Editorial

Harmonisch gerundet an der Autobahn oder expressiv geknickt im Zentrum von Zürich: Auf den ersten Blick haben die beiden Bauten, die den Schwerpunkt dieser Ausgabe bilden, wenig gemeinsam. Und doch verdeutlichen die komplexe Erweiterung des Landesmuseums von Christ & Gantenbein mit den Ingenieuren Schnetzer Puskas und das im Vergleich dazu eher übersicht­liche Schalenbauwerk von Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd, wie vielseitig sich der Werkstoff Beton einsetzen lässt.

Der Neubau beim Landesmuseum wurde im Juli 2016 eröffnet. Die Ansprüche an den verwende­ten Beton waren hoch: Gut einbaufähig zur Erstellung der fugenlosen Fassade, das räumliche Tragwerk umschliessend und farblich abgestimmt auf den Altbau sollte er sein. Die Idee, Tuffstein als Farbträger beizumengen, war neu. Zahlreiche Tests gingen der erfolgreichen Um­setzung voraus. Die konstruk­tiven Merk­male erforderten letztlich, den Beton nach Eigenschaften auszuschreiben – inklusive der persön­lichen Haftung der Ingenieure im Schadenfall.

Bauschäden sind bei Heinz Islers Betondächern an der A1 nicht das Thema. Für die fast 50 Jahre alten, dünn gewölbten Schalen testete der Burg­dorfer Ingenieur in Versuchen die optimale ­Zusammensetzung des Werkstoffs. Er stimmte dessen Eigenschaften auf die Bauwerksform ab und machte ihn im grossen Gefälle einbaufähig. Wie hochwertig dies geschah, verdeutlichte die Untersuchung im vergangenen Jahr: Nur wenige Schäden wurden inspiziert, entsprechend sanft verlief die Instandsetzung.

Dietlind Jacobs

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Wege, Einblicke, Ausblicke

11 PANORAMA
Betonspazialitäten | Das Wunder von Biel

14 VITRINE
Beton und Oberflächen

16 SIA
Austausch mit der Sektion Tessin | Dialog auf Augenhöhe | Pro Energiestrategie 2050 | Ursachen der Mehrvergütung | Zukunft der Ingenieure in Europa

21 VERANSTALTUNGEN

THEMA
24 BETON, EXPONIERT

24 ZEITLOSER SCHWUNG
Tina Cieslik, Dietlind Jacobs
Selbst nach fast 50 Jahren braucht es nur wenige ­Instandsetzungsarbeiten: Technisch wie gestalterisch setzen Heinz Islers Schalen­dächer an der Raststätte Deitingen-Süd Massstäbe – bis heute.

28 GEFALTETER MONOLITZ
Clementine Hegner-van Rooden
Neuartige Wagnisse bei ­Tragwerk und Betonmischung machen den Anbau des Landesmuseums Zürich zu einem ingenieurtechnischen Highlight.

AUSKLANG
37 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Zeitloser Schwung

Kurz vor dem 50-jährigen Baujubiläum erstrahlen die Betonschalen des Schalenpioniers Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd in neuem Glanz. Konstruktion und Betonqualität überzeugen bis heute.

Eine Pause einzulegen an der Raststätte Deitingen-Süd an der A1 Bern–Zürich ist für bautechnisch Interessierte ­jeweils ein besonderes Erlebnis. Ein Blick Richtung Himmel führt zu einer aussergewöhnlichen Dachkonstruk­tion, zwei dünnwandig gewölbten Dreiecksschalen. Sie sind mit der mittig positionierten Raststätte verbunden und überspannen von dort aus die Fahrspuren. Die Schalen stammen aus den 1960er-Jahren, einer Zeit wachsender Mobilität. Mit dem Bau der Autobahn ­entstand in Deitingen 1968 die Silberkugel-Raststätte von Mövenpick sowie die Tankstelle von BP, der Eigentümerin der gesamten Parzelle.

