Editorial

Wenn sich Innenräume und Gebäudehülle zu einem Gesamtbild fügen, ist das besonders beglückend – die Verwendung von Backstein ermöglicht eine solche Kongruenz.

Auf der Suche nach ökologisch sinnvollen und handwerklichen Baustoffen hat sich ausserdem eine neue Liebe zum Ziegelstein entwickelt, deren Spur inzwischen auch über die Gegenden Nordeuropas hinausweist, in denen Klinkerbauten traditionell verankert sind.

Beim Neubau eines Ferienhauses in Wales, in dem zwischen introvertierten und nach aussen gewandten Räumen unterschieden wird, betonen helle oder dunkle Steine die jeweilige Orientierung. Die starke Charakteristik gibt den Bewohnern vor, welcher Stimmung sie sich wo hingeben sollen. Derweil tritt der Anbau an ein viktorianisches Reihenhaus in London mit dem Backstein des Bestands in Dialog. So entsteht eine Raum­sequenz, die sich bis in den Garten zieht – dort kehrt der Ziegel als Bodenbelag wieder. In beiden Häusern bedienen sich die Architekten einer sorgfältigen Materialwahl, deren Raffinesse im Detail liegt.

Zusätzlich ergab sich ein weiteres Thema: Sowohl Erbar ­Mattes als frühere Mitarbeiter von David Chipperfield als auch John Pawson bewegen sich in der Welt des Minimalismus. Mit dem Inter­esse für Backstein erhält diese Architektursprache eine neue Facette, was den Autor des zweiten Artikels zu essayistischen Betrachtungen des Minimalismus in allen Ausdrucksformen der Kunst anregt.

Hella Schindel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ab durch die Mitte

12 PANORAMA
Barcelona baut | 125 Jahre Internationale Rhein­­regulie­rung IRR | Performance Gap – nein danke!

16 VITRINE
Gut eingerichtet

18 SIA
Dokumentiertes Verfahren notwendig | Der kleine, aber wichtige Unterschied zwischen Überstunden und Überzeit | Vernehmlassung | Identitätsstiftende Technikbauten | Studienauftrag, Testplanung & Co.

23 VERANSTALTUNGEN

THEMA
24 BACKSTEIN – NEUER FAVORIT DER MINIMALISTEN

24 KONTEMPLATION AUF ANSAGE
Hubertus Adam
John Pawson arbeitet neuerdings mit Ziegelsteinen und findet auch damit zu einem überzeu­genden Ausdruck.

29 GRENZENLOSER MIKROKOSMOS
Colin Fournier
Bei einem Anbau an ein Wohnhaus in London zeigen die Architekten Erbar Mattes einen virtuosen ­Umgang mit Backstein.

AUSKLANG
22 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Kontemplation auf Ansage

Wie ein Kloster liegt das «Life House» von John Pawson in den Hügeln von Wales. Helle und dunkle Backsteine prägen Gestalt und Innenräume des Ferienhauses. In ihrer handwerklichen Materialität und Schlichtheit vereinen sie zwei begehrte Aspekte: Natürlichkeit und Eleganz. Damit avancieren sie bei Minimalisten zum Baumaterial der Stunde.

Llanbister, idyllisch im Tal des mäandernden River Ithon gelegen, ist eine kleine Siedlung in der walisischen Grafschaft Powys, nah der Grenze zu den englischen Shropshire und ­Herefordshire. Hügel, so weit das Auge reicht, doch die meisten Böden erweisen sich als karg. Das die Landschaft prägende Halten von Schafen oder Kühen ist zumeist zum Nebenerwerb verkommen. Die nächsten Grossstädte sind fern: Birmingham im Osten, Manchester im Norden, Cardiff im Süden. Auch Bahnhöfe finden sich nicht in unmittelbarer Nähe; immerhin 10 Meilen sind es nach Llandrindod Wells, das aufgrund seiner Heilquellen im 18. und 19. Jahrhundert zur Sommerfrische für grossstadtgeplagte Londoner wurde.

