Editorial

Das »Entrümpeln der Welt« stehe an, so Harald Welzer Ende 2015 beim db-Kongress zum Thema »Anders Bauen, Suffizienz in der Baukultur«. Mit »Plüsch und Plunder aufzuräumen«, diesen aus den Wohnungen zu verbannen und stattdessen mit weniger raumintensiven modernen, schlanken Formen auf kleinerer Fläche zu gestalten und zu leben, hieß es auch 1953 bereits. Zunächst eine ­erstaunliche und leicht erschreckende Parallele nach 64 Jahre, doch was die Menschen damals spielerisch anhand eines Modellbaukastens (s. Abb.) lernen sollten, gewinnt heute, in Zeiten steigender Mieten, Wohnungsnot in Ballungsgebieten und knapper werdender Ressourcen wieder zunehmend an Aktualität: Ideen, für ein zeitgemäßes Leben und Arbeiten auf wenig Raum.

Nach unseren beiden erfolgreich durchgeführten Suffizienz-Kongressen zum Thema maßvoll und angemessen Planen und Bauen, unserer lockeren Serie zu »Suffizienz in der Baukultur« und unserem Heft zum Thema (db 6/15) haben wir für diese Ausgabe Projekte für Sie ausgewählt, die intelligent, zurückhaltend und schonend mit Material und Fläche umgehen; Projekte, die unserer Meinung nach exemplarisch für einen gekonnten Umgang mit schwierigen Bestandsbauten und für eine behutsame und gelungene Nachverdichtung und Erweiterung stehen können – oder einfach wichtiger Denkanstoß und Diskussionsbeitrag sind. | Ulrike Kunkel

Offenes Quartierswohnzimmer

(SUBTITLE) Die »Ru Paré community« – von der Schule zum Quartierszentrum in Amsterdam (NL)

Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart wurde eine leer stehende Schule in einem partizipatorischen Planungsprozess in ein lebendiges Stadtteilzentrum verwandelt. Aus der ehemaligen Sporthalle wurde dabei ein multifunktional nutzbares »Foyer«, das sich über große Tore zum Stadtteil hin öffnen lässt. Ein cleveres, ressourcenschonendes Low-Budget-Projekt, bei dem Abbruchmaterialien anderer Gebäude wiederverwendet wurden und ein sozialer Brennpunkt entschärft wurde.

Im Südwesten von Amsterdam wurde seit Beginn der 60er Jahre das bereits in den 30er Jahren durch den Stadtplaner Cornelis van Eesteren konzipierte Quartier Slotervaart als Stadterweiterung aus dem Boden gestampft. Seit den 90er Jahren hatte sich das Viertel durch wachsende Migration und die sukzessive Schließung sozialer Einrichtungen zunehmend zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Zu den Hot Spots zählte seinerzeit auch die Schule Ru Paré, benannt nach dem Pseudonym der Widerstandskämpferin Henrica Maria ­Paré, die während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg 52 jüdischen Kindern das Leben gerettet hatte.

Nach dem Umzug der Schule in den 2013 direkt nebenan nach Plänen von Marlies Rohmer fertiggestellten Neubau »Het Meervoud« stand das erst 1991 in schlichter funktionaler Architektur mit roten und gelben Klinkerfassaden errichtete Gebäude einige Monate leer und wurde in einem partizipativen ­Planungsprozess zu einem lebendigen Stadtteilzentrum umgenutzt: In der ­Ru Paré Community erhalten die Bewohner des Viertels nach dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe wahlweise Computerkurse, Sprachunterricht oder Beratung in Steuer- und Mietsachen und leisten dazu im Gegenzug andere ­gemeinnützige Dienste. Zusätzlich haben Künstler, kleinere Unternehmen oder soziale Organisationen wie eine Flüchtlingshilfe, ein Repair Café und ein Resozialisierungsprojekt für straffällig gewordene Jugendliche die Möglichkeit, günstige Büros anzumieten. Ergänzt wird das durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE geförderte, ansonsten aber finanziell eigenständige Projekt durch die Vermietung von Flächen an profitable ­Start-ups sowie durch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, als Koch oder z. B. Elektriker.

