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08. September 2017Colin Fournier
TEC21

Grenzenloser Mikrokosmos

Durch geschickte Verschiebungen im Grundriss verhelfen Erbar Mattes Architects einem typischen Londoner Stadthaus zu einer neuen Mitte. Alter und neuer Ziegelstein verbinden sich zu einem ­fliessenden Volumen im Innen- und Aussenraum.

Durch geschickte Verschiebungen im Grundriss verhelfen Erbar Mattes Architects einem typischen Londoner Stadthaus zu einer neuen Mitte. Alter und neuer Ziegelstein verbinden sich zu einem ­fliessenden Volumen im Innen- und Aussenraum.

Ist dieser Anbau an ein klassisch-viktorianisches Londoner Stadthaus als minimalistisch einzustufen? Darüber lässt sich gewiss diskutieren. Doch wenn ja, dann vermittelt die Analyse seiner einzigartigen Qualitäten eine Vorstellung davon, was Minimalismus im besten Fall für die Architektur bedeuten kann.

In der bildenden Kunst erlangte die Bewegung Kultstatus mit Künstlern wie Sol LeWitt, Carl Andre, Donald Judd, Frank Stella und Richard Serra. Sie suchten nach einer Philosophie und einer Praxis, die dem ent­gegenwirken würden, was sie als unnötigen Lärm, Wirrwarr und Redundanz von eher expressionistischen, dekorativen und schwelgerischen Kunstformen betrachteten. Zusammen mit der Konzeptkunst gehört der ­Minimalismus zu den Bewegungen, die an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte dazu beitrugen, unsere Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen oberflächlichen Reizen und grundlegenden Werten zu lenken – nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in Literatur, Musik, Theater und Film. Statt einer Verarmung der Formensprache Vorschub zu leisten, wozu der Modernismus in der Regel tendierte, trugen Minimalismus und Konzeptkunst dazu bei, unsere Wahrnehmung zu schärfen.

Zur Schärfung der Wahrnehmung

Viele Architekturhistoriker neigen dazu, die Ursprünge des Minimalismus allzu sehr zu vereinfachen, indem sie ihn im Wesentlichen auf zwei einflussreiche Vorbilder zurückführen: die Zen-Philosophie und die japanische Architektur, sowohl die klassische als auch die zeitgenössische, wie sie Tadao Ando oder Kazuyo Sejima vertreten. Doch es ist offensichtlich, dass die dialektische Gegenüberstellung von Komplexität und Einfachheit kein ausschliesslich östliches Phänomen darstellt, sondern allen Formen des künstlerischen Ausdrucks gemeinsam ist, seit jeher und in allen Kulturen.

Betrachtet man ein Gebäude wie das an der Harvey Road – ein Entwurf der jungen Architekten Demian Erbar und Holger Mattes –, so ist es wichtig zu verstehen, was mit Minimalismus wirklich gemeint ist. Zuweilen wird er als eine Art asketische Bemühung interpretiert, als ein puritanischer Versuch, die Sinne zu dämpfen und die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung, der symbolischen Erzählung und überhaupt aller materiel­len Freuden herunterzuspielen. Hierzu werden der Einsatz der Farbe eingeschränkt und die Materialpalette verkleinert; verwendet werden vorzugsweise geradlini­ge und rechtwinklige Formen, der Gegenpol zu organischen Kurven und deren potenziell erotischem Beigeschmack.

Diese extreme Interpretation zeigt den minimalistischen Entwerfer als frustrierten Puritaner, der alle anderen Formen schöpferischer Arbeit als unästhetische Auswüchse des Hedonismus betrachtet, als polymorph-­perverses Streben nach verbotenen Lüsten. Diese Karikatur sollte man im Hinterkopf haben, wenn man ein bedeutendes Werk minimalistischer Architektur analysiert. Denn bei aufmerksamer Betrachtung unterscheidet sich das tatsächliche Erleben des Objekts, des Raums ganz erheblich vom gängigen Klischee.

Das Haus an der Harvey Road zeugt tatsächlich von einem Streben nach Einfachheit und Klarheit, und die Form- und Materialpalette ist eingeschränkt. Doch paradoxerweise erzeugt genau das ein unmittelbares Gefühl von Wärme, Grosszügigkeit, Vielfalt und Überfluss. Was zunächst als eine Reduktion von Informa­tionen erscheint, erweist sich als das genaue Gegenteil: eine Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung, eine akute Schärfung der Empfindungen, die die Freude an der Raumerfahrung auf eine ruhige und einnehmende Weise steigern. Es ist die gleiche Wirkung wie jene, die der Theaterregisseur Peter Brook mit seinen Inszenierungen und Aufführungen erreicht und in seinem berühmten Buch «Der leere Raum» beschrieben hat; in ähnlich paradoxer Weise hat uns der Musiker John Cage mit seinem «stillen» Stück 4’33” bewusst gemacht, welchen unendlichen Reichtum die uns umgebenden Klanglandschaften bergen. Wir Architekten neigen ­vielfach zu starken visuellen Effekten und grob ver­einfachenden formalen Tricks – und sind oft blind für die Komplexität und Vielfalt von Reizen, die diskretere Quellen aussenden.
Subtile Differenzierungen

In diesem bahnbrechenden Haus ist ein ganzes Spektrum von scheinbar bescheidenen, im Grunde aber sehr kraftvollen Gestaltungsstrategien im Spiel. Ihre vielschichtige, sich gegenseitig verstärkende Wirkung ist sofort spürbar, wenn auch anfangs nur unbewusst.

