Editorial

Seit Bischof Heinrich von Thun im Jahr 1225 die Mittlere Brücke bauen liess, ist Basel ein Verkehrsknotenpunkt. Diese Brücke, damals zum Teil noch aus Holz, war der erste und einzige feste Übergang über den Rhein zwischen Bodensee und Nordsee. Mit ihrem Bau begann eine Entwicklung, von der sich die heutige Position der Stadt als wirtschaftliches Zentrum einer trinationalen Grossregion herleitet. Erreichbarkeit ist seit Jahrhunderten ein wichtiger Standortfaktor. Mit dieser Anekdote eröffnete der ehemalige Regierungspräsident Guy Morin den ersten Bahnkongress in Basel im Jahr 2013.

Knapp 800 Jahre nach dem Bau dieser Rheinbrücke ist Basel nach wie vor eine bedeutende Drehscheibe für den Verkehr auf Schiene, Strasse, zu Wasser und in der Luft. Der Begriff Nadelöhr ist immer öfter zu hören, und auch in der Region Basel wird das Verkehrsaufkommen weiter steigen. Eine effiziente Infrastruktur- und Angebotsplanung soll helfen, den prognostizierten Zuwachs zu bewältigen. Seit Jahren diskutiert man darüber, die drei Bahnhöfe der Stadt ­unter­irdisch zu verbinden. Im April 2017 präsentierten die Verantwortlichen die neue Linien­führung des sogenannten «Herzstücks» – mit überraschendem städtebaulichem Potenzial.

Interessant ist die Lage der beiden geplanten Tiefhaltestellen Klybeck und Basel Mitte. Mit der einen erhält das bedeutende Entwicklungsgebiet im Basler Norden einen S-Bahn-Anschluss (vgl. TEC21 20/2016, 42/2016), die an­dere erschliesst das Zentrum mit dem Ort, der die Ursprünge der Stadt definiert. Grund genug für uns, das Projekt aus verschiedenen Blickwinkeln anzuschauen.

Daniela Dietsche, Bauingenieurin und Fachjournalistin Ingenieurwesen / Verkehr
Susanne Frank, Redaktorin Architektur/Städtebau

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Feuer, Feuer, Ungeheuer!

11 PANORAMA
Tragwerke als Baukunst | Eine Hängebrücke eröffnet neue Perspektiven | Auch in der Kürze liegt die Würze

15 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

16 SIA
Aktuelles Leben im Zwischenraum | Fachtagung zu Stadtplätzen | Zwischen Expertise und Baumediation

20 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 HERZSTÜCK BASEL – S-BAHN INS ZENTRUM

22 HERZSTÜCK AUFGEGLEIST
Daniela Dietsche, Götz Schackenberg
Variante «Hoch Y»: So sieht die neue Linienführung aus.

26 GLÜCKLICHE SYNERGIE
Beat Aeberhard, Michael Heinrich
Ein kommentierter Fotoessay zu markanten Punkten entlang der geplanten S-Bahn-Strecke durch Basel.

30 «BASEL BRAUCHT DIESEN WICHTIGEN SCHLUSSSTEIN»
Susanne Frank
Ein Gespräch mit Pierre de Meuron über die Bedeutung des Projekts für die Metropolitanregion Basel und die ganze Schweiz.

AUSKLANG
34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Herzstück aufgegleist

Die Planung für ein trinationales S-Bahn-System in der Metropolitanregion Basel ist einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das Projekt ­«Herzstück» wird die drei Basler Bahnhöfe verbinden, die Innenstadt und wichtige ­Entwicklungsgebiete erhalten ­zwei neue Tiefhaltestellen. Der Projektleiter und eine Fachjournalistin erörtern den Stand der Dinge.

Arbeitsreiche Monate liegen hinter den Basler Entscheidungsträgern und den beteiligten Planungsbüros, die verschiedene Varianten studierten, um die drei Basler Bahnhöfe – Bahnhof SBB, Badischer Bahnhof sowie den Bahnhof St. Johann – mit einem System von Eisenbahntunnels zu verbinden. Dieses Tunnelsystem, auch als «Herzstück» bekannt, ist das Schlüsselelement im gesamten Projektportfolio, das zur Schaffung eines erstmalig ganzheitlichen und modernen S-Bahn-Systems in der Dreiländerregion notwendig ist.

