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14. Juli 2017Beat Aeberhard
TEC21

Glückliche Synergie

Oft sind Schienenprojekte verkehrlich getrieben. Doch in Basel könnten mit dem «Herzstück» – neben verbesserter Infrastruktur und effizienterem Angebot – auch bedeutende Stadtentwicklungspotenziale erschlossen werden. Anhand der Fotos von Michael Heinrich kommentiert der Basler Kantonsbaumeister Beat Aeberhard für TEC21 ausgewählte Punkte.

Oft sind Schienenprojekte verkehrlich getrieben. Doch in Basel könnten mit dem «Herzstück» – neben verbesserter Infrastruktur und effizienterem Angebot – auch bedeutende Stadtentwicklungspotenziale erschlossen werden. Anhand der Fotos von Michael Heinrich kommentiert der Basler Kantonsbaumeister Beat Aeberhard für TEC21 ausgewählte Punkte.

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TEC21 2017|28-29 Herzstück Basel – S-Bahn ins Zentrum

28. Februar 2014Beat Aeberhard
TEC21

Kunst des Dialogs

Das Alterswohnhaus Neustadt II in Zug verbindet Alt und Neu zu einem in sich stimmigen Ganzen. Der Stadtarchitekt erklärt, warum das an diesem Ort die richtige Lösung ist – städtebaulich wie architektonisch.

Das Alterswohnhaus Neustadt II in Zug verbindet Alt und Neu zu einem in sich stimmigen Ganzen. Der Stadtarchitekt erklärt, warum das an diesem Ort die richtige Lösung ist – städtebaulich wie architektonisch.

In seinem vielbeachteten Schweizer Beitrag «And Now the Ensemble!» an der Architekturbiennale Venedig 2012 plädierte Miroslav Šik für eine Baukunst des Unspektakulären. Er forderte Berufskollegen, Bauherrschaften und Behörden auf, weniger selbstreferenzielle Objekte zu planen und neue Bauten als das zu begreifen, was sie sind: ein Teil ihrer gewachsenen Umgebung. Das Weiterweben als Entwurfsstrategie hat er nun am Beispiel eines bemerkenswerten Umbaus vorgeführt – der Transformation eines Schulhauses aus den 1960er-Jahren in ein Wohnhaus für ältere Menschen.

Chaotische Umgebung

Die Zuger Neustadt zeichnet sich durch eine sehr heterogene Gestalt aus. Unterschiedliche Visionen und städtebauliche Idealvorstellungen prallen auf engstem Raum aufeinander. In den vergangenen fünfzig Jahren hat man diverse Entwicklungsströmungen aufgegriffen und wieder fallen lassen. Dabei ging fast die ganze, ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert stammende Bausubstanz verloren. Entstanden war die Neustadt als typisches homogenes Gründerzeitquartier um den ersten Bahnhof nach 1864; wie in anderen Städten hatte die Bahn die Industrialisierung beflügelt. Das damit einhergehende Bevölkerungswachstum löste eine rege Bautätigkeit von Miet- und Geschäftshäusern aus. Ab 1909 liess die Stadt an der Bundesstrasse das Schulhaus Neustadt durch die Architekten Dagobert Keiser und Richard Bracher errichten. Der markante und bis heute die Innenstadt prägende Bau mit seinen hohen Schweifgiebeln fand in der damaligen Fachpresse grosse Aufmerksamkeit. So wurde etwa die reiche Farbigkeit des neobarocken Baus sowohl im Innern als auch an der Fassade kontrovers diskutiert.[1] 1966–68 folgte als Erweiterung der Schulanlage das funktionalistische Schulhaus Neustadt II der Zuger Architekten Heinrich Gysin und Walter Flüeler (Abb. S. 23).

Effektiv in Gebrauch war diese Erweiterung nicht einmal 40 Jahre: Der Zuger Innenstadt gingen die Kinder aus, denn der Ersatz der Gründerzeitbebauung durch Geschäftsbauten führte zu einem massiven Bevölkerungsschwund. Das Schulhaus musste einer neuen Nutzung zugeführt werden. Infrage kamen Privatschulen, Familien- oder Alterswohnungen. Aufgrund typologischer Eigenschaften – breite Gänge und grosszügige Raumhöhen – und der unmittelbaren Nachbarschaft zu einem Altersheim beschloss die Stadt, Alterswohnungen unterzubringen. Zusätzlich sollte das Gebäude mit einer zweigeschossigen Aufstockung verdichtet werden. Den 2007 ausgeschriebenen anonymen Studienauftrag mit Präqualifikation konnte Miroslav Šik für sich entscheiden. Überzeugt hatte er die Jury mit einer spannungsvollen Volumetrie und einem architektonischen Ausdruck, der eine Versöhnung des Projekts mit seinem schwierigen Kontext verhiess.

Alt und Neu frisch verputzt

Die 18 Alterswohnungen befinden sich in den ersten beiden Obergeschossen des Bestandes und in der zweigeschossigen Aufstockung. Im Erdgeschoss sind eine Arztpraxis und Büros untergebracht (der Spitex und der Verwaltung der Stiftung, die das Altersheim betreibt). Die ursprüngliche Grundrissfigur wird durch den doppelgeschossigen Holzbau weitgehend fortgeführt (Grundrisse, S. 26). Längsseitig springt die Aufstockung teilweise treppenartig zurück, sodass in der engen städtebaulichen Situation räumliche Ausweitungen entstehen. Dadurch erhält die Stirnseite des Volumens eine stehende statt liegende Proportion, was dem Haus eine deutlich höhere Präsenz verleiht (Abb. S. 22). Als Nebeneffekt wirken sich die Rücksprünge positiv auf die Besonnung der Wohnungen aus. Die an sich strenge und dichte Konzeption wird durch die Differenzierung der Kubatur, durch Zugänge im Erdgeschoss und durch Loggien aufgelockert.

Bestand und Aufstockung wurden mit einer konventionellen Wärmedämmung energetisch auf den neuesten Stand gebracht. Das ganze Haus ist mit einer grüngrauen, vertikal gerillten Kammstruktur verputzt und erhält dadurch eine starke, monolithische Bildhaftigkeit. Handwerklich ist der Putz eine Meisterleistung: Unterbruchsfrei über die 15 m hohe Fassade gezogen, wurde er anschliessend von Hand nachgeschliffen. Die Nobilitierung des herkömmlichen Materials Putz und die hellen Umrahmungen, die einzelne Fenster auszeichnen und die serielle Fensteranordnung individualisieren, verleihen der Fassade die Anmutung eines sorgfältig geschneiderten Kostüms (Abb. S. 27 oben).

Schöne Wohnungen statt trister Zimmer

Im Innern fällt zunächst der breite Gang auf. Er ist mit demselben Putz verkleidet wie die Gebäudefassade, was seinen öffentlichen Charakter unterstreicht. Aus jeder Wohnung kann man über ein internes Fenster in den Gang schauen. Die Bank vor jeder Wohnungstür ist nicht nur eine funktionale Sitzgelegenheit, sondern auch eine Einladung an die Bewohnerinnen und Bewohner, sich den kollektiven Raum anzueignen (Abb. rechts Mitte).

Die einzelne Wohnung betritt man über eine offene Küche; die Garderoben und die Erschliessungsflächen sind in den Wohnbereich integriert. Die 2 ½- und 3 ½-Zimmer-Wohnungen entfalten sich um wohlproportionierte Loggien. Überdies ist jeweils eines der Schlafzimmer durch eine grosse Schiebetüre mit dem Wohnbereich verbunden. Der Zuschnitt der Räume macht die Wohnungen über die Raumdiagonale erlebbar – ein Motiv, das einen perspektivisch spannenden Übergang zwischen den Räumen ermöglicht (Abb. S. 25 unten). Den Architekten gelingt es, trotz der beträchtlichen städtebaulichen Dichte eine durchwegs hohe Wohnqualität zu sichern. Der Blick schweift entweder über den nahen Zugersee zu den innerschweizer Alpen oder auf die Züge, die in den benachbarten Bahnhof einfahren (Bild rechts unten). Eine zurückhaltende Materialisierung und die in Crèmetönen gehaltenen, fast monochromen Oberflächen verleihen den Räumen eine opulente Atmosphäre, ohne das Zeitgenössische zu negieren.

Entstanden sind stimmungsvolle Wohnungen, keine Altersheimzimmer. Die Architekten haben funktionale Notwendigkeiten berücksichtigt, ihr dringendstes Anliegen war es aber, emotionale Bedürfnisse zu befriedigen und Behaglichkeit zu schaffen.

Dass die Wohnungen spezifisch für die Bedürfnisse älterer Menschen konzipiert wurden, ist allenfalls auf den zweiten Blick ersichtlich. Insgesamt versprühen sie ein heiteres Lebensgefühl, das man nicht richtig lokalisieren kann, das jedoch stimmig und für jeden zugänglich ist.

Die Nachbarschaft wird aufgewertet

Als geistiger Vater der «Analogen Architektur» plädiert Šik dafür, die Eigenheiten eines alltäglichen Orts zu studieren und aus dessen Stimmung heraus ein Projekt zu entwickeln, das Altes und Neues zu einem vielfältigen Ensemble vermengt. Die Neustadt II erfüllt diesen Anspruch. Aus städtebaulicher Sicht ist verblüffend, wie es gelingt, selbst unterdurchschnittliche Nachbarbauten einzubinden und damit die Umgebung insgesamt aufzuwerten. Die Qualität des Projekts besteht nicht zuletzt darin, dass es weit über die eigentliche Programmerfüllung hinausgeht. Stand das funktionalistische Schulhaus nur für sich, ist das Haus für ältere Menschen als Stadtbaustein zu verstehen. Indem der «wertkonservative Rebell»[2] – wie der Kritiker Benedikt Loderer Šik einmal treffend titulierte – das Dialogische ins Zentrum des Entwurfs stellt, verfremdet er das Gewohnte mithilfe ungewohnter Stimmungsbilder und schafft ein neues Ganzes. Das Weiterweben als Entwurfsverfahren ermöglicht es, sowohl eine Verbindung zum gebauten Kontext herzustellen als auch eine Vielfalt zu generieren, in der Urbanität spriessen kann.

Dabei entsteht der Dialog auf unterschiedlichen Ebenen und in divergierenden Sprachen – etwa durch die modernistische Kubatur, die klassizistische Formensprache, die französischen Fenster, das Material, die Farben. Die Fassadensprache ahmt das Vorgefundene nicht bloss nach, sondern interpretiert es und modernisiert es moderat – etwa die benachbarten Putzfassaden, die biedermeierlichen Fenstergewände oder die Blumenfenster des Betagtenheims mit dem gerillten Kammputz und den vereinzelten, hellen Fensterlaibungen. Die Heterogenität des Stils ist durchaus gewollt. Oder wie Šik es an anderer Stelle formulierte: «Wir haben verstanden, dass die Stadt heterogen und dennoch einheitlich sein kann.»[3] Aus der grundsätzlichen Bejahung der Zuger Neustadt mit ihren Qualitäten und Unzulänglichkeiten ist im Dialog tatsächlich ein Ensemble entstanden. Dem Weiterbauen verpflichtet, lässt es jedoch – und das ist für die zukünftige Entwicklung entscheidend – unterschiedliche Interpretationen zu.

Dieses Lehrstück bestärkt die städtischen Behörden in ihrem Vorhaben, einer übergeordneten Stadtidee zum Durchbruch zu verhelfen.[4] Möge es ihnen gelingen, das heterogene Allerlei von Solisten langfristig in ein orchestriertes Ganzes zu transformieren!


Anmerkungen:
[01] Vgl. z. B. «Die Schweizerische Baukunst», offizielles Organ des BSA, 1/1909, S. 222–225 und 227–233; «Heimatschutz», Zeitschrift des Schweizer Heimatschutzes (SHS), 7/1912, S. 30–35. Der Bau wurde vor einigen Jahren originalgetreu saniert.
[02] Benedikt Loderer, Hochparterre 1992/1, S. 14–23.
[03] Judit Solt und Andrea Wiegelmann, «Was ist das Verbindende?», Interview mit Miroslav Šik, Quintus Miller, Paola Maranta, Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert, in: TEC21 2012/42-43, S. 28–32.
[04] Die Abteilung Städtebau arbeitet seit fünf Jahren daran, eine Stadtidee für Zug zu formulieren. Statt der bisherigen «Anything goes»-Haltung sollen klare städtebauliche Leitlinien entwickelt werden, die sich aus dem Bestand als kleinstem gemeinsamem Nenner nähren. Ziel ist ein tragfähiges übergeordnetes Stadtensemble.

TEC21, Fr., 2014.02.28



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TEC21 2014|09 Alterswohnhaus Neustadt II

28. August 2009Beat Aeberhard
TEC21

Industrieareale als Wohnlabor

Bei der Revitalisierung von Industriebrachen spielen adäquate neue Wohnformen eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Wohnüberbauung «Lokomotive» im Sulzerareal Winterthur Stadt und dem stark auf Wohnen ausgerichteten Konzept «Hybrid Cluster» in Neuhegi (früher Sulzerpark Oberwinterthur) lassen sich grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld zwischen tradierter Industrielandschaft und zeitgemässem Wohnen formulieren. Das Weiterbauen im Bestand in der Stadtmitte funktioniert gut, dagegen ist die Entwicklung auf der Tabula rasa in Neuhegi schwieriger und das Resultat noch ungewiss.

Bei der Revitalisierung von Industriebrachen spielen adäquate neue Wohnformen eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Wohnüberbauung «Lokomotive» im Sulzerareal Winterthur Stadt und dem stark auf Wohnen ausgerichteten Konzept «Hybrid Cluster» in Neuhegi (früher Sulzerpark Oberwinterthur) lassen sich grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld zwischen tradierter Industrielandschaft und zeitgemässem Wohnen formulieren. Das Weiterbauen im Bestand in der Stadtmitte funktioniert gut, dagegen ist die Entwicklung auf der Tabula rasa in Neuhegi schwieriger und das Resultat noch ungewiss.

In Winterthur wohnt man anders: Mit Winterthurs Aufstieg zu einem Industriezentrum mit Weltgeltung ging der Bau von niedrigen Reiheneinfamilienhäusern und kleinen Mehrfamilienhäusern einher. Die Blockrandstadt, wie sie in anderen Industriestädten entstand, stiess in Winterthur auf Ablehnung. Dagegen vertraute man auf das Ideal der Gartenstadt. Durchgrünte, offene Wohnquartiere mit geringer Dichte kennzeichnen das erfolgreich umgesetzte Wohnbaumodell, das Winterthurs Charakter prägt. Bis heute beobachten lässt sich in der schnell wachsenden Stadt die intensive Auseinandersetzung mit anderen, neuen Wohnformen, besonders in den grossen Entwicklungsgebieten Sulzerareal Winterthur Stadt und Neuhegi.

Erfolg der kleinen Schritte

Die hochtrabende Vision der Dienstleistungsstadt aus einem Guss für das 22 ha grosse Stammareal der Sulzer scheiterte im schwächelnden Wirtschaftsumfeld der 1990er-Jahre. Das veranlasste die Grundeigentümer, zusammen mit der Stadt neue Wege zu beschreiten. In einer klugen Mischung aus unspektakulären Um- und Anbauten, vernünftigen Zwischen- und Umnutzungen, unterschiedlichen Neubauten und sorgfältigen Sanierungen wurde das südwestlich des Stadtzentrums liegende Areal sukzessive umgestaltet. Der postindustrielle Umbau hat sich mittlerweile als Erfolgsgeschichte entpuppt und besitzt Modellcharakter für den nachhaltigen Wandel in kleinen Schritten. Die Wohnungen, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Läden, Schulen und Geschäftsräume machen die ehemals «verbotene Stadt» zu einem lebendigen, urbanen Stadtquartier.

An dessen südwestlicher Ecke haben Knapkiewicz & Fickert Architekten aus Zürich die abwechslungsreiche Überbauung «Lokomotive» mit 120 Wohnungen entworfen. Auffallend ist zunächst das städtebauliche Muster. Es lehnt sich an den über die Jahre gewachsenen industriellen Bestand auf dem Areal an. Vier rund 80 m lange Zeilen übernehmen in Lage und Kubatur die Baustruktur der ehemaligen Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik. Herz der Anlage ist die alte Eisengusshalle 1050, die strukturell erhalten werden konnte und nun als gedeckter Erschliessungs- und Spielhof zwischen den beiden ersten Zeilen dient. Bei der restlichen Bausubstanz handelt es sich um Neubauten. Verblüffend ist, dass sich das Zeitgenössische nicht vordergründig manifestiert. Im Gegenteil, die Siedlung suggeriert ein gewachsenes Stück Stadt, was bei dessen Grösse und hohen Dichte gerade im Übergang zum sich anschliessenden kleinmassstäblichen Quartier zum Tragen kommt.

Insofern erfahren die charakteristischen, zuweilen schroffen Ränder des Industrieareals eine Neuinterpretation. Unterstrichen wird die collagenartige Wirkung der Architektur durch die Materialisierung. Die teils verputzten, teils mit Sichtbackstein verkleideten Fassaden erinnern je nach Gebäudeabschnitt an heitere Bauten aus den 1950er-Jahren oder an anonyme Industriebauten. Mit ihrer beinahe klassischen Gliederung – helle Feinputzbänder rahmen grossflächige Felder aus erdfarbenem Kellenwurf und akkurat gegliederte Fensteröffnungen ein – wecken die Fassaden ferner Assoziationen an Mailänder Wohnhäuser des Novecento. Die Kraft der insgesamt starken Bildwirkung beruht auf einer Strategie des kollektiven Gedächtnisses: Alles erscheint, als stünde es seit Jahren hier. Ein stimmigeres Weiterstricken am Genius Loci ist kaum vorstellbar.

Kraft aus der Industrie

Die Grundrisse richten Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert auf heutige Bedürfnisse aus. Die Architekten haben eine Bandbreite an Wohnungstypen und -grössen entwickelt, die fast allen Lebenslagen und -formen gerecht wird. Gemeinsam ist allen ein eigener Aussenraum: Vorgarten, Loggia, Balkon oder Terrasse. Dessen Gestaltung ist Teil einer Hierarchisierung des Raums: Tiefe Loggien, grün gestrichene «Eingangsschränke» und gestreifte Geräteschuppen artikulieren auf innovative Weise die Übergänge von privaten zu halböffentlichen und öffentlichen Bereichen. Insbesondere in den Wohnungen mit privatem Vorgarten auf der einen und halböffentlicher Fabrikhalle auf der andern Seite wird der Kontrast zwischen Industrieästhetik und zeitgenössischem Wohnen als reizvolle Spannung erlebbar. Auch im Innern haben die Architekten aus der sorgfältigen Analyse des Ortes Elemente abgeleitet, etwa die überhohen Räume oder die mit dunkel kontrastierenden Streifen angereicherten Industrieparkette. Diese räumlichen und handwerklichen Qualitäten schaffen eine starke Atmosphäre mit einer emotionalen Komponente, die in Neubauten oft fehlt.

Leeres Feld in Neuhegi

Während die Umnutzung des Sulzerareals Winterthur Stadt konkrete Ergebnisse zeigt, ist die künftige Entwicklung am zweiten Standort des ehemaligen Industriekonzerns erst zu ahnen. In Neuhegi lässt sich nicht auf einem bedeutenden Bestand an atmosphärisch verwertbaren Industriebauten aufbauen. Die grossen Hallen, die das Gebiet einst prägten, sind abgebrannt oder abgebrochen worden. Auf der 60 ha grossen Brache am östlichen Stadtrand ist einzig ein weitmaschiges Strassennetz geblieben. Am Anfang der Entwicklung stand die Umzonung in ein Zentrumsgebiet. Damit gehört Neuhegi zu den elf Gebieten des Kantons, denen die (potenzielle) Funktion als kulturelle und wirtschaftliche Schwerpunkte von kantonaler Bedeutung zukommt. Das verdankt das Areal in erster Linie seiner guten Erschliessung. 2001 verabschiedeten die Grundeigentümerin Sulzer und die Behörden den Rahmenplan Oberwinterthur, der bebaubare Flächen und Freiräume defi niert und festlegt, wo welche Nutzungen in welcher Dichte vorzusehen sind.

Wie viele Regeln braucht es?

