: Und wir haben bei Behnisch die Schichten der Konstruktion immer offen gezeigt – die abgehängten Decken, die vorgehängten Fassaden. Um noch einmal auf den Vergleich zu Berlin zurückzukommen: Dort baut man viel mehr fugenlos monolithisch, das unterscheidet uns bis heute.

Städtebauwettbewerbe haben Behnisch nicht interessiert?
Ditschuneit: Das stimmt so nicht. Nach der Wende gab es in den neuen Bundesländern sehr viele Wettbewerbe. z.B. in Chemnitz haben wir an einem Wettbewerb für ein Universitätsgelände mit einem großen Studentenwohnheim und einer zentralen Mall teilgenommen. Wir haben strenge städtebauliche Achsen gezogen und alles gerastert und in Blöcke gegliedert. Das hat Behnisch nicht gefallen: »Zeichnet nicht so stures Zeug, macht das mal lockerer.« Am Schluss kam ein ganz wilder Entwurf heraus. Damit sind wir – wenig verwunderlich – in der zweiten Runde ausgeschieden, aber das hat er offenbar gerne in Kauf genommen.

Kann man sagen, dass Behnisch eine Art architektonischer Ideologie ­geprägt hat, die hier im Südwesten mitunter einen fast religiösen ­Cha­rakter annahm?
Ditschuneit: Das könnte man so sagen. Das betraf schon die Art, wie man gezeichnet hat. Alle haben damals so gezeichnet, auch an den Hochschulen, vor allem natürlich an Behnischs Hochschule in Darmstadt.

Burkart: Jede Wand nur mit einem dünnen Strich …

Ditschuneit: … ja, alles mit lockerem Strich und möglichst unter Verzicht auf rechte Winkel. Viele der jungen Leute können heute nicht gut mit der Hand zeichnen. In unserem Büro kommen wir trotz Computer nicht umhin, zu skizzieren. Wir haben alle Skizzenrollen auf dem Tisch.

Noch einmal kurz zurück zum Arbeiten bei Behnisch. Wie ging er mit ­Leuten um, die nicht so dachten oder nicht so denken wollten wie er?
Ditschuneit: Er hat schnell gemerkt, wenn jemand aus einer anderen Richtung kam. Das ging nicht lange gut. Ich erinnere mich an den Spruch: »Wenn ihr was anderes wollt, dann schnürt euer Ränzlein und geht woanders hin.«

Burkart: Aber er hat natürlich viele Mitarbeiter aus Darmstadt geholt, z. B. Carola Wiese, Jens Wittfoth und Falk Petri. Unsere ganze Bonn-Truppe mit zwanzig Architekten bestand zum Großteil aus Darmstädtern, die er unterrichtet hatte.

Wie wurde entworfen?
Ditschuneit: Im Studium haben wir einmal Entwurfsmethoden verschiedener Architekturbüros verglichen und Behnisch gefragt, wie er seine Entwurfsmethodik beschreiben würde. Er hat uns verwundert angeschaut und gesagt: »Weiß ich nicht.« Schon der Begriff Entwurfsmethodik schien ihn irgendwie zu stören. Aber schließlich hat er uns doch einiges dazu sagen können.

Burkart: Eine festgelegte Entwurfsmethodik, bei der sich die Dinge wiederholen, war für ihn schon zu viel der Vorgabe. Wir haben auch nie ein Geländer wie das andere gezeichnet oder irgendein Detail wiederverwendet. Jedes Projekt entstand neu und vollständig anders. Das könnten wir uns heute gar nicht mehr leisten.