Erst diese Infrastruktur, territorial zu 100 % im Perimeter des Stadtkantons gelegen, wird es ermöglichen, die S-Bahnen als Durchmesserlinien fahren zu lassen. Durchmesserlinien bedeuten hierbei konkret, dass Durchbindungen aus allen sieben um Basel lie­genden Talschaften durch das Stadtzentrum hindurch ermöglicht werden. In der dicht besiedelten Agglomeration wird das einen überregionalen, trinationalen Nutzen entfalten – und Basel als bedeutender Verkehrsdrehscheibe angemessen gerecht werden.

Ende April 2017 wurden der zu den Arbeiten zugehörige Synthesebericht[1] abgeschlossen und die Erkenntnisse mit entsprechenden Empfehlungen der Öffentlichkeit präsentiert. Aus einem Fächer an un­tersuchten Varianten und Kombinationen hat sich «Hoch Y» als Basis- und zugleich Bestvariante herauskristallisiert. «Hoch» bedeutet, dass ein Eisenbahn­tunnelsystem unter der Stadt, ca. 6.5 km lang, jeweils ober­irdisch bzw. im heutigen Gleisniveau an den Bahnhof SBB und den Badischen Bahnhof angeschlossen wird und somit auf aufwendige Tiefbahnhöfe ver­zichtet ­werden kann. «Y» steht für einen Abzweig ab der Tiefhaltestelle Mitte, mit dem der Streckenast aus und in Richtung EuroAirport, über den Bahnhof St. Johann führend, ebenfalls an das S-Bahn-Netz angebunden werden kann. Obwohl in erster Priorität das Gesamtsystem realisiert werden soll, wäre der Y-Ast auch als Option denkbar, was eine zeitlich gestaffelte Umsetzung ermöglichen würde.

Das Ende vom Enden und Wenden

In Basel hat sich – auch aufgrund seiner Grenzlage – ein spezielles, dezentrales Bahnhofsystem entwickelt. Es gibt keinen zentralen Bahnhof in der Stadtmitte, sondern mit dem Bahnhof SBB und dem Badischer Bahnhof zwei, die eher peripher liegen und zudem von verschiedenen Ländern und Bahnunternehmen mit unter­schiedlichen Aufgabenstellungen betrieben werden. Historisch bedingt sind beide als End- bzw. Durchgangsbahnhöfe konzipiert und auch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die sogenannte Verbindungsbahn im Osten der Stadt miteinander verbunden worden.[2] Der dritte Bahnhof St. Johann hat seine historische Funktion weitgehend verloren und wird heute untergeordnet als reiner Haltepunkt durch den Regionalverkehr bedient.

Der Bahnhof SBB und der Badische Bahnhof werden durch den Regionalverkehr bzw. den in Basel gegenwärtig nur rudimentär bestehenden Mittelverteiler S-Bahn fast ausnahmslos als Kopfbahnhöfe genutzt. Die hieraus resultierenden Richtungswechsel führen zum einen dazu, dass Passagiere umsteigen und lange Wartehalte in Kauf nehmen müssen. Zum anderen ­verschlingen die notwendigen Wendemanöver ­wertvolle bahnbetriebliche Kapazitäten, womit eine organisatorisch günstigere Entflechtung von Fern- und Regionalverkehr heute nicht gegeben ist.