Gleichzeitig beauftragte Sulzer Immobilien den Zürcher Architekten Jean-Pierre Dürig und die Berliner Landschaftsarchitekten Topotek1 mit der Arbeit an einem Regelwerk, um die nachhaltige und identitätsstiftende Entwicklung sicherzustellen. Dürigs Bebauungsmuster trägt den Namen «Hybrid Cluster»; sein Ziel ist, durch geschickte Konzentration an wenigen Orten das nötige Mass an Urbanität zu generieren. Als Rückgrat fungiert die 30 m breite Sulzer-Allee mit klar defi nierten Baulinien. Das Regelwerk besteht im Wesentlichen aus zwei Klauseln: Die strassenbegleitenden Gebäude müssen zusammengebaut werden («Cluster»), hingegen werden Typologie und Materialisierung der Bauten so wenig wie möglich reguliert («Hybrid»). Bezüglich der Gestaltung ist erwünscht, dass unterschiedliche Architekturen ineinander verwoben werden. Schwergewichtig ist in den Clustern der Bau von vielfältigen Wohnungen beabsichtigt, doch dank flexibler Infrastruktur sollen die angebotenen Flächen auch für Büro und Gewerbe nutzbar sein. Den Part des Katalysators übernimmt der neue Eulachpark. Der vom Luzerner Stefan Koepfli konzipierte Stadtpark wird gegenwärtig auf Land von Sulzer und auf Kosten der Stadt erstellt. Er soll das Entwicklungsgebiet aufwerten und Investoren anziehen.Wie sind die ersten Ergebnisse zu werten? Den Auftakt zur baulichen Umsetzung des «Hybrid Cluster»-Modells bildet der Eulachhof, eine Wohnüberbauung, die als erste Nullenergie-Siedlung der Schweiz 2007 auf Interesse stiess (TEC21 47/2007). Sie enthält eine grosse Bandbreite unterschiedlicher Wohnungen. Stadträumlich und architektonisch vermögen die zwei an ihrer Südseite aufgeschnittenen Blockränder nicht vollends zu überzeugen. Die Bauten lassen jeglichen Verweis auf die Geschichte des Orts vermissen.

Neben der durchgehend applizierten Holzverkleidung irritiert die Behandlung der räumlichen Übergänge. Eine Differenzierung der Räume entsprechend ihrer Bedeutung und Öffentlichkeit existiert kaum oder wird im Fall der auf höherem Niveau liegenden Innenhöfe unvermittelt vollzogen. Nur schwer kann man sich ausmalen, wie die strassenseitigen Erdgeschosse je ihre gewünschte Aktivierung fi nden sollen. Die Gesamtwirkung ist dadurch etwas leblos. Dass die urbane Dichte als Voraussetzung eines attraktiven Quartierlebens noch fehlt, liegt natürlich auch am Pioniercharakter der Siedlung.

Zurzeit laufen die Bauvorbereitungen für zwei weitere Cluster: Dahinden und Heim realisieren an der Else-Züblin-Strasse einen weitläufi gen Wohnhof, und der ebenfalls aus Winterthur stammende Ruedi Lattmann baut unmittelbar nördlich davon eine mäandrierende Grossform mit 131 Wohnungen und Gewerbeflächen. Die Stiftung Mehrgenerationenhaus hat Anfang Juli einen Wettbewerb für einen weiteren, ambitionierten und zukunftsweisenden Wohncluster ausgelobt, den Galli & Rudolf Architekten aus Zürich für sich entscheiden konnten. Deren Siedlung für alle Lebensphasen setzt der Tendenz der gesellschaftlichen Vereinzelung einen andern Gesellschaftsentwurf entgegen. Mittels Selbstverwaltung soll eine hohe Identifi kation der Bewohner mit der Überbauung erreicht werden, was sich positiv auf das ganze Quartier auswirken dürfte. Das verheissungsvolle Konzept hat das Potenzial, im Zusammenspiel mit den übrigen Wohnhöfen das unüblich grosse Strassennetz wie beabsichtigt mit publikumsorientierten Erdgeschossen und einer intensiven Nutzung des Strassenraums zu beleben.

Sichergestellt ist die durchgehende Gestaltung aller zusammenhängenden Aussenräume innerhalb der Cluster und die einheitliche Ausformung des Mobiliars. Das Modell «Hybrid Cluster» wurde nämlich 2008 mit dem «Regelwerk Innenraum Hybrid Cluster» ergänzt. Die von Schweingruber Zulauf Landschaftsarchitekten erstellten gestalterischen Grundsätze sind von den beteiligten Planern zwingend einzuhalten. Sie garantieren die nötige zusammenfassende Grundmelodie der Cluster. Um einer sich abzeichnenden Einseitigkeit von Wohnnutzungen entgegenzutreten, hat Sulzer Immobilien schliesslich die privatrechtliche Verpflichtung zur Bereitstellung von kommerziellen Flächen eingeführt. Wie im Stadtzentrum soll nämlich auch in Neuhegi ein durchmischtes Stadtquartier entstehen.

Die Rolle des Genius Loci

Aus der Reibung am Bestand lässt sich architektonische Komplexität gewinnen, die auf der grünen Wiese schwer zu erzielen ist. Auf dem Sulzerareal Stadt Winterthur und in Neuhegi sind in unterschiedlicher Ausprägung Reminiszenzen vorhanden. Im ersteren Fall ist nach harzigem Start im Zeitraum von über zehn Jahren ein Vorzeigeprojekt der Kooperation zwischen Stadt und Sulzer entstanden. Dieser Erfolg gründet im Wesentlichen auf drei die traditionelle Urbanität generierenden Prämissen: angemessene Dichte, Nutzungsdurchmischung und Weiterbauen am Bestand. Die Entwicklung in Neuhegi ist wegen der weitgehend fehlenden Altbausubstanz und den grossen Strassenblöcken anspruchsvoll; das Ergebnis ist ungleich offener. Deshalb überprüfen und verfeinern die Verantwortlichen kontinuierlich die Vorgaben. Das rege Interesse an den Parzellen bestätigt aber, dass das gewählte Regelwerk des «Hybrid Cluster» in seiner Flexibilität verschiedenartige Vorstellungen zu wecken vermag. Die Gelegenheit, Winterthurs Wohnbautradition gestalterisch, funktional und programmatisch weiterzuspinnen, wird rege benutzt. Man darf auf weitere Beiträge gespannt sein.

TEC21, Fr., 2009.08.28



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tec21 2009|35 Grossstadt Winterthur

04. Februar 2008Beat Aeberhard
TEC21

Kolonie im Wandel

Weil Komfort- und Raumansprüche sich ändern, haben Wohnbauten einen hohen Bedarf an kontinuierlicher baulicher Anpassung. Am Beispiel der Wohnkolonie «Industrie 1» der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP), deren Wohnungsangebot nach bald 100-jährigem Bestehen von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten erneuert wurde, lassen sich einige grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen formulieren.

Weil Komfort- und Raumansprüche sich ändern, haben Wohnbauten einen hohen Bedarf an kontinuierlicher baulicher Anpassung. Am Beispiel der Wohnkolonie «Industrie 1» der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP), deren Wohnungsangebot nach bald 100-jährigem Bestehen von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten erneuert wurde, lassen sich einige grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen formulieren.

Der Befund war nicht ungewöhnlich: Nach knapp einem Jahrhundert Betrieb genügte die Wohnkolonie «Industrie 1» den veränderten Raum- und Komfortansprüchen nicht mehr und erwies sich als sanierungsbedürftig. Die Bauherrschaft sah sich indessen mit einer nicht alltäglichen Situation konfrontiert: Die Liegenschaft ist im kommunalen Inventar für schützenswerte Bauten eingetragen. Zur Auswahl stand somit die kurzfristige Behebung spezifi scher Mängel an Fenstern und im Küchen- und Sanitärbereich oder eine Erwägung längerfristiger Strategien. Die Planung eines Ersatzneubaus – wie der Abriss alter, vorwiegend günstiger, aber eben unzeitgemässer Wohnungen zu Gunsten eines Neubaus mit deutlich grösseren, moderneren und teureren Wohnungen euphemistisch umschrieben wird – stellte aus denkmalpfl egerischen Gründen keine Option dar. Doch nicht nur der unumstrittene Denkmalwert rettete die Siedlung vor dem Abbruch. Die zunehmend schwierig werdende Vermietung der durchwegs kleinen Wohnungen führte zur Überlegung, wie der Wohnwert gesteigert werden könnte, um insbesondere vermehrt Familien anzuziehen. Die Bausubs - tanz war grösstenteils in gutem Zustand und strukturell besonders geeignet, durch Zusammenlegung kleinerer Einheiten ein diversifi ziertes Angebot an grosszügigen Wohnungstypen zu gewinnen. Als weitere vordringliche Pfl ichtgebote gelten der Einbau von Aufzügen, der interne Schallschutz sowie das Bereitstellen privater Aussenräume. Die Verantwortlichen der Siedlung beschlossen daher, eine umfangreiche Sanierung in Angriff zu nehmen.Die Kolonie «Industrie 1» der BEP befi ndet sich im Zürcher Kreis 5 an der Röntgenstrasse.

Erbaut wurde die quartiertypische Blockrandbebauung zwischen 1913 und 1915. Die Architekten Eduard Hess und Peter Giumini errichteten das markante Volumen im moderaten Reformstil der Zeit auf dem Trassee der einstigen Nordostbahn. Die fünfstöckige Zeile, deren leichte Krümmung sich in acht Häuser gliedert und zum Röntgenplatz hin eine Frontseite ausbildet, stellte seinerzeit einen Massstabssprung innerhalb der Struktur des Arbeiterquartiers dar. Die Genossenschaft war sich bewusst, dass die Sanierung grösstmögliche Sorgfalt erfordert. Sie schrieb deshalb 2003 einen Studienauftrag aus. Die Jury mit Beteiligung der städtischen Denkmalpfl ege erkor den Vorschlag von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten zur Ausführung.

Räumliche Neuinterpretation

Die Architekten organisierten die Grundrisse neu. Die Wohnfl ächen erfuhren eine substanzielle Vergrösserung, indem die nicht tragenden Brandmauern teilweise entfernt und zwei Kleinwohnungen aus jeweils benachbarten Häusern zu einer grossen vereint wurden. Viele der neuen Wohnungen erschliessen sich nun von zwei Treppenhäusern. In einer geschickten Neuinterpretation zonierten die Architekten die Wohnungen in einen öffentlichen Wohnund einen intimeren Zimmerbereich. Ersterer fi ndet sich hofseitig: Durch die Entfernung der Korridorwand und der Brandmauer präsentiert er sich als grosszügig kombinierter Wohnund Essraum mit integrierter Küche. In der ursprünglichen Zellenstruktur zur verkehrsberuhigten Röntgenstrasse befi nden sich nun sämtliche Schlafräume.

Atmosphärisch, handwerklich und auch räumlich zeichnen sich die Wohnungen durch eine hohe emotionale Komponente aus, wie sie gerade in Neubauten oft fehlt. In der stimmungsvollen Innenraumgestaltung behaupten sich sorgsam restaurierte Teile wie das Holzwerk in einer neuen Grundrisskonfi guration. Zur spannungsreichen Dialektik von Alt und Neu ge hören die Verwendung von zeitgenössischen Materialien – wie Eichenparkett in den Wohnbereichen, farbige Linoleumböden in den Zimmern und Steinzeugbeläge in den Nasszellen – so wie die massgeschneiderten Schreinerarbeiten für die Küchen, Bäder und Einbauschränke. Die hinsichtlich Farben und Oberfl ächen im Sinne der Entstehungszeit wiederhergestellten Treppenhäuser lassen den Kraftakt nicht erahnen, der nötig war, um die unterschiedlichenAnforderungen der Feuerpolizei und der Denkmalpfl ege sowie die Vorschriften für behindertengerechtes Bauen in Einklang zu bringen. Eine grosse Herausforderung stellte der interne Schallschutz dar. Das Einbringen von zusätzlicher Masse auf die alten Ton-Hourdisdecken war wegen deren beschränkter Tragfähigkeit nur nach Einbau einer innovativen Verstärkung möglich (vgl. nächsten Artikel). Dass die Architekten die Fenstersprossen, die seit den 1960er-Jahren fehlten, auf Verlangen der Denkmalpfl ege rekonstruieren mussten, ist schwer nachvollziehbar. Offensichtlich wird damit der trügerisch schöne Schein einer Bildwirkung beschworen, der kaum als eigentlicher Träger des Denkmalwerts des Gebäudes fungiert. Exemplarisch drängt solches Handeln die Frage auf, inwieweit sich das denkmalpfl egerische Alltagsgeschäft eigentlich der Restauration widmet oder sich allmählich zur Rekonstruktion hin verschiebt. Umso ärgerlicher ist die Verordnung, als – um das Putzen zu erleichtern – auf eine Minimalversion mit lediglich aussen aufgeklebten Sprossen zurückgegriffen werden musste. Ganz zum Nachteil der Bewohnerschaft, deren Aussicht nun von der Rückseite plumper Klebesprossen beeinträchtigt wird.

Aufwertung des kollektiven Raums

Während die Denkmalpfl ege strassenseitig auf der vollständigen Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes beharrte, konnten hofseitig einige spannende Eingriffe umgesetzt werden. Der bislang vernachlässigte Hinterhof mutierte gemäss dem architektonischen Konzept zum verstärkt die Öffentlichkeit einbeziehenden Zentrum der Anlage. Über einen neuen Durchstich zum Röntgenplatz wird dieser besser ins städtische Gewebe eingebunden. Der neuen Ausrichtung der Wohnungen entsprechend, orientieren sich sämtliche privaten Aussenräume zum nachmittags besonnten Hof. Eine Mehrzahl der Wohnungen verfügt über generöse Terrassen. Vier «Terrassenbäume» aus Beton, deren Äste als Kragplatten alternierend in die eine oder andere Richtung wachsen, akzentuieren als freistehende plastische Struktur die historische Hoffassade, ohne diese jedoch zu berühren (vgl. nächsten Artikel). Um die Dachlandschaft zu schonen, erhielten die Wohnungen im Mansardengeschoss ihr eigenes Stück Dachterrasse. Die historischen, früher zum Wäschetrocknen benutzten Terrassen wurden in einzelne, strandkorbartige Kompartimente gegliedert und den einzelnen Wohneinheiten zugeteilt. In den beengten Platzverhältnissen richtete man grosszügige Loggien ein, während man an den Zeilenenden die Wohnräume mit französischen Balkonen versah. Die vier verschiedenen privaten Aussenraumtypen verleihen dem vorher wenig attraktiven Hinterhof neues Leben.

Die im siegreichen Studienbeitrag vorgesehene vollständige Absenkung des Hofes scheiterte an der Bewilligung der Baubehörden. Dies tut der Qualität aber keinen Abbruch, denn der Kompromiss einer partiellen Absenkung lediglich im Bereich des Gemeinschaftsraums schafft eine Zonierung des Hofs in unterschiedliche Bereiche, deren Charakter durch Geometrie, Materialisierung und Bepfl anzung inszeniert wird. Integrale Bestandteile der Gestal - tung bilden eine Seccomalerei der Zürcher Künstlerin Cristina Fessler auf der blinden Mauer eines eingeschossigen Hofgebäudes und eine grossräumige Skulptur mit dem sinnfälligen Namen «Seiltänzer». Gestaltet wurde diese hoffassende Installation vom Bildhauer und Landschaftsgestalter Jürg Altherr, der bereits beim Wettbewerbsverfahren Partner des Planungsteams war (Statik der Installation: vgl. nächsten Artikel).

Intelligenter Diskurs

Die Transformation bestehender Substanz ist inzwischen eine alltägliche Bauaufgabe. Leicht erwachsen Konfl ikte bei Bauten von historischem Gewicht, bei denen sich die Denkmalpfl ege einschaltet. Nicht selten divergiert ihre Rolle als Anwältin des geschichtlichen Bewusstseins von den Interessen und Vorstellungen der Nutzer, die ihren Blick auf das Potenzial des Gegenwärtigen ausrichten. Die Architekten müssen mit jedem Detail den Spagat zwischen den Wünschen der Nutzer und der Sicherung der Originalsubstanz bewältigen. Ob der «Schönheit des Wahren» oder der «Wahrheit des Gebrauchs» der Vorzug zu geben ist,steht stellvertretend für die Kontroverse Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen. Doch die beiden Parameter sind durchaus in Einklang zu bringen. Gerade aus der Reibung am Bestand lässt sich eine architektonische Komplexität gewinnen, wie sie auf der grünen Wiese nicht zu erzeugen wäre.

Der so einschneidende wie behutsame Eingriff von Pfister Schiess Tropeano vermittelt ein - drücklich, wie im Umgang mit historischer Substanz Selbstbewusstsein, aber auch Gelassenheit sowie differenzierte und zugleich versöhnliche Betrachtungsweisen weiterführen. Selbstredend wirkte sich die Erfüllung sämtlicher Aufl agen auf die Kosten der Restaurierung aus. 3500 Franken hat die Genossenschaft pro Quadratmeter in die Wohnkolonie «Industrie 1» investiert, rund 2800 Franken wären bei einem günstigen Neubau aufzuwenden gewesen. Eine 4.5-Zimmer-Wohnung mit 104 m² schlägt mit 1780 Franken zu Buche, ein angesichts des hohen Ausbaustandards und der attraktiven Lage nach wie vor äusserst moderater Mietzins. Sämtliche Wohnungen fanden denn auch problemlos Absatz. Heute wohnen in der Siedlung – aus den ursprünglich 80 Einheiten wurden 50 – mehr Leute als vor der Sanierung. Davon sind mehr als ein Drittel Kinder und Jugendliche.

Schlummernde Chancen

Glücklicherweise hält nichts ewig. Selbst an den steinernen Pyramiden nagt der Zahn der Zeit. Auf die Nutzung bezogen, lässt sich eine besonders ausgeprägte Flüchtigkeit konstatieren. Leider hilft diese Erkenntnis nicht immer, eine entkrampfte Vorgehensweise für die Pfl ege von gebauter Substanz zu formulieren, egal ob denkmalwürdig oder nicht. Gerade in einer Zeit, in der das Schielen nach medialer Aufmerksamkeit Werte wie Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Langsamkeit in den Hintergrund zu drängen droht, stellt sich die Frage nach der bestandesgerechten Handlungsweise. Gefordert sind alle Beteiligten, denn nur in zwar mühseliger, aber konstruktiver Zusammenarbeit lassen sich zeitgemässe Nutzungsanforderungen mit einem Altbau versöhnen, wie das vorliegende Beispiel anschaulich illustriert. Die Chance, durch vereinte, katalytisch aufeinander wirkende Kräfte weiterzukommen als im Alleingang, lohnt sich durchaus zu packen. Am Weiterbauen können alle wachsen.

[ Beat Aeberhard, dipl. Architekt ETH ]

TEC21, Mo., 2008.02.04



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tec21 2008|06 Denkmäler sanieren

07. April 2006Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Eine Skyline wird überholt

Seit einigen Jahren errichten die Global Players der Architektenszene in Manhattan vermehrt Luxusresidenzen für eine markenbewusste Kundschaft. Ihre Bauten verwandeln die Skyline der Stadt.

Seit einigen Jahren errichten die Global Players der Architektenszene in Manhattan vermehrt Luxusresidenzen für eine markenbewusste Kundschaft. Ihre Bauten verwandeln die Skyline der Stadt.

Wohnen in New York bedeutet Verzicht. Die Wohnungen sind klein, oft dunkel und durchwegs überteuert. Und dennoch ist New Yorks Anziehungskraft in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Neben jungen, karriereorientierten Arbeitstätigen strömen zunehmend Reiche und Prominente nach Manhattan. Deren Bereitschaft, für das passende Objekt ihres Lieblingsarchitekten fast jeden Preis zu bezahlen, hat zu einem neuen Trend im boomenden Immobilienmarkt geführt. Die Namen berühmter Baukünstler gelten als Verkaufsargument, denn sie sind ein Mittel, um in der auf Statussymbolen fixierten Stadt Reichtum und Geschmack zu demonstrieren.

Himmelstürmend

Der Beginn der auf grosse Namen ausgerichteten Wohnimmobilien-Euphorie lässt sich datieren: 2002 baute Richard Meier zwei schlanke Glastürme im West Village, die lediglich durch den Westside Highway vom Hudson River getrennt sind. Mit ihren voll verglasten Hüllen setzen die 16-geschossigen Gebäude einen weithin sichtbaren Akzent im traditionell von niedrigen Backsteinbauten geprägten Quartier. Die Aufmerksamkeit war Meier gewiss: Denn laut Eigenwerbung konnte er in der von Bohémiens, Künstlern und Studenten bewohnten Gegend - sieht man wohlwollend von seiner missglückten Sozialsiedlung von 1973 in der Bronx ab - sein erstes Projekt in seiner Heimatstadt realisieren. Hier im West Village fanden Meiers luxuriöse Wohnungen reissenden Absatz. Der Einzug von Calvin Klein, Nicole Kidman und Martha Stewart, die sich die millionenteuren Lofts ergatterten, führte zum Bau eines dritten Turms. Das liess die New Yorker Immobilienmoguln aufhorchen. Ganz offensichtlich lassen sich architektonisch anspruchsvolle Bauten in Geld ummünzen, lautete die Botschaft.

Das haben auch ehrwürdige Institutionen wie die Cooper Union gemerkt. Seit den neunziger Jahren lässt sie für ihr Parkplatzareal am Astor Place zusammen mit unterschiedlichen Investoren immer neue Projekte ausarbeiten. Erst einen spektakulären Hotelentwurf (die «Käseraffel») von Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron, dann im Jahre 2000 einen nicht weniger exzentrischen Bau (das «Nachthemd») von Frank Gehry und weiter - unter dem Patronat von Robert de Niro - eine Bleibe für das Tribeca Film Festival und das International Center of Photography. Doch alles schien der Cooper Union finanziell zu risikoreich. Deshalb entsteht nun auf der dreieckigen Parzelle ein 21-geschossiger Wohnturm nach dem Entwurf von Charles Gwathmey.