Ditschuneit: Später dann, im Stadtbüro mit Stefan Behnisch, wurde diese Haltung nach und nach abgebaut. Da hieß es schließlich doch: »Fangt nicht wieder bei Adam und Eva an, nicht jedes Geländer muss ein Kunstwerk sein.«

Wie kam es schließlich zu Ihrer eigenen Bürogründung? War die Zeit einfach irgendwann reif für die Selbstständigkeit? Oder gab es einen äußeren Anlass?
Burkart: Wir waren alle vier beim Bonn-Projekt dabei und haben nebenbei an Wettbewerben teilgenommen – in der Hoffnung, uns mit einem daraus resultierenden Projekt selbstständig machen zu können. Das Büro Behnisch war so angelegt: Es war immer klar, dass man dort nicht alt wird.
1990 hatten wir bei einem Schulbauwettbewerb in Durmersheim einen zweiten Preis gewonnen und gleichzeitig einen Direktauftrag für ein Gewerbeprojekt in Lutherstadt Eisleben erhalten. Daraufhin marschierten wir zu viert in Behnischs Büro und erklärten, dass wir uns selbstständig machen wollten. Er hat gesehen, dass es uns ernst war und meinte: »Gut, das kann ich verstehen. Aber dass ihr alle gleichzeitig gehen wollt, dazu überlege ich mir noch etwas. Kommt mal in einer Woche wieder.« Er machte uns dann ein sehr gutes Angebot, und so sind wir nacheinander ausgestiegen. Ich persönlich habe das Bundestagsprojekt zu Ende gebracht, d. h. ich bin anderthalb Jahre später ausgeschieden als die anderen.

Wie hat sich die Architektur in Ihrem eigenen Büro dann verändert? Kann man sagen, dass Sie sich von Behnisch entfernt haben, und wenn ja, in ­welche Richtung?
Burkart: Wir haben uns nicht wirklich von ihm wegentwickelt, v. a. hat sich unsere Arbeit von den Aufgaben her geändert. Wir sind mit bescheidenen Aufträgen eingestiegen und haben uns langsam hochgearbeitet. Das begann mit einer Garage hier, einem Balkonanbau da und mit Messebauten für Daimler. Unsere Architekturhaltung hat sich dabei nicht sehr gewandelt, aber es gab nach und nach neue Einflüsse, etwa die heutigen Bauvorschriften. Dadurch wurde unsere Architektursprache strenger. Aber ich finde, z. B. bei unseren Bädern schaffen wir es immer noch ganz gut, relativ frei zu agieren und offene Räume zu entwerfen.

Ditschuneit: Unsere Architektur hat sich aber nicht nur durch die technischen Zwänge verändert. Wir gehen auch bewusst anders an die Dinge heran, nicht mehr additiv, sondern mehr kubisch, z. B. jüngst in Wien, bei diesen verputzten Badehäusern. Es ist gibt dort noch schiefe Winkel und alles fließt, aber die Bauteile sind nicht mehr so locker gefügt, sondern kompakter, massiver.

Ist denn Behnisch-Architektur heute überhaupt noch zeitgemäß?
Tillmanns: Ich finde, dass unser Bundestag auch heute noch toll dasteht und eine Ikone ist. Aber wenn ich sehe, wie Behnisch seine ersten Schulen gebaut hat, wo die Stahlträger ruppig durchs Glas stoßen: Das kann man heute nicht mehr so machen. Die Bedingungen haben sich ja geändert, die Wärmeschutzverordnung, das ganze Vergabewesen. Mich würde wirklich interessieren, wie Behnisch heute damit umginge. Er hat sich ja schon damals gegen diese ­Verwaltungsvorgaben aufgelehnt und hat mutig Anderes gemacht.

Die den Rationalisten so wichtige Symbolhaftigkeit von Archetypen ist für Sie nicht von Interesse?
Tillmanns: Mich persönlich hat es immer mehr gereizt, wenn ein Bauwerk nicht wie ein herkömmliches Haus aussieht. Wenn das Gebäude mehr zu sagen hat als ein einsilbiger Archetypus. Wenn man die Nutzungen und Funktionen neu denkt und sich die Dinge anders ausformulieren können als gewohnt.