Das Unternehmen zielte auf den Wiedererkennungswert seiner Raststätten und beauftragte daher den Burg­dorfer Bauingenieur Heinz Isler (»Schweizer Schalenpionier», Kasten unten) damit, ein Dach für die Tankstelle zu entwerfen. Das Ergebnis: zwei geschwungene Dreiecksschalen, die leichtfüssig die Zapfsäulen überspannten (vgl. Abb.). Die ausdrucksstarke Form sorgte für Aufsehen, und auch die für die damalige Zeit neuartige gewölbte Tragkonstruktion war besonders: Sie hatte nur drei Auflagerpunkte, besass aber eine grosse Spannweite und freie Ränder.

Möglich wurde dies durch Islers intensive Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Beton. Er optimierte ihn so weit, dass der Einbau im grossen Gefälle der Wölbung möglich war. Dafür wählte der Ingenieur eine stetige Sieblinie mit hohem Feinkornanteil und einer Korngrösse bis 15 mm, maximal 325 kg Zement/m3 und einen möglichst niedrigen Wasserzementfaktor. Mit dieser Zusammensetzung erzielte er einen kompakten Beton, der sich auf den zwei Lagen engmaschiger Bewehrungseisen gut einbauen liess und nicht abrutschte.

Beeindruckend ist das vom Modell in die Realität umgesetzte schalenförmige Dach noch heute. Trotz der geringen Schalendicke von 9 cm ist das Dach 11.5 m hoch und hat eine Spannweite von 31 m. Auftretende Normalkräfte werden über äussere Fundamente ab­getragen. Zudem sind die zwei gegenüberliegenden ­Fundamente für die Aufnahmen von Horizontalschub mit einem unterirdischen Zugseil verbunden. Die zwei weiteren Auflagerpunkte sind auf dem Gebäude der Raststätte. Die natürliche Dachform ist statisch optimal und erfordert keine Versteifung der Randbereiche.

Veränderte Nutzungsbedürfnisse führten im Jahr 1999 zur Modernisierung der Raststätte. Die Zapfsäulen positionierte man neu vor der Raststätte – so liessen sich ihre Anzahl erhöhen und der Betankungsplatz optimieren. Die Bauherrschaft plante zunächst einen Abriss der Schalen. Als Folge des öffentlichen Protests wurde deren markantes Erscheinungsbild in Zusammenarbeit mit Heinz Isler dann doch gewahrt, wenngleich ihre Funktion durch die Änderung der räumlichen Disposition verloren ging. Im Jahr 2000 wurde das Bauwerk als Vertreter Schweizer Ingenieurbaukunst dennoch unter kantonalem Denkmalschutz gestellt.

Und heute?

Im Jahr 2014 plante die Eigentümerin BP Europe Umbauarbeiten an der Raststätte. In diesem Zusammenhang stellten sich die Fragen: Ist das Bauwerk noch erhaltenswert? Lohnen sich Investitionen für eine In­standsetzung?

Daraufhin wurden der Bauwerkszustand und die Tragsicherheit von Experten umfassend untersucht. Die Resultate unterstrichen Heinz Islers qualitativ hochwertige Bauweise des Betons. Denn es wurden nur wenige Schäden am Beton und an der Stahlbewehrung in Form von einzelnen feinen Rissen und wenigen Abplatzungen festgestellt, die als statisch unbedenklich beurteilt wurden. Das Zugseil im Fundament gewährleistet nach wie vor eine ausreichende Tragsicherheit für die Betonschalen. Der ursprünglich weisse Farb­anstrich der Oberseite wies netzartige Haarrisse, einzelne Fehlstellen, Verfärbungen sowie Besiedelung durch Mikroorganismen auf. Eine Bewehrungs­korro­sion, verursacht durch eintretendes Wasser an der ­Oberfläche, konnte nicht nachgewiesen werden. Nach Auswertung der Untersuchungsergebnisse beurteilten die Experten den Bauwerkszustand als gut.