Partizipatorischer Planungsprozess

Ausgangspunkt der Planung war die Initiative des Sozialunternehmers Hans Krikke, der in Reaktion auf die umfangreichen Sparmaßnahmen im Sozialbereich die Stiftung »Samen Ondernemen« Amsterdam gründete, um jenseits von staatlicher Bürokratie und Bevormundung das Zusammenleben der ­Anwohner im Quartier zu stärken. Auf der Suche nach einem Standort war der Unternehmer schnell auf die leer stehende Schule gestoßen. Auf Basis ­eines anschließend ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs zur Umnutzung des ­Gebäudes wurde das vor Ort ansässige Architekturbüro BETA eingeladen und in Zusammenarbeit mit Architektin und Urbanistin Elisabeth Boersma vom Rotterdamer Büro plan B beauftragt, das Gebäude mit einem begrenzten Budget von 575 000 Euro zum Sitz der Stiftung und zum offenen Stadtteil­zentrum umzuwandeln.

»Ausgehend vom Wunsch der Stiftung nach einer möglichst hohen Akzeptanz der Anwohner hatten wir im Vorfeld der Planung zunächst mehrere ­Veranstaltungen und Workshops mit Bewohnergruppen, Pflegedienstleistern, Sozialarbeitern, Künstlern und Jungunternehmen aus dem Viertel organisiert«, berichtet Projektarchitekt Auguste van Oppen vom Büro BETA. »In ­einem gemeinsamen Prozess konnten wir so unterschiedliche Ideen von ­unterschiedlichen Akteuren in das Projekt einfließen lassen und sie zum ­‘Miteigentümer‘ des Entwurfs machen.« Im Rahmen der Treffen wurde u. a. der Nachbarschaftsverein KlusLab gegründet, der später am Umbau der Schule beteiligt war und der gemeinsam mit Studierenden der Fachhoch­schule Amsterdam ein sogenanntes »urban mining project« durchgeführt hat, um Restmaterialien dreier zum Abbruch bestimmter Wohngebäude aus der Nachbarschaft aufzulisten und zur Reduzierung von Kosten und Energie­verbrauch für den Umbau wiederzuverwenden.

»A new kid on the block«

Im Rahmen der Planung standen die Architekten zunächst vor der Frage, die Grundrisse des dreigeschossigen Gebäudes mit seinen vielfach vorgeschobenen, verglasten Erkern für die neue Nutzung zu adaptieren. Die vorhandenen, über einen zentralen Innenhof erschlossenen ehemaligen Klassenzimmer ­ließen sich vergleichsweise unkompliziert zu offenen Büroeinheiten umfunktionieren. Als bauliche Maßnahmen erfolgten hier lediglich die zusätzliche Wärmedämmung der Fassaden sowie der Einbau neuer doppelt verglaster Fenster, um so die hohen Nebenkosten zu senken. »Diese Umbauten haben bereits einen großen Teil des Budgets aufgebraucht, entsprechend war es eine ziemliche Herausforderung, wirkliche architektonische Eingriffe zu realisieren«, berichtet Evert Klinkenberg, der vor der Gründung des Büros BETA bei Herzog & de Meuron gearbeitet und am Lehrstuhl von Gigon & Guyer an der ETH Zürich Entwurf unterrichtet hat.

Deutlich schwieriger gestaltete sich die Umnutzung der in Richtung Südosten in den oberen beiden Ebenen diagonal in den Quader integrierten, bislang ­lediglich durch zwei Glasbausteinflächen geöffneten Sporthalle der Schule: »Um eine schlüssige Gesamtlösung für das Gebäude zu entwickeln und gleichzeitig eine neue Zugangssituation zu schaffen, haben wir vorgeschlagen, den mehr als 7 m hohen »Beletage-Raum« zu einem luftigen Foyer mit Sitzgelegenheiten, Tresen und einer kleinen Bühne umzuwandeln«, beschreibt van Oppen. Das vormals auf der Fassade aufgebrachte Mosaik des Künstlers Hugo Kaagman wurde dabei dokumentiert, um später an anderer Stelle eingefügt zu werden. Aus Kostengründen und als Reminiszenz an die vormalige Nutzung ist der alte Boden der Sporthalle mit den Spielfeldmarkierungen erhalten ­geblieben.