Nehmen Sie sich Themen vor, gibt es narrative Elemente? Bei Behnisch kam das nie in Frage …
Burkart: Wir entwickeln unsere Entwürfe immer aus dem Ort heraus und gewinnen daraus Motive. Bei der Wiener Therme orientierten wir uns an einem Bachlauf, der sich zwischen Steinen hindurchwindet. In Luxemburg schwebt der Bau topografiebedingt über der Badehalle und die golden eloxierte Fassade bezieht sich auf die Gemarkung »Am Sand« …

Ditschuneit: … und bei der Bodensee-Therme ist es das Schiffsthema, zu ­sehen am Saunahaus, das mit einer Dachterrasse und einer Reling zum See hin auskragt. In Bad Ems sind die Kieselsteine das Motiv.
Burkart: Wir suchen damit durchaus auch nach Themen, die so ein Projekt marketingmäßig tragen, die sich verkaufen lassen. Denn die Badbetreiber legen heute Wert auf Alleinstellungsmerkmale.

Ist das nicht zwangsläufig mit formalen Spielereien verbunden?
Ditschuneit: Das ist es durchaus, wenn z. B. die Form der Fenster von den Flusskieseln abgeleitet ist.

Matthias Burkart: Die Gebäudehülle folgt heute vielleicht mehr formalen Ideen, aber die Grundrisse zeigen immer noch das Prinzip des von innen nach außen fließenden Raums. Natürlich muss das Sportschwimmerbecken immer rechteckig sein, aber ansonsten gibt es organische Formen, etwa bei den Planschbecken und den Außensaunen.

Sie sagten, Ihre Architektur sei formaler geworden. Wie kann man das verstehen?
Tillmanns: Uns interessiert heute durchaus, wie das Bild des Gebäudes wirkt. Bei Behnisch hat sich alles von innen heraus entwickelt und die Außenansicht ist dann eben wie von selbst entstanden. Wir machen schon noch einmal den Rückgriff auf den Grundriss und betreiben dieses Hin-und-her-Spielen zwischen äußerer Gestalt und Funktion. Aber wenn ich alte Behnisch-Gebäude angucke, dann dreht es mir manchmal den Magen um, wie lässig mitunter Details entstanden sind. Behnisch hat das damals nicht gestört, der fand das gut.

Burkart: Wie bereits gesagt: Formale Aspekte sind auch oft dem Wunsch der Bauherren nach dem Alleinstellungsmerkmal geschuldet. Bei der Erweiterung der Wilhelm-Maybach-Schule in Stuttgart-Bad Cannstatt zum Beispiel wurde die Aufstockung mit einem eigenen Tragwerk über das bestehende Schulgebäude gestülpt. So etwas kann man dann schon abschätzig formale Spielerei nennen, aber wir finden es legitim, denn es handelt sich um eine Ausbildungsstätte für Automobiltechnik. Wenn die Statik für eine normale Aufstockung ausgereicht hätte, wäre es wahrscheinlich weniger interessant ­gewesen.

Also ist es zutreffend, dass Sie und andere Architekten aus dem Behnisch-Umkreis ihre Architektur verfeinern, delikater und perfekter machen, obwohl Behnisch ja Akkuratesse und Perfektion hasste?
Tillmanns: Das kann man so sagen. Uns interessiert, wie gesagt, das gute ­Detail und die ortsspezifische Thematik.

Wie sieht es mit dem Einsatz von Farbe aus?

Tillmanns: Wir arbeiten mit kräftigeren Farben, während Behnisch damals mit Christian Kandzia zusammen die Bauteile in Pastelltönen anlegte. Er zerstückelte die Elemente und Zusammenhänge sozusagen durch die Farbgebung und unterteilte ihm zu mächtige Baukörper durch differenzierte Farben in Einheiten kleineren Maßstabs. So etwas machen wir nicht. Bei uns dürfen ein Dach ein Dach, eine Wand eine Wand und ein Fenster ein Fenster sein.

