Editorial

Reinheit, Erhabenheit, Unsterblichkeit und Sachlichkeit, das sind nur einige Attribute, die wir im westlichen Kulturkreis mit Weiß verbinden. Nach unserem Heft »Schwarz« (db 11/2013) widmen wir der zweiten sogenannten unbunten Farbe die aktuelle Ausgabe – und, wer weiß, vielleicht komplettieren wir die kleine Reihe eines Tages durch die dritte im Bunde: durch Grau.
Doch auch Weiß ist nicht gleich Weiß, was es beim Gestalten natürlich zu berücksichtigen gilt. Wir haben für Sie Projekte ausgewählt, bei denen unterschiedliche (weiße) Materialien außen und innen ihre Wirkung entfalten und weisen auf Möglichkeiten und Herausforderungen beim Umgang mit dieser hellsten aller Farben hin. | Ulrike Kunkel

Viele Farben weiß

(SUBTITLE) Die Elbphilharmonie in Hamburg

Viel, fast zu viel ist bereits über die Elbphilharmonie geschrieben worden. Nun, da der immense Strom von Metaphern, Hymnen und Superlative langsam abebbt, ist die Zeit gekommen, sich eingehender und differenzierter mit diesem »Jahrhundertbauwerk« zu beschäftigen. Natürlich: Dieser für Hamburg so bedeutende Bau lädt mit seinem Reichtum an Formen und Materialien, seinen Rauminszenierungen und seiner Melange aus Alt und Neu zu Interpretationen und Assoziationen ein wie kaum ein anderes Gebäude unserer Zeit. Doch spannender als die Klärung der Frage, ob die Elbphilharmonie nun ein Wellenmeer, ein Segelschiff oder ein Eisberg sei, ist es, zu ergründen, mit welchen Mitteln die ­Architekten die besondere Wirkung des Bauwerks erzeugten.

Die enorme Kraft und suggestive Wirkung, die die Elbphilharmonie erzeugt, steht in einem interessanten Kontrast zu einem sich stetig verändernden Äußeren: Je nach Standpunkt, Tageszeit und Wetter erscheint der gläserne Körper über den alten Backsteinwänden des einstigen Kaispeichers A weiß, grau oder blau und schließlich, wenn die Abendsonne ihn bescheint, goldglänzend. Mal wirken die enormen Glaswände stumpf und matt, dann wieder spiegelnd und glitzernd. Und schließlich sind die großen Flächen auch noch differenziert in hell erscheinende Flächen, in denen, wie Fettaugen in einer Brühe, rundliche dunkle Flecken schwimmen. Diese Wirkung ist der speziellen Herstellung der Scheiben zu verdanken: Jedes der insgesamt 1 089 einschaligen, jeweils fünf Zentimeter dicken Fassadenelemente besitzt eine individuelle Bedruckung aus grauen Punkten für den Sonnenschutz und silbernen Chrompunkten für einen Spiegeleffekt an der Außenseite. Und schließlich sind da noch die Wölbungen der Gläser. Für seitlich angebrachte Lüftungsöffnungen sowie für Balkonbrüstungen stülpen sich zahlreiche Gläser nach außen wie die Kiemen eines Fischs. Diese gebogenen Bereiche reflektieren den Himmel und setzen so weiß strahlende Akzente.

Jeder Besucher der Elbphilharmonie, ob Konzertbesucher, Tourist oder ­Hotelgast, fährt auf einer 82 m langen Rolltreppe zunächst auf eine kleine Zwischenebene und von dort mit einer weiteren, kürzeren Rolltreppe schließlich auf die Plaza, der ehemaligen Dachebene des Speichers, die heute als Aussichtsplattform und Verteiler in die einzelnen Gebäudebereiche dient. Die rund zweieinhalb Minuten lange Fahrt ist ein Ereignis: Die Rolltreppe steigt nicht gleichmäßig an, sondern beschreibt einen Bogen, dessen Neigungsgrad von 26,5 ° an der Basis zu 8 ° am Ende abnimmt. Durch diesen Kunstgriff wird die Spannung gesteigert, denn der Besucher kann am Anfang der Fahrt noch nicht sehen, wohin ihn die Rolltreppe bringt. Der »Tube« genannte Tunnel ist matt weiß verputzt. In den Putz sind 8 000 runde glänzende, weißliche, zart irisierende Glasfliesen eingelassen. Die Verteilung dieser »Pailletten« erscheint zunächst unregelmäßig, dann doch strukturiert, wie Noten auf einem Blatt Papier. Die Atmosphäre in diesem Raum ist so eigen wie einzigartig. Die indirekte Beleuchtung von unten taucht alles in ein mystisches, diffuses Licht. Es ist ein seltsames Bild, wie das aufwendig in edle Abendgarderobe gekleidete Publikum in diesem kargen, nüchternen, hellen Raum emporfährt – so surreal wie der Anblick von Astronaut Bowman im weißen Zimmer am Ende von Kubricks »2001«.