Auf einem den Strassenraum klar begrenzenden Sockel aus Sandstein wird sich ein ondulierender, verspiegelter Hauptturm erheben, der von einem postmodernistischen, mit Sandstein und Lochfenstern gegliederten Kubus durchstossen wird. Die 39 Lofts werden eine Rundsicht auf die Hochhausgebirge von Manhattan bieten. Vom Grundriss her sind sie aber weder sehr praktisch noch innovativ, was offenbar die Käufer nicht abhielt. Bei Baubeginn im Oktober 2004 waren bereits 11 Wohnungen verkauft. Darüber hinaus hat der Turm mit seinem reichen Material- und Formenvokabular schon vor seiner Vollendung zur Revitalisierung der Gegend zwischen dem trendigen East Village und dem etwas in Vergessenheit geratenen SoHo beigetragen.

Condo Couture

Für Aufsehen dürfte auch der von Santiago Calatrava geplante Wolkenkratzer an der South Street sorgen. Zwölf übereinander gestapelte und leicht gegeneinander versetzte «Wohnhäuser» sollen sich direkt am East River zu einer Gesamthöhe von 254 Metern auftürmen. Die je viergeschossigen Kuben mit einer Kantenlänge von 14 Metern hängen - von Luftraum unterbrochen - am vertikalen Erschliessungskern. Das Projekt erinnert an die Visionen der japanischen Metabolisten, bei denen ganze Häuser Ästen gleich aus vertikalen Stützen wachsen sollten. Gewiss, Calatravas Entwurf ist eleganter. Die über der Stadt schwebenden «Townhouses in the Sky» verströmen durch ihre strukturelle Klarheit eine Aura poetischer Isolation. Noch wird nach den zwölf künftigen Besitzern, die für ein «Stadthaus» 30 Millionen Dollar hinzublättern haben, und nach einer passenden kulturellen Institution gesucht, die im Sockelbereich einziehen will. Der Baubeginn des Prestige-Towers ist für dieses Jahr geplant.

Calatrava scheint mit diesem Entwurf von seinem etwas abgegriffenen organischen Vokabular Abschied zu nehmen. Dank seiner Form, welche die Ingenieurtechnik metaphorisch inszeniert, hat der South Street Tower das Format, ein Wahrzeichen von Manhattan zu werden. Bereits mit den Zwillingstürmen des Time Warner Center am Columbus Circle, für die David Childs von SOM verantwortlich zeichnete, erhielt die Skyline einen neuen Akzent. Damit konnte David Childs sich und das traditionsreiche, aber kommerziell gewordene Büro SOM in Investorenkreisen beliebt machen. Sein geschicktes Lavieren zwischen kreativen Visionen und finanziellen Interessen vermag Childs immer wieder auszunutzen, wie etwa das Gerangel um den Wiederaufbau des World Trade Center zeigte, wo er vom Investor Larry Silverstein mit der Umsetzung des ursprünglich von Daniel Libeskind entwickelten Freedom Tower betraut wurde.

Narzissmus als Entwurfsstrategie

Anders als das boomende Geschäft mit Wohnungen steckt der Markt für Büroräume seit dem 11. September 2001 in der Krise. Mehr als 15 Prozent der Büroflächen in Downtown Manhattan stehen zurzeit leer. Sie werden nun vermehrt in luxuriöse Condominiums umgewandelt, womit das Zentrum der Hochfinanz sich allmählich in ein mondänes Wohnquartier verwandelt. Für diese Entwicklung steht beispielsweise das grossspurige Projekt «Downtown by Philippe Starck». An der Ecke von Broad und Wall Street wird derzeit nach den Plänen des umtriebigen Franzosen das 1913 in solider Neoklassik errichtete 42-stöckige Morgan Building für 135 Millionen Dollar in 326 Wohneinheiten mit gehobenem Ausbau umgestaltet - mit hausinternem Theater. Eine vorgelagerte Dachterrasse mit Swimmingpool bietet einen konkurrenzlosen Blick auf die gegenüberliegende New York Stock Exchange sowie die historische Federal Hall. Als Käufer angesprochen sind vor allem Vertreter des sogenannten Smart Tribe, der es laut Starck begriffen habe, dass sich sein Projekt durch «Ehrlichkeit, Respekt, Zärtlichkeit, Surrealismus und Poesie» auszeichne - alles Werte, welche für die Börse bedeutungslos seien. Doch wird sich weisen müssen, ob die Lage an einer prominenten und schwer bewachten Kreuzung der Vorstellung einer sinnlichen Wohnadresse entspricht.

Wohnungen bauen oder planen sie mittlerweile alle in New York: Jean Nouvel einen Wohn- und Geschäftsturm an der Mercer Street in SoHo, Herzog & de Meuron für Ian Schrager an der Bond Street in NoHo eine Anlage, die ein kleines Hotel und fünf Stadthäuser umfasst, Norman Foster an der Chambers Street einen 258 Einheiten enthaltenden Wohnkomplex, Arquitectonica ein 60-geschossiges Wohnhochhaus an der 42nd Street, Frank Gehry einen 75-stöckigen Turm mit 375 Wohnungen an der Beekman Street, Zaha Hadid ein Wohngebäude mit 6 Apartments an der Charles Street und John Pawson eine partielle Umgestaltung des altehrwürdigen Gramercy Park Hotel in Wohnungen. - Dass Wohnungen berühmter Architekten auf den Markt kommen, erstaunt eigentlich wenig. Warum sollen Menschen, die Markenmode tragen, nicht auch in einer Markenwohnung wohnen. Was hingegen nachdenklich stimmt, sind die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Dimensionen. Die Luxustürme von Calatrava und Gwathmey sind die neuen Herrenhäuser für eine globale Elite, deren Ressourcen schier unerschöpflich zu sein scheinen. Dass da auch grosse Architekten mitverdienen wollen, ist verständlich. Die Strategie der Investoren, diese zu verpflichten, beruht jedoch weniger auf ihrer plötzlich erwachten Liebe zur Baukunst als vielmehr auf knallhartem Kalkül. Die architektonische Einmaligkeit - das mussten schon die Prada-Architekten Koolhaas und Herzog & de Meuron erfahren - soll dabei nur die angepeilte Wertsteigerung garantieren.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.04.07

12. August 2005Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Ein Mexikaner am Hudson River

Erst seit vier Jahren arbeitet Enrique Norten in New York. Dennoch konnte er sich in der Architekturszene der Stadt bereits einen Namen machen. Nun würdigt das Museum of the City of New York sein Schaffen am Hudson River mit einer Übersichtsschau.

Erst seit vier Jahren arbeitet Enrique Norten in New York. Dennoch konnte er sich in der Architekturszene der Stadt bereits einen Namen machen. Nun würdigt das Museum of the City of New York sein Schaffen am Hudson River mit einer Übersichtsschau.

Vor wenigen Wochen gab der Direktor des Guggenheim Museum, Thomas Krens, den Sieger des Wettbewerbs für eine Dépendance seiner Institution in Mexiko bekannt. Die Wahl fiel auf den international bekannten Architekten Enrique Norten, was niemanden, der sowohl Krens als auch Norten kennt, gross erstaunte. Denn Krens setzt auf spektakuläre Architektur, immer in der Hoffnung, das Wunder von Bilbao wiederholen zu können. Das gilt auch für das in Guadalajara geplante Guggenheim-Gebäude, das ebenfalls als Publikumsmagnet funktionieren soll. Und offensichtlich glaubt Krens dies am ehesten mit Nortens Vorschlag eines 180 Meter hohen, transparenten Glasturms zu erreichen.

Wahrzeichen für New York

Einem breiteren New Yorker Publikum ist Norten seit seiner vielbeachteten Inszenierung der Ausstellung «The Aztecs» im Guggenheim Museum vom letzten Herbst bekannt; und nun würdigt das Museum of the City of New York sein Schaffen mit einem Überblick über seine Projekte am Hudson River. Der Mexikaner, der sowohl in seiner Heimat als auch in den USA und Europa plant und baut, eröffnete vor vier Jahren eine Filiale seiner Firma TEN Arquitectos - TEN steht für Taller (oder Atelier) Enrique Norten - in Manhattan. Schnell wurde er mit Aufträgen überhäuft, so dass mittlerweile seine New Yorker Zweigstelle mehr Mitarbeiter beschäftigt als sein Hauptbüro in Mexiko.

Unter dem Titel «New York Fast Forward» zeigt die Schau acht Projekte, die insbesondere in städtebaulicher Hinsicht durch ihren kreativen Ansatz bestechen. Vermittelt werden diese durch Modelle, Zeichnungen, grossformatige Fotografien sowie computergenerierte Bilder und Animationen. Dabei fällt auf, dass Nortens Entwürfe nicht eindeutig identifizierbar sind, folgen sie doch nicht einer einmal erfolgreich erprobten Handschrift, sondern scheinen immer wieder neu erarbeitet zu werden. Gemeinsam ist allen indes ein Ausdruck von Spannung und Bewegung, der aus dem Dialog der Entwürfe mit dem Kontext resultiert. Sein in verschiedener Hinsicht bemerkenswertestes Projekt ist die Brooklyn Public Library for the Visual and Performing Arts (VPA), die dereinst einem gläsernen Schiffsbug gleich auf einer dreieckigen Parzelle schweben und mit dem dahinter liegenden, zeichenhaften Art-déco-Turm einer Bank kontrastieren soll, um diesen optisch besser an die überdimensionale Flatbush Avenue zu binden. Mit dem VPA will Norten eine Ikone der neuen Technologien erschaffen. Eine Doppelglasfassade kontrolliert das nach innen und aussen flirrende Licht. Animationen sollen dem Ausstellungsbesucher eine ständig changierende Collage aus Menschen, Raum, Form und Bewegung vermitteln.

Hotelneubau in Harlem

Das Projekt «Harlem Park» demonstriert Enrique Nortens Fähigkeit, ein der New Yorker Tradition verpflichtetes Gebäude zu schaffen, das gleichzeitig einen Beitrag an den Strassenraum und an die charakteristische Skyline der Stadt leistet. An Harlems Hauptachse, der 125. Strasse, gelegen, soll der 34-stöckige Neubau - Harlems erstes neues Hotel seit 1966 - ein 204 Zimmer zählendes Hotel, rund 100 Wohnungen sowie Büros und Ladengeschäfte aufnehmen. Architektonisch besonders überzeugend sind die ondulierenden Fassaden aus Glas und Beton sowie der farbige Sockel. Dass die Formfindung für dieses Grossprojekt nicht ganz einfach war, veranschaulichen in der Ausstellung Dutzende Kartonmodelle.

Die Schau wird durch einige Konzeptstudien ergänzt. Darunter findet sich ein Vorschlag für die Umsiedlung der Metropolitan Opera an die West 42nd Street. Diese Studie ist nicht nur deswegen von Interesse, weil es sich um einen Entwurf für ein hybrides, multifunktionales Gebäude von hoher Komplexität handelt, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich die alte Oper bis zu ihrem Umzug ins Lincoln Center for the Performing Arts in den sechziger Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft zum vorgeschlagenen Ort des möglichen Neubaus befand.

Optimismus

In der sich auf New York konzentrierenden Schau fehlt zwar der Entwurf für das Guggenheim Museum in Guadalajara. Dennoch könnte dieser zum bisher meistbeachteten Projekt Enrique Nortens werden - und zugleich zu seiner bisher grössten Herausforderung. Krens kann und will sich keinen Lapsus leisten. Deshalb erarbeitet die Beraterfirma McKinsey momentan eine Machbarkeitsstudie für die lateinamerikanische Filiale. Norten selbst glaubt fest an das Projekt. Er war schon immer Optimist. Und dieser Optimismus hat ihm auch den Durchbruch in einer Stadt ermöglicht, die vor allem auf Stars und Publikumslieblinge fixiert ist, wie der 51-jährige Architekt unlängst der «New York Times» anvertraute. Weiter meinte er: «Als Architekt träumt man von einer Präsenz in New York, aber man weiss nicht, wie man das machen soll.» Nun, Nortens Anwesenheit in der Metropole am Hudson dürfte demnächst kaum mehr zu übersehen sein.

[ Bis 30. Oktober im Museum of the City of New York. Begleitpublikation: TEN Arquitectos. Englisch. Hrsg. Enrique Norten und Bernardo Gómez-Pimienta. The Monacelli Press, New York 2003. 224 S., $ 40.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.08.12

05. Oktober 2001Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Die Kunst des Bauens am Hang

Peter Märklis Einfamilienhaus Eser in Hünenberg

Peter Märklis Einfamilienhaus Eser in Hünenberg

Im zugerischen Hünenberg findet sich gut schweizerischer Durchschnitt: etwas Landwirtschaft, etliche Dienstleistungsbauten und Einfamilienhäuser aller Art, die den Hang mit Aussicht ins Reusstal dominieren. Am Siedlungsrand, wo das Quartier in ein Wäldchen übergeht, liegt das Haus Eser in einer dreieckigen Parzelle, fest verankert im Nordwesthang.


Ausdruck der Gelassenheit

Auf den ersten Blick fällt das mit einem braunen Kalkputz versehene Haus nicht sonderlich auf. Um das Wesen des Baus in seiner ganzen Tiefe zu ergründen, bedarf es einer gewissen Hartnäckigkeit, und bei genauem Hinsehen offenbaren sich jene äusserste Präzision und Lebendigkeit, die Peter Märklis Projekte kennzeichnen. Zunächst fällt auf, dass das steile Terrain nicht ausnivelliert wurde. Im Gegenteil, das Haus sucht den Bezug zur Topographie und antwortet auf das Gefälle, indem es sich aus dem Querschnitt entwickelt. Bergseitig liegt das oberste Geschoss frei, während das Haus von der Strasse aus zweigeschossig in Erscheinung tritt. Der kompakte Körper springt an der nördlichsten Stelle zurück und wird zudem im Erdgeschoss von der lediglich durch ein Scherengitter abgetrennten Garage und der Eingangsnische eingeschnitten. Diese weiss ausgestrichenen Nischen finden ihr Pendant bergseitig in der im Obergeschoss tief ins Haus eingezogenen, mit einem Oberlicht versehenen Terrasse. Grosszügige Fenster in ausgewogenen Proportionen sind exakt im Volumen placiert und unterstreichen den harmonischen und selbstverständlichen Gesamteindruck des Hauses im aufgeplusterten Allerlei der Nachbarschaft.

Ein überhohes Treppenhaus, das Licht bis ins Souterrain eintreten lässt, weist den Weg nach oben. Hier befindet sich das eigentliche Hauptgeschoss, das der alleinstehende Besitzer bewohnt. Entlang einer Wand aus Glasbausteinen, welche die Küche abtrennt, gelangt man ins Wohnzimmer. Immer wieder entdeckt das Auge über die Diagonalen durch verschiedene Raumschichten neue spannende Ausblicke, mal in einen anderen Raum, mal auf die Landschaft. Die einzelnen Räume - obwohl klar ausgebildet - sind alle miteinander verbunden: Wände aus Glasbausteinen treten häufig auf, dabei kommt ihnen durch die in ihrer Materialität begründete diffuse Halbtransparenz bisweilen eine trennende wie verbindende Rolle zu. Unterstrichen wird die Kontinuität des Raumes durch den im ganzen Haus gleich gehaltenen dunkelroten Hartbeton des Bodens, dessen Fugen als Muster figurieren. Gemeinhin verwendet Märkli die Materialien in ihrer ursprünglichen Gestalt: Sämtliche Wände sind mit weiss eingefärbtem Kalkputz überzogen, die Einbauschränke bestehen aus lackierten Holzwerkstoffplatten, und die Fenster sind aus Aluminium. Die Präzision der Arbeit lässt sich am Bau Schritt für Schritt ablesen. Überall sind die Entscheide, die zur richtigen Lösung geführt haben, deutlich nachvollziehbar.

Der Garten, der in Zusammenarbeit mit den Landschaftsarchitekten Rotzler Krebs Partner entstanden ist, widerspricht zunächst jeder Vorstellung des privaten Raumes. Von Nordosten dringt das Wäldchen ins Grundstück ein. Kontrastiert wird das Gehölz durch die im Westen der Parzelle gepflanzten Weiden, die in strengen geometrischen Bändern dem Hang folgen und das Haus distanziert von der Strasse abrücken lassen. Der eigentliche private Aussenraum findet sich kohärent auf der Rückseite des Hauses, begrenzt von einer nackten Stützmauer aus Beton und dem Obergeschoss. Der mit Zementplatten belegte und mit einem Wasserbecken versehene schmale Raum erzeugt - so klein dieser Garten ist - eine Weite, die wiederum die Dichte des Hauses verstärkt. Obwohl auf der Hinterseite des Hauses gelegen, muss auf die Aussicht nicht verzichtet werden: Von der als Fortsetzung in den Baukörper fliessenden Terrasse schweift der Blick durch das Haus hindurch über das Reusstal. Die Aussicht wird einem Bild gleich gerahmt durch die beiden im Wohnraum sich gegenüberliegenden identischen Öffnungen.


Prinzipien der Baukunst

Märkli spricht davon, dass er «Bedingungen eliminiert, um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren». Da Architektur primär durch den Sehsinn wahrgenommen wird, ist er auf der Suche nach den wenigen Dingen, die wichtig sind. Mit dieser Beschränkung erreicht Märkli die Klarheit und die Genauigkeit, die letztlich seinen Entwurf ausmachen. Die Form des Hauses Eser klärt sich in der Beziehung zu den Dingen der Umgebung. Es ist ein Lehrstück, wie ein selbstbewusster Baukörper subtil und präzis in eine schwierige Situation mit herausfordernder Topographie eingefügt werden kann. Städtebau im dispersen Einfamilienhaushang eben.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.10.05



verknüpfte Bauwerke
Einfamilienhaus Eser

06. April 2001Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Aufbruch im Ländle

Neue Tendenzen in der Architektur Liechtensteins

Neue Tendenzen in der Architektur Liechtensteins

Trotz seiner Lage zwischen den beiden bedeutenden Architekturregionen Vorarlberg und Graubünden konnte sich in Liechtenstein bis anhin keine vorbildliche Baukultur entwickeln. Doch nun werden in dem von einem beispiellosen Bauboom geprägten Kleinstaat erste Konturen einer sich etablierenden Architekturszene erkennbar.

Vaduz mit seinem hoch über dem Tal thronenden Fürstenschloss ist ein viel besuchtes Touristenziel. Doch die Kleinstadt ist längst kein Postkarten- oder Briefmarkensujet mehr, denn mit der Anhäufung von sterilen Geschäftsbauten bietet sie vor allem einen Querschnitt durch die Abgründe der gesichtslosen Spekulationsarchitektur der letzten zwanzig Jahre. Der Wochenendbesucher verharrt denn auch etwas ratlos auf der zentralen Aeulestrasse vor der gähnenden Leere von Tiefgarageneinfahrten und der Tristesse geschlossener Jalousien in den darüber liegenden Bürogeschossen. Der expandierende Bankenplatz braucht Raum, und es verblüfft, wie die pseudoalpenländische Idylle zusehends einer kleinen Downtown amerikanischen Zuschnitts weicht. In Vaduz haben die andernorts längst überholten städtebaulichen Postulate der sechziger Jahre, die den Abbruch der vorhandenen Stadt vorsahen, um diese durch die neue, bessere Stadt zu ersetzen, nach wie vor ihre Gültigkeit. Dies mag daran liegen, dass dem Ort mit seinen gut 5000 Einwohnern historisch kaum städtische Qualitäten attestiert werden können. Der Boom der Finanzdienstleistungsbranche, wachsende Verdichtung und die hohen Bodenpreise haben den Ersatz der dörflichen Bausubstanz durch grossmassstäbliche Strukturen zur Folge. Das andernorts selbstverständliche Begehren, das Vorhandene in seiner Geschichtlichkeit zu respektieren und im Hinblick auf neue Bedürfnisse und Werte zu transformieren, wird hier nicht einmal geäussert.


Verstädterte Landschaft

Die liechtensteinische Baukultur war während Jahrhunderten geprägt von der einfachen Bauaufgabe des Wohnhauses mit Stall. Im verarmten Bauernland blieben die kompakten Dörfer bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend intakt. Die starke wirtschaftliche Entwicklung und der dadurch ausgelöste Strukturwandel vom landwirtschaftlich dominierten Land zum modernen Finanzzentrum verursachten einen grundlegenden Wandel: Die dichten Dorfgefüge wucherten allmählich zu weitläufigen Streusiedlungen aus, die grosse Teile der Rheinebene und der Hanggebiete erfassten. Der Wohlstand entfesselte eine zügellose Bauorgie. Die banalen Verwaltungsbauten und die weitläufigen, mit Einfamilienhäusern übersäten Hänge wirken bisweilen wie Baumarktkollektionen und verweisen auf die Selbstverwirklichungsansprüche ihrer Erbauer. Es ist viel Geld im Land. Der jahrzehntelange Wirtschaftsaufschwung hat die Leute verändert und Menschen aus dem Ausland angezogen. Der kulturelle Unterschied zwischen den weitgereisten, oft im Ausland ausgebildeten jüngeren Nutzniessern des Aufschwungs und ihren Grosseltern ist eklatant.