Nun sollte der Bau auch der zukünftigen Nutzung gerecht werden. Um dies zu gewährleisten, wurden mit Unterstützung von Prof. Eugen Brühwiler als Gutachter und der Firma Flury Bauingenieure aus Suhr Massnahmen zur Instandsetzung der wenigen Schäden definiert. Die Verfahrenswahl stand unter der Prämisse, den Zustand des Bauwerks im Sinn von Heinz Isler zu verbessern, den Bau aber materialtechnisch nicht abzuändern. Daher fiel unter anderem die Entscheidung, die Oberseite der Schalen lediglich mit einem Farbanstrich als Schutz zu verbessern. Eine abdich­tende, kunststoffbasierte Beschichtung war nicht nötig. Die wenigen Risse und Korrosionsschäden wurden instandgesetzt.

Arbeiten mit System

Die Unterhaltsarbeiten starteten im September 2016 und dauerten zwei Monate. Man montierte ein frei ­stehendes Flächengerüst, das die Anforderungen an die Arbeitssicherheit, die Aufrechterhaltung des 24-Stunden-Betriebs und den Umweltschutz berücksichtigte. Unterhalb der Schalen war das Gerüst tunnelförmig ausgebildet, sodass der Verkehr die Baustelle praktisch unbehindert passieren konnte. Während der gesamten Ausführungsarbeiten lief der Betrieb der Tankstelle und des Restaurants weiter. Die Abstellpunkte des Gerüsts wurden mittels Anprallschutz vor dem motorisierten Verkehr geschützt.

Zunächst reinigte man die Unterseiten der Schalen mit 100 bar Wasserdruck. Anschliessend wurde die bestehende Farbbeschichtung der Oberseite mit 500 bar ­Wasserdruck abgetragen. Diese Behandlung sollte möglichst schonend erfolgen, der Abtrag der Zementhaut sollte sich auf der Oberfläche begrenzen. In Vorversuchen am Objekt legte man den notwendigen respektive annehmbaren Wasserdruck von 500 bar fest; die Kontrolle erfolgte visuell. Auch hier waren die Anforderungen im Hinblick auf den Umweltschutz zu erfüllen: Das alkalische Abwasser der Reinigungsarbeiten wurde mit auf dem Gerüst ausgelegten Folien gesammelt und über Rohre in ein Absetzbecken geleitet. Dort konnte es neutralisiert und anschliessend vorgereinigt in die öffentliche Kanalisation geführt werden. In einem dritten Schritt fanden Profilierungs- und Abdichtungsarbeiten statt. Die wenigen lokalen Unebenheiten auf der Oberseite wurden profiliert. Zur Abdichtung von zwei wasserführenden Rissen verwendete man einen Flüssigkunststoff und polyesterverstärktes Gewebe.

Nach Abschluss dieser Vorarbeiten brachte der Unternehmer an den Stirnseiten eine Tiefenhydrophobierung zum Schutz vor eindringendem Wasser auf. Die Oberseite wurde mit einem konventionellen Zweischichtensystem versehen: zuerst eine Grundierung als Haftungsschicht und darauf zweifach der ­weis­se Anstrich. Die Schalen wurden im Originalfarbton RAL 9110 gestrichen. Heute wirkt das Weiss recht dominant, aber bereits in etwa einem Jahr, dürfte eine Patina aus Autobahnstaub die Oberfläche weniger grell erscheinen lassen. Zum Abschluss wurde auf den Schalen eine ­feuerverzinkte Schneefangvorrichtung mit Eisstopper installiert, da der Betankungsplatz wegen Dachlawinen geschlossen werden musste. Obwohl das die Ästhetik der Schalen beeinträchtigt, folgte man dem Wunsch der Bauherrschaft und den Anforderungen an die ­Betriebssicherheit der Raststätte. Weiter wurde der Kamin beim Shopeingang um 3.5 m erhöht, um zukünftige Verschmutzungen der Schalen zu vermeiden.