Burkart: Über Farbe wird jedenfalls in unserem Büro heiß diskutiert. In den Anfangstagen gab es relativ wenig Geld und da war Farbe natürlich immer ein Thema, weil man damit auf einfachem Wege viel erreichen kann: Strukturen größer oder kleiner wirken lassen, Stimmungen und Atmosphäre erzeugen usw. Höhepunkt war die Moskauer Therme ELSE-Club, in die wir eine ­geschwungene Wand, eine Art goldenes Ei gesetzt haben. Wir haben dabei keine goldene Farbe, sondern tatsächlich Blattgold verwendet. Die Reflexionen im Wasser, ein goldenes Schimmern, erzeugt eine besondere Atmosphäre. Von dort war der Schritt zur reinen Materialwirkung nicht weit. Pures Mate­rial wird bei uns immer wichtiger.

Wie hätte wohl Behnisch auf das Gold reagiert?
Ditschuneit: Ach, er hätte wahrscheinlich gesagt: »Wenn schon, dann müsst ihr echtes Gold nehmen.«

Burkart: Allerdings würden wir so etwas wie 2007 in Moskau heute nicht mehr machen. Was Farben betrifft, sind wir gerade eher in der Reduktion ­begriffen.

Ditschuneit: Außer bei den Bädern. Gerade an deren Decken bleibt Farbe ­etwas ganz Wichtiges. In Wien, wo wir nicht viel Geld zur Verfügung hatten, wollten wir zuerst eine schöne Holzdecke einbauen. Doch dann wurden es farbige Heraklitplatten: Die sind nicht teuer und akustisch vorteilhaft – im Hallenbad enorm wichtig – und die stehen in 300 verschiedenen Farben zur Verfügung. Wir haben Fotos in diesem Plattenformat gepixelt und für jede Halle, für jeden Bereich eine eigene Farbstimmung bekommen, von Frühlingsmotiven bis hin zu Winter- und Eisbildern. Die Wände sind hingegen nur grau oder weiß verputzt oder betonsichtig.

Burkart: … ein atmosphärisches Thema: Naturbilder zu Frühling, Sommer, Herbst und Winter, verpixelt als Abstraktion. Wenn man hindurchgeht, spürt man, wie sich die Bereiche und die Stimmungen ändern. Darin sehe ich auch einen entscheidenden Unterschied zur Behnisch. Der hatte kein Interesse, so ein Thema durchzudeklinieren oder Symbolik einzubringen. Die Farben als Symbol für die Jahreszeiten – einen solchen Transferschritt hätte er nie voll­zogen.

Noch eine letzte Frage: Ist mein Eindruck richtig, dass man mit Ihrer ­Auffassung von Architektur v. a. in Südwestdeutschland erfolgreich ist? Dass das in anderen Gegenden Deutschlands nicht akzeptiert wird, bei Wettbewerben z. B.?
Ditschuneit: Die Erfahrung haben wir gerade jüngst wieder gemacht, bei ­einem Wettbewerb, wo der Bauherr ausdrücklich unsere »süddeutsche Architektur« nicht wollte.

Burkart: Wir überlegen uns deshalb, mit gleichgesinnten Büros eine Art ­süddeutsche Allianz zu bilden, um gegen eine Fraktion, die für massive, schwere Architektur steht, zu bestehen. Denn wir haben bei Wettbewerben oder bei Preisgerichten das Gefühl, dass die mehr zusammenhalten als wir und dass wir mit unseren Arbeiten nicht richtig nach vorne kommen. Wir sind diesbezüglich wahrscheinlich, wie generell, ein bisschen zu lässig.