Einen massiven baulichen Eingriff erforderte hingegen der Einbau von vier mittig in die Front eingefügten, senkrecht nach oben verfahrbaren Garagen-Sektionaltoren, mit deren Hilfe sich der zweigeschossige Raum den Sommer über je nach Witterungsverhältnissen per Knopfdruck vollständig öffnen lässt. Um einen unmittelbaren Kontakt zum Viertel herzustellen und eine ­direkte sowie barrierefreie Erschließung des »Stadtteilwohnzimmers« über den ehemaligen Schulhof zu ermöglichen, ergänzten die Architekten außerdem eine Stahltreppe, einen mit Gitterrosten ausgeführten Balkon zum Vorplatz sowie einen Aufzug zur barrierefreien Erschließung. Der ehemalige Schulhof ist inzwischen mit gemeinschaftlich gepflegten Grünflächen als ­öffentlicher Platz für die Nachbarschaft gestaltet worden.

Zusätzliches Zwischengeschoss

Als weiterer wichtiger baulicher Eingriff wurde die bestehende Tragkonstruktion der Halle durch zwei Stahlstützen und zwei Stahlträger ergänzt, um so ein zusätzliches Zwischengeschoss in den Raum einfügen zu können und damit eine optimierte Wirtschaftlichkeit des Projekts zu erreichen. Auf der neu ­hinzugewonnenen Fläche haben die Planer fünf ausrangierte Gewächshäuser ­eines Gartenbaubetriebs in Delft als verglaste Haus-in-Haus-Büros integriert: »Die Einheiten bieten attraktive Adressen für soziale und kreative Start-up-Unternehmen und stellen gleichzeitig gemeinschaftlich nutzbaren Raum zum Co-Working zur Verfügung«, so van Oppen. »Architektonisch brechen sie ­zudem den eher geschlossenen Charakter des Gebäudes auf und sorgen für attraktive Blickachsen und Perspektiven.«

Die Erschließung der fünf Einheiten erfolgt über fünf Öffnungen in der Zwischenfassade und dort ­jeweils eingefügte Brücken aus Gitterrosten. Komplettiert wird das Projekt durch den Einbau einer neuen Heizungsanlage sowie einer neuen Anlage zur Entlüftung. Weitere Umbau- und Sanierungsmaßnahmen haben Architekten und Bauherr bewusst zurückgestellt: »Aufgrund des knappen Budgets haben wir uns zunächst auf das Notwendigste beschränkt. Weitere Maßnahmen können dann später erfolgen.« Das Ergebnis des Umbaus überzeugt dennoch – oder gerade deshalb: Denn es ist den Architekten gelungen, den an sich völlig banalen Bau mit gezielten und überraschenden Eingriffen zu ­einem vorbildlichen Gemeinschaftsprojekt umzuwandeln, das beispielhaft neue Wege für Umnutzung, Partizipation, Quartiersarbeit, Start-up-Förderung und Nachhaltigkeit aufzeigt. Die vorhandene Struktur der Schule mit den zum Innenhof verglasten ehemaligen Klassenräumen hat sich dabei als geradezu ideal erwiesen, um den Anspruch der Stiftung nach Transparenz und Offenheit architektonisch umzusetzen. Im direkten Austausch der unterschiedlichen Nutzer ist eine ­lebendige Atmosphäre entstanden, die Raum zum kreativen Arbeiten schafft und die gleichzeitig einen bewusst niederschwelligen Ort zum Zusammenkommen unterschiedlicher Nutzer bietet. Ein Projekt also, das dringend zur Nachahmung aufruft!