Schalen im Wandel

Nach beinahe 50 Jahren Nutzungsdauer sprechen die Ergebnisse der Untersuchungen für Heinz Islers aus­gezeichnete Ingenieurarbeit. Auch bestätigt sich wieder einmal der Grundsatz, dass gut konzipierte Tragwerke dauerhafter sind. Mit den aktuell ausgeführten Unterhaltsarbeiten können die Schalen weitere Jahrzehnte als Landmarke an der Autobahn dienen – auch wenn sie in Zeiten veränderter Nutzungsbedürfnisse heute eine andere Bedeutung haben als früher.

TEC21, Fr., 2017.03.17

17. März 2017 Tina Cieslik, Dietlind Jacobs

Gefalteter Monolith

Der Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich ist gewagt und im ingenieurspezifischen Sinn alles andere als sperrig. Schnetzer Puskas Ingenieure liessen sich auf die architektonische Intention ein und schufen ein räumliches Tragwerk für den expressiven Baukörper. Möglich machte dies der Werkstoff Beton.

Die Umbauarbeiten am Landesmuseum Zürich auf der Halbinsel zwischen Limmat und Sihl hinter dem Hauptbahnhof haben einen Meilenstein erreicht: Nach 15 Jahren Ausschreibung, Wettbewerb[1], Planung, Vor- und Bauprojekt sowie Ausführung ist der fünfgeschossige Erweiterungsbau von Christ & Gantenbein Architekten seit Juli 2016 eröffnet. Die in Grund- und Aufriss mehrfach geknickte Erweiterung dockt an den Bestand von 1898 an und schliesst den U-förmigen Haupttrakt des Altbaus von Gustav Gull. Sie behebt den Platzmangel des Museums – Ausstellungsflächen, eine Bibliothek und ein Auditorium für öffentliche Veranstaltungen finden darin Platz – und ermöglicht erstmals einen Rundlauf durch alle Ausstellungsräume.

Fugenloses Fassadenkonzept

Während den Altbau eine historistische, feingliedrige Fassade auszeichnet, prägen grossflächige, wuchtig anmutende und schlichte Sichtbetonfassaden den Neubau. Diese sind weitgehend geschlossen, denn die Ausstellungsräume gegenwärtiger Museen benötigen kaum natürliches Licht. Einzig Bandfenster in der nordöstlichen Gebäudeecke und 69 Rundfenster, die einzeln und gruppiert in allen Ansichten angeordnet sind, durchbrechen die Fassade. Die Bandfenster zeigen, wo die Bibliothek platziert ist. Als Einschnitte in den geschlossenen Kubus sind sie vorab als Aussparungen in die Schalung eingelegt worden. Die Rundfenster lassen erahnen, wo sich der Neubau im Innern erschliesst. Sie wurden nachträglich als Kernbohrungen in die Fassade gebohrt und lassen punktuell die Sicht von innen nach aussen – weniger von aussen nach innen – zu.

Die Fassaden sind monolithisch und damit fugenlos erstellt. Um eine solche Wandfläche mit einer abgewickelten Länge von 103 m (Seite Landesmuseum) bzw. 162 m (Seite Park) erstellen zu können, ist ein ausgeklügeltes konstruktives Prinzip erforderlich. Normalerweise nehmen in regelmässigen Abständen angeordnete Dilatationsfugen die Verformungen der Wände auf. Die Bewegungen werden auf diese Weise klein gehalten. Allerdings bedingen direkt bewitterte Fugen einen hohen Unterhaltsaufwand und sind ein ästhetischer ­Störfaktor. Deswegen ist die selbsttragende, 21 cm dicke Aussenhaut der zweischaligen Aussenwand durch die 33 cm dicke Isolationsschicht hindurch an die tragende 25–40 cm starke Innenwand rückverankert.

Die Verformungen, die aus relativ hohen Temperaturschwankungen von –10 bis 30 °C entstehen, werden mit geschaffe­nen Bewegungsfreiräumen aufgefangen. Die Aussenhaut verschiebt sich horizontal auf Gleitlagern. Nur lokal sind Fixpunkte platziert (vgl. Abb.). Die gegen innen oder gegen aussen springenden Fassadenecken sind nicht verankert. Hier «pumpt» die Aussenhaut, da sie sich beidseitig der Ecken infolge Temperaturschwankungen, Schwinden und Kriechen ausdehnt und zusammenzieht. Um diese Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, ist die Isolationsschicht an den Gebäudeecken 6 cm dünner ausgeführt. Im Freiraum zwischen Betonwand und Dämmung bewegt sich die Fassade.