Einen eigentlichen Kulturschock vor allem für die ältere Generation löste der eigenwillige Solitär des im letzten November fertiggestellten Kunstmuseums in Vaduz (NZZ 11. 11. 00) aus. Dieser schwarze Monolith ist gleichzeitig aber auch ein charakteristischer Ausdruck der veränderten neuen Gesellschaft. Dem Architektenteam Morger & Degelo und Kerez ist ein Gebäude gelungen, das mit seiner minimalistischen Form radikal ins Allerlei des Kontextes einbricht. Trotzdem fügt es sich mit seinen das Licht und die Nachbarbauten reflektierenden, fein geschliffenen Betonflächen offenbar mühelos in die bestehende Baustruktur ein. Vaduz hat eine Preziose erhalten, die erstmals die - faktisch längst vollzogene - gesellschaftliche Wandlung von der ländlichen zur städtischen Kultur auf architektonischer Ebene ebenso subtil wie eindringlich transponiert.


Zierstück in der Einöde

Ausser dem vielbeachteten Kunstmuseum entstanden in den letzten Jahren in aller Stille einige durchaus bedeutende Bauten in der «Agglomeration Liechtenstein». Ein zentrales Verdienst kommt dabei dem Liechtensteiner Hochbauamt zu. Hätte sich sein oberster Vertreter, Landesbaumeister Walter Walch, in den vergangenen dreissig Jahren nicht beharrlich gegen die weitere Zersiedelung der Landschaft und für mehr Verantwortungsbewusstsein der Bauherren bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes eingesetzt, so wären die heute von der öffentlichen Hand zwingend durchzuführenden Wettbewerbe kaum denkbar. Seit Liechtensteins Beitritt zum EWR im Jahre 1995 und der damit einhergehenden Öffnung zu Europa werden die Wettbewerbe immer öfter mit internationaler Beteiligung durchgeführt. Vermehrt bauen seither Ausländer in Liechtenstein. Die einheimischen Architekten sehen sich einer starken Konkurrenz ausgesetzt, und insbesondere die jüngeren sind willens, den Tendenzen in der Deutschschweiz und in Vorarlberg nachzueifern und im Aufbau einer eigenständigen Baukultur zu reüssieren.

Der in Schaan arbeitende Ivan Cavegn etwa erstellte in Zusammenarbeit mit Franz Marok im Zentrum von Eschen ein bemerkenswertes Gebäude für die Post mit darüber liegenden Alterswohnungen. Der zur Strasse hin mit seiner vollständig verglasten Fassade etwas abweisend wirkende Kubus überrascht mit einer in Holz und Glas ausgeführten, subtil ausformulierten Südfront, deren tiefe Loggien eine hohe Lebensqualität verheissen. Ein eingeschossiger Querarm, der die öffentlichen Bereiche der Poststelle beinhaltet, definiert den noch zu schaffenden Platzraum und sucht den Bezug zur Kirche. Das Architektenteam überzeugt durch den präzise placierten Baukörper im Kontext des alten Dorfzentrums sowie durch die saubere und konsequente Materialisierung: Das vollständig verglaste Erdgeschoss etwa ist umhüllt von leichten, drehbaren Metalllamellen, die zum einen dem geforderten Sicherheitsaspekt entsprechen, zum anderen einen wünschenswerten Sicht- und Sonnenschutz bieten.


Internationale Stars und junge Füchse

Ein weiterer Faktor beeinflusst das Baugeschehen: Stararchitektur liegt im Trend. Die international tätigen Finanzgesellschaften haben erkannt, dass qualitätvolles Bauen weit mehr als nur Büroflächen bereitzustellen vermag. Architektur wird vermehrt zum Imagefaktor, dessen sich die zum Teil um ihre Reputation besorgten Finanzgesellschaften gerne bedienen. Etwas Kultur hat schliesslich noch nie geschadet. Zwei private Architekturwettbewerbe erkoren letzthin die Projekte von Hans Hollein aus Wien und von David Chipperfield aus London. Hollein antwortet bei seinem Entwurf für den Neubau der Centrumsbank in Vaduz mit einem selbstreferenziellen Solitär auf die heterogene Umgebung. Der organisch geschwungene Baukörper zeigt eine Tendenz auf, die bisweilen in der narzisstischen Selbstdarstellung des Privaten im öffentlichen Raum gipfelt. Holleins Interesse gilt nicht dem Kontext, sondern dem Objekt und dem Detail.

Anders präsentierte sich die Ausgangslage für Chipperfield: Seine Aufgabe ist die Umgestaltung und Erweiterung eines ehemals herrschaftlichen Gutshofes in Schaan, bei dem es sich um eine wertvolle, unter Denkmalschutz stehende Anlage handelt. Um einer weiteren Zerstückelung des weitläufigen Areals vorzubeugen, liess der Grundeigentümer einen von der Denkmalpflege begleiteten Architekturwettbewerb durchführen. Chipperfield, der sich der historischen Bedeutung des Objekts bewusst ist, sieht den Erhalt des Ensembles und eine bauliche Erweiterung in zeitgemässer Architektursprache vor. Leider kann das Projekt nicht umgesetzt werden, weil die Gemeinde die Ausnahmebewilligung - unter der etwas abstrusen Begründung, die Ausnützungsziffer werde überschritten - nicht erteilen mag.

Einige private Bauherren haben es gewagt, ungewöhnliche Projekte in Auftrag zu geben. Bearth & Deplazes aus Chur errichteten 1998 ein winkelförmiges Einfamilienhaus aus Sichtbeton in Triesen. Der minimalistische, unaufgeregte Bau in schöner Aussichtslage am Hang besticht durch die sich dem Betrachter offenbarenden Themen, deren Reichtum aus einer konsequenten Reduktion resultiert. Die skulpturalen Häuser des Vorarlberger Duos Baumschlager & Eberle in Vaduz und Schaan suchen dagegen den offensichtlichen Kontrast zur Biederkeit der Umgebung. Vorkragende, übereinander gestapelte Betonkuben hinterlassen einen starken Eindruck.

Neben den etablierten Schweizern und Vorarlbergern gelang es auch einer jungen Generation ortsansässiger Architekten, mit ersten Privathäusern auf sich aufmerksam zu machen. Einer ähnlich direkten Sprache wie Baumschlager & Eberle bedienen sich Thomas Keller und Richard Brander. Ihr spektakulär auskragendes Mehrfamilienhaus in Nendeln verblüfft durch seine äusserst karge Sprache. Das Material spricht für sich selbst: Ein Holzhaus ist ein Holzhaus. Das in seiner Breite mit den unteren Geschossen identische Attikageschoss wird zurückgeschoben, wodurch zur einen Seite eine Dachterrasse gewonnen wird und zur gegenüberliegenden die abenteuerliche Auskragung entsteht.

Die Vorgehensweise der Architekten muss geradezu als kühn bezeichnet werden, und ihre etwas ältere Überbauung in Triesen zeigt, dass zuweilen ein schmaler Grat über Triumph oder Misslingen entscheidet: Die auf eine provokative Art das Einfache zelebrierenden Wohnhäuser drohen ins Banale abzugleiten.

Pragmatischer gehen Markus Freund und Camillo Fehr vor. Die beiden Architekten vom Büro Effeff haben bereits einige bemerkenswerte Holzhäuser gebaut, wobei sie auch ökologischen Belangen gerecht zu werden suchen. Beim Grenzübergang in Ruggell-Nofels erstellten sie eine Zollstation als offenes Tor, das den Blick in die österreichische Nachbarschaft weitet und dadurch eine klare Haltung bezüglich der politischen Grosswetterlage einer zusammenwachsenden europäischen Grenzregion offenbart. Lattenroste verkleiden sowohl die Wände wie auch ein ausgedehntes, schwebendes Dach. Bereits beim Bau des Schulhauses in Triesenberg, das sie in Zusammenarbeit mit Hubert Ospelt 1992 bis 1994 errichteten, benutzten sie Holz. Die Verwendung von Holzschindeln für die Fassadenverkleidung und von Natursteinen für das Mauerwerk verweist auf die regionale Bautradition. Vor allem das Wohnhaus des Abwarts besticht durch seine kräftige Form und durch die bereits nachgedunkelten Holzschindeln, die das Bild einer geglückten Einpassung in den Hang evozieren. Subversiv wirkt hingegen die irritierende Grösse des Schulhauskomplexes an exponierter Hanglage.


Verheissungsvolle Aussichten

Liechtenstein gilt nicht als bedeutende Architekturregion. Eine verstädterte Landschaft einerseits und eine erfreuliche Offenheit gegenüber neuen Tendenzen anderseits verheissen indessen eine interessante Entwicklung. Das Wettbewerbswesen hat durch die gezielte Förderung der öffentlichen Hand zu qualitativ hochwertigen Ergebnissen geführt, und vermehrt anerkennen auch private Bauherren den Nutzen des Architekturwettbewerbs. Es gibt sie, die Architekten, die an der Gestaltung der zahlreichen Bauaufgaben teilnehmen und aufzeigen, wie zunehmend schwierigere Anforderungen mit klaren städtebaulichen und architektonischen Vorstellungen vereinbart werden können. Die Hoffnungen sind daher nicht unbegründet, dass in Zukunft vermehrt von gelungenen baukünstlerischen Resultaten aus dem Fürstentum zu berichten sein wird und sich im kleinen Land mit grossem finanziellem Potenzial allmählich eine eigenständige regionale Architekturkultur entwickeln wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.04.06

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Publikationen

Presseschau 12

14. Juli 2017Beat Aeberhard
TEC21

Glückliche Synergie

Oft sind Schienenprojekte verkehrlich getrieben. Doch in Basel könnten mit dem «Herzstück» – neben verbesserter Infrastruktur und effizienterem Angebot – auch bedeutende Stadtentwicklungspotenziale erschlossen werden. Anhand der Fotos von Michael Heinrich kommentiert der Basler Kantonsbaumeister Beat Aeberhard für TEC21 ausgewählte Punkte.

Oft sind Schienenprojekte verkehrlich getrieben. Doch in Basel könnten mit dem «Herzstück» – neben verbesserter Infrastruktur und effizienterem Angebot – auch bedeutende Stadtentwicklungspotenziale erschlossen werden. Anhand der Fotos von Michael Heinrich kommentiert der Basler Kantonsbaumeister Beat Aeberhard für TEC21 ausgewählte Punkte.

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verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|28-29 Herzstück Basel – S-Bahn ins Zentrum

28. Februar 2014Beat Aeberhard
TEC21

Kunst des Dialogs

Das Alterswohnhaus Neustadt II in Zug verbindet Alt und Neu zu einem in sich stimmigen Ganzen. Der Stadtarchitekt erklärt, warum das an diesem Ort die richtige Lösung ist – städtebaulich wie architektonisch.

Das Alterswohnhaus Neustadt II in Zug verbindet Alt und Neu zu einem in sich stimmigen Ganzen. Der Stadtarchitekt erklärt, warum das an diesem Ort die richtige Lösung ist – städtebaulich wie architektonisch.

In seinem vielbeachteten Schweizer Beitrag «And Now the Ensemble!» an der Architekturbiennale Venedig 2012 plädierte Miroslav Šik für eine Baukunst des Unspektakulären. Er forderte Berufskollegen, Bauherrschaften und Behörden auf, weniger selbstreferenzielle Objekte zu planen und neue Bauten als das zu begreifen, was sie sind: ein Teil ihrer gewachsenen Umgebung. Das Weiterweben als Entwurfsstrategie hat er nun am Beispiel eines bemerkenswerten Umbaus vorgeführt – der Transformation eines Schulhauses aus den 1960er-Jahren in ein Wohnhaus für ältere Menschen.

Chaotische Umgebung

Die Zuger Neustadt zeichnet sich durch eine sehr heterogene Gestalt aus. Unterschiedliche Visionen und städtebauliche Idealvorstellungen prallen auf engstem Raum aufeinander. In den vergangenen fünfzig Jahren hat man diverse Entwicklungsströmungen aufgegriffen und wieder fallen lassen. Dabei ging fast die ganze, ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert stammende Bausubstanz verloren. Entstanden war die Neustadt als typisches homogenes Gründerzeitquartier um den ersten Bahnhof nach 1864; wie in anderen Städten hatte die Bahn die Industrialisierung beflügelt. Das damit einhergehende Bevölkerungswachstum löste eine rege Bautätigkeit von Miet- und Geschäftshäusern aus. Ab 1909 liess die Stadt an der Bundesstrasse das Schulhaus Neustadt durch die Architekten Dagobert Keiser und Richard Bracher errichten. Der markante und bis heute die Innenstadt prägende Bau mit seinen hohen Schweifgiebeln fand in der damaligen Fachpresse grosse Aufmerksamkeit. So wurde etwa die reiche Farbigkeit des neobarocken Baus sowohl im Innern als auch an der Fassade kontrovers diskutiert.[1] 1966–68 folgte als Erweiterung der Schulanlage das funktionalistische Schulhaus Neustadt II der Zuger Architekten Heinrich Gysin und Walter Flüeler (Abb. S. 23).

Effektiv in Gebrauch war diese Erweiterung nicht einmal 40 Jahre: Der Zuger Innenstadt gingen die Kinder aus, denn der Ersatz der Gründerzeitbebauung durch Geschäftsbauten führte zu einem massiven Bevölkerungsschwund. Das Schulhaus musste einer neuen Nutzung zugeführt werden. Infrage kamen Privatschulen, Familien- oder Alterswohnungen. Aufgrund typologischer Eigenschaften – breite Gänge und grosszügige Raumhöhen – und der unmittelbaren Nachbarschaft zu einem Altersheim beschloss die Stadt, Alterswohnungen unterzubringen. Zusätzlich sollte das Gebäude mit einer zweigeschossigen Aufstockung verdichtet werden. Den 2007 ausgeschriebenen anonymen Studienauftrag mit Präqualifikation konnte Miroslav Šik für sich entscheiden. Überzeugt hatte er die Jury mit einer spannungsvollen Volumetrie und einem architektonischen Ausdruck, der eine Versöhnung des Projekts mit seinem schwierigen Kontext verhiess.

Alt und Neu frisch verputzt

Die 18 Alterswohnungen befinden sich in den ersten beiden Obergeschossen des Bestandes und in der zweigeschossigen Aufstockung. Im Erdgeschoss sind eine Arztpraxis und Büros untergebracht (der Spitex und der Verwaltung der Stiftung, die das Altersheim betreibt). Die ursprüngliche Grundrissfigur wird durch den doppelgeschossigen Holzbau weitgehend fortgeführt (Grundrisse, S. 26). Längsseitig springt die Aufstockung teilweise treppenartig zurück, sodass in der engen städtebaulichen Situation räumliche Ausweitungen entstehen. Dadurch erhält die Stirnseite des Volumens eine stehende statt liegende Proportion, was dem Haus eine deutlich höhere Präsenz verleiht (Abb. S. 22). Als Nebeneffekt wirken sich die Rücksprünge positiv auf die Besonnung der Wohnungen aus. Die an sich strenge und dichte Konzeption wird durch die Differenzierung der Kubatur, durch Zugänge im Erdgeschoss und durch Loggien aufgelockert.

Bestand und Aufstockung wurden mit einer konventionellen Wärmedämmung energetisch auf den neuesten Stand gebracht. Das ganze Haus ist mit einer grüngrauen, vertikal gerillten Kammstruktur verputzt und erhält dadurch eine starke, monolithische Bildhaftigkeit. Handwerklich ist der Putz eine Meisterleistung: Unterbruchsfrei über die 15 m hohe Fassade gezogen, wurde er anschliessend von Hand nachgeschliffen. Die Nobilitierung des herkömmlichen Materials Putz und die hellen Umrahmungen, die einzelne Fenster auszeichnen und die serielle Fensteranordnung individualisieren, verleihen der Fassade die Anmutung eines sorgfältig geschneiderten Kostüms (Abb. S. 27 oben).

Schöne Wohnungen statt trister Zimmer

Im Innern fällt zunächst der breite Gang auf. Er ist mit demselben Putz verkleidet wie die Gebäudefassade, was seinen öffentlichen Charakter unterstreicht. Aus jeder Wohnung kann man über ein internes Fenster in den Gang schauen. Die Bank vor jeder Wohnungstür ist nicht nur eine funktionale Sitzgelegenheit, sondern auch eine Einladung an die Bewohnerinnen und Bewohner, sich den kollektiven Raum anzueignen (Abb. rechts Mitte).

Die einzelne Wohnung betritt man über eine offene Küche; die Garderoben und die Erschliessungsflächen sind in den Wohnbereich integriert. Die 2 ½- und 3 ½-Zimmer-Wohnungen entfalten sich um wohlproportionierte Loggien. Überdies ist jeweils eines der Schlafzimmer durch eine grosse Schiebetüre mit dem Wohnbereich verbunden. Der Zuschnitt der Räume macht die Wohnungen über die Raumdiagonale erlebbar – ein Motiv, das einen perspektivisch spannenden Übergang zwischen den Räumen ermöglicht (Abb. S. 25 unten). Den Architekten gelingt es, trotz der beträchtlichen städtebaulichen Dichte eine durchwegs hohe Wohnqualität zu sichern. Der Blick schweift entweder über den nahen Zugersee zu den innerschweizer Alpen oder auf die Züge, die in den benachbarten Bahnhof einfahren (Bild rechts unten). Eine zurückhaltende Materialisierung und die in Crèmetönen gehaltenen, fast monochromen Oberflächen verleihen den Räumen eine opulente Atmosphäre, ohne das Zeitgenössische zu negieren.

Entstanden sind stimmungsvolle Wohnungen, keine Altersheimzimmer. Die Architekten haben funktionale Notwendigkeiten berücksichtigt, ihr dringendstes Anliegen war es aber, emotionale Bedürfnisse zu befriedigen und Behaglichkeit zu schaffen.

Dass die Wohnungen spezifisch für die Bedürfnisse älterer Menschen konzipiert wurden, ist allenfalls auf den zweiten Blick ersichtlich. Insgesamt versprühen sie ein heiteres Lebensgefühl, das man nicht richtig lokalisieren kann, das jedoch stimmig und für jeden zugänglich ist.

Die Nachbarschaft wird aufgewertet

Als geistiger Vater der «Analogen Architektur» plädiert Šik dafür, die Eigenheiten eines alltäglichen Orts zu studieren und aus dessen Stimmung heraus ein Projekt zu entwickeln, das Altes und Neues zu einem vielfältigen Ensemble vermengt. Die Neustadt II erfüllt diesen Anspruch. Aus städtebaulicher Sicht ist verblüffend, wie es gelingt, selbst unterdurchschnittliche Nachbarbauten einzubinden und damit die Umgebung insgesamt aufzuwerten. Die Qualität des Projekts besteht nicht zuletzt darin, dass es weit über die eigentliche Programmerfüllung hinausgeht. Stand das funktionalistische Schulhaus nur für sich, ist das Haus für ältere Menschen als Stadtbaustein zu verstehen. Indem der «wertkonservative Rebell»[2] – wie der Kritiker Benedikt Loderer Šik einmal treffend titulierte – das Dialogische ins Zentrum des Entwurfs stellt, verfremdet er das Gewohnte mithilfe ungewohnter Stimmungsbilder und schafft ein neues Ganzes. Das Weiterweben als Entwurfsverfahren ermöglicht es, sowohl eine Verbindung zum gebauten Kontext herzustellen als auch eine Vielfalt zu generieren, in der Urbanität spriessen kann.

Dabei entsteht der Dialog auf unterschiedlichen Ebenen und in divergierenden Sprachen – etwa durch die modernistische Kubatur, die klassizistische Formensprache, die französischen Fenster, das Material, die Farben. Die Fassadensprache ahmt das Vorgefundene nicht bloss nach, sondern interpretiert es und modernisiert es moderat – etwa die benachbarten Putzfassaden, die biedermeierlichen Fenstergewände oder die Blumenfenster des Betagtenheims mit dem gerillten Kammputz und den vereinzelten, hellen Fensterlaibungen. Die Heterogenität des Stils ist durchaus gewollt. Oder wie Šik es an anderer Stelle formulierte: «Wir haben verstanden, dass die Stadt heterogen und dennoch einheitlich sein kann.»[3] Aus der grundsätzlichen Bejahung der Zuger Neustadt mit ihren Qualitäten und Unzulänglichkeiten ist im Dialog tatsächlich ein Ensemble entstanden. Dem Weiterbauen verpflichtet, lässt es jedoch – und das ist für die zukünftige Entwicklung entscheidend – unterschiedliche Interpretationen zu.

Dieses Lehrstück bestärkt die städtischen Behörden in ihrem Vorhaben, einer übergeordneten Stadtidee zum Durchbruch zu verhelfen.[4] Möge es ihnen gelingen, das heterogene Allerlei von Solisten langfristig in ein orchestriertes Ganzes zu transformieren!