db, Fr., 2017.06.02

02. Juni 2017 Robert Uhde

Das Potenzial der Restriktion

(SUBTITLE) Lagerhallen werden zu Wohnungen: im Freilager ­Albisrieden in Zürich (CH)

Die Backstein-Lagerhallen mit auskragenden Vordächern und Laderampe wurden kreativ umgenutzt und umgestaltet: Der Entwurf lebt von Brüchen und Spannungen. So künden die nierenförmigen Balkone, inspiriert vom ­italienischen Barock, selbstbewusst von der Umnutzung zum Wohnen. Das Projekt kann als beispielhafte Umnutzung und Aufstockung von Gewerbebauten gelten, denn im Grunde waren die 24 m Bautiefe und der Stützenraster des Bestands zum Wohnen gänzlich ungeeignet. Wie es dennoch geht, zeigen die Architekten eindrucksvoll.

Um den Handel und Transithandel am Standort Zürich zu fördern, wurde 1923 auf Betreiben der örtlichen Handelskammer die Zürcher Freihandels- AG gegründet. Diese erwarb zwei Jahre später ein ausgedehntes Areal westlich der Stadt in Albisrieden, das 1934 nach Zürich eingemeindet wurde. Inzwischen waren auf dem, über ein Industriegleis mit dem Bahnhof Altstetten verbundenen Freilagerareal diverse Hallenbauten entstanden. Hier eingelagerte Güter – Autos, aber auch andere Handelswaren – befanden sich so zolltechnisch im Ausland. Der Zoll wurde also erst beim Verkauf fällig – oder auch nicht, falls die Waren lediglich zwischengelagert waren und das Land wieder verließen.

Veränderungen im Logistikgewerbe führten Ende des 20. Jahrhunderts zum schrittweisen Niedergang des Freilagers, dessen Betreiber ohnehin seit 1970 in den Ausbau eines verkehrsgünstiger gelegenen Areals in Embrach nördlich von Zürich investiert hatten. Und weil die in Immobilienangelegenheiten erfahrene AXA Winterthur als Mehrheitsaktionärin der ursprünglichen Schweizerischen Kreditanstalt nachgefolgt war, setzte sich die Erkenntnis durch, dass im boomenden Zürich mit der Vermietung von Wohn- und ­Geschäftsflächen mehr Rendite zu erzielen wäre als mit der Einlagerung von Handelsware. Das geschäftliche Kalkül traf sich mit der Intention der Stadt, dem Wohnungsmangel durch Schaffung neuer Angebote innerhalb der Stadtgrenzen zu begegnen; denn das »Letzi« genannte Gebiet zwischen den ehemaligen Ortskernen von Albisrieden und Altstetten sowie der Westkante der gründerzeitlichen Stadterweiterung Zürichs war seit Längerem in den Fokus der städtischen Planung gerückt.

Auf Basis von Workshops im Jahr 2004 erarbeitete das Architekturbüro Meili, Peter eine Testplanung, aus der dann ein städtebauliches Leitbild und ein ­Gestaltungsplan hervorgingen. Ausgangspunkt des Konzepts war der Erhalt des Ursprungsbaus des Freilagers; einer U-förmigen Struktur aus zwei 135 m langen und 24 m breiten Lagerhausbauten, das nördliche drei-, das südliche viergeschossig. Dabei handelt es sich um ein Spätwerk des insbesondere für Geschäfts- und Sanatoriumsbauten bekannten Architekturbüros Pfleghard und Haefeli, die Robert Maillart als Tragwerksplaner hinzuzogen. Das Ge­bäude stand nicht unter Denkmalschutz, aber es handelt sich um einen eindrucksvollen Baubestand. Und die Architekten erkannten, dass hier bereits vorhanden war, was sonst erst mühsam und künstlich geschaffen werden müsste: ein Ort, der dem neu entstehenden Quartier Identität zu verleihen vermag. Damit ist der nunmehr um drei Geschosse aufgestockte Ursprungsbau zum Nukleus des Quartiers geworden, für dessen Realisierung zwei Wettbewerbe ausgeschrieben wurden. Den für die langen Scheiben und die Hochhäuser im Westen – die städtebauliche Figur ist von Fernand Pouillons Siedlung »Le Point-du-Jour« in Boulogne-Billancourt inspiriert – gewann Rolf Mühlethaler, den für die dem Freilager benachbarte Hofstruktur Office Haratori (Zürich) mit Office Winhov (Amsterdam). Meili, Peter selbst waren für die Aufstockung des Freilagers sowie ein Studentenwohnheim mit 200 Zimmern verantwortlich. Wichtige Eckpfeiler ihres Masterplans stellen auch das ambitionierte Freiraumkonzept von Günter Vogt und die Konzentration der Geschäftsflächen auf die Erdgeschosse ausgewählter Gebäude dar, insbesondere auf das alte Freilager, dessen Adresse innerhalb des Gesamtkomplexes nun als »Marktgasse« firmiert.