Herr Burkart, Herr Ditschuneit und Herr Tillmanns, vielen Dank für das Gespräch.

db, Mo., 2017.10.02

02. Oktober 2017 Falk Jaeger

Holzschatulle im Prinzessinnenpalais

(SUBTITLE) Stadtbücherei wird Stadtmuseum: Umbau des Wilhelmspalais

Von der Ausstellung ist zwar noch nichts zu sehen, denn das Stadtmuseum öffnet erst im April 2018 seine Tore, dafür ist die ins entkernte Wilhelmspalais eingepasste Architektur derzeit in voller Klarheit erlebbar. Das Raumgefüge aus hellem Birkenholz, Sichtbeton und dunklen Terrazzoböden überrascht hinter der klassizistischen Fassade zunächst.

Als das Wilhelmspalais 1840 fertiggestellt war, bildete es den östlichen ­Abschluss der Planie – eine von Alleen gesäumte Grünachse, an der einige der historisch wichtigsten Gebäude Stuttgarts aufgereiht sind, z. B. das Alte Waisenhaus, die Alte Kanzlei sowie das Alte und Neue Schloss. Dass diese Achse heute kaum mehr als solche erkennbar ist, hat v.a. mit dem Ausbau Stuttgarts zur autogerechten Stadt zu tun. Und so ist hier seit den 60er Jahren kein ­Vogelgezwitscher mehr, sondern Autolärm zu hören, ausgehend von zwei Bundesstraßen, die sich kreuzungsfrei begegnen und die Sicht- und Fußwegeverbindungen kappen. Direkt vor dem von Hofbaumeister Giovanni Salucci für die beiden Töchter von König Wilhelm I. geplanten Wilhelmspalais befindet sich die rechtwinklig zur Planie (B27) verlaufende Konrad-Adenauer-Straße (B14) – jene Stadtautobahn, die seit Jahrzehnten das Entstehen einer fühlbaren Kulturmeile vereitelt.

Zahlreiche hochkarätige Kulturinstitutionen (z.B. Landesbibliothek, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Haus der Geschichte, Staatsgalerie und Staatstheater) liegen neben dem »Prinzessinnenpalais« dicht an dicht, ein Ort zum Flanieren ist die Verkehrsschneise freilich nicht.

Seit 1918 im Besitz der Stadt und im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurde das Wilhelmspalais Mitte der 60er Jahre entkernt und durch den ­Architekten Wilhelm Tiedje zur Stadtbücherei umgebaut. Erhalten geblieben sind dabei lediglich die Außenwände.

Das neue Innere folgte funktionalen Gesichtspunkten und nahm mit dem von hohen geschlossenen Wänden flankierten Foyer in der Mittelachse und der dort platzierten, unrepräsentativen Haupttreppe nur wenig Bezug zur Altbausubstanz. Einige Jahre vor dem 2011 erfolgten Umzug der Stadtbücherei in den würfelförmigen Neubau (Architekt: Eun Young Yi) im Europaviertel fiel der Entschluss, hier das Stadtmuseum unterzubringen und einen Architektenwettbewerb auszuloben.

Offenheit und Aktivität statt bloßen Präsentierens

Den Zuschlag der Jury erhielt in der zweiten Runde einstimmig der Beitrag der Arbeitsgemeinschaft der Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei (LRO) und der Ausstellungsplaner jangled nerves. Während der Entwurf die Gremien des Gemeinderats passierte und ehe 2014 schließlich Baubeginn war, wurde das Haus fast eineinhalb Jahre lang als Ort für Kulturevents und täglichen Cafébetrieb zwischengenutzt. Dies war keineswegs nur als temporäre Bereicherung der Gastronomie- und Veranstaltungsszene gedacht, sondern sollte gezielt dazu beitragen, das Gebäude als offenes, kommunikatives Haus in den Köpfen der Menschen zu verankern. In die gleiche Richtung zielte das ebenfalls schon vorab aktive Stadtlabor, das seinen Platz nun im Gartengeschoss des Stadtmuseums finden wird. Zu dessen Aufgaben zählt es, Kindern und Jugendlichen grundlegende Aspekte von Architektur und Stadtplanung zu vermitteln.