Spezieller Beton – eigene Verantwortung

Aus dem Fassadenkonzept erschliesst sich die Betonrezeptur, denn die entstehenden Zwängungen und Verformungen bedingen bestimmte Betoneigenschaften, wie beispielsweise einen Wasser/Zement-Wert von < 0.45 bzw. ein Schwindmass von < 0.4 0/00. Daneben musste mit der Betonrezeptur auch eine konkrete Farbe erreicht werden, denn so sehr sich die historische Bruchsteinfassade und die neue Fassade strukturell voneinander unterscheiden, verbindet vor allem ihre Farbgebung und eine gewisse Rauheit in der Oberfläche die beiden Gebäudeteile miteinander. Der Tuffstein des historischen Bruchsteinmauerwerks findet sich deshalb in der neuen Fassade wieder. Er wurde dem Beton zusammen mit Kalk beigemischt, um ihm die Farbe der historischen Bausubstanz zu geben.

Allerdings war die Beimengung nicht ohne Weiteres möglich. Aufgrund der vulkanischen Gaseinschlüsse ist Tuff häufig porös und saugt Wasser. «Es ist daher schwierig», so Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas Ingenieure aus Basel, «mit einem solchen Zuschlag Beton herzustellen, denn er hat für die Betonher­stellung ungeeignete Eigenschaften.» Tuff entzieht dem Beton vor und während dem Abbinden Wasser. Dadurch ist die Betonmischung schlecht verarbeitbar, und der Wasser/Zement-Wert und damit das Schwindmass werden unkontrollierbar. Ausserdem schleifen sich die weichen Gesteinskörner beim Mischen ab und verändern ihre Korngrösse – ein gut abgestuftes Korngerüst für ein kompaktes Volumen wird unmöglich.

Für eine monolithische Fassadenkonstruktion wie die am Erweiterungsbau des Landesmuseums sind diese Aspek­te aber ­zentral. Erst ein eineinhalb Jahre andauernder Entwick­lungs­prozess inklusive Prüfungen und Fassadenmuster auf der Baustelle ergab die richtige Rezep­tur (Tuff­stein-Beton C 25/30 nach Zusammen­setzung). Der Clou war vor allem, den Tuff vorab zu nässen und ihn wassergesättigt in die Betonmischung einzubringen. Für diesen Beton nach Zusammensetzung trugen die Ingenieure die volle Verantwortung, denn die Ausschreibung konnte nicht wie gewohnt mit Expositionsklassen, sondern musste wie früher nach Rezeptur erfolgen. Dank seiner jahrelangen Erfahrung in der Baupraxis und in der Beton-Werkstoffforschung an der ETH Zürich konnte Heinrich Schnetzer diese Verantwortung übernehmen.

Die Betonrezeptur musste noch vor der Ausschreibung – bevor der ausführende Baumeister bestimmt war – mit einem Betonlieferanten definiert werden. Dass dieser den Auftrag nicht erhalten könnte, war ein reales Risiko, das in diesem Fall tatsächlich eintraf. Mit dem neuen Lieferanten wurde der Wasser/Zement-­Wert bei jeder Lieferung überprüft. Für die richtige Konsistenz zum Einbringen und Vibrieren sorgten wie üblich und je nach Bedarf Verzögerer, Stabilisatoren, Luftporenbildner und Verflüssiger.