Mit den neuen Durchmesserlinien durch das Herzstück hindurch sowie einem insgesamt dichteren S-Bahn-Takt ab 2030/35 wird hier insgesamt Abhilfe geschaffen. Denn von einem besseren Angebot profitieren die Reisenden durch individuellere Ziel- und Routenwahl, weniger Umsteigevorgänge und auch kürzere Reisezeiten. Bei den prognostizierten Wachstumsraten im öV werden insbesondere die lokalen Feinverteiler Bus und Tram, aber auch der Fernverkehr auf den Zulaufstrecken entlastet. Auch lassen sich so die Personen­frequenzen im Stadtgebiet insgesamt besser verteilen. Insbesondere auf den Bahnhof SBB, der bereits heute zu Stosszeiten sichtbar an seine Kapazitätsgrenze gerät, wird das entlastende Auswirkungen haben. Aktuelle Berechnungen in dem für die Region massgebenden Gesamtverkehrsmodell (GVM) belegen diese Aussagen mit zugehörigen Auswertungen.

Schneller in die Stadtmitte

Mit der neuen unterirdischen Verbindung eröffnet sich auch die Möglichkeit, das Stadtzentrum und potenzielle städtische Entwicklungsgebiete direkt mit der Bahn zu erreichen. So ist eine Tiefhaltestelle Basel-Mitte im Raum Universität, Marktplatz, Universitätsspital und Schifflände sowie eine zweite im Klybeckquartier in Basels Norden vorgesehen (Karte).

Am Bahnhof SBB bietet sich zudem die Chance, einen zweiten leistungsfähigen Perronzu- bzw. -abgang zu schaffen: Im Westen des Bahnhofs wird eine neue Margarethenbrücke zu einem städtebaulich attraktiven Platz und einer verkehrstechnisch leistungsfähigen öV-Drehscheibe erweitert. Neben dem Potenzial, hier einen attraktiven Umsteigeort zu schaffen, wird der Stadt auch zu einer neuen Visitenkarte verholfen. Denn von hier eröffnet sich über die Achse Margarethenbrücke – Innere Margarethenstrasse eine zweite, direktere Anbindung an die Innenstadt als ­bisher einzig über den Centralbahnplatz und Aeschengraben. Die evaluierte Bestvariante ist somit, neben bautechnischen- und bahnbetrieblichen Aspekten, insbesondere aus der Optik des Städtebaus attraktiv, weil sie neben dem Stadtzentrum auch den grossen Entwicklungsschwerpunkt Basel Nord erschliesst (vgl. Foto­essay «Glückliche Synergie» und Interview mit Pierre de Meuron).

Der Eisenbahntunnel unter Basel

Da in Basel die Fläche sehr begrenzt ist, kann sich die Infrastruktur nicht weiter in die Breite entwickeln. Die Lösung liegt in der Tiefe, in diesem konkreten Fall als Durchmesserlinie unter der Stadt, dem Rhein und der Wiese hindurch – teilweise bis zu 30 m unter Terrain. Vorgesehen sind derzeit zwei parallel verlaufende, eingleisige Bahntunnel mit einem Innendurchmesser von 8.50 m. Der Abstand zwischen den Achsen der Röhren beträgt in der Regel 18 m; der Abstand der Fluchtstollen ca. 500 m. Die Evakuation würde über die Ausgänge der Tiefhaltestellen erfolgen. Die Abmessungen betreffend Lichtraumprofil, Längsneigung und Kurvenradien lassen die Nutzung durch gängiges Rollmaterial ohne Einschränkung zu.

Denn Infrastruktur, speziell Tunnels, werden mit einem Anlagenhorizont von bis zu 100 Jahren und damit für Generationen gebaut. Demnach ist das Betriebs-, Nutzungs- und Unterhaltsdesign so nachhaltig anzulegen, dass sich verändernde gesellschaftliche Ansprüche, speziell im Hinblick auf Mobilitäts- und Angebotswünsche, auch in Zukunft flexibel abbilden lassen. Die Bahnhöfe der SBB und DB werden in der Variante Hoch im heutigen Gleisniveau erschlossen. Der Verzicht auf Tiefbahnhöfe, die in ­anderen Varianten ebenfalls detailliert untersucht wurden, ermöglicht einen einfacheren Betrieb der Bahnhöfe, geringere Behinderungen während der Bauphase, tiefere Erstellungskosten und damit ein überzeugendes volkswirtschaftliches Nutzen-Kosten-Verhältnis für das Gesamtvorhaben.[3]