Dieser Auftakt ist ein Zeichen. Die Elbphilharmonie ist kein repräsentativer Musentempel für die bürgerliche Elite, sondern ein Haus für Jedermann, gebaut, um Musik zu hören, zu erleben, zu verstehen. Die enormen Raumskulpturen im Innern, schon zu erahnen auf der Plaza, wirklich zu erleben aber erst in den vielen Aufgängen, Foyers und natürlich im Großen Saal selbst, zeugen von dem Willen, die Musik zu ihrem Recht kommen zu lassen – losgelöst von Konvention, Repräsentation, Elitarismus. Hier gibt es keine samtroten Vorhänge, keine holzvertäfelten Wände (außer im Kleinen Saal, wo das Eichenholz jedoch entgegen allen Traditionen für die Akustik lebhaft auf und ab schwingt) und keine goldenen Türknaufe. Der wunderbar glatte weiße Putz zeigt die mannigfaltig geknickten und gerundeten Wände und Decken als pure Formen, eine wunderbare Reduktion von Architektur auf Körper im Spiel von Licht und Schatten. Jedes Fleckchen Farbe, jedes Stückchen Verkleidung wäre hier fehl am Platze. Entsprechend zurückgenommen ist auch das Mobiliar der Foyers, aber auch in den dem Publikum verborgenen Aufenthaltsräumen für Dirigenten und Musiker: Die vom jungen Hamburger Büro Besau Marguerre zusammen mit Architekt Daniel Schöning entworfenen Stehtische und Sitzbänke sind wundervoll zarte, minimalistische Objekte mit leichten Anleihen ans Art Déco und Bauhaus, ebenfalls in Weiß gehalten. Die Designer sprechen vom Weiß nicht als Farbe, sondern davon, die Möbel »entfärbt« zu haben für einen gleichsam umgekehrten »White Cube«, in dem sich die Möbel zugunsten der Musik und der Architektur zurücknehmen. Das gelingt. Die Möbel sind präsent und ordnen sich doch jederzeit dem Raum unter. Dabei ist weiß nicht gleich weiß: Es gibt zahlreiche Nuancen von reinem Weiß bis zu Beigetönen, so wie die Stoffbezüge von grob bis fein reichen. Wie die Architekten Herzog & de Meuron mit ihren Räumen, wollen die Designer mit ihren Gebrauchsobjekten den Seh- und Tastsinn stimulieren und die Wahrnehmung schärfen – als Einstimmung auf das große akustische Erlebnis in den Konzertsälen.

Der Große Saal atmet diesen Geist: Trotz seiner enormen Höhe und der kühn geschwungenen Formen spielt er sich nirgendwo in den Vordergrund, sondern bleibt immer Diener seines Herrn: der Musik. Die berühmte weiße Haut ist dafür ein Symbol: Wände und Brüstungen sind hier weit mehr als Raumbegrenzungen – sie werden zu Trägern, ja, Erzeugern des Klangs. Die 10 000 weißen, massiven, immer unterschiedlich gefrästen Gipsfaserplatten zeugen einerseits von Individualität und Einzigartigkeit und ordnen sich doch einem großen Ganzen unter – so wie die Waben in einem Bienenstock. Auch im Saal wird auf markante Farben verzichtet: Neben dem Braun der Eichenböden und dem Grau der Sitzbezüge gibt es nur noch abgetöntes Weiß. Die zurückhaltende Farbigkeit in Verbindung mit dem warmen, sorgsam gesetzten Licht (Konzept: Ulrike Brandi) geben dem dynamischen, spannungsreichen Saal Ruhe und Konzentration, der Fokus liegt auf der Mitte mit dem Orchesterpodium und damit letztlich auf der Musik.