Sechs Schlüsselmaterialien kommen zum Einsatz: Backstein, Holz, Beton, Glas, natürliches Licht und künstliches Licht. Die Subtilität des Entwurfs von Erbar Mattes Architects liegt einerseits darin, wie diese Komponenten zueinander in Beziehung stehen, und andererseits in den Variationen der einzelnen Materialien. In beiden Fällen zielt die Gestaltung darauf ab, gleichzeitig einen Effekt von Einheitlichkeit und Differenzierung, von Einfachheit und Komplexität zu erzeugen. Der Backstein, das für den Boden und einige vertikale Flächen verwendete Holz und auch der Beton haben einen sehr ähnlichen Ton und eine blasse, matte Oberfläche. Selbst die Verglasungen scheinen mit den anderen Oberflächen zu verschmelzen, weil die Details so ausgebildet sind, dass möglichst keine harten Schatten geworfen werden. Die diskret in die Holzelemente des Kochbereichs eingelassenen LED-Streifen leuchten in einem warmen weissen Licht und fügen sich ohne Misston zu den anderen Materialien. Dieser Sinn für Einheit und Verschmelzung ist so stark, dass man versucht ist, die Materialien zu berühren, um den Übergang zu spüren. Die Komponenten bedingen einander und behalten dennoch ihre spezifischen Eigenschaften und Unterschiede.

Diese inhärente kontrastierende Spannung setzt sich innerhalb der einzelnen Materialien fort. Der Backstein ist ein gewöhnlicher «Saint Ives Cream Rustica», der normalerweise etwas gelblich ist, mit roten und braun-schwarzen Flecken und einer unregelmässigen Oberfläche; hier wurde er mit einer dünnen Kalkmörtelschicht überzogen, die ihm seinen bodenständigen Charakter nimmt und eine flüchtigere, abstraktere Erscheinung verleiht. In der Folge erscheinen die gemauerten Flächen einheitlich und monolithisch; doch bei näherem Hinsehen werden doch wieder kleine Abweichungen erkennbar, die die Oberfläche beleben, ihr eine subtile Artikulation und Komplexität verleihen.

Dieser überraschende, geradezu magische Effekt zieht sich durch alle Ebenen des Entwurfs und bestimmt alle Elemente des Hauses. Die Eiche, die für die Fussböden, einen Teil der Wände und für Einbauten verwendet wurde, ist so behandelt, dass das Holz ähnlich hell und matt schimmert wie die anderen Oberflächen; doch extrem subtile Variationen in der Maserung an kaum wahrnehmbaren Stellen verhindern den Eindruck von Monotonie oder Sterilität. Der Beton wiederum ist in einem konstant hellen Ton gehalten, aber mit feinen Unterschieden in Körnung und Textur, je nachdem, ob er für tragende Elemente wie den schlanken Fenstersturz oder für Arbeitsflächen verwendet wurde. Die Öffnungen sind alle klar verglast, doch die Details sorgen für eine subtile Differenzierung zwischen Gartentüre, Festverglasung und Dachfenster. Sie sind verwandt, aber als unterschiedliche Typen erkennbar. Auch die LED-Beleuchtung, die im ganzen Haus verwendet wurde, kommt in drei verschiedenen Arten vor, je nachdem, ob sie im Holz, im Luftabzug an der Decke oder in Wandoberflächen integriert ist.

Definierte Raumsequenz bis in den Hof

Was für die Auswahl der einzelnen Materialien und den ausgeklügelten Umgang mit ihren Beziehungen untereinander gilt, trifft im grösseren Massstab auch auf die Planung und Gestaltung des Hauses als Ganzes zu. Die Architekten wollten zweierlei erreichen.

Zum einen strebten sie nach Klarheit und Einfachheit, um alle Teile des Hauses zu einer Einheit zu verschmelzen; zum anderen war es ihnen ein Anliegen, die spezifischen Eigenschaften und Besonderheiten eines jeden Teils zu betonen, die unterschiedlichen Arten, wie die Familie sie nutzt, und die möglichen Veränderungen im Lauf der Zeit. Eine aussergewöhnliche Mischung aus Homogenität und Heterogenität also, eine anspruchsvolle Symbiose von zwei scheinbar unvereinbaren Bestrebungen. Die Architekten haben diese Herausforderung mit klaren gestalterischen Entscheidungen gemeistert.

Was die Homogenität betrifft, haben sie mit der bereits erwähnten konsequenten Formensprache eine starke Zusammengehörigkeit erzeugt – beim Umgang mit allen Materialien und bei der Art und Weise, wie diese Materialien miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Das Haus liest sich durchgehend als kohärente Raumfolge, die vom Eingang auf der Strassenseite bis zum Hof auf der Rückseite eine harmonische Kontinuität zwischen innen und aussen schafft. Der Besucher spürt zuerst die fliessende Kontinuität dieser Bewegung und weniger den Charakter der einzelnen Bestandteile.

Insbesondere der Hof ist sofort als Teil dieses räumlichen Kontinuums fassbar. Man nimmt ihn primär als Raum wahr, weil er vorwiegend harte Oberflächen hat, bei denen eine ähnliche Qualität von Backstein und Beton verwendet wurde wie in den Innenräumen, und auch, weil der Boden des Wohnbereichs exakt auf das Niveau des Hofs abgesenkt wurde. Auf diese Weise entsteht das, was die Japaner poetisch den «Shakkei»-Effekt nennen: das «Ausleihen» eines Stücks Natur, das als Erweiterung in ein menschliches Artekfakt inte­griert wird. In dieser Hinsicht ist das Übergangselement zwischen drinnen und draussen – die niedrige Couch, die eine erfinderische Neuinterpretation des Bay Window verkörpert – ein hybrides Möbel, das gleichermassen ein Gegenstand des Innen- wie des Aussenbereichs ist und die beiden Reiche miteinander verbindet.

Im Sinne der Heterogenität beschlossen die ­Architekten schon recht früh im Planungsprozess, die Innenwände beim Umbau nicht abzureissen, was das Haus in einen grossen, undifferenzierten Raum verwandelt hätte. Stattdessen entschieden sie sich dafür, die Unterschiede zwischen den vier Bereichen im Erdgeschoss zu erhalten und zu überhöhen. So entstanden das gemütliche vordere Zimmer zur ruhigen Strasse hin, der dunkle Hauswirtschaftsraum, der grosszügiger­weise einiges an Unordnung verträgt, der vielseitig nutzbare Wohnbereich und der helle Aussenhof. Innerhalb dieser Teile entstehen wie in der fraktalen Geometrie weitere Differenzierungen; der Wohnbereich zum Beispiel teilt sich auf in Kochbereich, Essbereich, Sitz-/Fernsehbereich und Spielbereich.