Gemäss aktueller Konzeption ist die bauliche Realisierung des Herzstücks wie folgt angedacht: Ab einem Startschacht im Bereich nördlich des Badischen Bahnhofs werden die Tunnelröhren bergmännisch mittels Tunnelvortriebsmaschine aufgefahren, unmittelbar gefolgt vom Roh- bzw. Endausbau sowie den Installationen für Bahn- und Sicherheitstechnik. Die Rampen zu den Tunnelröhren werden dagegen im Tagbau erstellt. Ebenfalls ist im Bereich Badischer Bahnhofs angedacht, die gesamte Logistik für die Abfuhr des Tunnelausbruchs sowie die Anfuhr der Baumaterialien vorzuhalten, im Idealfall rein über Bahntransporte. Untertage werden u. a. auch die zwei Ka­vernen für die neuen Tiefhaltestellen erstellt, gefolgt vom Bau/Ausbau der Mittelperrons, Verteil- und Zugangsebenen sowie Zugangsstollen in die Stadtebene hinein. Somit werden sich die baubedingten Einwirkungen im Stadtbild selbst auf ein Minimum reduzieren lassen.

Interdisziplinäres Projekt

In der ersten Phase ging es darum, die Machbarkeit des Gesamtvorhabens aus Sicht diverser integral zusammenhängender Fachgebiete zu bestätigen. Ebenfalls konnten die betriebs- und volkswirtschaftlichen Effekte positiv untermauert und plausibilisiert werden. Die Gremien der übergeordneten Bahnknotenorganisation, in der u. a. Vertreter der Kantone BS/BL, der Bahngesellschaften sowie des Bundesamts für Verkehr (BAV) eingebunden sind, werden nun darauf fokussieren, die übergeordnete Aufbau- und Ablauforganisation zu definieren sowie das gesamte Projektportfolio einzurichten. Im Schlüsselprojekt «Herzstück», das im Jahr 2014 durch die beiden Kantonsparlamente BS/BL mit einem gemeinsamen Projektierungskredit als Vorinvestition ausgestattet wurde, werden die Arbeiten ebenfalls fortgeführt. Die Beteiligten werden in den nächsten Jahren u. a. mit Fach- und Objektstudien bis hin zum eigentlichen Vorprojekt das Vorhaben vertiefen.

Mit dem Synthesebericht (Interview mit Rudolf Dieterle, Kasten unten) und dem optimierten Herzstück-Antrag haben die beiden Basel auch einen taktischen Schritt auf den Bund zu gemacht: Während es bei den meisten Bahnprojekten, die derzeit für die Aufnahme in den STEP AS 2030/35 des Bundes diskutiert werden, primär um den Abbau von Überlasten und damit um die Verbesserung bestehender Infrastrukturen geht, ist das System der tri­nationalen S-Bahn mit dem Schlüsselprojekt Herzstück vergleichbar mit einer Neuanlage, die auch die Ziele der Raumplanung sowie der Siedlungs-und Stadtentwicklung ganzheitlich berücksichtigt. Diese integrale Konzeption dürfte als Novum zu bewerten sein.


Anmerkungen:
[01] Zukunft Bahnknoten Basel, Synthesebericht, Ausgestaltung der notwendigen Infrastrukturen zur Realisierung eines trinationalen S-Bahn-Systems, Version 1.0, 18. April 2017.
[02] Vgl. Beat von Wartburg, «Vom Eiland zum Dreiland», in TEC21 42/2016.
[03] Gemäss den Ermittlungen im Synthesebericht kostet allein das Schlüsselobjekt Herzstück, ohne Zulaufstrecken, jedoch inklusive Anbindung an die Bahnhöfe, 1924 Mio. Fr. Mit dem Y-Ast (inklusive zugehörigen Ausbauten der Bahnhöfe St. Johann und EuroAirport) belaufen sich die Kosten auf 2777 Mio. Fr.