Wer das Glück hat, eine der nicht öffentlichen Dachterrassen zu betreten, wird schließlich auch noch die fünfte Fassade aus der Nähe betrachten können. Das Dach besteht aus insgesamt acht ineinander geschnittenen Beton-Kugelteilflächen, die von 1 000 unterschiedlich gekrümmten stählernen Dachträgern gehalten werden. Sie sind bekleidet mit über 8 000 eloxierten, weiß pulverbeschichteten, gelochten Aluminiumtellern, die das Paillettenmotiv der Tube fortführen – hier allerdings eng und gleichmäßig gesetzt wie auf einem Kleid. Wie die Glasfliesen besitzen auch diese Elemente keine Funktion außer der, dem Dach ein besonderes Gepräge zu verleihen. Das ist wichtig, denn Teile der Dachfläche sind infolge der starken Krümmungen auch von der Straßenebene aus zu sehen. Dieser Gebäudeabschluss zeigt eindrucksvoll eine weitere Nuance der Farbe: Dieses Weiß ist nicht mehr die neutrale, nüchterne Oberfläche von Körpern, sondern in seiner gleißenden Helligkeit ganz eigenständig, entmaterialisiert, dem Himmel auf eine fast metaphysische Weise nahe. So wie Musik in ihrer berückendsten Form.

db, Mi., 2017.03.01

01. März 2017 Claas Gefroi



verknüpfte Bauwerke
Elbphilharmonie Hamburg

Die Kultur des zweiten Blicks

(SUBTITLE) Wohnhaus »Haus D« in Mering bei Augsburg

Ideale Voraussetzungen: Die jungen Bauherren verfügten über ein brachliegendes Grundstück, hatten klare Wohnvorstellungen, wenig Zeitdruck und waren offen für Neues. Im engen Austausch mit dem nach einjähriger Eigenrecherche ausgewählten Büro Eberle Architekten entstand ein Wohnhaus, das sich – nicht nur wegen seines weißen Kammputzes – auf eine angenehm bescheidene und bodenständige Art experimentierfreudig zeigt.

Als weißer, dreigeschossiger Würfel mit knapp 9 m Kantenlänge steht das letzten Sommer bezogene Wohnhaus inmitten eines suburbanen Umfelds aus drögen, zweigeschossigen Ein- und Mehrfamilienhäusern mit Satteldach. Dank des maßstäblichen Bauvolumens und der Lochfassade erscheint es zwar als selbstverständlicher Baustein im Ortsgefüge, wegen seiner Gebäudeform und der Lage an einer Straßenkreuzung erhält es aber zugleich wesentlich mehr Aufmerksamkeit als seine Nachbarn. Unterstrichen wird der besondere Charakter des Hauses auch durch die in zwei quadratischen Formaten unregelmäßig gesetzten Fenster, insbesondere aber durch die Kammputz-Fassade. Die erst beim Näherkommen allmählich erkennbare vertikale Rillenstruktur ist eine Reminiszenz an diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Form des Putzauftrags. Sie zeugt aber auch von einem Entwurf, der an vielen Stellen im und am Gebäude auf subtile Weise eine Kultur des zweiten Blicks pflegt.

Die Grundrissorganisation des Gebäudes ist leicht erklärt: Im EG befinden sich neben der Gästetoilette und einer Speisekammer eine offene Küche und ein Wohnzimmer. Das 1. OG bietet Platz für die beiden Kinder- und ein Fernsehzimmer, während das 2. OG mit Schlafzimmer, kleiner Bibliothek und Arbeitsplatz eher den Eltern vorbehalten bleibt. Abgesehen von dieser Verteilung der Räume auf drei Ebenen hatten die Bauherren kaum etwas vorab festgelegt, als sie auf Architektensuche gingen. Den dadurch entstandenen Freiraum nutzten Architekten und Bauherren, um sich während der Planungsphase immer wieder gegenseitig den Ball zuzuspielen. So entstand etwa aus der Idee eines »richtigen« Kellers, der sich gut zum Einlagern von Kartoffeln eignen sollte, der Vorschlag der Architekten, die Kellertreppe nicht im Haus, sondern in der direkt östlich anschließenden Garage zu platzieren. Die enge Verknüpfung von Keller und Garage ist in vielerlei Hinsicht sinnvoll: beide sind unbeheizt und ungedämmt und dienen als untergeordnete Nebenräume – der Keller mehr noch als die Garage, die den leidenschaftlichen Radfahrern auch als Werkstatt dient. Hinzu kommt, dass der im EG freigewordene Raum unter der Treppe zur wertvollen Abstellfläche wurde und außerdem die Möglichkeit für eine dem Wohnzimmer zugeordnete Wandsitznische eröffnete.

Massgefertigte handwerkliche Lösungen

Ebenso klar, sinnlich und zurückhaltend wie die Einrichtung der Familie ist auch der von den Architekten gesteckte gestalterische Rahmen: Aluminiumfenster, die durch rahmenlose Fensterflügel in der Außenansicht extrem schlank wirken, raumhohe Türen mit zweigeteilten Stahlzargen, die die Decken ungehindert von einem in den nächsten Raum übergehen lassen, sowie bündig in den Deckenputz eingelassene Vorhangschienen und Einbauleuchten. Letztere sind von den Architekten eigens entwickelt und so eingebaut, dass neben einer extrem schmalen Fuge zum Putz lediglich das weiße Abdeckglas des Leuchtmittels zu sehen ist – Abdeckringe, Rahmen und Ähnliches sucht man vergeblich, sodass die Leuchten eigentlich nur dann in Erscheinung treten, wenn sie eingeschaltet sind.