Das Selbstverständnis des Stadtmuseums, nicht nur Artefakte zu konservieren und zu archivieren, sondern ein lebendiger Ort der Begegnung zu sein, verlangt nach einem Gebäude, das sich in besonderer Weise offen und durch­lässig zeigt. Da Veränderungen an der denkmalgeschützten Fassade nicht ­zulässig waren, kam zur Umsetzung dieser Idee nur der Innenraum infrage. Weil die vorgefundenen Räume hierfür zu hermetisch und daher ungeeignet waren, entschlossen sich die Planer, das Wilhelmspalais abermals vollständig zu entkernen und den Bestand durch einen selbsttragenden Stahlbetonbau zu ersetzen.

Wie schon die Stadtbücherei verfügt auch das Stadtmuseum über zwei Eingänge, durch die die Besucher ins erdgeschossige Foyer gelangen:­ ­einen Haupteingang mit Kutschenauffahrt von der Stadtseite und einen Eingang von der rückwärtigen Gartenseite. Letzterer führt von der erhöht liegenden Urbanstraße über eine bereits von Tiedje geschaffene, nun aber erneuerte Brücke ins Haus. Das Gebäudeinnere nimmt direkt Bezug auf das ursprüng­liche klassizistische Raumgefüge Saluccis. Zum einen durch die zwei an ähnlicher Stelle symmetrisch im vorderen Gebäudeteil gesetzten offenen Treppenräume, die eine von Einbauten freie Sichtachse zwischen Garten- und Stadtseite und dadurch eine enge visuelle Verknüpfung zur Stadt entstehen lassen, zum anderen durch das sich in jedem Geschoss wiederholende Motiv eines von tragenden Stützen gerahmten Bereichs in Gebäudemitte – eine Reverenz an die einstige Säulenhalle, die aber nur bedingt funktioniert, weil es keinen durchgängigen Luftraum gibt.

Neue Holzschatulle in klassizistischer Gebäudehülle

Das EG wirkt deshalb so erstaunlich großzügig, weil die beiden Haupt- und die beiden gartenseitigen Fluchttreppenräume derart geschickt angeordnet sind, dass ebenso offene wie klar definierte Bereiche entstehen: Empfangsbereich, Café, Museumsshop sowie zwei zur Planie orientierte Säle für Vorträge bzw. Diskussionen. Hinzu kommt, dass sich Garderoben, Schließfächer und Toiletten in einem darüber liegenden, niedrigen Zwischengeschoss befinden. Das zum Foyer im Bereich der »Säulenhalle« offene Zwischengeschoss, aber auch die großen Raumhöhen der oberen Ausstellungsgeschosse, erforderten aufgrund der aufeinander abzustimmenden Geschossdecken und Fassadenöffnungen minimierte Deckenaufbauten. Aus diesem Grund liegen – hier wie auch in den OGs – sämtliche haustechnischen Anlagen, Leitungen und Geräte nicht in abgehängten Decken, sondern im Zwischenraum von Neubau und alten Außenwänden. Die dadurch sehr tiefen Laibungen wirken dank der von innen kaum sichtbaren Fensterrahmen wie Vitrinen, die eine jeweils andere Ansicht der Stadt zeigen.

Alle vertikalen Oberflächen im Haus sind einheitlich mit einer hellen, präzise bündig eingepassten Birkenholzbekleidung versehen. Die Architekten sprechen in diesem Zusammenhang bildhaft von einer Schatulle, die das Innere einer »leeren Schachtel« auskleidet. EG und Zwischengeschoss bilden zusammen einen Bereich, den das Museum als »erweitertes Wohnzimmer der Stadt« betrachtet und der für abendliche Veranstaltungen genutzt oder auch vermietet werden kann.