TEC21, Fr., 2017.07.14

14. Juli 2017 Daniela Dietsche, Götz Schackenberg

Glückliche Synergie

Oft sind Schienenprojekte verkehrlich getrieben. Doch in Basel könnten mit dem «Herzstück» – neben verbesserter Infrastruktur und effizienterem Angebot – auch bedeutende Stadtentwicklungspotenziale erschlossen werden. Anhand der Fotos von Michael Heinrich kommentiert der Basler Kantonsbaumeister Beat Aeberhard für TEC21 ausgewählte Punkte.

14. Juli 2017 Beat Aeberhard

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«Basel braucht diesen wichtigen Schlussstein»

Das Basler S-Bahn-Projekt hat nicht nur regionale, sondern auch nationale Bedeutung. Pierre de Meuron erläutert den Gewinn für die Stadt- und Raumplanung mit Blick auf die verschiedenen ­ Massstabsebenen und die gesellschaftlichen Dimensionen.

TEC21: Herr de Meuron, Sie engagieren sich sehr für die trinationale S-Bahn. Warum ist dieses Projekt so wichtig?
Pierre de Meuron: Das Projekt birgt beträchtliche Potenziale, nicht nur aus verkehrstechnischer Sicht, sondern besonders auch für die Stadt- und ­Raumentwicklung. Um diese zu erschliessen, müssen wir verschiedene Massstabsebenen in die Betrachtung einbeziehen. Unser Ansatz ist ein territorialer, d. h., wir betrachten das Territorium mit den drei Elementen – Landschaft, Siedlung und Infrastruktur – aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wir haben die gesellschaftliche Dimension, das betrifft etwa Fragen der Mobilität und Siedlungsentwicklung, aber auch die wirtschaftlichen Themen. Basel als einer der wichtigen, dynamischen und erfolgreichen Wirtschaftsstandorte in der Schweiz braucht eine effi­ziente und leistungsfähige Infrastruktur. Es ist also nicht nur ein regionales Thema, es hat eine nationale Bedeutung – und dadurch auch eine internationale.

TEC21: Warum ist das Projekt bedeutend für die Schweiz?
Pierre de Meuron: Wenn Basel erfolgreich ist und dynamisch bleibt, unterstützt das die gesamte Schweizer ­Wirtschaft. Effiziente Infrastrukturen fördern das Zusammenwachsen der Region, die Wirtschaft im Metropolitanraum wird so insgesamt noch schlagkräftiger. Davon profitiert das ganze Land. Doch ­ es gilt, nicht nur den regionalen Verkehr zu betrachten, sondern auch den Güter- und Fernverkehr. International gesehen ist die Schweiz bedeutend für die Nord-Süd-Verbindung von Kopenhagen, Hamburg, Frankfurt durch die Alpen in Richtung Italien – ­Basel spielt hier eine Schlüsselrolle.

TEC21: Welche Funktion hat der Verkehrsknoten Basel in der europäischen Verkehrs- und Güterinfrastruktur?
Pierre de Meuron: Eine wichtige – in der Region Basel kommt infrastruk­turell sehr viel zusammen. Wir müssen die verschiedenen Verkehrsströme, regional und international, sowie den Güterverkehr aufeinander abstimmen. Basel, früher das «goldene Tor zur Schweiz», ist heute noch immer einer der Haupteingangs- bzw. -ausgangsorte für den Import respektive den Export. Zudem lagern hier in Basel die Not­vorräte, etwa an Getreide oder Mineral­öl, über die für einige Monate der gesamtschweize­rische Bedarf abgedeckt werden kann. Aus meiner Sicht wird in der Schweiz zu wenig wahrgenommen, welche Bedeutung Basel hat.

TEC21: Wie wird das S-Bahn-Projekt die Entwicklung der Metropolitanregion Basel beeinflussen?
Pierre de Meuron: Dazu ist es wichtig zu verstehen, wie sich Siedlungen entwickeln und wo Entwicklungspoten­ziale zu finden sind. Die Öffnung nach Norden am Rheinknie prägt die geografische und topografische Lage von Basel. Dieser Ort ist von der Bronzezeit bis zum Mittelalter durch verschiedene Bedürfnisse der Gemeinschaft immer wieder als Zentrum be­stätigt worden. Jede Stadt hat andere Energien und entwickelt ihre eigene Identität. Basel eben durch die Krümmung ­des Rheins – und gleichzeitig durch die Zuflüsse aus den Tälern. Durch diese Seitenarme haben sich die Siedlungsgebiete als Talschaften ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund betrachten wir die Überlegungen zur Siedlungsentwicklung und Mobilität im Zusammenhang, um die Beziehung zum Zentrum zu stärken und das Wachstum entlang dieser Siedlungsachsen zu steuern.