Aber diese Zeiten sind lang vorbei. Als «touristisch» ist die Gegend kaum mehr zu bezeichnen, doch immerhin steht hier, umgeben von Viehweiden, etwa zwei Meilen südöstlich von Llanbister seit Jüngstem ein unge­wöhnliches Ferienhaus des britischen Minimalisten John Pawson. Zu erreichen ist das Anwesen über einen Fahrweg, der zunächst einen Hügel erklimmt und dann leicht abschüssig zu den vereinzelten Gehöften und Ställen im Gelände führt. Von aussen erscheint die ­Gruppe von Volumen mit flachgezogenen Satteldächern unscheinbar, nicht auffälliger als die landwirtschaftlichen Nutzbauten in der Umgebung.

Ein Korridor als roter Faden

Was von Weitem wie ein beiläufiges Arrangement von kleinen Baukörpern wirkt, ist in Wirklichkeit eine wohlkalkulierte orthogonale Komposition von Räumen, die über einen langen, rechtwinklig abknickenden Korridor erschlossen werden. Diesem sonst so ungeliebten Raum kommt hier nicht nur die Bedeutung einer Verbindungsachse, sondern auch die des Abstandhalters zwischen den einzelnen Räumen zu. Das Spiel mit Enge und Dunkelheit gegen Weite und Licht wird hier ausgereizt und zum Charakteristikum des Hauses.

Eine Aussenhaut aus kohlegeschwärzten Backsteinen, die leicht ins Bräunliche changieren und in einem helleren Grau verfugt sind, überzieht das Ensemble und verankert es in der kargen Natur. Das fleckige Fassadenbild lässt diverse Nachbearbeitungen erkennen. Der in den Hügel hineingegrabene Teil des Korridors mündet in einer ebenfalls anthrazitfarben ausgekleideten und zenital belichteten «Contemplation Chamber». In ihrem Boden ist genau unter dem Lichtschein eine Platte mit einem Satz aus Pascals «Pensées» in Versalien eingelassen: «All men’s miseries derive from not being able to sit in a quiet room alone.» Zwei Liegen an den Seiten laden die Gäste dazu ein, das ­Gegenteil zu beweisen. Ähnlich einer Grabkammer ist dieser Ort von der Aussenwelt abgewandt und nur durch das Oberlicht erhellt.

Die Innenwände im talseitigen Teil des Korridors sind – wie auch in sämtlichen Wohnräumen – mit hellem weissgrauem Backstein verkleidet. Der sich zur Landschaft öffnende Flur ist von Fenstern durchbrochen und endet an einer Glastür. Eine «Outside Contemplation Zone» als gemauerte Plattform bildet als sein Abschluss das Pendant zur schwarzen Medita­tionskapelle.

Autarke Wohnzellen mit Nachbarn

Zwischen diesen beiden Polen spannen sich die eigentlichen Wohnbereiche als vier separate Volumen auf. Deren grösstes ist die Wohnküche an der Gelenkstelle der beiden Korridorhälften. Des Weiteren existieren drei mit eigenen Bädern versehene Schlafräume, die jeweils ein bestimmtes Thema haben: Im «Library Bedroom» stehen ausgewählte, eigens gebundene Bücher zur Verfügung, deren Lektüre die therapeutische Intention des Hauses unterstützen mag; im «Music Bedroom» übernimmt eine Auswahl von CDs diese Funktion. Der «Bathing Bedroom» hingegen ist mit einem frei im Raum stehenden Badewannenaltar der körperlichen Entspannung gewidmet.

Die Bewohner können sich jeweils ganz für sich in einem der Räume aufhalten. Wenn sie Gesellschaft suchen, bewegen sie sich entlang der Achsen zu dem zentralen gemeinschaftlichen Bereich von Küche, Ess­platz und Wohnraum. Die Komposition aus Wegen und Aufenthaltsräumen erinnert an Kreuzgänge und Klosterzellen, was den Eindruck einer sakralen Architekturidee verstärkt.

Neben dem Ziegelstein der Wände bestimmen zwei weitere Materialien das Innere: geschliffener weis­ser Terrazzo als Bodenbelag sowie helles Douglasienholz für Einbauschränke, Regale und Deckenverkleidungen. Nichts im Innern wurde dem Zufall überlassen, Einrichtungsgegenstände entweder eigens entworfen oder sorgfältig ausgewählt. So ist ein Interieur entstanden, dessen Stimmigkeit zweifelsohne beeindruckt, das aber in seiner Konsequenz auch ein wenig beklemmend wirkt. Durch die direkte Verwendung der ausgewählten Baustoffe wird einem Purismus gehuldigt, der auch dem Gast nicht viel Spielraum lässt. Hier geht es offensichtlich mehr um Konzentration und innere Einkehr als um Entfaltung und Vergnügen.