Grundwasser, Schotter und Moräne

Besondere Anforderungen an den Beton waren im Untergeschoss erforderlich, da es sich grösstenteils im Grundwasser befindet (die Gründungssohle liegt etwa 2.5 m im Grundwasser) und als weisse Wanne ausgeführt wurde. Geplant und umgesetzt wurde nur ein Untergeschoss, da die Baukosten so vor allem bezüglich Baugrubensicherung und Auftriebssicherheit während der Bauphase reduziert werden konnten. Der Baugrubenabschluss bildete eine rückverankerte Spundwand mit einer Länge von etwa 16 bis 20 m. Sie durchstösst im oberflächennahen Bereich den sehr durchlässigen Schotter und darunter, in einer Tiefe von etwa 12 bis 16 m, die mässig durchlässigen Seeablagerungen, die wiederum auf den Moränen der letzten Eiszeit liegen. Die Spundwand wurde in die Seeablagerung und teilweise in die Moräne eingebunden.

Das funktionale statische System erkennen

Der architektonische Ausdruck und das Tragwerk der Erweiterung bedingen sich grundsätzlich gegen­seitig: Der räumliche Körper setzt somit auch ein ­räumliches Tragwerk voraus. Schnetzer Puskas Ingenieure stiessen erst während des Vorprojekts zum ­Planungsteam hinzu. Sie verstanden es, für den mäand­rierenden Bau das zweckmässige und angemessene statische System festzulegen. Gerade in einem solchen Fall ist die Analyse, das heisst das gedankliche – nicht digitale – Zerlegen des Tragwerks in seine wesentlichen Komponenten unter Berücksichtigung des gegenseitigen Zusammenwirkens, unentbehrlich.

Heinrich Schnetzer betont denn auch: «Das richtige statische System für einen Bau zu finden setzt voraus, dass der Ingenieur ganzheitlich Bescheid weiss über das räumliche Zu­sammenwirken von einzelnen Tragelementen und über den tragwerkspezifischen Kraftfluss. Nur mithilfe ­dieses analytischen Vorgangs lassen sich die wesent­lichen bauwerksspezifischen Eigenschaften der Tragwerkselemente erarbeiten und für die Konzeption des Tragwerks optimal verwenden.» Nach der Analyse kann das Bauwerk im Sinn einer Synthese als Ganzes betrachtet und auch mit den digitalen Hilfsmitteln ­berechnet werden.

Die Leistungsfähigkeit einer einfachen, aber das Wesentliche erfassenden Tragwerksanalyse lässt sich am Beispiel der Verbindung vom bestehenden Hof in den Park aufschlussreich zeigen. Der brückenartig ausgebildete Neubaukörper mit der torförmigen Öffnung ermöglicht diese Verbindung und ist ein zentrales Element des architektonischen Entwurfs. Seine Tragwirkung zu definieren und seine Tragelemente zu dimensionieren waren wesentliche Ingenieuraufgaben.

Die Wirkungsweise der 46 m weit spannenden Brückenkonstruktion lässt sich auf zwei substanzielle Elemente abstrahieren: eine gefaltete Platte als stützen­der Sockel – der eigentliche «Torbogen» – und die Wandscheiben (vgl. Abb.). Die beiden 45 und 27 Grad geneigten Druckplatten des «Torbogens» sind an ihren Füssen über die Decke des Untergeschosses miteinander verbunden. Diese Untergeschossdecke als Bodenplatte in der Verbindung zum Park ist vorgespannt und funktioniert statisch als Zugband. Die Decke ist somit Raum­abschluss und Tragelement zugleich.

Die Druckplatten bilden zusammen mit dem Zugband ein Dreieck, das ein Kräftegleichgewicht herstellt und die Fassadenscheiben stützt. Gleichzeitig steifen die hohen Scheiben die Druckplatten aus, sodass diese relativ dünn ausgebildet werden können. Die Firstlinie bzw. der Stützpunkt der beiden Druckplatten reduziert die Spannweiten der Fassadenscheiben um etwa die Hälfte und damit die Schnittkräfte auf ein Viertel. Dadurch können auch die Wandscheiben relativ schlank ausgebildet und trotz scheibenartiger Träger teilweise aufgelöst bzw. perforiert werden.