Während die Laderampen an den Außenseiten erhalten geblieben sind, wurde das Niveau zwischen den beiden Gebäuden aufgefüllt, sodass ein erhöhter Hof entstanden ist, der allseitig von den historischen Vordächern aus Beton gerahmt wird. Auch wenn es etwas gedauert hat, bis die geeigneten Mieter gefunden wurden: Hier ist in der Tat ein funktionierendes Geschäftszentrum entstanden. Mit 800 Wohnungen und den 200 Zimmern für Studierende ist irgendwann auch genug Kundenpotenzial vorhanden, und so haben sich u. a. ein Supermarkt, ein Friseur, eine Tanzschule, ein Yogastudio, Läden für Urban Gardening, Kinderkleidung und Tierfutter sowie eine Kita und eine Brasserie eingemietet. Für letztere haben Meili, Peter, auch für die Einrichtung verantwortlich, einen Pavillon geschaffen, der auf der Südseite an das EG des Freilagers anschließt.

Die eigentliche Herausforderung stellte für die Architekten aber die Frage dar, wie sich die bestehenden Geschosse mit ihrer Bautiefe von 24 m und Maillarts 5 x 5-m-Pilzstützenraster, aber auch die ökonomisch unabdingbare Aufstockung für marktfähige Wohnungen nutzen ließen. Dabei entwickelten die ­Architekten, die ihr Können für das Aufbrechen klassischer Grundrisstypologien schon an anderen Projekten unter Beweis gestellt hatten, eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungsgrundrisse. Das Spektrum reicht von der 2,5-Zimmer-Wohnung mit 72 m² (Nettomiete 1 700 CHF) auf einer Ebene bis hin zur 4,5-Zimmer-Wohnung mit 172 m² (3 600 CHF), die sich als Maisonette über drei Ebnenen erstreckt. Zu den Spezialitäten zählen auch Studiowohnungen mit Ladenräumen im EG und Wohnungen in der Ebene darüber (139 m², 2950 CHF) – da sich der Wohnungsmarkt im überteuren Zürich gerade zu wandeln beginnt, gestaltet sich die Vermietung zu stattlichen Preisen allerdings selbst hier schwierig.