Ästhetische Übung in den Ferien

Das sogenannte «Life House» gehört der Stiftung «Living Architecture», die für ihr Ziel mit dem Slogan «Holidays in modern architecture» wirbt und von Alain de Botton ins Leben gerufen wurde. Als Essayist hat sich der in London lebende Schriftsteller und Philosoph mit Schweizer Wurzeln einen Namen mit Büchern gemacht, die zwischen kulturkritischer Analyse und niveauvoller Ratgeberliteratur oszillieren. In einem zunehmend hektischen und entfremdeten Leben weist er der Architektur darin eine kompensatorische Rolle als Rückzugsort zu. Doch gerade in England, so führt de Botton gern aus, sei die Vorstellung vom Wohnen traditionalistisch und retrospektiv geprägt, als habe sich seit der Zeit von Jane Austen nichts verändert. Dem Dilemma des Schriftstellers, neue Ideen zwar zu denken, aber nicht umsetzen zu können, wollte er durch die Gründung von «Living Architecture» begegnen. Seit 2010 errichtet die Stiftung Ferienhäuser, die die Mieterinnen und Mieter von der Qualität zeitgenössischer Architektur überzeugen sollen.

So nachvollziehbar de Bottons volkspädagogischer Impuls ist, Breitenwirksamkeit wird seine Stiftung wohl kaum erreichen. Am Ende bedient sie eine designaffine Klientel, die statt in einem Boutiquehotel in der Stadt nun in einem mit Architektenlabel ver­sehenen Haus in der Landschaft Urlaub macht. Eine Hemmschwelle dürften auch die Preise darstellen: Wer das «Life House» in diesem Sommer buchen möchte, zahlt für eine Woche 2550 Pfund. Die Stiftung wird zwar nicht müde zu betonen, dass der Mietpreis sich bei voller Belegung relativiere, doch schlägt das für sechs Personen ausgelegte «Life House» pro Kopf und Nacht dann immer noch mit 60 Pfund zu Buche.

Bei der Idee von «Living Architecture» stand gemäss Alain de Botton der «Landmark Trust» Pate. Die seit 1965 bestehende Stiftung sorgt für den Erhalt historischer Baudenkmäler, indem sie sie in Feriendomizile umwidmet. Auch wenn «Living Architecture» keine künstlichen Ruinen baut: Das Spektrum der beteiligten Architekten ist breit gefächert, die Vorstellungen vom Wohnen sind unterschiedlich und undogmatisch. Sieben Projekte hat «Living Architecture» bislang realisiert.

Es begann im Jahr 2010 mit der «Balancing Barn» von MVRDV in Suffolk, einem wie extrudiert wirkenden Urhaus in Stangenform, das zur Hälfte frei über einem Abhang schwebt. Doch nicht alle teilnehmenden Architekten sind internationale Stars. Die Ironiker von FAT aus London waren zusammen mit dem Künstler Crayson Perry für das «House for Essex» verantwortlich, das junge schottische Büro Nord Architecture errichtete «The Shingle House» in Kent. Und wenn alles gut geht, gelangt in diesem Jahr auch das wohl publizitätsträchtigste Projekt zum Abschluss: «The Secular Retreat» von Peter Zumthor in der Grafschaft Devon.

Ziegel als Symbol des Einfachen

Mit John Pawson fiel für Llanbister die Wahl auf den wohl konsequentesten Verfechter eines ästhetischen Purismus und Minimalismus in der britischen Architektur. 1949 in Yorkshire geboren, hatte er einige prägende Jahre in Japan verbracht, bevor er nach einem abgebrochenen Architekturstudium in den Neunzigerjahren durch radikal reduziertes Shopdesign, etwa für das Label Calvin Klein, in Erscheinung trat. Sein Inter­esse für Askese und sakrale Räume führte zum Auftrag für ein Kloster im tschechischen Novy Dvur (1999–2004), ein Jahrzehnt später zu einer radikal puristischen Neugestaltung der St.-Moritz-Kirche in Augsburg (2008–2013). Dass Pawson aber auch durchaus sensibel mit sperrigen Bestandsgebäuden umzugehen vermag, bewies er unlängst durch den Umbau des früheren Commonwealth Institute in London zum neuen Domizil des Design ­Museum sowie die Umwidmung eines Bunkers zum Sitz der Feuerle Collection in Berlin.