Anschluss ohne Kraftübertragung

Nicht ganz offensichtlich ist auch die Tragwirkung des Erweiterungsbaus an seinen Enden bzw. seinen Anschlussstellen an die bestehende historische Substanz. An dieser Stelle treffen markant unterschiedliche Gebäudeteile aufeinander – hier die einheitliche und grossflächige neue Wand, dort die feingliedrige historische Altbaufassade.

Beidseitig dockt die Erweiterung zwar wie eine Landungsbrücke am West- und Ostflügel des bestehenden Baus an. Doch weil die bestehende Bausubstanz und ihre Fundation nicht für zusätzliche Lasten ausgelegt sind und um aufwendige Verstärkungsmassnahmen im Altbau zu verhindern, überträgt der Neubau keine Lasten: Der flach mit partiellen Vertiefungen fundierte Massivbau, der durch die Betonscheiben der Aussen-, Treppen- und Liftwände horizontal ausgesteift ist, steht grundsätzlich nur auf zwei Füssen und kragt gegen den Altbau beidseitig aus – am einen Ende mit einer Auskragung, die einen zweiten Durchgang kreiert, am anderen Ende – weil so kurz – nur im statischen System sichtbar.

Aus ingenieurkon­struktiver Sicht schmiegt sich der Neubau also behutsam an den Bestand. Und ebenso bedacht werden die Kräfte aus der Auskragung in die dahinterliegenden Tragelemente weitergeleitet: Die Gebäudeform des Neubaus mäandriert. Einzelne Gebäudevolumen reihen sich abgewinkelt aneinander. Auch die auskragenden Enden sind über die Fassadenscheiben abgewinkelt am folgenden Gebäudeteil eingespannt. Der Knick verursacht im Zug- und im Druckbereich der vertikalen Scheiben Ablenkkräfte. Es ist nicht sinnvoll, diese Kräfte über Biegung abzutragen. Effizienter ist die Rückverankerung des Knicks bzw. die Kraftumlenkung mittels horizontaler Scheiben. Dazu dient im Zugbereich die Dachscheibe und im Druckbereich eine Deckenscheibe. Die horizontalen Kräfte bzw. das Kräftepaar in den Scheiben ist zugleich die Torsionseinspannung des abgeknickten und auskragenden Gebäudeteils. Es wird über Wandscheiben oder Kerne gekoppelt und schliesst so den Kräftefluss zu einem Gleichgewicht.

Intention verwirklichen

Mit diesem gekonnten Umgang der Kräfte zeigt sich die Effizienz des Tragwerks, das zugleich Teil der Architektur ist. Die Ingenieure bedienen sich der architek­tonisch ohnehin vorhandenen Elemente und dimen­sionieren sie statisch effizient. Ob Flaggschiff oder Felsenriff, reizvoll oder brachial – das Landesmuseum ist aus ingenieurspezifischer Sicht eine besondere, behutsame und vor allem auch kreative Ingenieurarbeit. Aus ihr entwickelte sich eine Beton-Tragkonstruktion, die zusammen mit der Betonrezeptur die architektonische Intention verwirklicht.


Anmerkung:
[01] TEC21 33-34/2002, S. 44–45.

Weiterführende Literatur (Auswahl):
«Einweihung des Schweiz. Landesmuseums. Rede des Herrn Stadtpräsidenten Pestalozzi», in: Schweizerische Bauzeitung, 2. Juli 1898, S. 1–2.
«Der Entwurf von Architekt Gustav Gull für ein Schwei­zerisches Landesmuseum in Zürich», in: Schweizerische Bauzeitung, 6. Dezember 1890, S. 142–144.
Sanierung Altbau: TEC21-Dossier «Sanierung Landesmuseum», Dezember 2008.
Roman Hollenstein, «Ein graues Felsenriff. Kritische Anmerkungen zur Erweiterung des Landes­museums», in: Neue Zürcher Zeitung, 24. 9. 2016.

TEC21, Fr., 2017.03.17

17. März 2017 Clementine Hegner-van Rooden



verknüpfte Bauwerke
Schweizerisches Landesmuseum - Erweiterung

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