TEC21: Die Aufgabe war, ein im Ansatz vorhandenes S-Bahn-System zu vervollständigen. Wie sind Sie vorgegangen, um ein Konzept zu finden, das die bestehende Situation verbessert und den verschiedenen Ansprüchen gerecht wird?
Pierre de Meuron: Es fehlt bislang ein wichtiges Teilstück. Und nun geht es um die Frage, wie das bestehende S-Bahn-System mit diesem Teilstück in all dem, was schon da ist, topografisch und im Hinblick auf die bestehenden Siedlungs- und Infrastrukturen, ver­bessert werden soll. Wir haben hierzu eine Methode entwickelt und verschiedene Varianten analysiert, weil es sehr viele Dimensionen zu berücksichtigen und viele Akteure zu verstehen und miteinzubeziehen gilt, damit wir am Schluss die Lösung finden, die am besten nachzuvollziehen ist. Den Weg der Entscheidung dazu wollten wir offen­legen und transparent machen.

TEC21: Das jetzige System gilt als nicht mehr zeitgemäss. Wo liegen die Probleme?
Pierre de Meuron: Im Moment haben wir ein halb fertiges S-Bahn-System in Basel. Es ist wie ein Gewölbe, das seinen Schlussstein braucht, damit es tragfähig wird. Basel als eine der drei grossen Metropolitanregionen in der Schweiz braucht diesen Schlussstein, dieses kleine Stück, das so viel bewegt. Es gibt Bahninfrastrukturen entlang des Rheins und in den Tälern, allerdings nicht in allen. Diese Infrastrukturen sind jedoch nicht miteinander verbunden. Die beiden Bahnhöfe Bahnhof SBB und Badischer Bahnhof sind bahntechnisch Sackbahnhöfe, obwohl sie eigentlich als Durchgangsbahnhöfe fungieren – das ist ein grosser Widerspruch, eine Unlogik im System.

TEC21: Und es behindert gleichzeitig die Vernetzung und Entwicklung der Region als Ganzes.
Pierre de Meuron: Genau. Es gilt, diese Sackbahnhof-Realität zu verbessern und diese S-Bahn-Linien durchzubinden. Das ist die Voraussetzung für ein effizientes S-Bahn-System im Metropolitanraum Basel. Und die Verbindung der beiden Bahnhöfe muss durchs Zentrum führen. Das ist städtebaulich wichtig. Das his­torische Zentrum muss erschlossen werden, sonst blutet es aus. Die Leute aus dem Metropolitanraum müssen mit der S-Bahn direkt in die Stadtmitte kommen. Das ist nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale Verbindung zum Zentrum – und es verbindet die Region.

TEC21: Es geht also um eine physische und mentale Verbindung, aber letztendlich auch darum, dass die ­Siedlungsachsen entlang der Talschaften gestärkt werden, wenn die Stadt und Region wachsen?
Pierre de Meuron: Das ist das grosse raumplanerische Thema. Wenn wir aufzeigen wollen, was passieren soll – oder eben nicht –, brauchen wir als Gemeinschaft gemeinsame Wertvorstellungen. In der Schweiz haben ­wir ein interessantes rechtliches Instrument: das Bundes­gesetz für Raumplanung, das Gesetz, wie sich die Raumplanung zukünftig darstellen soll. Wir haben mit unserem Konzept eins zu eins versucht, dies ins Basler Territorium zu übersetzen.
Die Siedlungen in den Tälern sollen entlang dieser Hauptachsen wachsen, die mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen sind. Wir wollen so die Entwicklung nach innen lenken – und nicht mehr endlos in die Landschaft. Die Landschaft müssen wir schützen. Dann müssen wir die räumlichen Voraussetzungen für die Wirtschaft berücksichtigen. Eine Stadt muss auch solche Flächen zur Verfügung stellen, gut erschlossen, idealerweise durch öffentliche Verkehrsmittel.