Anmerkungen:
[01] Vgl. z. B. «Die Schweizerische Baukunst», offizielles Organ des BSA, 1/1909, S. 222–225 und 227–233; «Heimatschutz», Zeitschrift des Schweizer Heimatschutzes (SHS), 7/1912, S. 30–35. Der Bau wurde vor einigen Jahren originalgetreu saniert.
[02] Benedikt Loderer, Hochparterre 1992/1, S. 14–23.
[03] Judit Solt und Andrea Wiegelmann, «Was ist das Verbindende?», Interview mit Miroslav Šik, Quintus Miller, Paola Maranta, Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert, in: TEC21 2012/42-43, S. 28–32.
[04] Die Abteilung Städtebau arbeitet seit fünf Jahren daran, eine Stadtidee für Zug zu formulieren. Statt der bisherigen «Anything goes»-Haltung sollen klare städtebauliche Leitlinien entwickelt werden, die sich aus dem Bestand als kleinstem gemeinsamem Nenner nähren. Ziel ist ein tragfähiges übergeordnetes Stadtensemble.

TEC21, Fr., 2014.02.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|09 Alterswohnhaus Neustadt II

28. August 2009Beat Aeberhard
TEC21

Industrieareale als Wohnlabor

Bei der Revitalisierung von Industriebrachen spielen adäquate neue Wohnformen eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Wohnüberbauung «Lokomotive» im Sulzerareal Winterthur Stadt und dem stark auf Wohnen ausgerichteten Konzept «Hybrid Cluster» in Neuhegi (früher Sulzerpark Oberwinterthur) lassen sich grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld zwischen tradierter Industrielandschaft und zeitgemässem Wohnen formulieren. Das Weiterbauen im Bestand in der Stadtmitte funktioniert gut, dagegen ist die Entwicklung auf der Tabula rasa in Neuhegi schwieriger und das Resultat noch ungewiss.

Bei der Revitalisierung von Industriebrachen spielen adäquate neue Wohnformen eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Wohnüberbauung «Lokomotive» im Sulzerareal Winterthur Stadt und dem stark auf Wohnen ausgerichteten Konzept «Hybrid Cluster» in Neuhegi (früher Sulzerpark Oberwinterthur) lassen sich grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld zwischen tradierter Industrielandschaft und zeitgemässem Wohnen formulieren. Das Weiterbauen im Bestand in der Stadtmitte funktioniert gut, dagegen ist die Entwicklung auf der Tabula rasa in Neuhegi schwieriger und das Resultat noch ungewiss.

In Winterthur wohnt man anders: Mit Winterthurs Aufstieg zu einem Industriezentrum mit Weltgeltung ging der Bau von niedrigen Reiheneinfamilienhäusern und kleinen Mehrfamilienhäusern einher. Die Blockrandstadt, wie sie in anderen Industriestädten entstand, stiess in Winterthur auf Ablehnung. Dagegen vertraute man auf das Ideal der Gartenstadt. Durchgrünte, offene Wohnquartiere mit geringer Dichte kennzeichnen das erfolgreich umgesetzte Wohnbaumodell, das Winterthurs Charakter prägt. Bis heute beobachten lässt sich in der schnell wachsenden Stadt die intensive Auseinandersetzung mit anderen, neuen Wohnformen, besonders in den grossen Entwicklungsgebieten Sulzerareal Winterthur Stadt und Neuhegi.

Erfolg der kleinen Schritte

Die hochtrabende Vision der Dienstleistungsstadt aus einem Guss für das 22 ha grosse Stammareal der Sulzer scheiterte im schwächelnden Wirtschaftsumfeld der 1990er-Jahre. Das veranlasste die Grundeigentümer, zusammen mit der Stadt neue Wege zu beschreiten. In einer klugen Mischung aus unspektakulären Um- und Anbauten, vernünftigen Zwischen- und Umnutzungen, unterschiedlichen Neubauten und sorgfältigen Sanierungen wurde das südwestlich des Stadtzentrums liegende Areal sukzessive umgestaltet. Der postindustrielle Umbau hat sich mittlerweile als Erfolgsgeschichte entpuppt und besitzt Modellcharakter für den nachhaltigen Wandel in kleinen Schritten. Die Wohnungen, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Läden, Schulen und Geschäftsräume machen die ehemals «verbotene Stadt» zu einem lebendigen, urbanen Stadtquartier.

An dessen südwestlicher Ecke haben Knapkiewicz & Fickert Architekten aus Zürich die abwechslungsreiche Überbauung «Lokomotive» mit 120 Wohnungen entworfen. Auffallend ist zunächst das städtebauliche Muster. Es lehnt sich an den über die Jahre gewachsenen industriellen Bestand auf dem Areal an. Vier rund 80 m lange Zeilen übernehmen in Lage und Kubatur die Baustruktur der ehemaligen Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik. Herz der Anlage ist die alte Eisengusshalle 1050, die strukturell erhalten werden konnte und nun als gedeckter Erschliessungs- und Spielhof zwischen den beiden ersten Zeilen dient. Bei der restlichen Bausubstanz handelt es sich um Neubauten. Verblüffend ist, dass sich das Zeitgenössische nicht vordergründig manifestiert. Im Gegenteil, die Siedlung suggeriert ein gewachsenes Stück Stadt, was bei dessen Grösse und hohen Dichte gerade im Übergang zum sich anschliessenden kleinmassstäblichen Quartier zum Tragen kommt.

Insofern erfahren die charakteristischen, zuweilen schroffen Ränder des Industrieareals eine Neuinterpretation. Unterstrichen wird die collagenartige Wirkung der Architektur durch die Materialisierung. Die teils verputzten, teils mit Sichtbackstein verkleideten Fassaden erinnern je nach Gebäudeabschnitt an heitere Bauten aus den 1950er-Jahren oder an anonyme Industriebauten. Mit ihrer beinahe klassischen Gliederung – helle Feinputzbänder rahmen grossflächige Felder aus erdfarbenem Kellenwurf und akkurat gegliederte Fensteröffnungen ein – wecken die Fassaden ferner Assoziationen an Mailänder Wohnhäuser des Novecento. Die Kraft der insgesamt starken Bildwirkung beruht auf einer Strategie des kollektiven Gedächtnisses: Alles erscheint, als stünde es seit Jahren hier. Ein stimmigeres Weiterstricken am Genius Loci ist kaum vorstellbar.

Kraft aus der Industrie

Die Grundrisse richten Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert auf heutige Bedürfnisse aus. Die Architekten haben eine Bandbreite an Wohnungstypen und -grössen entwickelt, die fast allen Lebenslagen und -formen gerecht wird. Gemeinsam ist allen ein eigener Aussenraum: Vorgarten, Loggia, Balkon oder Terrasse. Dessen Gestaltung ist Teil einer Hierarchisierung des Raums: Tiefe Loggien, grün gestrichene «Eingangsschränke» und gestreifte Geräteschuppen artikulieren auf innovative Weise die Übergänge von privaten zu halböffentlichen und öffentlichen Bereichen. Insbesondere in den Wohnungen mit privatem Vorgarten auf der einen und halböffentlicher Fabrikhalle auf der andern Seite wird der Kontrast zwischen Industrieästhetik und zeitgenössischem Wohnen als reizvolle Spannung erlebbar. Auch im Innern haben die Architekten aus der sorgfältigen Analyse des Ortes Elemente abgeleitet, etwa die überhohen Räume oder die mit dunkel kontrastierenden Streifen angereicherten Industrieparkette. Diese räumlichen und handwerklichen Qualitäten schaffen eine starke Atmosphäre mit einer emotionalen Komponente, die in Neubauten oft fehlt.

Leeres Feld in Neuhegi

Während die Umnutzung des Sulzerareals Winterthur Stadt konkrete Ergebnisse zeigt, ist die künftige Entwicklung am zweiten Standort des ehemaligen Industriekonzerns erst zu ahnen. In Neuhegi lässt sich nicht auf einem bedeutenden Bestand an atmosphärisch verwertbaren Industriebauten aufbauen. Die grossen Hallen, die das Gebiet einst prägten, sind abgebrannt oder abgebrochen worden. Auf der 60 ha grossen Brache am östlichen Stadtrand ist einzig ein weitmaschiges Strassennetz geblieben. Am Anfang der Entwicklung stand die Umzonung in ein Zentrumsgebiet. Damit gehört Neuhegi zu den elf Gebieten des Kantons, denen die (potenzielle) Funktion als kulturelle und wirtschaftliche Schwerpunkte von kantonaler Bedeutung zukommt. Das verdankt das Areal in erster Linie seiner guten Erschliessung. 2001 verabschiedeten die Grundeigentümerin Sulzer und die Behörden den Rahmenplan Oberwinterthur, der bebaubare Flächen und Freiräume defi niert und festlegt, wo welche Nutzungen in welcher Dichte vorzusehen sind.

Wie viele Regeln braucht es?

Gleichzeitig beauftragte Sulzer Immobilien den Zürcher Architekten Jean-Pierre Dürig und die Berliner Landschaftsarchitekten Topotek1 mit der Arbeit an einem Regelwerk, um die nachhaltige und identitätsstiftende Entwicklung sicherzustellen. Dürigs Bebauungsmuster trägt den Namen «Hybrid Cluster»; sein Ziel ist, durch geschickte Konzentration an wenigen Orten das nötige Mass an Urbanität zu generieren. Als Rückgrat fungiert die 30 m breite Sulzer-Allee mit klar defi nierten Baulinien. Das Regelwerk besteht im Wesentlichen aus zwei Klauseln: Die strassenbegleitenden Gebäude müssen zusammengebaut werden («Cluster»), hingegen werden Typologie und Materialisierung der Bauten so wenig wie möglich reguliert («Hybrid»). Bezüglich der Gestaltung ist erwünscht, dass unterschiedliche Architekturen ineinander verwoben werden. Schwergewichtig ist in den Clustern der Bau von vielfältigen Wohnungen beabsichtigt, doch dank flexibler Infrastruktur sollen die angebotenen Flächen auch für Büro und Gewerbe nutzbar sein. Den Part des Katalysators übernimmt der neue Eulachpark. Der vom Luzerner Stefan Koepfli konzipierte Stadtpark wird gegenwärtig auf Land von Sulzer und auf Kosten der Stadt erstellt. Er soll das Entwicklungsgebiet aufwerten und Investoren anziehen.Wie sind die ersten Ergebnisse zu werten? Den Auftakt zur baulichen Umsetzung des «Hybrid Cluster»-Modells bildet der Eulachhof, eine Wohnüberbauung, die als erste Nullenergie-Siedlung der Schweiz 2007 auf Interesse stiess (TEC21 47/2007). Sie enthält eine grosse Bandbreite unterschiedlicher Wohnungen. Stadträumlich und architektonisch vermögen die zwei an ihrer Südseite aufgeschnittenen Blockränder nicht vollends zu überzeugen. Die Bauten lassen jeglichen Verweis auf die Geschichte des Orts vermissen.

Neben der durchgehend applizierten Holzverkleidung irritiert die Behandlung der räumlichen Übergänge. Eine Differenzierung der Räume entsprechend ihrer Bedeutung und Öffentlichkeit existiert kaum oder wird im Fall der auf höherem Niveau liegenden Innenhöfe unvermittelt vollzogen. Nur schwer kann man sich ausmalen, wie die strassenseitigen Erdgeschosse je ihre gewünschte Aktivierung fi nden sollen. Die Gesamtwirkung ist dadurch etwas leblos. Dass die urbane Dichte als Voraussetzung eines attraktiven Quartierlebens noch fehlt, liegt natürlich auch am Pioniercharakter der Siedlung.

Zurzeit laufen die Bauvorbereitungen für zwei weitere Cluster: Dahinden und Heim realisieren an der Else-Züblin-Strasse einen weitläufi gen Wohnhof, und der ebenfalls aus Winterthur stammende Ruedi Lattmann baut unmittelbar nördlich davon eine mäandrierende Grossform mit 131 Wohnungen und Gewerbeflächen. Die Stiftung Mehrgenerationenhaus hat Anfang Juli einen Wettbewerb für einen weiteren, ambitionierten und zukunftsweisenden Wohncluster ausgelobt, den Galli & Rudolf Architekten aus Zürich für sich entscheiden konnten. Deren Siedlung für alle Lebensphasen setzt der Tendenz der gesellschaftlichen Vereinzelung einen andern Gesellschaftsentwurf entgegen. Mittels Selbstverwaltung soll eine hohe Identifi kation der Bewohner mit der Überbauung erreicht werden, was sich positiv auf das ganze Quartier auswirken dürfte. Das verheissungsvolle Konzept hat das Potenzial, im Zusammenspiel mit den übrigen Wohnhöfen das unüblich grosse Strassennetz wie beabsichtigt mit publikumsorientierten Erdgeschossen und einer intensiven Nutzung des Strassenraums zu beleben.

Sichergestellt ist die durchgehende Gestaltung aller zusammenhängenden Aussenräume innerhalb der Cluster und die einheitliche Ausformung des Mobiliars. Das Modell «Hybrid Cluster» wurde nämlich 2008 mit dem «Regelwerk Innenraum Hybrid Cluster» ergänzt. Die von Schweingruber Zulauf Landschaftsarchitekten erstellten gestalterischen Grundsätze sind von den beteiligten Planern zwingend einzuhalten. Sie garantieren die nötige zusammenfassende Grundmelodie der Cluster. Um einer sich abzeichnenden Einseitigkeit von Wohnnutzungen entgegenzutreten, hat Sulzer Immobilien schliesslich die privatrechtliche Verpflichtung zur Bereitstellung von kommerziellen Flächen eingeführt. Wie im Stadtzentrum soll nämlich auch in Neuhegi ein durchmischtes Stadtquartier entstehen.

Die Rolle des Genius Loci

Aus der Reibung am Bestand lässt sich architektonische Komplexität gewinnen, die auf der grünen Wiese schwer zu erzielen ist. Auf dem Sulzerareal Stadt Winterthur und in Neuhegi sind in unterschiedlicher Ausprägung Reminiszenzen vorhanden. Im ersteren Fall ist nach harzigem Start im Zeitraum von über zehn Jahren ein Vorzeigeprojekt der Kooperation zwischen Stadt und Sulzer entstanden. Dieser Erfolg gründet im Wesentlichen auf drei die traditionelle Urbanität generierenden Prämissen: angemessene Dichte, Nutzungsdurchmischung und Weiterbauen am Bestand. Die Entwicklung in Neuhegi ist wegen der weitgehend fehlenden Altbausubstanz und den grossen Strassenblöcken anspruchsvoll; das Ergebnis ist ungleich offener. Deshalb überprüfen und verfeinern die Verantwortlichen kontinuierlich die Vorgaben. Das rege Interesse an den Parzellen bestätigt aber, dass das gewählte Regelwerk des «Hybrid Cluster» in seiner Flexibilität verschiedenartige Vorstellungen zu wecken vermag. Die Gelegenheit, Winterthurs Wohnbautradition gestalterisch, funktional und programmatisch weiterzuspinnen, wird rege benutzt. Man darf auf weitere Beiträge gespannt sein.

TEC21, Fr., 2009.08.28



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2009|35 Grossstadt Winterthur

04. Februar 2008Beat Aeberhard
TEC21

Kolonie im Wandel

Weil Komfort- und Raumansprüche sich ändern, haben Wohnbauten einen hohen Bedarf an kontinuierlicher baulicher Anpassung. Am Beispiel der Wohnkolonie «Industrie 1» der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP), deren Wohnungsangebot nach bald 100-jährigem Bestehen von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten erneuert wurde, lassen sich einige grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen formulieren.

Weil Komfort- und Raumansprüche sich ändern, haben Wohnbauten einen hohen Bedarf an kontinuierlicher baulicher Anpassung. Am Beispiel der Wohnkolonie «Industrie 1» der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP), deren Wohnungsangebot nach bald 100-jährigem Bestehen von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten erneuert wurde, lassen sich einige grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen formulieren.

Der Befund war nicht ungewöhnlich: Nach knapp einem Jahrhundert Betrieb genügte die Wohnkolonie «Industrie 1» den veränderten Raum- und Komfortansprüchen nicht mehr und erwies sich als sanierungsbedürftig. Die Bauherrschaft sah sich indessen mit einer nicht alltäglichen Situation konfrontiert: Die Liegenschaft ist im kommunalen Inventar für schützenswerte Bauten eingetragen. Zur Auswahl stand somit die kurzfristige Behebung spezifi scher Mängel an Fenstern und im Küchen- und Sanitärbereich oder eine Erwägung längerfristiger Strategien. Die Planung eines Ersatzneubaus – wie der Abriss alter, vorwiegend günstiger, aber eben unzeitgemässer Wohnungen zu Gunsten eines Neubaus mit deutlich grösseren, moderneren und teureren Wohnungen euphemistisch umschrieben wird – stellte aus denkmalpfl egerischen Gründen keine Option dar. Doch nicht nur der unumstrittene Denkmalwert rettete die Siedlung vor dem Abbruch. Die zunehmend schwierig werdende Vermietung der durchwegs kleinen Wohnungen führte zur Überlegung, wie der Wohnwert gesteigert werden könnte, um insbesondere vermehrt Familien anzuziehen. Die Bausubs - tanz war grösstenteils in gutem Zustand und strukturell besonders geeignet, durch Zusammenlegung kleinerer Einheiten ein diversifi ziertes Angebot an grosszügigen Wohnungstypen zu gewinnen. Als weitere vordringliche Pfl ichtgebote gelten der Einbau von Aufzügen, der interne Schallschutz sowie das Bereitstellen privater Aussenräume. Die Verantwortlichen der Siedlung beschlossen daher, eine umfangreiche Sanierung in Angriff zu nehmen.Die Kolonie «Industrie 1» der BEP befi ndet sich im Zürcher Kreis 5 an der Röntgenstrasse.

Erbaut wurde die quartiertypische Blockrandbebauung zwischen 1913 und 1915. Die Architekten Eduard Hess und Peter Giumini errichteten das markante Volumen im moderaten Reformstil der Zeit auf dem Trassee der einstigen Nordostbahn. Die fünfstöckige Zeile, deren leichte Krümmung sich in acht Häuser gliedert und zum Röntgenplatz hin eine Frontseite ausbildet, stellte seinerzeit einen Massstabssprung innerhalb der Struktur des Arbeiterquartiers dar. Die Genossenschaft war sich bewusst, dass die Sanierung grösstmögliche Sorgfalt erfordert. Sie schrieb deshalb 2003 einen Studienauftrag aus. Die Jury mit Beteiligung der städtischen Denkmalpfl ege erkor den Vorschlag von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten zur Ausführung.

Räumliche Neuinterpretation

Die Architekten organisierten die Grundrisse neu. Die Wohnfl ächen erfuhren eine substanzielle Vergrösserung, indem die nicht tragenden Brandmauern teilweise entfernt und zwei Kleinwohnungen aus jeweils benachbarten Häusern zu einer grossen vereint wurden. Viele der neuen Wohnungen erschliessen sich nun von zwei Treppenhäusern. In einer geschickten Neuinterpretation zonierten die Architekten die Wohnungen in einen öffentlichen Wohnund einen intimeren Zimmerbereich. Ersterer fi ndet sich hofseitig: Durch die Entfernung der Korridorwand und der Brandmauer präsentiert er sich als grosszügig kombinierter Wohnund Essraum mit integrierter Küche. In der ursprünglichen Zellenstruktur zur verkehrsberuhigten Röntgenstrasse befi nden sich nun sämtliche Schlafräume.

Atmosphärisch, handwerklich und auch räumlich zeichnen sich die Wohnungen durch eine hohe emotionale Komponente aus, wie sie gerade in Neubauten oft fehlt. In der stimmungsvollen Innenraumgestaltung behaupten sich sorgsam restaurierte Teile wie das Holzwerk in einer neuen Grundrisskonfi guration. Zur spannungsreichen Dialektik von Alt und Neu ge hören die Verwendung von zeitgenössischen Materialien – wie Eichenparkett in den Wohnbereichen, farbige Linoleumböden in den Zimmern und Steinzeugbeläge in den Nasszellen – so wie die massgeschneiderten Schreinerarbeiten für die Küchen, Bäder und Einbauschränke. Die hinsichtlich Farben und Oberfl ächen im Sinne der Entstehungszeit wiederhergestellten Treppenhäuser lassen den Kraftakt nicht erahnen, der nötig war, um die unterschiedlichenAnforderungen der Feuerpolizei und der Denkmalpfl ege sowie die Vorschriften für behindertengerechtes Bauen in Einklang zu bringen. Eine grosse Herausforderung stellte der interne Schallschutz dar. Das Einbringen von zusätzlicher Masse auf die alten Ton-Hourdisdecken war wegen deren beschränkter Tragfähigkeit nur nach Einbau einer innovativen Verstärkung möglich (vgl. nächsten Artikel). Dass die Architekten die Fenstersprossen, die seit den 1960er-Jahren fehlten, auf Verlangen der Denkmalpfl ege rekonstruieren mussten, ist schwer nachvollziehbar. Offensichtlich wird damit der trügerisch schöne Schein einer Bildwirkung beschworen, der kaum als eigentlicher Träger des Denkmalwerts des Gebäudes fungiert. Exemplarisch drängt solches Handeln die Frage auf, inwieweit sich das denkmalpfl egerische Alltagsgeschäft eigentlich der Restauration widmet oder sich allmählich zur Rekonstruktion hin verschiebt. Umso ärgerlicher ist die Verordnung, als – um das Putzen zu erleichtern – auf eine Minimalversion mit lediglich aussen aufgeklebten Sprossen zurückgegriffen werden musste. Ganz zum Nachteil der Bewohnerschaft, deren Aussicht nun von der Rückseite plumper Klebesprossen beeinträchtigt wird.