Dazwischen gibt es keine Grenzen; die Nutzer definieren sie durch ihre Aktivitäten und ihr Verhalten. Vermutlich werden die verschiedenen Bereiche des Raums mit der Zeit, wenn sich das Licht im Lauf des Tages verändert, zum Leben erweckt und sorgen für eine a bwechslungsreiche Choreografie von Ereignissen. Die Gestaltung ermöglicht auf subtile Weise die Entstehung von unterschiedlichsten Nischen und Aktivitäten.

Ein kleines Haus, zumal am Anfang einer Archi­tektenkarriere, ist ein Mikrokosmos, in dem sich der ganze Ehrgeiz der jungen Entwerfer entfalten und in konzentrierter Form manifestieren kann. Im Fall von Erbar Mattes lassen der Reichtum des Entwurfs und die raffinierte Realisierung aussergewöhnliche Talente erahnen.


[Colin Fournier, AA Dip (Hon), ist emeritierter Professor für Architektur und Stadtplanung an der Bartlett School of Architecture, University College London.
(Übersetzung aus dem Englischen: TTN Translation Network, Genf)]

TEC21, Fr., 2017.09.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|36 Backstein – neuer Favorit der Minimalisten

26. August 2016Colin Fournier
Anna Wirz-Justice
TEC21

Licht spüren

Erst wenn Licht auf unsere Augen trifft, können wir sehen. Doch unsere Augen steuern auch, wann wir wie wach und konzentriert sind. Unser Wohlbefinden hängt vom rechten Licht zur rechten Zeit ab. Das soll sich auch in Architektur und Planung niederschlagen.

Erst wenn Licht auf unsere Augen trifft, können wir sehen. Doch unsere Augen steuern auch, wann wir wie wach und konzentriert sind. Unser Wohlbefinden hängt vom rechten Licht zur rechten Zeit ab. Das soll sich auch in Architektur und Planung niederschlagen.

Schon der grosse Architekt Louis Kahn wusste: «Wenn ich einen Plan sehe, der versucht, mir Räume ohne Licht zu verkaufen, verwerfe ich ihn einfach, ohne weiter über ihn nachzudenken, weil ich weiss, dass er falsch ist.» Tatsächlich ermöglicht uns (Tages-)Licht mehr als die rein visuelle Wahrnehmung. Mit den Auswirkungen des 24-stündigen Hell-Dunkel-Zyklus und den jahreszeitlich bedingten Änderungen der Tagesdauer auf Biochemie, Physiologie und das Verhalten lebender Organismen befasst sich die Chronobiologie, die Wissenschaft von den biologischen Rhythmen.

In den letzten 25 Jahren entwickelte sie sich zu einem bedeutenden Forschungsgebiet, was insbesondere auf die Entdeckung der Uhren­gene und einer neuen Fotorezeptorzelle im Auge zurückzuführen ist. Letztere hat einen spezifischen Einfluss auf das circadiane System. Der innere Rhythmus wird «circadian» genannt, da er lediglich «circa diem» ist, seine Periodizität also nur ungefähr, aber nicht exakt bei 24 Stunden liegt. Die innere Zeit muss in den äusseren 24-Stunden-Tag über sogenannte «Zeitgeber» mitgenommen werden. Der wichtigste Zeitgeber für Menschen ist das Licht.

1980 entdeckten Forscher, dass es eine Lichtstärke von mehr als 1000 Lux braucht, um das circadiane System des Menschen zu beeinflussen. Dieser Wert entspricht der Lichtstärke im Freien, wenn die Sonne über den Horizont steigt.

Die biologische Uhr des Menschen

Das circadiane Zeitmesssystem besteht aus einer Anzahl untereinander verknüpfter Elemente. Jeder Mensch verfügt in seinem Gehirn über eine biologische Uhr. Gewisse Hormone (wie das in der Zirbeldrüse hergestellte Melatonin) können einen Rückkopplungseffekt auf diese Hauptuhr haben.

Informationen aus der Umwelt werden über Fotorezeptoren in den Ganglienzellen übermittelt, die das Fotopigment Melanopsin enthalten. Letzteres ist äusserst empfindlich gegenüber dem kurzwelligen Ende des sichtbaren Lichtspektrums, dem blauen Licht. Diese Fotorezeptoren sind mit einem nichtvisuellen Trakt verbunden, der zum Nucleus supra­chiasmaticus führt, einem Kerngebiet im Hypothalamus, in dem die innere Hauptuhr angesiedelt ist.

Nichtvisuell bedeutet, dass hier Informationen über Beleuchtungsstärke und Lichtspektrum übermittelt werden – im Gegensatz zu den klassischen Fotorezeptoren Stäbchen und Zapfen, die mit dem Sehtrakt verbunden sind. Letzterer führt in Gehirnbereiche, die für die Wahrnehmung von Farben, Linien, Bewegung und Formen verantwortlich sind. Uhrengene sind ein wichtiger Bestimmungsfaktor unserer circadianen Rhythmik. Individuen unterscheiden sich stark voneinander, was zu Unterschieden im Schlaf-Wach-Zyklus oder zu sogenannten Chrono­typen führt (frühe Chronotypen = «Lerchen», späte Chronotypen = «Eulen»).

Zusätzlich zu einem genetischen Bestimmungsfaktor ändert sich der Chronotyp im Lauf der Entwicklung. So sind Kinder eher Frühaufsteher, zu Beginn der Pubertät verschiebt sich ihr Schlaf-Wach-Zyklus aber zunehmend auf spätere Zeiten. Ab dem Ende der Adoleszenz kehrt sich diese entwicklungsmässig bedingte Verzögerung langsam um und führt schliesslich zum frühen morgendlichen Erwachen und frühen Zubettgehen älterer Menschen. Deswegen kann man auf Teenager und Bewohner von Pflegeheimen nicht dieselben Beleuchtungskriterien anwenden und darf nicht davon ausgehen, dass ein bestimmtes, zeitlich fixiertes Lichtprogramm auf Personen mit verschiedenen Chronotypen passt.