Klug geplante Raumstrukturen

Meili, Peter ist es gelungen, bei diesem Tetris-Spiel im großen Maßstab mit ­jeweils vier querliegend in den Bestand eingestanzten Treppenhäusern auszukommen. Die komfortablen Raumhöhen von 3 m erlaubten es, trotz der nicht unerheblichen Bautiefe Durchschusswohnungen anzubieten. Eine andere Strategie musste in der Aufstockung mit ihren reduzierten Raumhöhen von 2,5 m angewendet werden. Die Lösung bestand hier in gestaffelten Patios, die versetzt in die jeweiligen drei OGs eingeschnitten sind. Die Patios orientieren sich auf der unteren Ebene zur Fassade hin und werden im Geschoss darüber partiell von einer Patiobrücke überdeckt, während sie auf der obersten zurückgesetzt sind und sozusagen einen nach vorne offenen Hof bilden. Diese Konfiguration garantiert nicht nur die Belichtung der Wohnungen, sondern verschafft jeder Einheit auch einen Außenraum. In den Bestandsgeschossen hat jede Wohnung einen präfabrizierten vorgehängten Balkon erhalten. Die in unregelmäßigem Rhythmus über die Fassade verteilten Betonbalkone mit ­ihren gekurvten Geometrien und korbig-bauchigen Metallgeländern ­atmen mit ihren Nierentischformen ein wenig den Geist der 50er, erinnern aber auch an italienische Mietshäuser; letztere Referenz war maßgebend für die Bekleidung der Fassaden, der Aufstockungen mit dunkelroten Keramikplatten. Der orangefarbene Backstein des Bestands findet hier seinen farblich modulierten und materiell variierten Widerhall, aus der tragenden Wand wird ein schützendes Kleid. Der Wechsel von liegender und stehender Versetzung der Keramikplatten erscheint beim genaueren Hinsehen als diskretes Ornament. Demgegenüber sind die Wände der Patios in einem graubläulichen Farbton verputzt – die Architekten thematisierten damit die zunehmende Porosität des sich nach oben auflösenden Volumens. Auch im Innern thematisieren sie das Aufeinander von Alt und Neu: Geschliffener Anhydritboden im Bestand, Parkett in der Aufstockung.

Der sperrige Altbau des Freilagers war für das Projekt ein Glücksfall. Die Restriktionen, die der Bestand zur Folge hatte, zwang zu räumlich anregenden Lösungen, die es sonst nicht gegeben hätte. Natürlich stehen Maillarts Pilzstützen mitunter etwas widerborstig im Raum, und auch nicht jede Wohnung kann räumlich gleichermaßen überzeugen. Doch letztlich entstehen Individualität und Charakter. Meili, Peter haben die Potenziale erkannt und aufgrund einer Analyse des Bestands mit der Aufstockung eine ergänzende ­Ableitung geschaffen, welche die Wuchtigkeit des Sockels auflöst, ausdifferenziert und verfeinert. Es ist ermutigend, dass Investoren diese Wege inzwischen mitzugehen bereit sind, wobei die jahrelange Überzeugungsarbeit der Architekten mit entscheidend war. Meili, Peter hätten es sich einfacher machen können, indem sie den Bau von Pfleghard und Haefeli zur Disposition gestellt hätten. Dass sie einen anderen Weg eingeschlagen haben, verdient höchste Anerkennung. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, dass das Freilager als neues Quartier wirklich funktioniert.

db, Fr., 2017.06.02

02. Juni 2017 Hubertus Adam

Haus Mayer-Kuckuk in Bad Honnef

Weitgehend vorgefertigt wurde das Einfamilienhaus 1967 innerhalb von sechs Tagen errichtet. Seine entlang der Längsfassaden sichtbare, gestalterisch überhöhte Tragstruktur aus Holz verhilft ihm zwar zu ­seiner Unverwechselbarkeit, ist aber auch Ursache ­großer Bauschäden. Dank einer umfangreichen Sanierung im Jahr 2016 legt es weiterhin Zeugnis vom Strukturalismus in Deutschland ab.

Ein bemerkenswerter Fall: Alle Teile, aus denen das Gebäude 1967 wie aus ­einem Baukasten errichtet wurde, sind konventionell. Dennoch bezeichnete ein Fördervertrag der Deutschen Stiftung Denkmalschutz das Objekt 2014 in seiner Essenz als »utopistische technoide Innovation«. Ein Raumtragwerk aus überkommenen Elementen: Punktfundamente, Metallschuhe als Stützenfüße, Pfosten und Tragbalken der Decken und des Dachs als Leimbinder, Andreaskreuze aus diagonal gespannten Stahlstäben, Ausfachungen der Außenwände als Sandwich-Tafeln, Flügeltüren in den Wandöffnungen etc. Auch das Subthema des Gebäudes, die elementierte Vorfertigung in Serie, geht auf historische Entwicklungen wie die Elementierung der Ständerbauweise zurück. Technoide Innovation?