In den 1990er-Jahren suchten eine Reihe von englischen Architekten Alternativen zum kommerziell erfolgreichen britischen Hightech sowie zur Formenopulenz in der Folge der Postmoderne. Florian Beigel und Philip Christou, Adam Caruso und Peter St. John, Jonathan Sergison und Peter Bates, aber auch Tony Fretton, David Adjaye oder Mark Pimlott fanden ihre Inspirationen im Werk der Smithsons sowie im Materialpurismus und in der Handwerklichkeit der Schweizer Architektur. Nicht zuletzt verhalfen sie dem Backstein, der ja lang eines der prägenden Baumaterialien des Landes gewesen war, zu neuer Akzeptanz.

Der Karrierebeginn Pawsons fällt in die gleiche Zeit, und er speist sich aus vergleichbaren Quellen. Doch unterscheidet sich sein Werk insofern, als das Thema des Selbstverständlichen und daher Gewöhn­lichen keine wichtige Rolle spielt. Vielmehr zielen ­Pawsons Bauten auf Perfektion und extrem durch­komponierte Ästhetik, die dazu neigt, eine parasakrale Atmosphäre entstehen zu lassen. Dabei trat das verwendete Baumaterial bisher bewusst in den Hintergrund – meistens erfüllten glatte Wände aus Sichtbeton die Notwendigkeit einer Raumhülle und ermöglichten eine monolithische Gestalt.

Der Einsatz von Ziegelstein, dessen Schönheit aus den Spuren der Herstellung und damit verbundenen Un­regelmässigkeiten entspringt, ist neu in Pawsons Werk und als Referenz an diese Bauaufgabe zu betrachten. Sowohl aussen als auch innen tritt der Ziegel als prägendes Element in Erscheinung. Durch den streng ra­tionalen Einsatz verliert er jedoch seine ursprünglich so bescheidene Konnotation. Ein eigentlich banales Material wird hier auratisiert.

Reduktion um jeden Preis

Bedarf es so viel Aufwands, um abschalten zu können? «Luxese» haben Trendforscher die Legierung von Luxus und Askese genannt, und dafür ist das Life House ein treffliches Beispiel: Nichts wurde gescheut, um Reduktion und Verzicht zu inszenieren. Und weil heimische Ziegeleien den Qualitätsansprüchen nicht genügten, wurden 80 000 handgestrichene Ziegel aus Dänemark importiert. Das Life House stellt sich als eigener Kosmos dar, der erstaunlich wenig mit Standort und Region zu tun hat. Das betrifft nicht nur die Wahl der Materialien, sondern auch den Bezug zur Aussenwelt. Zwar öffnet sich jeder der Wohnräume übereck zur Landschaft, doch bleiben die Ausblicke überraschend unbestimmt. Es gibt in der Umgebung von Llanbister viele Orte, die der Idee des «locus amoenus» durchaus entsprechen; der Ort, an dem das Life House steht, zählt eher nicht dazu. Weder ist die Aussicht beeindruckend, noch lädt die unmittelbare Umgebung zum Wandern ein. Trotz der Fenster bleibt das Interieur seltsam hermetisch und selbstbezogen.

Vielleicht verhält es sich mit dem «Life House» wie mit dem «Lifeboat»: Gerettet ist nur, wer an Bord ist. Für einige Tage kann das Leben in einem minimalistischen Folly des 21. Jahrhunderts eine reizvolle Erfahrung sein. Bis die bereitgestellten Bücher gelesen, die CDs gehört und die Contemplation Chamber ausreichend genutzt worden ist. Und das reale Leben wieder beginnt.

TEC21, Fr., 2017.09.08

08. September 2017 Hubertus Adam

Grenzenloser Mikrokosmos

Durch geschickte Verschiebungen im Grundriss verhelfen Erbar Mattes Architects einem typischen Londoner Stadthaus zu einer neuen Mitte. Alter und neuer Ziegelstein verbinden sich zu einem ­fliessenden Volumen im Innen- und Aussenraum.