Eindeutig hingegen sind die Ergebnisse bei der Untersuchung saisonaler und nichtsaisonaler Depression wie auch bei einer Reihe psychiatrischer und neurologischer Störungen. Sie zeigen, dass ein nach Intensität, Dauer und Zeitpunkt strukturiertes Licht­programm therapeutische Wirkung entfaltet. Um diese Krankheiten zu vermeiden, ist daher besonderes Augenmerk auf die tägliche Lichtexposition zu richten. Letztere ist als grundlegender Faktor für Gesundheit und Wohlbefinden zu betrachten.

Umsetzung in die Praxis

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse für Planung, Architektur und Innenarchitektur? Folgende Richt­linien können als Leitfaden dienen:

Es kann sinnvoll sein, dass in Wohnungen und an Arbeitsplätzen zu gewissen Tageszeiten eine höhere Lichtintensität herrscht, ohne dass der visuelle Komfort beeinträchtigt wird. Dies ist jedoch nicht in allen Bereichen nötig (Energieverlust), sondern vor allem in der Nähe des menschlichen Auges. Unterschiedliche Chronotypen erfordern personalisierte Lichtprogramme.

Spezifische Anforderungen verschiedener Altersgruppen müssen berücksichtigt werden. Jugend­lichen und jungen Erwachsenen kommt ein helles Morgenlicht so früh wie möglich nach dem Aufstehen (am Frühstückstisch) oder auch eine im Schlafzimmer simulierte Dämmerung zugute.

Schulräume können in der ersten Stunde helle Beleuchtung brauchen. Im Gegensatz hierzu kann Abendlicht älteren Personen in ihrer bevorzugten Umgebung dabei helfen, vor dem Zubettgehen länger wach zu bleiben.

Diese höhere Lichtintensität sollte so weit wie möglich durch die Verwendung von natürlichem Licht erreicht werden, da es im Vergleich zu künstlichem Licht stärkere Beleuchtung und zudem weitere Zeitgebersignale bietet: variierende Beleuchtungsgrade, Farbtemperatur (vgl. Glossar; Kasten unten) und Sonnenausrichtung im Tagesverlauf von morgens bis abends. Auch die verschiedenen Arten von Zwielicht entfalten eine biologische Wirkung und umfassen sieben Grös­senordnungen unterhalb des bei Sonnenaufgang herrschenden Lichts.

Innenräume von Gebäuden sollten so gestaltet sein, dass sie die durch Lauf und Stand der Sonne bedingten Mitnahmesignale nicht behindern, indem beschattete Flächen minimiert werden und der Ausblick in die Ferne ermöglicht wird.

Das verbreitetste Beispiel einer solchen Gestaltung ist die Ausrichtung von Schlafzimmern Richtung Osten, sodass die Lichtverhältnisse am Morgen auf den physiologischen Zeitpunkt des Erwachens abgestimmt sind. Es kann von Vorteil sein, dieses Prinzip auf andere Tätigkeiten anzuwenden, die regelmässig innerhalb von Gebäuden stattfinden.

Fehlt ausreichend Tageslicht, sollte die künstliche Beleuchtung jene Prinzipien des natürlichen Lichts simulieren, die für die Chronobiologie relevant sind.

Bei der Flächennutzung sollte die Stadtplanung das umfassende Erleben circadianer und saisonaler Rhythmen der natürlichen Umwelt ermöglichen.

Künstliches Licht: nah am Original

Die Entdeckung des blauempfindlichen melanopsinhaltigen Fotorezeptors sowie Studien, die aufzeigen, dass monochromatisches Blaulicht am wirksamsten ist, um Melatonin zu unterdrücken, die Phasen circadianer Rhythmen zu verschieben sowie Wachsamkeit und Leistung zu steigern, haben dafür gesorgt, dass die Entwicklung von Beleuchtungssystemen mit hoher Farb­temperatur intensiv vorangetrieben wurde.

Indes ist das circadiane System nicht ganz so einfach und zu viel Blaulicht nicht immer positiv. Rotes Licht kann den Melanopsin-Fotorezeptor dahingehend sensibilisieren, die Melatoninunter­drückung und Phasenverschiebung zu verstärken. Demzufolge spielen die Zapfen, die bei Tageslicht der aktiven Sehfunktion dienen, auch eine Rolle. Zukünftige dynamische Beleuchtungssysteme sollten Licht in verschiedenen Farben für verschiedene Zwecke (erhöhte Wachsamkeit oder Hilfe beim Einschlafen) in bestimmter Abfolge und in verschiedenen Intensitäten erzeugen.

Schon heute sind Gebäude mit zahlreichen Zeitmessgeräten und Sensoren ausgerüstet, die während des Tageszyklus verschiedene Parameter der inneren Umgebung justieren; die Temperaturregelung ist das beste Beispiel. In Zukunft könnten auch Fotosensoren Informationen über die aussen herrschenden Lichtverhältnisse liefern und das Kunstlicht im Inneren jeweils entsprechend adaptieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Lichtverschmutzung: Künstliche Lichtquellen in privaten und öffentlichen Räumen sollten so konzipiert und platziert werden, dass sie die nächtliche Lichtverschmutzung gering halten, um in den städtischen Wohngebieten wie auch den Schlafräumen der Wohnungen angemessene Dunkelheit zu schaffen. Dunkelheit ist ein wichtiger Bestimmungsfaktor für circadiane Anpassung, genau wie der graduelle Übergang von ­Dunkelheit zum hellen Tag im Zwielicht (vgl. «Die Sonne ins Zimmer holen»).

[Anna Wirz-Justice, PhD, ist emeritierte Professorin am Zentrum für Chronobiologie – Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Colin Fournier, AA Dip (Hon), ist emeritierter Professor für Architektur und Stadtplanung an der Bartlett School of ­Architecture, University College London
Übersetzung aus dem Englischen: TTN Translation Network, Genf]


Anmerkung:
Dieser Abdruck ist eine gekürzte Version des Artikels. Das Original erschien erstmals in der Zeitschrift «World Health Design», Januar 2010, S. 44–49.