Ausstellungsgestaltung noch geheim

Im 1. OG befindet sich der Dauerausstellungsbereich, der sich auf 900 m² »Stuttgarter Stadtgeschichte(n)« des 18. - 20. Jahrhunderts widmet – für die weiter zurückreichende Geschichte ist heute wie auch in Zukunft das Museum im Alten Schloss zuständig. Wie die Ausstellungsgestaltung im Detail aussieht und welche Objekte, Dokumente, Fotos und Filme hier genau präsentiert werden, will das Stadtmuseum heute, ein halbes Jahr vor Eröffnung, ­leider nicht veröffentlicht sehen. Fest steht allerdings, dass die Exponate aufgrund des Außenwandaufbaus, in dem auch die Lüftung untergebracht ist, nicht an den Wänden hängen, sondern frei im Raum stehen werden.

Im Gang zwischen den Haupttreppenräumen und dem großen Balkon am Haupteingang sollte ursprünglich das Café untergebracht werden, was ihm zweifellos eine einzigartige Präsenz zur Planie und Kunstmeile beschert hätte. Diese Idee blieb letztlich unrealisiert, v.a., weil die Lage im Foyer einige Vorteile bietet: Dort ist mehr Platz für Gäste und Küche, und auch der Veranstaltungs- und Ausstellungsbetrieb lässt sich so klarer trennen.

Außerdem erlaubt diese Lösung einen von Cafébesuchern unbeeinträchtigten Rundgang durch die Dauerausstellung. Ein Überbleibsel dieser erst spät im Realisierungs­prozess gefallenen Entscheidung sind die in die Fensternischen zum Balkon eingelassenen Sitzbänke.

Eine Außenbewirtung wird es statt auf dem Balkon nun auf der breiten Brücke am rückwärtigen Eingang geben. Von hier aus gelangen Besucher dann auch zu Veranstaltungen im neu gestalteten Garten – vor allem die Fläche ­unter der Brücke soll dem Stadtlabor als geschützter Freibereich für Aktivi­täten dienen. Eine mit Pflastersteinen befestigte Fläche ermöglicht dank ­vorgerichteter Anschlüsse auch hier die Bewirtung von Gästen.

Der Sonderausstellungsbereich im 2.OG beschränkt sich auf den gartensei­tigen Gebäudeteil und ist räumlich ebenso wie das EG stark geprägt vom ­Motiv der Säulenhalle. In diesem Fall wird der Raum innerhalb des Säulenkarrees von neun runden Oberlichtern bestimmt, die sich zur Steuerung der Tageslichtmenge von jeweils zwei halbkreisförmigen Klappflügeln schritt­weise schließen lassen. Bei geschlossenen Klapp­flügeln und zugleich ­geschlossenen, bündig in die Laibung integrierten Holz-Klappläden lässt sich der Raum bei Bedarf auch weitgehend ohne Tageslicht bespielen. Der Blick zur Planie bleibt in diesem Geschoss leider nur den Mitarbeitern des Stadtmuseums vorbehalten, deren Büros sich hier befinden.

Stadtreparatur in kleinen Schritten

Anders als die Stadtbücherei dürfte das Stadtmuseum als dezidiert mit der Öffentlichkeit interagierende Einrichtung nicht zuletzt wegen seinem einladend offenen Raumgefüge zum vollwertigen Baustein der Kulturmeile werden. Und mit dem bisher unerfüllten Wunsch der Architekten nach einer bis zur ­Konrad-Adenauer-Straße reichenden, flachen Sitztreppe, dürfte es auch ­gelingen, ein Stück Stadtraum zurückzuerobern. Wie gut es tut, wenn sich ­Gebäude der Verkehrsschneise zuwenden anstatt sich abzuschotten, zeigt auch der Entwurf einer solchen Treppe beim Erweiterungsbau der Landesbibliothek, den LRO ebenfalls gerade realisieren. Bleibt nur noch abzuwarten, wann und wie es gelingt, das Straßenmonster selbst zu bändigen. Ein neuer städtebaulicher Wettbewerb soll bald weitere Ideen liefern.

db, Mo., 2017.10.02

02. Oktober 2017 Roland Pawlitschko

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