Ist dieser Anbau an ein klassisch-viktorianisches Londoner Stadthaus als minimalistisch einzustufen? Darüber lässt sich gewiss diskutieren. Doch wenn ja, dann vermittelt die Analyse seiner einzigartigen Qualitäten eine Vorstellung davon, was Minimalismus im besten Fall für die Architektur bedeuten kann.

In der bildenden Kunst erlangte die Bewegung Kultstatus mit Künstlern wie Sol LeWitt, Carl Andre, Donald Judd, Frank Stella und Richard Serra. Sie suchten nach einer Philosophie und einer Praxis, die dem ent­gegenwirken würden, was sie als unnötigen Lärm, Wirrwarr und Redundanz von eher expressionistischen, dekorativen und schwelgerischen Kunstformen betrachteten. Zusammen mit der Konzeptkunst gehört der ­Minimalismus zu den Bewegungen, die an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte dazu beitrugen, unsere Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen oberflächlichen Reizen und grundlegenden Werten zu lenken – nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in Literatur, Musik, Theater und Film. Statt einer Verarmung der Formensprache Vorschub zu leisten, wozu der Modernismus in der Regel tendierte, trugen Minimalismus und Konzeptkunst dazu bei, unsere Wahrnehmung zu schärfen.

Zur Schärfung der Wahrnehmung

Viele Architekturhistoriker neigen dazu, die Ursprünge des Minimalismus allzu sehr zu vereinfachen, indem sie ihn im Wesentlichen auf zwei einflussreiche Vorbilder zurückführen: die Zen-Philosophie und die japanische Architektur, sowohl die klassische als auch die zeitgenössische, wie sie Tadao Ando oder Kazuyo Sejima vertreten. Doch es ist offensichtlich, dass die dialektische Gegenüberstellung von Komplexität und Einfachheit kein ausschliesslich östliches Phänomen darstellt, sondern allen Formen des künstlerischen Ausdrucks gemeinsam ist, seit jeher und in allen Kulturen.

Betrachtet man ein Gebäude wie das an der Harvey Road – ein Entwurf der jungen Architekten Demian Erbar und Holger Mattes –, so ist es wichtig zu verstehen, was mit Minimalismus wirklich gemeint ist. Zuweilen wird er als eine Art asketische Bemühung interpretiert, als ein puritanischer Versuch, die Sinne zu dämpfen und die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung, der symbolischen Erzählung und überhaupt aller materiel­len Freuden herunterzuspielen. Hierzu werden der Einsatz der Farbe eingeschränkt und die Materialpalette verkleinert; verwendet werden vorzugsweise geradlini­ge und rechtwinklige Formen, der Gegenpol zu organischen Kurven und deren potenziell erotischem Beigeschmack.

Diese extreme Interpretation zeigt den minimalistischen Entwerfer als frustrierten Puritaner, der alle anderen Formen schöpferischer Arbeit als unästhetische Auswüchse des Hedonismus betrachtet, als polymorph-­perverses Streben nach verbotenen Lüsten. Diese Karikatur sollte man im Hinterkopf haben, wenn man ein bedeutendes Werk minimalistischer Architektur analysiert. Denn bei aufmerksamer Betrachtung unterscheidet sich das tatsächliche Erleben des Objekts, des Raums ganz erheblich vom gängigen Klischee.

Das Haus an der Harvey Road zeugt tatsächlich von einem Streben nach Einfachheit und Klarheit, und die Form- und Materialpalette ist eingeschränkt. Doch paradoxerweise erzeugt genau das ein unmittelbares Gefühl von Wärme, Grosszügigkeit, Vielfalt und Überfluss. Was zunächst als eine Reduktion von Informa­tionen erscheint, erweist sich als das genaue Gegenteil: eine Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung, eine akute Schärfung der Empfindungen, die die Freude an der Raumerfahrung auf eine ruhige und einnehmende Weise steigern. Es ist die gleiche Wirkung wie jene, die der Theaterregisseur Peter Brook mit seinen Inszenierungen und Aufführungen erreicht und in seinem berühmten Buch «Der leere Raum» beschrieben hat; in ähnlich paradoxer Weise hat uns der Musiker John Cage mit seinem «stillen» Stück 4’33” bewusst gemacht, welchen unendlichen Reichtum die uns umgebenden Klanglandschaften bergen. Wir Architekten neigen ­vielfach zu starken visuellen Effekten und grob ver­einfachenden formalen Tricks – und sind oft blind für die Komplexität und Vielfalt von Reizen, die diskretere Quellen aussenden.
Subtile Differenzierungen

In diesem bahnbrechenden Haus ist ein ganzes Spektrum von scheinbar bescheidenen, im Grunde aber sehr kraftvollen Gestaltungsstrategien im Spiel. Ihre vielschichtige, sich gegenseitig verstärkende Wirkung ist sofort spürbar, wenn auch anfangs nur unbewusst.