TEC21, Fr., 2016.08.26



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TEC21 2016|35 Dynamisches Licht

Bauwerke

Presseschau 12

08. September 2017Colin Fournier
TEC21

Grenzenloser Mikrokosmos

Durch geschickte Verschiebungen im Grundriss verhelfen Erbar Mattes Architects einem typischen Londoner Stadthaus zu einer neuen Mitte. Alter und neuer Ziegelstein verbinden sich zu einem ­fliessenden Volumen im Innen- und Aussenraum.

Durch geschickte Verschiebungen im Grundriss verhelfen Erbar Mattes Architects einem typischen Londoner Stadthaus zu einer neuen Mitte. Alter und neuer Ziegelstein verbinden sich zu einem ­fliessenden Volumen im Innen- und Aussenraum.

Ist dieser Anbau an ein klassisch-viktorianisches Londoner Stadthaus als minimalistisch einzustufen? Darüber lässt sich gewiss diskutieren. Doch wenn ja, dann vermittelt die Analyse seiner einzigartigen Qualitäten eine Vorstellung davon, was Minimalismus im besten Fall für die Architektur bedeuten kann.

In der bildenden Kunst erlangte die Bewegung Kultstatus mit Künstlern wie Sol LeWitt, Carl Andre, Donald Judd, Frank Stella und Richard Serra. Sie suchten nach einer Philosophie und einer Praxis, die dem ent­gegenwirken würden, was sie als unnötigen Lärm, Wirrwarr und Redundanz von eher expressionistischen, dekorativen und schwelgerischen Kunstformen betrachteten. Zusammen mit der Konzeptkunst gehört der ­Minimalismus zu den Bewegungen, die an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte dazu beitrugen, unsere Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen oberflächlichen Reizen und grundlegenden Werten zu lenken – nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in Literatur, Musik, Theater und Film. Statt einer Verarmung der Formensprache Vorschub zu leisten, wozu der Modernismus in der Regel tendierte, trugen Minimalismus und Konzeptkunst dazu bei, unsere Wahrnehmung zu schärfen.

Zur Schärfung der Wahrnehmung

Viele Architekturhistoriker neigen dazu, die Ursprünge des Minimalismus allzu sehr zu vereinfachen, indem sie ihn im Wesentlichen auf zwei einflussreiche Vorbilder zurückführen: die Zen-Philosophie und die japanische Architektur, sowohl die klassische als auch die zeitgenössische, wie sie Tadao Ando oder Kazuyo Sejima vertreten. Doch es ist offensichtlich, dass die dialektische Gegenüberstellung von Komplexität und Einfachheit kein ausschliesslich östliches Phänomen darstellt, sondern allen Formen des künstlerischen Ausdrucks gemeinsam ist, seit jeher und in allen Kulturen.

Betrachtet man ein Gebäude wie das an der Harvey Road – ein Entwurf der jungen Architekten Demian Erbar und Holger Mattes –, so ist es wichtig zu verstehen, was mit Minimalismus wirklich gemeint ist. Zuweilen wird er als eine Art asketische Bemühung interpretiert, als ein puritanischer Versuch, die Sinne zu dämpfen und die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung, der symbolischen Erzählung und überhaupt aller materiel­len Freuden herunterzuspielen. Hierzu werden der Einsatz der Farbe eingeschränkt und die Materialpalette verkleinert; verwendet werden vorzugsweise geradlini­ge und rechtwinklige Formen, der Gegenpol zu organischen Kurven und deren potenziell erotischem Beigeschmack.

Diese extreme Interpretation zeigt den minimalistischen Entwerfer als frustrierten Puritaner, der alle anderen Formen schöpferischer Arbeit als unästhetische Auswüchse des Hedonismus betrachtet, als polymorph-­perverses Streben nach verbotenen Lüsten. Diese Karikatur sollte man im Hinterkopf haben, wenn man ein bedeutendes Werk minimalistischer Architektur analysiert. Denn bei aufmerksamer Betrachtung unterscheidet sich das tatsächliche Erleben des Objekts, des Raums ganz erheblich vom gängigen Klischee.

Das Haus an der Harvey Road zeugt tatsächlich von einem Streben nach Einfachheit und Klarheit, und die Form- und Materialpalette ist eingeschränkt. Doch paradoxerweise erzeugt genau das ein unmittelbares Gefühl von Wärme, Grosszügigkeit, Vielfalt und Überfluss. Was zunächst als eine Reduktion von Informa­tionen erscheint, erweist sich als das genaue Gegenteil: eine Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung, eine akute Schärfung der Empfindungen, die die Freude an der Raumerfahrung auf eine ruhige und einnehmende Weise steigern. Es ist die gleiche Wirkung wie jene, die der Theaterregisseur Peter Brook mit seinen Inszenierungen und Aufführungen erreicht und in seinem berühmten Buch «Der leere Raum» beschrieben hat; in ähnlich paradoxer Weise hat uns der Musiker John Cage mit seinem «stillen» Stück 4’33” bewusst gemacht, welchen unendlichen Reichtum die uns umgebenden Klanglandschaften bergen. Wir Architekten neigen ­vielfach zu starken visuellen Effekten und grob ver­einfachenden formalen Tricks – und sind oft blind für die Komplexität und Vielfalt von Reizen, die diskretere Quellen aussenden.
Subtile Differenzierungen

In diesem bahnbrechenden Haus ist ein ganzes Spektrum von scheinbar bescheidenen, im Grunde aber sehr kraftvollen Gestaltungsstrategien im Spiel. Ihre vielschichtige, sich gegenseitig verstärkende Wirkung ist sofort spürbar, wenn auch anfangs nur unbewusst.