Aufwertung des kollektiven Raums

Während die Denkmalpfl ege strassenseitig auf der vollständigen Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes beharrte, konnten hofseitig einige spannende Eingriffe umgesetzt werden. Der bislang vernachlässigte Hinterhof mutierte gemäss dem architektonischen Konzept zum verstärkt die Öffentlichkeit einbeziehenden Zentrum der Anlage. Über einen neuen Durchstich zum Röntgenplatz wird dieser besser ins städtische Gewebe eingebunden. Der neuen Ausrichtung der Wohnungen entsprechend, orientieren sich sämtliche privaten Aussenräume zum nachmittags besonnten Hof. Eine Mehrzahl der Wohnungen verfügt über generöse Terrassen. Vier «Terrassenbäume» aus Beton, deren Äste als Kragplatten alternierend in die eine oder andere Richtung wachsen, akzentuieren als freistehende plastische Struktur die historische Hoffassade, ohne diese jedoch zu berühren (vgl. nächsten Artikel). Um die Dachlandschaft zu schonen, erhielten die Wohnungen im Mansardengeschoss ihr eigenes Stück Dachterrasse. Die historischen, früher zum Wäschetrocknen benutzten Terrassen wurden in einzelne, strandkorbartige Kompartimente gegliedert und den einzelnen Wohneinheiten zugeteilt. In den beengten Platzverhältnissen richtete man grosszügige Loggien ein, während man an den Zeilenenden die Wohnräume mit französischen Balkonen versah. Die vier verschiedenen privaten Aussenraumtypen verleihen dem vorher wenig attraktiven Hinterhof neues Leben.

Die im siegreichen Studienbeitrag vorgesehene vollständige Absenkung des Hofes scheiterte an der Bewilligung der Baubehörden. Dies tut der Qualität aber keinen Abbruch, denn der Kompromiss einer partiellen Absenkung lediglich im Bereich des Gemeinschaftsraums schafft eine Zonierung des Hofs in unterschiedliche Bereiche, deren Charakter durch Geometrie, Materialisierung und Bepfl anzung inszeniert wird. Integrale Bestandteile der Gestal - tung bilden eine Seccomalerei der Zürcher Künstlerin Cristina Fessler auf der blinden Mauer eines eingeschossigen Hofgebäudes und eine grossräumige Skulptur mit dem sinnfälligen Namen «Seiltänzer». Gestaltet wurde diese hoffassende Installation vom Bildhauer und Landschaftsgestalter Jürg Altherr, der bereits beim Wettbewerbsverfahren Partner des Planungsteams war (Statik der Installation: vgl. nächsten Artikel).

Intelligenter Diskurs

Die Transformation bestehender Substanz ist inzwischen eine alltägliche Bauaufgabe. Leicht erwachsen Konfl ikte bei Bauten von historischem Gewicht, bei denen sich die Denkmalpfl ege einschaltet. Nicht selten divergiert ihre Rolle als Anwältin des geschichtlichen Bewusstseins von den Interessen und Vorstellungen der Nutzer, die ihren Blick auf das Potenzial des Gegenwärtigen ausrichten. Die Architekten müssen mit jedem Detail den Spagat zwischen den Wünschen der Nutzer und der Sicherung der Originalsubstanz bewältigen. Ob der «Schönheit des Wahren» oder der «Wahrheit des Gebrauchs» der Vorzug zu geben ist,steht stellvertretend für die Kontroverse Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen. Doch die beiden Parameter sind durchaus in Einklang zu bringen. Gerade aus der Reibung am Bestand lässt sich eine architektonische Komplexität gewinnen, wie sie auf der grünen Wiese nicht zu erzeugen wäre.

Der so einschneidende wie behutsame Eingriff von Pfister Schiess Tropeano vermittelt ein - drücklich, wie im Umgang mit historischer Substanz Selbstbewusstsein, aber auch Gelassenheit sowie differenzierte und zugleich versöhnliche Betrachtungsweisen weiterführen. Selbstredend wirkte sich die Erfüllung sämtlicher Aufl agen auf die Kosten der Restaurierung aus. 3500 Franken hat die Genossenschaft pro Quadratmeter in die Wohnkolonie «Industrie 1» investiert, rund 2800 Franken wären bei einem günstigen Neubau aufzuwenden gewesen. Eine 4.5-Zimmer-Wohnung mit 104 m² schlägt mit 1780 Franken zu Buche, ein angesichts des hohen Ausbaustandards und der attraktiven Lage nach wie vor äusserst moderater Mietzins. Sämtliche Wohnungen fanden denn auch problemlos Absatz. Heute wohnen in der Siedlung – aus den ursprünglich 80 Einheiten wurden 50 – mehr Leute als vor der Sanierung. Davon sind mehr als ein Drittel Kinder und Jugendliche.

Schlummernde Chancen

Glücklicherweise hält nichts ewig. Selbst an den steinernen Pyramiden nagt der Zahn der Zeit. Auf die Nutzung bezogen, lässt sich eine besonders ausgeprägte Flüchtigkeit konstatieren. Leider hilft diese Erkenntnis nicht immer, eine entkrampfte Vorgehensweise für die Pfl ege von gebauter Substanz zu formulieren, egal ob denkmalwürdig oder nicht. Gerade in einer Zeit, in der das Schielen nach medialer Aufmerksamkeit Werte wie Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Langsamkeit in den Hintergrund zu drängen droht, stellt sich die Frage nach der bestandesgerechten Handlungsweise. Gefordert sind alle Beteiligten, denn nur in zwar mühseliger, aber konstruktiver Zusammenarbeit lassen sich zeitgemässe Nutzungsanforderungen mit einem Altbau versöhnen, wie das vorliegende Beispiel anschaulich illustriert. Die Chance, durch vereinte, katalytisch aufeinander wirkende Kräfte weiterzukommen als im Alleingang, lohnt sich durchaus zu packen. Am Weiterbauen können alle wachsen.

[ Beat Aeberhard, dipl. Architekt ETH ]

TEC21, Mo., 2008.02.04



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2008|06 Denkmäler sanieren

07. April 2006Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Eine Skyline wird überholt

Seit einigen Jahren errichten die Global Players der Architektenszene in Manhattan vermehrt Luxusresidenzen für eine markenbewusste Kundschaft. Ihre Bauten verwandeln die Skyline der Stadt.

Seit einigen Jahren errichten die Global Players der Architektenszene in Manhattan vermehrt Luxusresidenzen für eine markenbewusste Kundschaft. Ihre Bauten verwandeln die Skyline der Stadt.

Wohnen in New York bedeutet Verzicht. Die Wohnungen sind klein, oft dunkel und durchwegs überteuert. Und dennoch ist New Yorks Anziehungskraft in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Neben jungen, karriereorientierten Arbeitstätigen strömen zunehmend Reiche und Prominente nach Manhattan. Deren Bereitschaft, für das passende Objekt ihres Lieblingsarchitekten fast jeden Preis zu bezahlen, hat zu einem neuen Trend im boomenden Immobilienmarkt geführt. Die Namen berühmter Baukünstler gelten als Verkaufsargument, denn sie sind ein Mittel, um in der auf Statussymbolen fixierten Stadt Reichtum und Geschmack zu demonstrieren.

Himmelstürmend

Der Beginn der auf grosse Namen ausgerichteten Wohnimmobilien-Euphorie lässt sich datieren: 2002 baute Richard Meier zwei schlanke Glastürme im West Village, die lediglich durch den Westside Highway vom Hudson River getrennt sind. Mit ihren voll verglasten Hüllen setzen die 16-geschossigen Gebäude einen weithin sichtbaren Akzent im traditionell von niedrigen Backsteinbauten geprägten Quartier. Die Aufmerksamkeit war Meier gewiss: Denn laut Eigenwerbung konnte er in der von Bohémiens, Künstlern und Studenten bewohnten Gegend - sieht man wohlwollend von seiner missglückten Sozialsiedlung von 1973 in der Bronx ab - sein erstes Projekt in seiner Heimatstadt realisieren. Hier im West Village fanden Meiers luxuriöse Wohnungen reissenden Absatz. Der Einzug von Calvin Klein, Nicole Kidman und Martha Stewart, die sich die millionenteuren Lofts ergatterten, führte zum Bau eines dritten Turms. Das liess die New Yorker Immobilienmoguln aufhorchen. Ganz offensichtlich lassen sich architektonisch anspruchsvolle Bauten in Geld ummünzen, lautete die Botschaft.

Das haben auch ehrwürdige Institutionen wie die Cooper Union gemerkt. Seit den neunziger Jahren lässt sie für ihr Parkplatzareal am Astor Place zusammen mit unterschiedlichen Investoren immer neue Projekte ausarbeiten. Erst einen spektakulären Hotelentwurf (die «Käseraffel») von Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron, dann im Jahre 2000 einen nicht weniger exzentrischen Bau (das «Nachthemd») von Frank Gehry und weiter - unter dem Patronat von Robert de Niro - eine Bleibe für das Tribeca Film Festival und das International Center of Photography. Doch alles schien der Cooper Union finanziell zu risikoreich. Deshalb entsteht nun auf der dreieckigen Parzelle ein 21-geschossiger Wohnturm nach dem Entwurf von Charles Gwathmey.

Auf einem den Strassenraum klar begrenzenden Sockel aus Sandstein wird sich ein ondulierender, verspiegelter Hauptturm erheben, der von einem postmodernistischen, mit Sandstein und Lochfenstern gegliederten Kubus durchstossen wird. Die 39 Lofts werden eine Rundsicht auf die Hochhausgebirge von Manhattan bieten. Vom Grundriss her sind sie aber weder sehr praktisch noch innovativ, was offenbar die Käufer nicht abhielt. Bei Baubeginn im Oktober 2004 waren bereits 11 Wohnungen verkauft. Darüber hinaus hat der Turm mit seinem reichen Material- und Formenvokabular schon vor seiner Vollendung zur Revitalisierung der Gegend zwischen dem trendigen East Village und dem etwas in Vergessenheit geratenen SoHo beigetragen.

Condo Couture

Für Aufsehen dürfte auch der von Santiago Calatrava geplante Wolkenkratzer an der South Street sorgen. Zwölf übereinander gestapelte und leicht gegeneinander versetzte «Wohnhäuser» sollen sich direkt am East River zu einer Gesamthöhe von 254 Metern auftürmen. Die je viergeschossigen Kuben mit einer Kantenlänge von 14 Metern hängen - von Luftraum unterbrochen - am vertikalen Erschliessungskern. Das Projekt erinnert an die Visionen der japanischen Metabolisten, bei denen ganze Häuser Ästen gleich aus vertikalen Stützen wachsen sollten. Gewiss, Calatravas Entwurf ist eleganter. Die über der Stadt schwebenden «Townhouses in the Sky» verströmen durch ihre strukturelle Klarheit eine Aura poetischer Isolation. Noch wird nach den zwölf künftigen Besitzern, die für ein «Stadthaus» 30 Millionen Dollar hinzublättern haben, und nach einer passenden kulturellen Institution gesucht, die im Sockelbereich einziehen will. Der Baubeginn des Prestige-Towers ist für dieses Jahr geplant.

Calatrava scheint mit diesem Entwurf von seinem etwas abgegriffenen organischen Vokabular Abschied zu nehmen. Dank seiner Form, welche die Ingenieurtechnik metaphorisch inszeniert, hat der South Street Tower das Format, ein Wahrzeichen von Manhattan zu werden. Bereits mit den Zwillingstürmen des Time Warner Center am Columbus Circle, für die David Childs von SOM verantwortlich zeichnete, erhielt die Skyline einen neuen Akzent. Damit konnte David Childs sich und das traditionsreiche, aber kommerziell gewordene Büro SOM in Investorenkreisen beliebt machen. Sein geschicktes Lavieren zwischen kreativen Visionen und finanziellen Interessen vermag Childs immer wieder auszunutzen, wie etwa das Gerangel um den Wiederaufbau des World Trade Center zeigte, wo er vom Investor Larry Silverstein mit der Umsetzung des ursprünglich von Daniel Libeskind entwickelten Freedom Tower betraut wurde.

Narzissmus als Entwurfsstrategie

Anders als das boomende Geschäft mit Wohnungen steckt der Markt für Büroräume seit dem 11. September 2001 in der Krise. Mehr als 15 Prozent der Büroflächen in Downtown Manhattan stehen zurzeit leer. Sie werden nun vermehrt in luxuriöse Condominiums umgewandelt, womit das Zentrum der Hochfinanz sich allmählich in ein mondänes Wohnquartier verwandelt. Für diese Entwicklung steht beispielsweise das grossspurige Projekt «Downtown by Philippe Starck». An der Ecke von Broad und Wall Street wird derzeit nach den Plänen des umtriebigen Franzosen das 1913 in solider Neoklassik errichtete 42-stöckige Morgan Building für 135 Millionen Dollar in 326 Wohneinheiten mit gehobenem Ausbau umgestaltet - mit hausinternem Theater. Eine vorgelagerte Dachterrasse mit Swimmingpool bietet einen konkurrenzlosen Blick auf die gegenüberliegende New York Stock Exchange sowie die historische Federal Hall. Als Käufer angesprochen sind vor allem Vertreter des sogenannten Smart Tribe, der es laut Starck begriffen habe, dass sich sein Projekt durch «Ehrlichkeit, Respekt, Zärtlichkeit, Surrealismus und Poesie» auszeichne - alles Werte, welche für die Börse bedeutungslos seien. Doch wird sich weisen müssen, ob die Lage an einer prominenten und schwer bewachten Kreuzung der Vorstellung einer sinnlichen Wohnadresse entspricht.

Wohnungen bauen oder planen sie mittlerweile alle in New York: Jean Nouvel einen Wohn- und Geschäftsturm an der Mercer Street in SoHo, Herzog & de Meuron für Ian Schrager an der Bond Street in NoHo eine Anlage, die ein kleines Hotel und fünf Stadthäuser umfasst, Norman Foster an der Chambers Street einen 258 Einheiten enthaltenden Wohnkomplex, Arquitectonica ein 60-geschossiges Wohnhochhaus an der 42nd Street, Frank Gehry einen 75-stöckigen Turm mit 375 Wohnungen an der Beekman Street, Zaha Hadid ein Wohngebäude mit 6 Apartments an der Charles Street und John Pawson eine partielle Umgestaltung des altehrwürdigen Gramercy Park Hotel in Wohnungen. - Dass Wohnungen berühmter Architekten auf den Markt kommen, erstaunt eigentlich wenig. Warum sollen Menschen, die Markenmode tragen, nicht auch in einer Markenwohnung wohnen. Was hingegen nachdenklich stimmt, sind die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Dimensionen. Die Luxustürme von Calatrava und Gwathmey sind die neuen Herrenhäuser für eine globale Elite, deren Ressourcen schier unerschöpflich zu sein scheinen. Dass da auch grosse Architekten mitverdienen wollen, ist verständlich. Die Strategie der Investoren, diese zu verpflichten, beruht jedoch weniger auf ihrer plötzlich erwachten Liebe zur Baukunst als vielmehr auf knallhartem Kalkül. Die architektonische Einmaligkeit - das mussten schon die Prada-Architekten Koolhaas und Herzog & de Meuron erfahren - soll dabei nur die angepeilte Wertsteigerung garantieren.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.04.07

12. August 2005Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Ein Mexikaner am Hudson River

Erst seit vier Jahren arbeitet Enrique Norten in New York. Dennoch konnte er sich in der Architekturszene der Stadt bereits einen Namen machen. Nun würdigt das Museum of the City of New York sein Schaffen am Hudson River mit einer Übersichtsschau.

Erst seit vier Jahren arbeitet Enrique Norten in New York. Dennoch konnte er sich in der Architekturszene der Stadt bereits einen Namen machen. Nun würdigt das Museum of the City of New York sein Schaffen am Hudson River mit einer Übersichtsschau.

Vor wenigen Wochen gab der Direktor des Guggenheim Museum, Thomas Krens, den Sieger des Wettbewerbs für eine Dépendance seiner Institution in Mexiko bekannt. Die Wahl fiel auf den international bekannten Architekten Enrique Norten, was niemanden, der sowohl Krens als auch Norten kennt, gross erstaunte. Denn Krens setzt auf spektakuläre Architektur, immer in der Hoffnung, das Wunder von Bilbao wiederholen zu können. Das gilt auch für das in Guadalajara geplante Guggenheim-Gebäude, das ebenfalls als Publikumsmagnet funktionieren soll. Und offensichtlich glaubt Krens dies am ehesten mit Nortens Vorschlag eines 180 Meter hohen, transparenten Glasturms zu erreichen.

Wahrzeichen für New York

Einem breiteren New Yorker Publikum ist Norten seit seiner vielbeachteten Inszenierung der Ausstellung «The Aztecs» im Guggenheim Museum vom letzten Herbst bekannt; und nun würdigt das Museum of the City of New York sein Schaffen mit einem Überblick über seine Projekte am Hudson River. Der Mexikaner, der sowohl in seiner Heimat als auch in den USA und Europa plant und baut, eröffnete vor vier Jahren eine Filiale seiner Firma TEN Arquitectos - TEN steht für Taller (oder Atelier) Enrique Norten - in Manhattan. Schnell wurde er mit Aufträgen überhäuft, so dass mittlerweile seine New Yorker Zweigstelle mehr Mitarbeiter beschäftigt als sein Hauptbüro in Mexiko.

Unter dem Titel «New York Fast Forward» zeigt die Schau acht Projekte, die insbesondere in städtebaulicher Hinsicht durch ihren kreativen Ansatz bestechen. Vermittelt werden diese durch Modelle, Zeichnungen, grossformatige Fotografien sowie computergenerierte Bilder und Animationen. Dabei fällt auf, dass Nortens Entwürfe nicht eindeutig identifizierbar sind, folgen sie doch nicht einer einmal erfolgreich erprobten Handschrift, sondern scheinen immer wieder neu erarbeitet zu werden. Gemeinsam ist allen indes ein Ausdruck von Spannung und Bewegung, der aus dem Dialog der Entwürfe mit dem Kontext resultiert. Sein in verschiedener Hinsicht bemerkenswertestes Projekt ist die Brooklyn Public Library for the Visual and Performing Arts (VPA), die dereinst einem gläsernen Schiffsbug gleich auf einer dreieckigen Parzelle schweben und mit dem dahinter liegenden, zeichenhaften Art-déco-Turm einer Bank kontrastieren soll, um diesen optisch besser an die überdimensionale Flatbush Avenue zu binden. Mit dem VPA will Norten eine Ikone der neuen Technologien erschaffen. Eine Doppelglasfassade kontrolliert das nach innen und aussen flirrende Licht. Animationen sollen dem Ausstellungsbesucher eine ständig changierende Collage aus Menschen, Raum, Form und Bewegung vermitteln.

Hotelneubau in Harlem

Das Projekt «Harlem Park» demonstriert Enrique Nortens Fähigkeit, ein der New Yorker Tradition verpflichtetes Gebäude zu schaffen, das gleichzeitig einen Beitrag an den Strassenraum und an die charakteristische Skyline der Stadt leistet. An Harlems Hauptachse, der 125. Strasse, gelegen, soll der 34-stöckige Neubau - Harlems erstes neues Hotel seit 1966 - ein 204 Zimmer zählendes Hotel, rund 100 Wohnungen sowie Büros und Ladengeschäfte aufnehmen. Architektonisch besonders überzeugend sind die ondulierenden Fassaden aus Glas und Beton sowie der farbige Sockel. Dass die Formfindung für dieses Grossprojekt nicht ganz einfach war, veranschaulichen in der Ausstellung Dutzende Kartonmodelle.

Die Schau wird durch einige Konzeptstudien ergänzt. Darunter findet sich ein Vorschlag für die Umsiedlung der Metropolitan Opera an die West 42nd Street. Diese Studie ist nicht nur deswegen von Interesse, weil es sich um einen Entwurf für ein hybrides, multifunktionales Gebäude von hoher Komplexität handelt, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich die alte Oper bis zu ihrem Umzug ins Lincoln Center for the Performing Arts in den sechziger Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft zum vorgeschlagenen Ort des möglichen Neubaus befand.

Optimismus

In der sich auf New York konzentrierenden Schau fehlt zwar der Entwurf für das Guggenheim Museum in Guadalajara. Dennoch könnte dieser zum bisher meistbeachteten Projekt Enrique Nortens werden - und zugleich zu seiner bisher grössten Herausforderung. Krens kann und will sich keinen Lapsus leisten. Deshalb erarbeitet die Beraterfirma McKinsey momentan eine Machbarkeitsstudie für die lateinamerikanische Filiale. Norten selbst glaubt fest an das Projekt. Er war schon immer Optimist. Und dieser Optimismus hat ihm auch den Durchbruch in einer Stadt ermöglicht, die vor allem auf Stars und Publikumslieblinge fixiert ist, wie der 51-jährige Architekt unlängst der «New York Times» anvertraute. Weiter meinte er: «Als Architekt träumt man von einer Präsenz in New York, aber man weiss nicht, wie man das machen soll.» Nun, Nortens Anwesenheit in der Metropole am Hudson dürfte demnächst kaum mehr zu übersehen sein.