TEC21: Wie wurden die Haltepunkte in der Stadt eruiert?
Pierre de Meuron: Wir haben auf Massstabsebene der Stadt Basel untersucht, wo welche Aktivitäten stattfinden – wohnen, arbeiten, einkaufen, sich erholen, sich bilden. Die Analyse zeigt, wie dicht diese Aktivitäten in Basels Zentrum sind. Es ist multifunktional und nicht monofunktional, das macht seine Qualität aus. Dann haben wir eruiert, welche Perimeter bislang nicht durch das S-Bahn-System erschlossen werden, diese haben wir als «Funklöcher» bezeichnet. Wir wollten mit der Verbindungslinie möglichst viele davon anfahren. Damit schaffen wir es, die S-Bahn nicht nur direkt ins Zentrum zu bringen, sondern auch Basel Nord mit dem wichtigen Entwicklungs­gebiet Klybeck direkten S-Bahn-Anschluss zu geben. Das wird für die zukünftigen Stadtquartiere im Basler Norden ein wichtiger Impuls sein.

TEC21: Wie bewerten Sie die städtebaulichen Potenziale der geplanten Ausstiegspunkte im Zentrum?
Pierre de Meuron: Verschiedene Orte im Zentrum erhalten eine neue Bestimmung. Die Hauptpost wäre ein idealer Ort, um anzukommen, sie bekäme ein neues Leben. Dieser Post-Standort steht ja aktuell zur Diskussion. Wenn die Post nicht mehr so wichtig ist, dass sie physisch im Zentrum von Basel präsent sein muss, könnte sie Platz machen für etwas Neues. Auch der Spiegelhof ist jetzt nicht sehr überzeugend, er ist kaum belebt. Mit dem Ausstieg könnte dieser Ort eine neue Wertigkeit erhalten – einfach indem wir die bestehenden baulichen Gegebenheiten ausnutzen, ohne Tabula rasa zu machen. Er erschliesst direkt das Universitätsspital und die Universität, die somit auch eine Verankerung in der Stadt erleben.

TEC21: Und der dritte Haltepunkt führt direkt an den zentralen Ort am Basler Rheinknie, die Schifflände.
Pierre de Meuron: Hier wollen sehr viele Leute hin, um sich ­ zu erholen. Der Rhein hat sich zu einem der interessantesten, lebendigsten und aktivsten öffentlichen Räume in Basel entwickelt. Als Angelpunkt zwischen Gross- und Kleinbasel ist dieser Punkt von besonderer Bedeutung. Man kommt hier genau am Ort an, der die Ursprünge der Stadt definiert.

TEC21: Was bedeutet der Ausbau des «Herzstücks» für den Bahnhof SBB?
Pierre de Meuron: Als wir im Team erkannt haben, dass wir sowohl mit dem Badischen Bahnhof als auch mit dem Bahnhof SBB oberirdisch bleiben können, war das ein grosser Durchbruch. Der Bahnhof SBB ist im heutigen Zustand unbefriedigend. Er hat, geschichtlich bedingt, eine schwierige Lage. Es gibt keinen direkten Weg in die historische Kernstadt. Das ist anders als in Zürich oder Luzern, die direkten Anschluss ans Zentrum haben. Auch die Erschliessung ist unbefriedigend. Jetzt wird das in einem ersten Schritt nach Süden verbessert mit dem Meret-Oppenheim-Platz und dem Hochhaus. Damit wird der Bahnhof zweiseitig und erhält eine Anbindung an das Gundeldinger Quartier. Mit dem «Herzstück» erhält er einen neuen Zugang im Westen im Bereich der Margarethen­brücke, also ein drittes Gesicht.