Sechs Schlüsselmaterialien kommen zum Einsatz: Backstein, Holz, Beton, Glas, natürliches Licht und künstliches Licht. Die Subtilität des Entwurfs von Erbar Mattes Architects liegt einerseits darin, wie diese Komponenten zueinander in Beziehung stehen, und andererseits in den Variationen der einzelnen Materialien. In beiden Fällen zielt die Gestaltung darauf ab, gleichzeitig einen Effekt von Einheitlichkeit und Differenzierung, von Einfachheit und Komplexität zu erzeugen. Der Backstein, das für den Boden und einige vertikale Flächen verwendete Holz und auch der Beton haben einen sehr ähnlichen Ton und eine blasse, matte Oberfläche. Selbst die Verglasungen scheinen mit den anderen Oberflächen zu verschmelzen, weil die Details so ausgebildet sind, dass möglichst keine harten Schatten geworfen werden. Die diskret in die Holzelemente des Kochbereichs eingelassenen LED-Streifen leuchten in einem warmen weissen Licht und fügen sich ohne Misston zu den anderen Materialien. Dieser Sinn für Einheit und Verschmelzung ist so stark, dass man versucht ist, die Materialien zu berühren, um den Übergang zu spüren. Die Komponenten bedingen einander und behalten dennoch ihre spezifischen Eigenschaften und Unterschiede.

Diese inhärente kontrastierende Spannung setzt sich innerhalb der einzelnen Materialien fort. Der Backstein ist ein gewöhnlicher «Saint Ives Cream Rustica», der normalerweise etwas gelblich ist, mit roten und braun-schwarzen Flecken und einer unregelmässigen Oberfläche; hier wurde er mit einer dünnen Kalkmörtelschicht überzogen, die ihm seinen bodenständigen Charakter nimmt und eine flüchtigere, abstraktere Erscheinung verleiht. In der Folge erscheinen die gemauerten Flächen einheitlich und monolithisch; doch bei näherem Hinsehen werden doch wieder kleine Abweichungen erkennbar, die die Oberfläche beleben, ihr eine subtile Artikulation und Komplexität verleihen.

Dieser überraschende, geradezu magische Effekt zieht sich durch alle Ebenen des Entwurfs und bestimmt alle Elemente des Hauses. Die Eiche, die für die Fussböden, einen Teil der Wände und für Einbauten verwendet wurde, ist so behandelt, dass das Holz ähnlich hell und matt schimmert wie die anderen Oberflächen; doch extrem subtile Variationen in der Maserung an kaum wahrnehmbaren Stellen verhindern den Eindruck von Monotonie oder Sterilität. Der Beton wiederum ist in einem konstant hellen Ton gehalten, aber mit feinen Unterschieden in Körnung und Textur, je nachdem, ob er für tragende Elemente wie den schlanken Fenstersturz oder für Arbeitsflächen verwendet wurde. Die Öffnungen sind alle klar verglast, doch die Details sorgen für eine subtile Differenzierung zwischen Gartentüre, Festverglasung und Dachfenster. Sie sind verwandt, aber als unterschiedliche Typen erkennbar. Auch die LED-Beleuchtung, die im ganzen Haus verwendet wurde, kommt in drei verschiedenen Arten vor, je nachdem, ob sie im Holz, im Luftabzug an der Decke oder in Wandoberflächen integriert ist.

Definierte Raumsequenz bis in den Hof

Was für die Auswahl der einzelnen Materialien und den ausgeklügelten Umgang mit ihren Beziehungen untereinander gilt, trifft im grösseren Massstab auch auf die Planung und Gestaltung des Hauses als Ganzes zu. Die Architekten wollten zweierlei erreichen.

Zum einen strebten sie nach Klarheit und Einfachheit, um alle Teile des Hauses zu einer Einheit zu verschmelzen; zum anderen war es ihnen ein Anliegen, die spezifischen Eigenschaften und Besonderheiten eines jeden Teils zu betonen, die unterschiedlichen Arten, wie die Familie sie nutzt, und die möglichen Veränderungen im Lauf der Zeit. Eine aussergewöhnliche Mischung aus Homogenität und Heterogenität also, eine anspruchsvolle Symbiose von zwei scheinbar unvereinbaren Bestrebungen. Die Architekten haben diese Herausforderung mit klaren gestalterischen Entscheidungen gemeistert.

Was die Homogenität betrifft, haben sie mit der bereits erwähnten konsequenten Formensprache eine starke Zusammengehörigkeit erzeugt – beim Umgang mit allen Materialien und bei der Art und Weise, wie diese Materialien miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Das Haus liest sich durchgehend als kohärente Raumfolge, die vom Eingang auf der Strassenseite bis zum Hof auf der Rückseite eine harmonische Kontinuität zwischen innen und aussen schafft. Der Besucher spürt zuerst die fliessende Kontinuität dieser Bewegung und weniger den Charakter der einzelnen Bestandteile.

Insbesondere der Hof ist sofort als Teil dieses räumlichen Kontinuums fassbar. Man nimmt ihn primär als Raum wahr, weil er vorwiegend harte Oberflächen hat, bei denen eine ähnliche Qualität von Backstein und Beton verwendet wurde wie in den Innenräumen, und auch, weil der Boden des Wohnbereichs exakt auf das Niveau des Hofs abgesenkt wurde. Auf diese Weise entsteht das, was die Japaner poetisch den «Shakkei»-Effekt nennen: das «Ausleihen» eines Stücks Natur, das als Erweiterung in ein menschliches Artekfakt inte­griert wird. In dieser Hinsicht ist das Übergangselement zwischen drinnen und draussen – die niedrige Couch, die eine erfinderische Neuinterpretation des Bay Window verkörpert – ein hybrides Möbel, das gleichermassen ein Gegenstand des Innen- wie des Aussenbereichs ist und die beiden Reiche miteinander verbindet.

Im Sinne der Heterogenität beschlossen die ­Architekten schon recht früh im Planungsprozess, die Innenwände beim Umbau nicht abzureissen, was das Haus in einen grossen, undifferenzierten Raum verwandelt hätte. Stattdessen entschieden sie sich dafür, die Unterschiede zwischen den vier Bereichen im Erdgeschoss zu erhalten und zu überhöhen. So entstanden das gemütliche vordere Zimmer zur ruhigen Strasse hin, der dunkle Hauswirtschaftsraum, der grosszügiger­weise einiges an Unordnung verträgt, der vielseitig nutzbare Wohnbereich und der helle Aussenhof. Innerhalb dieser Teile entstehen wie in der fraktalen Geometrie weitere Differenzierungen; der Wohnbereich zum Beispiel teilt sich auf in Kochbereich, Essbereich, Sitz-/Fernsehbereich und Spielbereich.