[ Bis 30. Oktober im Museum of the City of New York. Begleitpublikation: TEN Arquitectos. Englisch. Hrsg. Enrique Norten und Bernardo Gómez-Pimienta. The Monacelli Press, New York 2003. 224 S., $ 40.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.08.12

05. Oktober 2001Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Die Kunst des Bauens am Hang

Peter Märklis Einfamilienhaus Eser in Hünenberg

Peter Märklis Einfamilienhaus Eser in Hünenberg

Im zugerischen Hünenberg findet sich gut schweizerischer Durchschnitt: etwas Landwirtschaft, etliche Dienstleistungsbauten und Einfamilienhäuser aller Art, die den Hang mit Aussicht ins Reusstal dominieren. Am Siedlungsrand, wo das Quartier in ein Wäldchen übergeht, liegt das Haus Eser in einer dreieckigen Parzelle, fest verankert im Nordwesthang.


Ausdruck der Gelassenheit

Auf den ersten Blick fällt das mit einem braunen Kalkputz versehene Haus nicht sonderlich auf. Um das Wesen des Baus in seiner ganzen Tiefe zu ergründen, bedarf es einer gewissen Hartnäckigkeit, und bei genauem Hinsehen offenbaren sich jene äusserste Präzision und Lebendigkeit, die Peter Märklis Projekte kennzeichnen. Zunächst fällt auf, dass das steile Terrain nicht ausnivelliert wurde. Im Gegenteil, das Haus sucht den Bezug zur Topographie und antwortet auf das Gefälle, indem es sich aus dem Querschnitt entwickelt. Bergseitig liegt das oberste Geschoss frei, während das Haus von der Strasse aus zweigeschossig in Erscheinung tritt. Der kompakte Körper springt an der nördlichsten Stelle zurück und wird zudem im Erdgeschoss von der lediglich durch ein Scherengitter abgetrennten Garage und der Eingangsnische eingeschnitten. Diese weiss ausgestrichenen Nischen finden ihr Pendant bergseitig in der im Obergeschoss tief ins Haus eingezogenen, mit einem Oberlicht versehenen Terrasse. Grosszügige Fenster in ausgewogenen Proportionen sind exakt im Volumen placiert und unterstreichen den harmonischen und selbstverständlichen Gesamteindruck des Hauses im aufgeplusterten Allerlei der Nachbarschaft.

Ein überhohes Treppenhaus, das Licht bis ins Souterrain eintreten lässt, weist den Weg nach oben. Hier befindet sich das eigentliche Hauptgeschoss, das der alleinstehende Besitzer bewohnt. Entlang einer Wand aus Glasbausteinen, welche die Küche abtrennt, gelangt man ins Wohnzimmer. Immer wieder entdeckt das Auge über die Diagonalen durch verschiedene Raumschichten neue spannende Ausblicke, mal in einen anderen Raum, mal auf die Landschaft. Die einzelnen Räume - obwohl klar ausgebildet - sind alle miteinander verbunden: Wände aus Glasbausteinen treten häufig auf, dabei kommt ihnen durch die in ihrer Materialität begründete diffuse Halbtransparenz bisweilen eine trennende wie verbindende Rolle zu. Unterstrichen wird die Kontinuität des Raumes durch den im ganzen Haus gleich gehaltenen dunkelroten Hartbeton des Bodens, dessen Fugen als Muster figurieren. Gemeinhin verwendet Märkli die Materialien in ihrer ursprünglichen Gestalt: Sämtliche Wände sind mit weiss eingefärbtem Kalkputz überzogen, die Einbauschränke bestehen aus lackierten Holzwerkstoffplatten, und die Fenster sind aus Aluminium. Die Präzision der Arbeit lässt sich am Bau Schritt für Schritt ablesen. Überall sind die Entscheide, die zur richtigen Lösung geführt haben, deutlich nachvollziehbar.

Der Garten, der in Zusammenarbeit mit den Landschaftsarchitekten Rotzler Krebs Partner entstanden ist, widerspricht zunächst jeder Vorstellung des privaten Raumes. Von Nordosten dringt das Wäldchen ins Grundstück ein. Kontrastiert wird das Gehölz durch die im Westen der Parzelle gepflanzten Weiden, die in strengen geometrischen Bändern dem Hang folgen und das Haus distanziert von der Strasse abrücken lassen. Der eigentliche private Aussenraum findet sich kohärent auf der Rückseite des Hauses, begrenzt von einer nackten Stützmauer aus Beton und dem Obergeschoss. Der mit Zementplatten belegte und mit einem Wasserbecken versehene schmale Raum erzeugt - so klein dieser Garten ist - eine Weite, die wiederum die Dichte des Hauses verstärkt. Obwohl auf der Hinterseite des Hauses gelegen, muss auf die Aussicht nicht verzichtet werden: Von der als Fortsetzung in den Baukörper fliessenden Terrasse schweift der Blick durch das Haus hindurch über das Reusstal. Die Aussicht wird einem Bild gleich gerahmt durch die beiden im Wohnraum sich gegenüberliegenden identischen Öffnungen.


Prinzipien der Baukunst

Märkli spricht davon, dass er «Bedingungen eliminiert, um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren». Da Architektur primär durch den Sehsinn wahrgenommen wird, ist er auf der Suche nach den wenigen Dingen, die wichtig sind. Mit dieser Beschränkung erreicht Märkli die Klarheit und die Genauigkeit, die letztlich seinen Entwurf ausmachen. Die Form des Hauses Eser klärt sich in der Beziehung zu den Dingen der Umgebung. Es ist ein Lehrstück, wie ein selbstbewusster Baukörper subtil und präzis in eine schwierige Situation mit herausfordernder Topographie eingefügt werden kann. Städtebau im dispersen Einfamilienhaushang eben.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.10.05



verknüpfte Bauwerke
Einfamilienhaus Eser

06. April 2001Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Aufbruch im Ländle

Neue Tendenzen in der Architektur Liechtensteins

Neue Tendenzen in der Architektur Liechtensteins

Trotz seiner Lage zwischen den beiden bedeutenden Architekturregionen Vorarlberg und Graubünden konnte sich in Liechtenstein bis anhin keine vorbildliche Baukultur entwickeln. Doch nun werden in dem von einem beispiellosen Bauboom geprägten Kleinstaat erste Konturen einer sich etablierenden Architekturszene erkennbar.

Vaduz mit seinem hoch über dem Tal thronenden Fürstenschloss ist ein viel besuchtes Touristenziel. Doch die Kleinstadt ist längst kein Postkarten- oder Briefmarkensujet mehr, denn mit der Anhäufung von sterilen Geschäftsbauten bietet sie vor allem einen Querschnitt durch die Abgründe der gesichtslosen Spekulationsarchitektur der letzten zwanzig Jahre. Der Wochenendbesucher verharrt denn auch etwas ratlos auf der zentralen Aeulestrasse vor der gähnenden Leere von Tiefgarageneinfahrten und der Tristesse geschlossener Jalousien in den darüber liegenden Bürogeschossen. Der expandierende Bankenplatz braucht Raum, und es verblüfft, wie die pseudoalpenländische Idylle zusehends einer kleinen Downtown amerikanischen Zuschnitts weicht. In Vaduz haben die andernorts längst überholten städtebaulichen Postulate der sechziger Jahre, die den Abbruch der vorhandenen Stadt vorsahen, um diese durch die neue, bessere Stadt zu ersetzen, nach wie vor ihre Gültigkeit. Dies mag daran liegen, dass dem Ort mit seinen gut 5000 Einwohnern historisch kaum städtische Qualitäten attestiert werden können. Der Boom der Finanzdienstleistungsbranche, wachsende Verdichtung und die hohen Bodenpreise haben den Ersatz der dörflichen Bausubstanz durch grossmassstäbliche Strukturen zur Folge. Das andernorts selbstverständliche Begehren, das Vorhandene in seiner Geschichtlichkeit zu respektieren und im Hinblick auf neue Bedürfnisse und Werte zu transformieren, wird hier nicht einmal geäussert.


Verstädterte Landschaft

Die liechtensteinische Baukultur war während Jahrhunderten geprägt von der einfachen Bauaufgabe des Wohnhauses mit Stall. Im verarmten Bauernland blieben die kompakten Dörfer bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend intakt. Die starke wirtschaftliche Entwicklung und der dadurch ausgelöste Strukturwandel vom landwirtschaftlich dominierten Land zum modernen Finanzzentrum verursachten einen grundlegenden Wandel: Die dichten Dorfgefüge wucherten allmählich zu weitläufigen Streusiedlungen aus, die grosse Teile der Rheinebene und der Hanggebiete erfassten. Der Wohlstand entfesselte eine zügellose Bauorgie. Die banalen Verwaltungsbauten und die weitläufigen, mit Einfamilienhäusern übersäten Hänge wirken bisweilen wie Baumarktkollektionen und verweisen auf die Selbstverwirklichungsansprüche ihrer Erbauer. Es ist viel Geld im Land. Der jahrzehntelange Wirtschaftsaufschwung hat die Leute verändert und Menschen aus dem Ausland angezogen. Der kulturelle Unterschied zwischen den weitgereisten, oft im Ausland ausgebildeten jüngeren Nutzniessern des Aufschwungs und ihren Grosseltern ist eklatant.

Einen eigentlichen Kulturschock vor allem für die ältere Generation löste der eigenwillige Solitär des im letzten November fertiggestellten Kunstmuseums in Vaduz (NZZ 11. 11. 00) aus. Dieser schwarze Monolith ist gleichzeitig aber auch ein charakteristischer Ausdruck der veränderten neuen Gesellschaft. Dem Architektenteam Morger & Degelo und Kerez ist ein Gebäude gelungen, das mit seiner minimalistischen Form radikal ins Allerlei des Kontextes einbricht. Trotzdem fügt es sich mit seinen das Licht und die Nachbarbauten reflektierenden, fein geschliffenen Betonflächen offenbar mühelos in die bestehende Baustruktur ein. Vaduz hat eine Preziose erhalten, die erstmals die - faktisch längst vollzogene - gesellschaftliche Wandlung von der ländlichen zur städtischen Kultur auf architektonischer Ebene ebenso subtil wie eindringlich transponiert.


Zierstück in der Einöde

Ausser dem vielbeachteten Kunstmuseum entstanden in den letzten Jahren in aller Stille einige durchaus bedeutende Bauten in der «Agglomeration Liechtenstein». Ein zentrales Verdienst kommt dabei dem Liechtensteiner Hochbauamt zu. Hätte sich sein oberster Vertreter, Landesbaumeister Walter Walch, in den vergangenen dreissig Jahren nicht beharrlich gegen die weitere Zersiedelung der Landschaft und für mehr Verantwortungsbewusstsein der Bauherren bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes eingesetzt, so wären die heute von der öffentlichen Hand zwingend durchzuführenden Wettbewerbe kaum denkbar. Seit Liechtensteins Beitritt zum EWR im Jahre 1995 und der damit einhergehenden Öffnung zu Europa werden die Wettbewerbe immer öfter mit internationaler Beteiligung durchgeführt. Vermehrt bauen seither Ausländer in Liechtenstein. Die einheimischen Architekten sehen sich einer starken Konkurrenz ausgesetzt, und insbesondere die jüngeren sind willens, den Tendenzen in der Deutschschweiz und in Vorarlberg nachzueifern und im Aufbau einer eigenständigen Baukultur zu reüssieren.

Der in Schaan arbeitende Ivan Cavegn etwa erstellte in Zusammenarbeit mit Franz Marok im Zentrum von Eschen ein bemerkenswertes Gebäude für die Post mit darüber liegenden Alterswohnungen. Der zur Strasse hin mit seiner vollständig verglasten Fassade etwas abweisend wirkende Kubus überrascht mit einer in Holz und Glas ausgeführten, subtil ausformulierten Südfront, deren tiefe Loggien eine hohe Lebensqualität verheissen. Ein eingeschossiger Querarm, der die öffentlichen Bereiche der Poststelle beinhaltet, definiert den noch zu schaffenden Platzraum und sucht den Bezug zur Kirche. Das Architektenteam überzeugt durch den präzise placierten Baukörper im Kontext des alten Dorfzentrums sowie durch die saubere und konsequente Materialisierung: Das vollständig verglaste Erdgeschoss etwa ist umhüllt von leichten, drehbaren Metalllamellen, die zum einen dem geforderten Sicherheitsaspekt entsprechen, zum anderen einen wünschenswerten Sicht- und Sonnenschutz bieten.


Internationale Stars und junge Füchse

Ein weiterer Faktor beeinflusst das Baugeschehen: Stararchitektur liegt im Trend. Die international tätigen Finanzgesellschaften haben erkannt, dass qualitätvolles Bauen weit mehr als nur Büroflächen bereitzustellen vermag. Architektur wird vermehrt zum Imagefaktor, dessen sich die zum Teil um ihre Reputation besorgten Finanzgesellschaften gerne bedienen. Etwas Kultur hat schliesslich noch nie geschadet. Zwei private Architekturwettbewerbe erkoren letzthin die Projekte von Hans Hollein aus Wien und von David Chipperfield aus London. Hollein antwortet bei seinem Entwurf für den Neubau der Centrumsbank in Vaduz mit einem selbstreferenziellen Solitär auf die heterogene Umgebung. Der organisch geschwungene Baukörper zeigt eine Tendenz auf, die bisweilen in der narzisstischen Selbstdarstellung des Privaten im öffentlichen Raum gipfelt. Holleins Interesse gilt nicht dem Kontext, sondern dem Objekt und dem Detail.

Anders präsentierte sich die Ausgangslage für Chipperfield: Seine Aufgabe ist die Umgestaltung und Erweiterung eines ehemals herrschaftlichen Gutshofes in Schaan, bei dem es sich um eine wertvolle, unter Denkmalschutz stehende Anlage handelt. Um einer weiteren Zerstückelung des weitläufigen Areals vorzubeugen, liess der Grundeigentümer einen von der Denkmalpflege begleiteten Architekturwettbewerb durchführen. Chipperfield, der sich der historischen Bedeutung des Objekts bewusst ist, sieht den Erhalt des Ensembles und eine bauliche Erweiterung in zeitgemässer Architektursprache vor. Leider kann das Projekt nicht umgesetzt werden, weil die Gemeinde die Ausnahmebewilligung - unter der etwas abstrusen Begründung, die Ausnützungsziffer werde überschritten - nicht erteilen mag.

Einige private Bauherren haben es gewagt, ungewöhnliche Projekte in Auftrag zu geben. Bearth & Deplazes aus Chur errichteten 1998 ein winkelförmiges Einfamilienhaus aus Sichtbeton in Triesen. Der minimalistische, unaufgeregte Bau in schöner Aussichtslage am Hang besticht durch die sich dem Betrachter offenbarenden Themen, deren Reichtum aus einer konsequenten Reduktion resultiert. Die skulpturalen Häuser des Vorarlberger Duos Baumschlager & Eberle in Vaduz und Schaan suchen dagegen den offensichtlichen Kontrast zur Biederkeit der Umgebung. Vorkragende, übereinander gestapelte Betonkuben hinterlassen einen starken Eindruck.

Neben den etablierten Schweizern und Vorarlbergern gelang es auch einer jungen Generation ortsansässiger Architekten, mit ersten Privathäusern auf sich aufmerksam zu machen. Einer ähnlich direkten Sprache wie Baumschlager & Eberle bedienen sich Thomas Keller und Richard Brander. Ihr spektakulär auskragendes Mehrfamilienhaus in Nendeln verblüfft durch seine äusserst karge Sprache. Das Material spricht für sich selbst: Ein Holzhaus ist ein Holzhaus. Das in seiner Breite mit den unteren Geschossen identische Attikageschoss wird zurückgeschoben, wodurch zur einen Seite eine Dachterrasse gewonnen wird und zur gegenüberliegenden die abenteuerliche Auskragung entsteht.

Die Vorgehensweise der Architekten muss geradezu als kühn bezeichnet werden, und ihre etwas ältere Überbauung in Triesen zeigt, dass zuweilen ein schmaler Grat über Triumph oder Misslingen entscheidet: Die auf eine provokative Art das Einfache zelebrierenden Wohnhäuser drohen ins Banale abzugleiten.

Pragmatischer gehen Markus Freund und Camillo Fehr vor. Die beiden Architekten vom Büro Effeff haben bereits einige bemerkenswerte Holzhäuser gebaut, wobei sie auch ökologischen Belangen gerecht zu werden suchen. Beim Grenzübergang in Ruggell-Nofels erstellten sie eine Zollstation als offenes Tor, das den Blick in die österreichische Nachbarschaft weitet und dadurch eine klare Haltung bezüglich der politischen Grosswetterlage einer zusammenwachsenden europäischen Grenzregion offenbart. Lattenroste verkleiden sowohl die Wände wie auch ein ausgedehntes, schwebendes Dach. Bereits beim Bau des Schulhauses in Triesenberg, das sie in Zusammenarbeit mit Hubert Ospelt 1992 bis 1994 errichteten, benutzten sie Holz. Die Verwendung von Holzschindeln für die Fassadenverkleidung und von Natursteinen für das Mauerwerk verweist auf die regionale Bautradition. Vor allem das Wohnhaus des Abwarts besticht durch seine kräftige Form und durch die bereits nachgedunkelten Holzschindeln, die das Bild einer geglückten Einpassung in den Hang evozieren. Subversiv wirkt hingegen die irritierende Grösse des Schulhauskomplexes an exponierter Hanglage.


Verheissungsvolle Aussichten

Liechtenstein gilt nicht als bedeutende Architekturregion. Eine verstädterte Landschaft einerseits und eine erfreuliche Offenheit gegenüber neuen Tendenzen anderseits verheissen indessen eine interessante Entwicklung. Das Wettbewerbswesen hat durch die gezielte Förderung der öffentlichen Hand zu qualitativ hochwertigen Ergebnissen geführt, und vermehrt anerkennen auch private Bauherren den Nutzen des Architekturwettbewerbs. Es gibt sie, die Architekten, die an der Gestaltung der zahlreichen Bauaufgaben teilnehmen und aufzeigen, wie zunehmend schwierigere Anforderungen mit klaren städtebaulichen und architektonischen Vorstellungen vereinbart werden können. Die Hoffnungen sind daher nicht unbegründet, dass in Zukunft vermehrt von gelungenen baukünstlerischen Resultaten aus dem Fürstentum zu berichten sein wird und sich im kleinen Land mit grossem finanziellem Potenzial allmählich eine eigenständige regionale Architekturkultur entwickeln wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.04.06

06. April 2001Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Das Parlament als Urhütte

Wettbewerb für ein neues Landtagsgebäude in Vaduz

Wettbewerb für ein neues Landtagsgebäude in Vaduz

Seit die Anzahl Abgeordneter des Liechtensteinischen Landtags 1985 von 15 auf 25 Mitglieder erhöht wurde, herrscht im Regierungsgebäude in Vaduz akute Raumnot. Schon 1987 war deshalb ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben worden, den der Tessiner Luigi Snozzi für sich entscheiden konnte. Sein Projekt fand 1993 vor der Bevölkerung aber keine Gnade. Immerhin wurde Luigi Snozzis vorausschauender städtebaulicher Ansatz, der die Planung einer Hangfussbebauung vorsah, um die vom Hang des Schlosswaldes bedrängten Bauten freizuspielen und dadurch Platz für das Landtagsgebäude zu gewinnen, als rechtsgültiger Überbauungsplan genehmigt. Auf dieser Grundlage beschloss der Landtag 1998 den Bau eines neuen Landtagsgebäudes und einer unterirdischen Parkgarage auf einem zwischen dem Regierungsgebäude und dem Landesmuseum liegenden Freiraum. Zur Erlangung von Projektvorschlägen liess die Regierung des Fürstentums Liechtenstein einen offenen Wettbewerb im Präqualifikationsverfahren ausschreiben, als dessen Resultat das Projekt von Hansjörg Göritz aus Hannover nun prämiert und zur Ausführung empfohlen wurde.

Der Wettbewerb zeigt ein homogenes und seltsamerweise zugleich heterogenes Bild der 31 eingereichten Arbeiten: Während etliche Büros - darunter auch bekannte Deutschschweizer - die vielfach bereits totgesagte Kiste vorschlugen, lieferten vor allem deutsche Teilnehmer alle denkbaren Möglichkeiten tektonischer Kubaturen ab. Hansjörg Göritz' Vorschlag überrascht zunächst mit einer etwas eigenartigen Erscheinung. Der 42-jährige Hannoveraner spricht vom «Hohen Haus», was durchaus wörtlich gemeint ist: Ein steil über dem Saal aufragendes Satteldach weckt Assoziationen an die menschliche Urbehausung. Ein langer Schlitz im Dachfirst beleuchtet den 18 Meter darunter liegenden Saal. Der hohe Dachkörper läuft Gefahr, als Sakralbau missdeutet zu werden. Andererseits birgt der Landtagssaal das Potenzial, die urtümliche Kraft einer von Ruhe und Licht durchfluteten elementaren Baukunst à la Louis Kahn zu evozieren.