Das Gebäude, das diese Widersprüche auf so anregende Weise vereint, ist das Haus Mayer-Kuckuk. Vor 50 Jahren in Bad Honnef am Rhein errichtet, sollte es bereits nach 25 Jahren als Denkmal eingetragen werden. Der Rat der Stadt sperrte sich, doch 2007 wurde das Gebäude auf Antrag der Eigentümer doch unter Denkmalschutz gestellt und 2016, nach akribischer Sanierung, erhielt es den alle zwei Jahre vergebenen Rheinisch-Westfälischen Staatspreis für Denkmalpflege.

Ein Gespräch des Architekten Wolfgang Döring mit dem Architektur­historiker Heinrich Klotz (»Architektur in der Bundesrepublik«, 1977) offenbart weitere interessante Widersprüche: Auf die Feststellung des Interviewers, das Aussehen des Hauses negiere die üblichen Erwartungen an ein Einfami­lienhaus, und die Frage, warum das Haus Mayer-Kuckuk diese Form habe, antwortete der Architekt: »Das Aussehen des Hauses hat mich eigentlich überhaupt nicht interessiert.« Mit dieser, die Haltung zum Werk wie zum ­Auftraggeber eher strapazierenden Behauptung eröffnet Döring ein Katz-und-Maus-Spiel.

Tatsächlich erfolgt der Ausbruch aus der Konvention dadurch, dass die konstruktiven Prinzipien demonstrativ ausgestellt, wörtlich: vor die schützende Raumhülle des Gebäudes gestellt und die Verbindungen des Raumtragwerks, die Knoten der Zangenkonstruktionen, gestalterisch überhöht werden. Der Effekt entsteht dadurch, dass die Verbindungsmittel der Knoten – trapezförmige Platten, die eher dem historischen Stahlbau entlehnt scheinen – als Sperrholzdreiecke überdimensioniert angelegt sind. Döring: »Ich habe natürlich ein bisschen übertrieben, sie sind eine Idee zu groß.« So ist es der ­Zeichencharakter der weißen Trapeze, ihr serielles Hinter- und Übereinander, das die ungewöhnliche Signalwirkung des Gebäudes begründet. Und es sind die schmalen, festverglasten Bänder zwischen den Balkenlagen, die Lichtschlitze, die das Flächenhafte der Wände aufbrechen. Die 60er Jahre sind die Zeit der Op Art, der Erfolge der Minimal Art: der skulpturalen Raumstruk­turen, Gitter- und Rasterkonstruktionen – der »serials« Sol LeWitts und der ­formalen Strenge Donald Judds.

Dörings Einlassung, »die Form ergab sich eigentlich nur aus der Konstruk­tion«, ist eine Behauptung, der Klotz nicht folgt: »Es kam Ihnen sehr darauf an, die Konstruktion zu zeigen (...). Ist das nicht eine Ästhetisierung konstruk­tiver Momente?« Während Döring auf der Erfüllung der Zwecke beharrt, der konstruktiven Funktion des Raumtragwerks, folgert Klotz: »Aber es sind doch die Einzelheiten, die das Haus interessant machen, denn sonst wäre es ja tatsächlich eine Baracke geworden.« Und Döring: »Danke, meine Häuser sind keine Baracken.«

Dass der Architekt diese Anmutung zurückweist, ist verständlich. Die Empfindung des Leichten, Schwebenden wie bei einem Pavillon geht auf »einen Satz einfachster Bauelemente zurück, eine Versuchsanordnung für ein kulturelles Experiment« (Kurt W. Forster). Bei dem, wie Klotz meinte, durchaus dramatisiert wurde. Und Döring: »Das muss man auch tun, so verant­wortungsvoll muss ein Architekt sein, dass es eben keine Baracke wird.« Der Pavillon – ein Nachklang nomadischen Bauens, Ausdruck einer »intellektuellen Sehnsucht nach dem Leichten, Provisorischen, dem noch nicht einbetonierten Leben« (Dieter Hoffmann-Axthelm).