Sechs Schlüsselmaterialien kommen zum Einsatz: Backstein, Holz, Beton, Glas, natürliches Licht und künstliches Licht. Die Subtilität des Entwurfs von Erbar Mattes Architects liegt einerseits darin, wie diese Komponenten zueinander in Beziehung stehen, und andererseits in den Variationen der einzelnen Materialien. In beiden Fällen zielt die Gestaltung darauf ab, gleichzeitig einen Effekt von Einheitlichkeit und Differenzierung, von Einfachheit und Komplexität zu erzeugen. Der Backstein, das für den Boden und einige vertikale Flächen verwendete Holz und auch der Beton haben einen sehr ähnlichen Ton und eine blasse, matte Oberfläche. Selbst die Verglasungen scheinen mit den anderen Oberflächen zu verschmelzen, weil die Details so ausgebildet sind, dass möglichst keine harten Schatten geworfen werden. Die diskret in die Holzelemente des Kochbereichs eingelassenen LED-Streifen leuchten in einem warmen weissen Licht und fügen sich ohne Misston zu den anderen Materialien. Dieser Sinn für Einheit und Verschmelzung ist so stark, dass man versucht ist, die Materialien zu berühren, um den Übergang zu spüren. Die Komponenten bedingen einander und behalten dennoch ihre spezifischen Eigenschaften und Unterschiede.

Diese inhärente kontrastierende Spannung setzt sich innerhalb der einzelnen Materialien fort. Der Backstein ist ein gewöhnlicher «Saint Ives Cream Rustica», der normalerweise etwas gelblich ist, mit roten und braun-schwarzen Flecken und einer unregelmässigen Oberfläche; hier wurde er mit einer dünnen Kalkmörtelschicht überzogen, die ihm seinen bodenständigen Charakter nimmt und eine flüchtigere, abstraktere Erscheinung verleiht. In der Folge erscheinen die gemauerten Flächen einheitlich und monolithisch; doch bei näherem Hinsehen werden doch wieder kleine Abweichungen erkennbar, die die Oberfläche beleben, ihr eine subtile Artikulation und Komplexität verleihen.

Dieser überraschende, geradezu magische Effekt zieht sich durch alle Ebenen des Entwurfs und bestimmt alle Elemente des Hauses. Die Eiche, die für die Fussböden, einen Teil der Wände und für Einbauten verwendet wurde, ist so behandelt, dass das Holz ähnlich hell und matt schimmert wie die anderen Oberflächen; doch extrem subtile Variationen in der Maserung an kaum wahrnehmbaren Stellen verhindern den Eindruck von Monotonie oder Sterilität. Der Beton wiederum ist in einem konstant hellen Ton gehalten, aber mit feinen Unterschieden in Körnung und Textur, je nachdem, ob er für tragende Elemente wie den schlanken Fenstersturz oder für Arbeitsflächen verwendet wurde. Die Öffnungen sind alle klar verglast, doch die Details sorgen für eine subtile Differenzierung zwischen Gartentüre, Festverglasung und Dachfenster. Sie sind verwandt, aber als unterschiedliche Typen erkennbar. Auch die LED-Beleuchtung, die im ganzen Haus verwendet wurde, kommt in drei verschiedenen Arten vor, je nachdem, ob sie im Holz, im Luftabzug an der Decke oder in Wandoberflächen integriert ist.

Definierte Raumsequenz bis in den Hof

Was für die Auswahl der einzelnen Materialien und den ausgeklügelten Umgang mit ihren Beziehungen untereinander gilt, trifft im grösseren Massstab auch auf die Planung und Gestaltung des Hauses als Ganzes zu. Die Architekten wollten zweierlei erreichen.