TEC21: Wie wird sich dieser Ort um den Bahnhof verändern?
Pierre de Meuron: Die Margarethenbrücke soll erweitert werden und einen platzartigen Charakter bekommen, in einer ähnlichen Grösse wie der Centralbahnplatz. Über den Margarethenplatz werden die Perrons direkt erschlossen. Der Bahnhof erhält so im Westen ein neues Portal. Damit eröffnet sich die grosse Chance, diesen Ort über die Innere Margarethen­strasse an die Kernstadt anzubinden sowie das Leimental über die Äussere Margarethenstrasse und den Margarethenstich. Auch die Verknüpfung vom Gundeldinger Quartier in die Innenstadt würde gestärkt. Bahninfrastrukturen sind oft trennend, wenn sie oberirdisch sind, hier gibt es nun eine neue, verbindende dritte Seite über den Margarethenplatz. Da wird es zukünftig auch ums Verdichten gehen. Ein Verkehrsknotenpunkt wie dieser wäre sicher ein guter Ort, um zu verdichten.

TEC21: Die Verflechtungen mit der Stadt- und Raumentwick­lung sind eklatant. Es scheint ja fast stärker ein städtebauliches, raumplanerisches Projekt zu sein als ein verkehrliches.
Pierre de Meuron: Das ist genau der Punkt, der uns beschäftigt. Seit der Boom in der westlichen Welt stattfindet, wurde die Stadtentwicklung hauptsächlich vom infrastrukturellen Denken her bestimmt – und viel zu wenig vom raumplanerischen, territorialen Denken. Es ist höchste Zeit, dass dies nicht nur eine Aufgabe der Infrastruktur und der Ingenieurssicht ist, ­sondern das Territorium, das Raumplanerische muss auch eine tragende Rolle spielen. Das ist unser Beitrag.

TEC21: Also ein interdisziplinäres Projekt?
Pierre de Meuron: Ja, wir brauchen alle Sichten. Selbstverständlich braucht es die Ingenieure und das Bundesamt ­ für Verkehr. Aber wir brauchen auch die raumplanerische und städtebauliche Sicht. In diesem Fall berücksichtigt die Infrastrukturplanung die städtebaulichen Bedürfnisse, das hat Modellcharakter. Wenn wir uns mit Wachstum auseinandersetzen, müssen wir uns fragen: Was heisst das für das Gebaute? Beim Gebauten geht es um die Quartiere, die Städte und die Infrastrukturen – es muss alles miteinander koordiniert werden. Und wir müssen auch alle anderen Dimensionen miteinbeziehen, etwa das Gesellschaftliche oder Politische. Wir sind für ein vernetztes, mehrdimensionales Denken.

TEC21: Wenn wir über die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen sprechen, bedeutet das auch, all diese vielfältigen Inhalte und Potenziale zu vermitteln. Was erachten Sie hier als wesentlich?
Pierre de Meuron: Man muss kommunizieren bei einem derart wichtigen Thema. Es geht um grosse Investitionen, wir müssen also erklären, weshalb das sinnvoll ist. Es war uns ein Anliegen, plausibel aufzuzeigen, wie wir zu einer Lösung kommen und weshalb sie besser ist als andere Ansätze. Das wollten wir auch bildlich zeigen, um die Menschen anzusprechen. So haben wir etwa mit einem Linienplan gezeigt, wie das ideale Stadtnetz funktionieren sollte und was das für die einzelnen Haltpunkte bedeutet – so als wäre es schon gebaut. Letztendlich geht es um essenzielle gesellschaftliche Fragen, die bislang zu wenig thematisiert werden: Welche urbane Zukunft wollen wir, und wie soll unser Umfeld gestaltet werden? Was wollen wir uns leisten? Das müssen wir zur Diskussion stellen.


[Herzog & de Meuron analysierten für den Synthesebericht die raumplanerischen Anforderungen sowie ­Stadtentwicklungs- und Stadtgestaltungsaspekte (vgl. «Herzstück aufgegleist»).]

TEC21, Fr., 2017.07.14

14. Juli 2017 Susanne Frank

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