Dazwischen gibt es keine Grenzen; die Nutzer definieren sie durch ihre Aktivitäten und ihr Verhalten. Vermutlich werden die verschiedenen Bereiche des Raums mit der Zeit, wenn sich das Licht im Lauf des Tages verändert, zum Leben erweckt und sorgen für eine a bwechslungsreiche Choreografie von Ereignissen. Die Gestaltung ermöglicht auf subtile Weise die Entstehung von unterschiedlichsten Nischen und Aktivitäten.

Ein kleines Haus, zumal am Anfang einer Archi­tektenkarriere, ist ein Mikrokosmos, in dem sich der ganze Ehrgeiz der jungen Entwerfer entfalten und in konzentrierter Form manifestieren kann. Im Fall von Erbar Mattes lassen der Reichtum des Entwurfs und die raffinierte Realisierung aussergewöhnliche Talente erahnen.


[Colin Fournier, AA Dip (Hon), ist emeritierter Professor für Architektur und Stadtplanung an der Bartlett School of Architecture, University College London.
(Übersetzung aus dem Englischen: TTN Translation Network, Genf)]

TEC21, Fr., 2017.09.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|36 Backstein – neuer Favorit der Minimalisten

26. August 2016Colin Fournier
Anna Wirz-Justice
TEC21

Licht spüren

Erst wenn Licht auf unsere Augen trifft, können wir sehen. Doch unsere Augen steuern auch, wann wir wie wach und konzentriert sind. Unser Wohlbefinden hängt vom rechten Licht zur rechten Zeit ab. Das soll sich auch in Architektur und Planung niederschlagen.

Erst wenn Licht auf unsere Augen trifft, können wir sehen. Doch unsere Augen steuern auch, wann wir wie wach und konzentriert sind. Unser Wohlbefinden hängt vom rechten Licht zur rechten Zeit ab. Das soll sich auch in Architektur und Planung niederschlagen.

Schon der grosse Architekt Louis Kahn wusste: «Wenn ich einen Plan sehe, der versucht, mir Räume ohne Licht zu verkaufen, verwerfe ich ihn einfach, ohne weiter über ihn nachzudenken, weil ich weiss, dass er falsch ist.» Tatsächlich ermöglicht uns (Tages-)Licht mehr als die rein visuelle Wahrnehmung. Mit den Auswirkungen des 24-stündigen Hell-Dunkel-Zyklus und den jahreszeitlich bedingten Änderungen der Tagesdauer auf Biochemie, Physiologie und das Verhalten lebender Organismen befasst sich die Chronobiologie, die Wissenschaft von den biologischen Rhythmen.

In den letzten 25 Jahren entwickelte sie sich zu einem bedeutenden Forschungsgebiet, was insbesondere auf die Entdeckung der Uhren­gene und einer neuen Fotorezeptorzelle im Auge zurückzuführen ist. Letztere hat einen spezifischen Einfluss auf das circadiane System. Der innere Rhythmus wird «circadian» genannt, da er lediglich «circa diem» ist, seine Periodizität also nur ungefähr, aber nicht exakt bei 24 Stunden liegt. Die innere Zeit muss in den äusseren 24-Stunden-Tag über sogenannte «Zeitgeber» mitgenommen werden. Der wichtigste Zeitgeber für Menschen ist das Licht.

1980 entdeckten Forscher, dass es eine Lichtstärke von mehr als 1000 Lux braucht, um das circadiane System des Menschen zu beeinflussen. Dieser Wert entspricht der Lichtstärke im Freien, wenn die Sonne über den Horizont steigt.

Die biologische Uhr des Menschen

Das circadiane Zeitmesssystem besteht aus einer Anzahl untereinander verknüpfter Elemente. Jeder Mensch verfügt in seinem Gehirn über eine biologische Uhr. Gewisse Hormone (wie das in der Zirbeldrüse hergestellte Melatonin) können einen Rückkopplungseffekt auf diese Hauptuhr haben.

Informationen aus der Umwelt werden über Fotorezeptoren in den Ganglienzellen übermittelt, die das Fotopigment Melanopsin enthalten. Letzteres ist äusserst empfindlich gegenüber dem kurzwelligen Ende des sichtbaren Lichtspektrums, dem blauen Licht. Diese Fotorezeptoren sind mit einem nichtvisuellen Trakt verbunden, der zum Nucleus supra­chiasmaticus führt, einem Kerngebiet im Hypothalamus, in dem die innere Hauptuhr angesiedelt ist.

Nichtvisuell bedeutet, dass hier Informationen über Beleuchtungsstärke und Lichtspektrum übermittelt werden – im Gegensatz zu den klassischen Fotorezeptoren Stäbchen und Zapfen, die mit dem Sehtrakt verbunden sind. Letzterer führt in Gehirnbereiche, die für die Wahrnehmung von Farben, Linien, Bewegung und Formen verantwortlich sind. Uhrengene sind ein wichtiger Bestimmungsfaktor unserer circadianen Rhythmik. Individuen unterscheiden sich stark voneinander, was zu Unterschieden im Schlaf-Wach-Zyklus oder zu sogenannten Chrono­typen führt (frühe Chronotypen = «Lerchen», späte Chronotypen = «Eulen»).

Zusätzlich zu einem genetischen Bestimmungsfaktor ändert sich der Chronotyp im Lauf der Entwicklung. So sind Kinder eher Frühaufsteher, zu Beginn der Pubertät verschiebt sich ihr Schlaf-Wach-Zyklus aber zunehmend auf spätere Zeiten. Ab dem Ende der Adoleszenz kehrt sich diese entwicklungsmässig bedingte Verzögerung langsam um und führt schliesslich zum frühen morgendlichen Erwachen und frühen Zubettgehen älterer Menschen. Deswegen kann man auf Teenager und Bewohner von Pflegeheimen nicht dieselben Beleuchtungskriterien anwenden und darf nicht davon ausgehen, dass ein bestimmtes, zeitlich fixiertes Lichtprogramm auf Personen mit verschiedenen Chronotypen passt.