Zum einen strebten sie nach Klarheit und Einfachheit, um alle Teile des Hauses zu einer Einheit zu verschmelzen; zum anderen war es ihnen ein Anliegen, die spezifischen Eigenschaften und Besonderheiten eines jeden Teils zu betonen, die unterschiedlichen Arten, wie die Familie sie nutzt, und die möglichen Veränderungen im Lauf der Zeit. Eine aussergewöhnliche Mischung aus Homogenität und Heterogenität also, eine anspruchsvolle Symbiose von zwei scheinbar unvereinbaren Bestrebungen. Die Architekten haben diese Herausforderung mit klaren gestalterischen Entscheidungen gemeistert.

Was die Homogenität betrifft, haben sie mit der bereits erwähnten konsequenten Formensprache eine starke Zusammengehörigkeit erzeugt – beim Umgang mit allen Materialien und bei der Art und Weise, wie diese Materialien miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Das Haus liest sich durchgehend als kohärente Raumfolge, die vom Eingang auf der Strassenseite bis zum Hof auf der Rückseite eine harmonische Kontinuität zwischen innen und aussen schafft. Der Besucher spürt zuerst die fliessende Kontinuität dieser Bewegung und weniger den Charakter der einzelnen Bestandteile.

Insbesondere der Hof ist sofort als Teil dieses räumlichen Kontinuums fassbar. Man nimmt ihn primär als Raum wahr, weil er vorwiegend harte Oberflächen hat, bei denen eine ähnliche Qualität von Backstein und Beton verwendet wurde wie in den Innenräumen, und auch, weil der Boden des Wohnbereichs exakt auf das Niveau des Hofs abgesenkt wurde. Auf diese Weise entsteht das, was die Japaner poetisch den «Shakkei»-Effekt nennen: das «Ausleihen» eines Stücks Natur, das als Erweiterung in ein menschliches Artekfakt inte­griert wird. In dieser Hinsicht ist das Übergangselement zwischen drinnen und draussen – die niedrige Couch, die eine erfinderische Neuinterpretation des Bay Window verkörpert – ein hybrides Möbel, das gleichermassen ein Gegenstand des Innen- wie des Aussenbereichs ist und die beiden Reiche miteinander verbindet.

Im Sinne der Heterogenität beschlossen die ­Architekten schon recht früh im Planungsprozess, die Innenwände beim Umbau nicht abzureissen, was das Haus in einen grossen, undifferenzierten Raum verwandelt hätte. Stattdessen entschieden sie sich dafür, die Unterschiede zwischen den vier Bereichen im Erdgeschoss zu erhalten und zu überhöhen. So entstanden das gemütliche vordere Zimmer zur ruhigen Strasse hin, der dunkle Hauswirtschaftsraum, der grosszügiger­weise einiges an Unordnung verträgt, der vielseitig nutzbare Wohnbereich und der helle Aussenhof. Innerhalb dieser Teile entstehen wie in der fraktalen Geometrie weitere Differenzierungen; der Wohnbereich zum Beispiel teilt sich auf in Kochbereich, Essbereich, Sitz-/Fernsehbereich und Spielbereich.

Dazwischen gibt es keine Grenzen; die Nutzer definieren sie durch ihre Aktivitäten und ihr Verhalten. Vermutlich werden die verschiedenen Bereiche des Raums mit der Zeit, wenn sich das Licht im Lauf des Tages verändert, zum Leben erweckt und sorgen für eine a bwechslungsreiche Choreografie von Ereignissen. Die Gestaltung ermöglicht auf subtile Weise die Entstehung von unterschiedlichsten Nischen und Aktivitäten.

Ein kleines Haus, zumal am Anfang einer Archi­tektenkarriere, ist ein Mikrokosmos, in dem sich der ganze Ehrgeiz der jungen Entwerfer entfalten und in konzentrierter Form manifestieren kann. Im Fall von Erbar Mattes lassen der Reichtum des Entwurfs und die raffinierte Realisierung aussergewöhnliche Talente erahnen.


[Colin Fournier, AA Dip (Hon), ist emeritierter Professor für Architektur und Stadtplanung an der Bartlett School of Architecture, University College London.
(Übersetzung aus dem Englischen: TTN Translation Network, Genf)]

TEC21, Fr., 2017.09.08

08. September 2017 Colin Fournier

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