Göritz setzt den auf einem trapezförmigen Grundriss aufgebauten Plenarsaal an die nördliche Kante des Perimeters. Östlich schliesst er einen Flügel an, der in seiner Volumetrie Snozzis Überbauungsplan eines befestigten Hangfusses folgt und die Fraktions- und Büroräume sowie eine Bibliothek enthält. Der Trakt bindet unmittelbar an die Erweiterung des Landesmuseums an, die zurzeit gebaut wird. Dieser Übergang stellt die eigentliche Knacknuss dar. Das Architektenteam Brunhart, Brunner und Kranz aus Balzers formulierte die Erweiterung des Landesmuseums als eine in den Hang integrierte Stützmauer. Göritz hingegen stellt seinen Flachbau vor den Hang und trennt ihn durch einen «Lichtgraben» vom Schlossberg, um eine rückwärtige Belichtung der Räume zu schaffen. Unverständlich formalistisch wirkt die dem Riegel platzseitig vorgestellte geschwungene Fassade, welche die archetypische Grundform des Landtagskörpers schwächt.

Die Stärken des Projekts liegen in seiner städtebaulichen Ausformulierung und der gelungenen Trennung der einzelnen Funktionen. Die schlüssige und angemessene Anordnung der einzelnen Teile im Kontext verspricht ein Ensemble, das der gewachsenen Struktur des Städtle - einer historischen Reihung von Einzelbauten - gerecht wird. Zwischen dem Regierungsgebäude und dem Eingang zum Landtagssaal entsteht ein überzeugender Hof. Viele der eingereichten Projekte scheiterten gerade bei der Bewältigung der städtebaulichen Ausgangslage. Vorschläge, die den gesamten Freiraum besetzen, erschrecken mit übertriebenem Imponiergehabe und lassen eine identitätsbildende Haltung im urbanistischen Umfeld und im architektonischen Ausdruck vermissen. Zu oft verweisen Rasterfassaden eher auf noble Verwaltungsbauten international tätiger Multis als auf eine repräsentative Volksvertretung. Göritz überzeugt auch in dieser Hinsicht: Dach und Wände sollen innen wie aussen in Sichtmauerwerk aus Ziegeln ausgeführt werden. Der Norddeutsche will ein ihm vertrautes Material verwenden, um sein Gebäude farblich in die bestehende historische Umgebung einzufügen.

Knapp in den Details, prägnant in der Form und stimmig hinsichtlich einer elementaren Raumbildung, unterstreicht das Projekt die besondere Nutzung des Hauses. Die Vorgaben sind ehrgeizig, und Göritz hat die Messlatte hoch angesetzt: Bereits im Frühjahr 2002 soll mit dem 32 Millionen Franken teuren Bau begonnen werden, und 2005 soll er eingeweiht werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.04.06

06. August 1999Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Bern und seine Grands Projets

Die Bundesstadt plant den architektonischen Kick-off: Nach etlichen negativen Schlagzeilen um bedenklich anmutende Vorgehensweisen bei Wettbewerben und die Direktvergabe von Prestigeaufträgen scheint sich nun in Bern allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Architektur als Metier doch mehr als städtebauliche Kosmetik zu leisten vermag.

Die Bundesstadt plant den architektonischen Kick-off: Nach etlichen negativen Schlagzeilen um bedenklich anmutende Vorgehensweisen bei Wettbewerben und die Direktvergabe von Prestigeaufträgen scheint sich nun in Bern allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Architektur als Metier doch mehr als städtebauliche Kosmetik zu leisten vermag.

Der Entwicklungsschwerpunkt Bern Wankdorf weist eine besondere Ausgangslage auf: Mit der Messe, dem Fussballstadion und anderen publikumsorientierten Einrichtungen ist er Ort der Austragung verschiedenster Grossveranstaltungen. Eine städtebauliche Aufwertung und Verdichtung des nur einen Steinwurf vom wichtigsten Autobahndreieck des Kantons entfernt gelegenen und bestens durch den öffentlichen Verkehr erschlossen Areals bietet sich geradezu an. Gemäss dem Gesamtplan, der in Übereinstimmung mit dem räumlichen Stadtentwicklungskonzept erarbeitet wurde, soll entlang der Papiermühlestrasse - einer barocken Chaussee, die das Gelände als kilometerlange, gerade Allee mit der Innenstadt verbindet - ein zusammenhängender, attraktiver Stadtraum mit vorwiegend öffentlicher Nutzung gestaltet werden. Am südlichen sowie nördlichen Ende dieser Orientierungsachse konkretisieren sich nunmehr die Bauvorhaben.


Hotels und ein Stadion

Am stadtnahen Guisanplatz erarbeiteten sechs Architektenteams aus Bern und der Romandie einen Entwurf für eine Bebauung mit zwei Hotels. Gefragt waren neben der strikten Einhaltung funktionaler wie wirtschaftlicher Kriterien ein städtebaulich und architektonisch herausragender Akzent. Seitens der Bauherrschaft gingen die Vorgaben bis zum Layout der Hotelzimmer. Entstehen soll ein der 3-Sterne-Kategorie zuzurechnendes «Novotel» und das 1-Stern-Hotel «Etap». Gemessen an den einschneidenden Auflagen und Vorschriften verwundert es nicht, dass das Niveau der Arbeiten mit Ausnahme der mit dem ersten und zweiten Preis prämierten Projekte «Quarz» der Genfer Architekten Patrick Devanthéry und Inès Lamunière und «Novetap» der Architektengemeinschaft Rodolphe Luscher Architectes, Lausanne, und Schwaar & Partner, Bern, kaum zu begeistern vermag.

Bereits der städtebauliche Ansatz der übrigen Projekte war oft merkwürdig unbestimmt oder zu einfach, um den vielfältigen räumlichen Anforderungen der gegebenen Situation zu genügen. In der architektonischen Ausbildung blieben die Entwürfe häufig oberflächlich. Sie reihen positivistisch aneinander, ohne zu akzentuieren oder zu differenzieren. Mit anderen Worten: der bewusst geforderte vertikale Akzent erinnert zuweilen an abschreckend monotone Hochhauskolosse im Stil der sechziger Jahre, die mit Beschriftung und Werbung oder textilen Verkleidungen wie ihre modisch sanierten Vorbilder daherkommen.

Während das zweitplacierte Projekt von Luscher/Schwaar mit einem klaren Volumen den Übergang von der streng orthogonalen Ordnung der Papiermühle-Magistrale zur fein abgewinkelten Mingerstrasse thematisiert und diese Scharnier-Situation auch bewusst in der Architektursprache nachzeichnet, verfolgt das siegreiche Projekt «Quarz» von Devanthéry & Lamunière eine andere Strategie. Als Kontrapunkt zur Hauptachse der Papiermühlestrasse figurieren die offenen Raum bildenden Ensembles der Sport- und Messewelt Wankdorf. Zu diesen gesellt sich das als Solitär konzipierte 13geschossige Hotel, dessen Kanten keiner gegebenen Referenz folgen. Der Aussenraum ist geschickt gegliedert und verspricht eine Aufwertung des städtischen Kontextes. Eine aus klaren und opaken Glasscheiben zusammengesetzte Haut umspannt das Volumen und unterstreicht damit auch in der Fassadengestaltung den selbstreferentiellen Charakter des Objektes. Dabei erweist sich die Repetition der in der Grösse unterschiedlichen Fenster der Standardzimmer und der Konferenzräume für einmal nicht als Nachteil. Erstaunlich, wie sich der architektonische Ausdruck der in Form, Funktion und Grösse unterschiedlichen Räume scheinbar selbstverständlich zu einer Einheit formt.

Von Grösse handelt auch das zweite Bauvorhaben im Wankdorf-Quartier. Das von den Spuren der Zeit gezeichnete Fussballstadion soll neu auferstehen. Da ein solches Projekt nicht genug Rendite abwirft, wird es mit einer Fläche von insgesamt 50 000 Quadratmeter unterschiedlichster Nebennutzungen garniert. Bereits im letzten Herbst erarbeiteten zwölf Projektteams auf Einladung der Marazzi-Generalunternehmung einen Entwurf. Aus diesem Wettbewerb ging das Architekturbüro Rebmann aus Zürich als Sieger hervor, was umgehend Proteste in der Fachwelt nach sich zog, da in der Jurierung das unternehmerische Kalkül und die betrieblichen Abläufe deutlich höher gewichtet wurden als die gestalterischen und inhaltlichen Themen. Letztlich sah sich die Stadt Bern - im Wissen um die Bedeutung eines Neubaus anstelle des legendären Wankdorfstadions - gezwungen, einen Studienauftrag unter den fünf bestplacierten Teams auf der Grundlage des Siegerprojektes zu verlangen.

Die Aufgabe bestand insbesondere darin, zwei architektonische und formale Fragen zu lösen: die Ausformulierung des Platzraumes, der durch das freistehende Stadion und einen langgezogenen Gebäuderiegel flankiert wird, und die Bewältigung der Zugänge zur Shopping-Mall und zum Multiplexkino. Der Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft Luscher/Schwaar wurde mit dem 1. Preis bedacht. Es gelang ihr, den Platz durch seine verschieden gewichteten begleitenden Bauten sowie die starke Platzöffnung hin zur Papiermühlestrasse im Osten und die räumliche Verengung mit Bäumen Richtung Westen subtil zu gestalten. Das Arrangement von Zugängen zur unterirdischen Einkaufsebene, zum Kinokomplex und zur Lobby des Hotels erweist sich als plausibel. Luscher/Schwaar blenden die Untergeschosse nicht aus, sondern machen sie zum Thema. Schliesslich verheissen sie eine spannende Wahrnehmung der unterschiedlichen Nutzungen durch eine klare Gliederung der Fassadengestaltung am Stadionbau.

Einen nicht minder interessanten Beitrag lieferten die jungen Berner Architekten Mathys & Stücheli, die bereits beim Projektwettbewerb mit einem vieldiskutierten, sich bewusst experimenteller Ansätze bedienenden Beitrag auf sich aufmerksam machten. Ihr Entwurf zeichnet sich durch die grosszügige Platzgestaltung entlang der Papiermühlestrasse aus, die mittels einer Vierteldrehung des Stadions erzeugt wird. Die angestrebte Urbanisierung dieser Achse verliert allerdings an Kraft durch die zu wenig markant ausformulierten Zugänge zu den Untergeschossen. Die Jury empfiehlt der Bauherrschaft das Projekt von Luscher/Schwaar zur Ausführung und geht davon aus, dass die Gewinner des Studienauftrages mit dem Büro Rebmann eine Arbeitsgemeinschaft bilden. Wie sich diese auf die Realisierung auswirken wird, muss sich erst noch zeigen.


Hoffnungsschimmer

Bern gilt nicht unbedingt als Mekka der zeitgenössischen Architektur. Die Vorzeichen für einen Wandel stehen aber nicht schlecht, wie die beiden grossen Bauvorhaben im Wankdorf-Quartier zeigen. Denn insbesondere der Direktauftrag für das geplante Klee-Museum an Renzo Piano (NZZ 21. 12. 98) und die missglückte Jurierung im Projektwettbewerb Stadion Wankdorf manifestierten die Diskrepanz zwischen den Interessen der Investoren einerseits und dem Recht der Öffentlichkeit auf gute Architektur andererseits. Es zeigt sich nun, dass Auftraggeber sehr wohl gewillt sind, sich für bestmögliche und nicht nur bequem realisierbare Bauten zu begeistern, wenn engagierte Behörden ein faires Wettbewerbswesen fördern und innovative Architekten Visionen entwickeln, um die zunehmend strengeren wirtschaftlichen Anforderungen mit klaren städtebaulichen und architektonischen Vorstellungen zu vereinbaren. Schliesslich sind - auch dies eine am Beispiel Wankdorf gewonnene Erkenntnis - Juroren unabdingbar, die nicht in vorauseilendem Gehorsam den Wünschen der Investoren nachkommen. In Bern tut sich einiges. Die beiden siegreichen Wankdorf-Projekte sind verheissungsvoll. Um so erfreulicher, dass diese «lueur d'espoir» von zwei Architektengemeinschaften aus einem Teil unseres Landes stammt, dessen architektonisches Profil östlich von Bern noch zu wenig wahrgenommen wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.08.06

04. Juni 1999Beat Aeberhard
Neue Zürcher Zeitung

Die Kultur der Freiräume

Die Umnutzung zentral gelegener Industriebrachen ist nach wie vor ein Thema. Dass auch «Nebenschauplätze» mit interessanten Realisierungen aufwarten können, zeigt ein Umbau der jungen Luzerner Architekten Lüthi und Schmid in Hochdorf. Dort ist auf dem Areal einer ehemaligen Brauerei mitten im Dorf ein Kulturzentrum entstanden.

Die Umnutzung zentral gelegener Industriebrachen ist nach wie vor ein Thema. Dass auch «Nebenschauplätze» mit interessanten Realisierungen aufwarten können, zeigt ein Umbau der jungen Luzerner Architekten Lüthi und Schmid in Hochdorf. Dort ist auf dem Areal einer ehemaligen Brauerei mitten im Dorf ein Kulturzentrum entstanden.

Hochdorf beim Baldeggersee gilt als typisches regionales Industrie- und Gewerbezentrum. Die seit 1860 bestehende Bierbrauerei machte den Ort über sein unmittelbares Umland hinaus bekannt. Als 1988 der Betrieb an die Brauerei Feldschlösschen verkauft wurde, und diese drei Jahre später den Entschluss fasste, die Bierproduktion in Hochdorf einzustellen, handelten die Gemeindebehörden unverzüglich. Seit längerer Zeit bestand in Hochdorf nämlich die Absicht, ein Gemeindezentrum als gesellschaftlichen und kulturellen Treffpunkt zu erstellen. Der wichtigen Lage des Braui-Areals mitten im Dorf bewusst, bemühte sich die Gemeinde um den Kauf des Grundstücks. Zusammen mit zwei Bauunternehmen und der Luzerner Kantonalbank bildete sie ein Konsortium zum Erwerb des 12 000 m² umfassenden Areals und zur Finanzierung eines Kulturzentrums, eines neuen Sitzes für die Kantonalbank sowie von Geschäfts- und Wohnbauten.


Vision für einen Ort

Die Neubebauung des bisher vielseitig genutzten, in verschiedene Bauzonen eingeteilten Areals, das nun auf die neuen Grundeigentümer zu parzellieren war, stellte für alle Beteiligten eine Herausforderung dar. Aus einem regionalen Ideenwettbewerb resultierte der überzeugende Vorschlag der jungen Architekten Hanspeter Lüthi und Andi Schmid, die seit 1990 in Luzern ein gemeinsames Büro betreiben. Historisches Bewusstsein und theoretische Reflexion erlaubten ihnen, die Identität und Individualität des Geländes mit den umfangreichen Vorgaben zu vereinbaren. Insbesondere der Umgang mit dem von der kantonalen Denkmalpflege als schützenswert eingestuften, Art-déco-Elemente aufweisenden Sudhaus vermochte zu überzeugen. Der Braui- Turm mit dem im Erdgeschoss untergebrachten Sudraum wurde 1930-32 vom Architekturbüro Zimmermann aus Freiburg i. Br. erstellt, das in der Schweiz damals einen guten Namen auf dem Gebiet der Brauereiarchitektur hatte. So errichtete dieses Büro auch - als bekanntestes Beispiel - das Sudhaus von Feldschlösschen in Rheinfelden.

Der Braui-Turm in Hochdorf ist als zentraler und prestigeträchtiger Ort innerhalb der Produktionsstätte ein formal überzeugendes und konsequentes Beispiel der Moderne. Die rein kubische Grundform - gegliedert durch eine in ihrer orthogonalen Linienführung an amerikanische Industriebauten erinnernde Fassadengestaltung - kontrastiert mit dem dekorativ-repräsentativen, fast schon sakral überhöhten Erscheinungsbild des Sudraums im Erdgeschoss. Bereits während der vier Jahre dauernden Planungs- und Projektierungszeit lockte das leere Industriegebäude Gewerbler und Kulturschaffende an, was schliesslich zur Gründung des Vereins «Kultur i de Braui» führte. Diesem übertrug der Gemeinderat die Verantwortung über die Nutzung der Räume im Sudhaus, die mit geringem finanziellen Aufwand betriebsbereit gemacht wurden.

Die Architekten Lüthi und Schmid akzeptierten die Identität und Individualität des Areals als Bestand einer Industrielandschaft. Wie etwa das Zürcher Steinfelsareal oder der von Diener & Diener umgestaltete Warteckhof in Basel findet auch das Braui-Areal durch partielle Bewahrung, Umnutzung und Einbinden in ein Ensemble zu einer neuen städtebaulichen Ordnung. Der Braui- Turm - einst als statisch selbständiges Element in den Komplex der Brauerei integriert - bildet nun als autarkes Teil mit einem winkelförmigen Neubau einen neuen Dorfplatz. Der Neubau besteht aus einem Saaltrakt und einem zweigeschossigen Flügelbau, in welchem ein Restaurant sowie die Bibliothek untergebracht sind. Das Volumen des Saalbaus ist vom Platz her in seiner gesamten Dimension nicht wahrnehmbar. Ein Foyer mit grossen Fenstern und quer zur Fassade stehenden Mauerscheiben öffnet sich dem Besucher. Der dahinter liegende, geschlossene und in kräftigem Rot gehaltene Saalbau mit der zum Bühnenhaus hin ansteigenden Dachlandschaft verweist auf industrielle Hallenbauten. Der flache Restaurant- und Bibliothekstrakt setzt mit seinem Blaugrau einen Gegenpol und vermag zwischen dem Saalbau und dem im originalen grünlichen Hellgrau aufgefrischten Turm farblich zu vermitteln.

Eine in Sichtbeton und mit horizontalen Fensterschlitzen neutral gestaltete Erschliessungsschicht ergänzt in kohärenter Weise den Turm. In diesem befinden sich neben dem heute als Ausstellungs- und Empfangshalle dienenden repräsentativen Sudraum die Ludothek, der Jugendraum, verschiedene Vereinsräume, ein Raum für Kleinkultur sowie das mit seiner Ausstattung integral erhaltene «Brauistübli» mit Aussicht auf die Landschaft des Seetals. Die Anlage des Platzes seitlich des Braui-Turms relativiert wohltuend die axialsymmetrische Ästhetik der Turmfassade, wodurch der (in der Höhe) alles überragende industrielle Zeuge dem flachen Neubau ganz selbstverständlich den Vortritt gewährt. Auf den ersten Blick mag die etwas isolierende Art im Umgang mit dem Solitär aus den dreissiger Jahren zu irritieren, gleichwohl stellt gerade dieser Massstabsprung von flachen zu hohen Gebäuden die eigentliche Verbindung zur tradierten Industrielandschaft her. In dieser Hinsicht ergibt sich Hochdorfs neuer Dorfplatz aus einer logischen und unprätentiösen Konfiguration von alten und neuen Bauteilen. Und zu Recht wird man ihn als gelungene Antwort auf die gestellte Aufgabe bezeichnen: in einem bis anhin privaten Areal einen öffentlichen Raum zu realisieren.


Benutzergerecht

Im Innern wird die Stimmung nicht durch Farben, sondern durch die natürlichen Oberflächen von Eichenholz und Sichtbeton erzeugt. Die bewusst diskrete Gestaltung der Details lässt eine Architektur der Sachlichkeit erkennen, welche die Aufmerksamkeit den Benutzern zuwendet. Nicht bis ins letzte ausgeklügelte Proportionen, nicht überzüchtete ästhetische Zielvorgaben interessierten die Architekten, sondern eine dauerhafte Architektur der Zurückhaltung im Wissen um das auf solidem Handwerk basierende Bauen. So setzte man im Restaurant auf Bewährtes: dunkles Riemenparkett, teilweise in Kirschbaum verkleidete Wände und das bekannte «Beizenmobiliar» der klassischen Eichentische und schwarzen Moserstühle. Lediglich die Eingangsfassaden um den Platz zeichnen sich durch edle Materialien wie Serpentinverkleidungen und Eichenholz aus.

Zurzeit entsteht schräg gegenüber des Kulturzentrums die neue Kantonalbank - zwar nicht ein Werk von Lüthi und Schmid, aber auf der Grundlage des von ihnen festgelegten Bebauungsplans. Hochdorf findet allmählich zu einer neuen urbanen Mitte, denn mit den üblichen Allerweltsbauten, welche die sanften Hügel des Dorfes überziehen, hat die Anlage der Luzerner Architekten nichts gemein. Und doch erscheinen die Gebäude kaum als Fanal einer neuen Architektur, sondern dank formaler Zurückhaltung unaufgeregt und im Einklang mit dem Bestehenden. Ein alles in allem geglückter Arealumbau, der zeigt, dass die intensive Zusammenarbeit zwischen Behörden, Nutzern, Planern und interessierten Laien sehr wohl zu geglückten Ergebnissen im Bereich der Industriebrachen und ihrer Nutzungsumlagerungen führen kann.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.06.04

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