Man kann Mies van der Rohe zitieren. Zur Wirkung von Hoch­häusern erklärte dieser, nur in der Bauphase offenbarten sie die mutige, bau­liche Idee ihrer aufstrebenden Struktur, den überwältigenden Eindruck. Sobald die ­Fassade bekleidet sei, werde die kühne »Sensation« vernichtet. Gab es Wege, eben diese Anmutung sichtbar zu erhalten? Bereits in der Frühzeit des Hightech, bei Norman Foster und Richard Rogers, finden sich Entwurfsstrategien, die auf diese Sensation setzen – etwa bei der »Reliance Controls Elec­tronics Factory« in Swindon (1965-1966), deren Konzept der Vorfabrikation von Stahlelementen, dem »structural steelwork« galt. Dem Raumtragwerk aus ­seriellen Komponenten, die nach außen (mit diagonalen Auskreuzungen) wie nach innen ausgestellt wurden: ein Spiel, das am Pariser Centre Pompidou ­expressiv überhöht wurde.

Was beim Stahlbau weniger riskant erschien, später aber zunehmend höhere Erhaltungsinvestitionen verursachte, durfte beim Bauen mit Holz kaum ohne Vorkehrungen des konstruktiven Holzschutzes realisiert werden – zumal dann, wenn das Material Leimholz so frivol zur Schau gestellt wurde. War doch dessen Widerstandsfähigkeit gegen wechselnde Feuchte wie durch die Verwendung von Nadelhölzern begrenzt. Konnte den Bewohnern allein die Verantwortung überlassen werden, den Holzschutz in den jährlichen Lebensablauf zu integrieren wie die Gartenpflege?

Dass bereits mit der Konstruktion die Geschichte der späteren Sanierung, die Herausforderung der Erhaltung begründet wird, zeigt, dass »das Provisorische nicht leicht zu haben« (Hoffmann-Axthelm), das »Bild der Leichtigkeit« nur unter enormem Aufwand zu erhalten oder wiederherzustellen ist.

Dass der ideelle Zustand des Gebäudes gesichert werden konnte, war längere Zeit ungewiss. Während die Bauzeit 1967 gerade eine Woche betragen haben soll, ließ die Sanierungsphase das Haus fast ein Jahr lang unbewohnbar. Eine Dokumentation zeigte in großem Umfang Zerstörungen durch Pilzbefall, Strukturschäden der Hölzer, Fehlstellen, die sich insbesondere an den Balkenköpfen der Knoten – den neuralgischen Punkten der Aussteifung des Raumtragwerks gegen die Wind- und Querkräfte häuften. Massive Schädigungen wurden auch während des Ersatzes des Tragwerks entdeckt, etwa unter den Fensteröffnungen. Bei der Reparatur bedurfte es erheblicher Korrekturen im Detail: nur mit besseren Materialien und umfassendem Holzschutz – wozu auch Blechabdeckungen der Balken- und Knotenköpfe gehörten – war das Haus langfristig zu sichern. Aufwendig war nicht nur der Austausch der ­einzelnen Felder des Raumtragwerks, Achse für Achse, sondern auch die Stabilisierung des Gebäudeganzen während des Herauslösens, Zerlegens und Einfügens der neuen Balkenlagen von Hand. Herausziehen und Durchstecken ­beschreiben eher unzulänglich, dass die Träger von den Dach-, Decken-, ­Bodenelementen und Innenwänden gelöst, die in den Zangenlagen geführten sanitären und elektrischen Installationen demontiert werden mussten. Die Reparatur des wohnlichen Raumensembles erforderte allein im Innern an die fünf Monate Bauzeit. Die Eigentümer, beispielhaft in ihrem Engagemen, das außerordentliche strukturalistische Werk zu erhalten, kommentierten das Abenteuer eher lakonisch: »Bei Experimentalbauten werden tradierte Regeln schon mal außer Acht gelassen.«

db, Fr., 2017.06.02

02. Juni 2017 Reinhart Wustlich

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