Eindeutig hingegen sind die Ergebnisse bei der Untersuchung saisonaler und nichtsaisonaler Depression wie auch bei einer Reihe psychiatrischer und neurologischer Störungen. Sie zeigen, dass ein nach Intensität, Dauer und Zeitpunkt strukturiertes Licht­programm therapeutische Wirkung entfaltet. Um diese Krankheiten zu vermeiden, ist daher besonderes Augenmerk auf die tägliche Lichtexposition zu richten. Letztere ist als grundlegender Faktor für Gesundheit und Wohlbefinden zu betrachten.

Umsetzung in die Praxis

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse für Planung, Architektur und Innenarchitektur? Folgende Richt­linien können als Leitfaden dienen:

Es kann sinnvoll sein, dass in Wohnungen und an Arbeitsplätzen zu gewissen Tageszeiten eine höhere Lichtintensität herrscht, ohne dass der visuelle Komfort beeinträchtigt wird. Dies ist jedoch nicht in allen Bereichen nötig (Energieverlust), sondern vor allem in der Nähe des menschlichen Auges. Unterschiedliche Chronotypen erfordern personalisierte Lichtprogramme.

Spezifische Anforderungen verschiedener Altersgruppen müssen berücksichtigt werden. Jugend­lichen und jungen Erwachsenen kommt ein helles Morgenlicht so früh wie möglich nach dem Aufstehen (am Frühstückstisch) oder auch eine im Schlafzimmer simulierte Dämmerung zugute.

Schulräume können in der ersten Stunde helle Beleuchtung brauchen. Im Gegensatz hierzu kann Abendlicht älteren Personen in ihrer bevorzugten Umgebung dabei helfen, vor dem Zubettgehen länger wach zu bleiben.

Diese höhere Lichtintensität sollte so weit wie möglich durch die Verwendung von natürlichem Licht erreicht werden, da es im Vergleich zu künstlichem Licht stärkere Beleuchtung und zudem weitere Zeitgebersignale bietet: variierende Beleuchtungsgrade, Farbtemperatur (vgl. Glossar; Kasten unten) und Sonnenausrichtung im Tagesverlauf von morgens bis abends. Auch die verschiedenen Arten von Zwielicht entfalten eine biologische Wirkung und umfassen sieben Grös­senordnungen unterhalb des bei Sonnenaufgang herrschenden Lichts.

Innenräume von Gebäuden sollten so gestaltet sein, dass sie die durch Lauf und Stand der Sonne bedingten Mitnahmesignale nicht behindern, indem beschattete Flächen minimiert werden und der Ausblick in die Ferne ermöglicht wird.

Das verbreitetste Beispiel einer solchen Gestaltung ist die Ausrichtung von Schlafzimmern Richtung Osten, sodass die Lichtverhältnisse am Morgen auf den physiologischen Zeitpunkt des Erwachens abgestimmt sind. Es kann von Vorteil sein, dieses Prinzip auf andere Tätigkeiten anzuwenden, die regelmässig innerhalb von Gebäuden stattfinden.

Fehlt ausreichend Tageslicht, sollte die künstliche Beleuchtung jene Prinzipien des natürlichen Lichts simulieren, die für die Chronobiologie relevant sind.

Bei der Flächennutzung sollte die Stadtplanung das umfassende Erleben circadianer und saisonaler Rhythmen der natürlichen Umwelt ermöglichen.

Künstliches Licht: nah am Original

Die Entdeckung des blauempfindlichen melanopsinhaltigen Fotorezeptors sowie Studien, die aufzeigen, dass monochromatisches Blaulicht am wirksamsten ist, um Melatonin zu unterdrücken, die Phasen circadianer Rhythmen zu verschieben sowie Wachsamkeit und Leistung zu steigern, haben dafür gesorgt, dass die Entwicklung von Beleuchtungssystemen mit hoher Farb­temperatur intensiv vorangetrieben wurde.

Indes ist das circadiane System nicht ganz so einfach und zu viel Blaulicht nicht immer positiv. Rotes Licht kann den Melanopsin-Fotorezeptor dahingehend sensibilisieren, die Melatoninunter­drückung und Phasenverschiebung zu verstärken. Demzufolge spielen die Zapfen, die bei Tageslicht der aktiven Sehfunktion dienen, auch eine Rolle. Zukünftige dynamische Beleuchtungssysteme sollten Licht in verschiedenen Farben für verschiedene Zwecke (erhöhte Wachsamkeit oder Hilfe beim Einschlafen) in bestimmter Abfolge und in verschiedenen Intensitäten erzeugen.

Schon heute sind Gebäude mit zahlreichen Zeitmessgeräten und Sensoren ausgerüstet, die während des Tageszyklus verschiedene Parameter der inneren Umgebung justieren; die Temperaturregelung ist das beste Beispiel. In Zukunft könnten auch Fotosensoren Informationen über die aussen herrschenden Lichtverhältnisse liefern und das Kunstlicht im Inneren jeweils entsprechend adaptieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Lichtverschmutzung: Künstliche Lichtquellen in privaten und öffentlichen Räumen sollten so konzipiert und platziert werden, dass sie die nächtliche Lichtverschmutzung gering halten, um in den städtischen Wohngebieten wie auch den Schlafräumen der Wohnungen angemessene Dunkelheit zu schaffen. Dunkelheit ist ein wichtiger Bestimmungsfaktor für circadiane Anpassung, genau wie der graduelle Übergang von ­Dunkelheit zum hellen Tag im Zwielicht (vgl. «Die Sonne ins Zimmer holen»).

[Anna Wirz-Justice, PhD, ist emeritierte Professorin am Zentrum für Chronobiologie – Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Colin Fournier, AA Dip (Hon), ist emeritierter Professor für Architektur und Stadtplanung an der Bartlett School of ­Architecture, University College London
Übersetzung aus dem Englischen: TTN Translation Network, Genf]


Anmerkung:
Dieser Abdruck ist eine gekürzte Version des Artikels. Das Original erschien erstmals in der Zeitschrift «World Health Design», Januar 2010, S. 44–49.

TEC21, Fr., 2016.08.26



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