Von der Freude am handwerklich präzisen Denken und Machen zeugen auch die vor Ort mit Bretterschalung gegossenen Sichtbetontreppen, die im wohltuenden Kontrast zu den ansonsten vorherrschenden weißen, glatten Oberflächen stehen. Mit all ihren Lunkern, Verfärbungen und Holzmaserungen erscheint vor diesem Hintergrund v. a. die Faltwerk-Treppe ins 2. OG als minimalistisches Kunstwerk. Einen ähnlichen Eindruck hinterlassen die äußeren Betonfertigteil-Fensterbänke. Damit diese außenwandbündig ohne Tropfkanten an der Putzfassade anschließen können, verfügen sie über ein Innengefälle und einen mittigen Abfluss, durch den das Regenwasser in einen Entwässerungsspeier gelangt – Wasserschlieren in der Fassade werden auf diese Weise dauerhaft erfolgreich vermieden.

Experiment Kammputz

Handwerklich besonders anspruchsvoll und aufwendig war bei diesem Projekt sicherlich der an den Außenfassaden realisierte Kammputz. Ins Spiel gebracht wurde diese Lösung von den Bauherren, die sich eine schlichte, zeitlos elegante Fassade wünschten. Während die meisten historischen Vorbilder horizontale Kamm-Strukturen aufweisen, kamen bei diesem Wohnhaus vertikale Rillen zur Ausführung – insbesondere um den turmartigen Charakter des Gebäudes zu unterstreichen und um eventuelle Probleme mit stehendem Wasser ausschließen zu können.

Da diese Technik in den letzten Jahrzehnten etwas in Vergessenheit geraten ist, gestaltete sich das Verputzen als herausforderndes Experiment für alle Beteiligten. Das monolithische Ziegelmauerwerk von 42,5 cm Dicke versah die ausführende Firma zunächst mit einem Grundputz und einer vollflächigen Gewebespachtelung. Nach Fertigstellung und Austrocknung dieser Schicht wurde abschnittsweise ein faserarmierter Kalkzementputz aufgespritzt und mit einer eigens hergestellten, ca. 1 m breiten Metallschiene von unten nach oben mehrmals »durchkämmt«, bis die 1 x 1 cm breiten Rillen deutlich zu sehen waren. Zur Beseitigung von Unregelmäßigkeiten wurde der noch nasse Putz schließlich mit einem nassen Schwamm geglättet. Die Größe der Bearbeitungsfelder ergab sich aus der maximalen, gerade noch mit zwei Händen bedienbaren Breite des Kamms und der Lage der Gerüstebenen. Das Verputzen erfolgte bahnenweise von der Attika zum Boden und von der Mitte des Hauses hin zu den Ecken, und erst nachdem eine gesamte Bahn getrocknet war, kamen die benachbarten Bahnen an die Reihe. Fertiggestellte Rillen dienten dabei ebenso zur gleichmäßigen Führung des Kamms wie temporär im Mauerwerk befestigte Metallschienen. Besondere Sorgfalt war insbesondere an den Bereichen rund um die Fenster nötig, deren unregelmäßige Abstände mitunter den Einsatz schmalerer Schienen erforderten. Nach Ende der Putzarbeiten erhielt die Fassade einen wasserabweisenden, gebrochen weißen Anstrich aus Silikonharzfarbe.

Wenn heute sowohl die Arbeitsfelder- und -bahnen als auch unregelmäßige und gebrochene Putzrillen zu erkennen sind, so tut dies der eindrucksvollen Wirkung des Kammputzes keinen Abbruch. Im Gegenteil: beide zeugen von einem gesunden Verhältnis zwischen architektonischem Gestaltungswillen, verfügbarem Budget und handwerklich Möglichem. Insofern, und weil die Familie nun in einem Haus wohnt, das sie nach eigenen Angaben rundum glücklich macht, ist dieses Gebäude in jeder Hinsicht beispielhaft und gelungen.

db, Mi., 2017.03.01

01. März 2017 Roland Pawlitschko



verknüpfte Bauwerke
Haus D

Mittlerfunktion

(SUBTITLE) Tanz- und Musikschule in Versailles (F)

Mit crème-weißen Klinkern, eigenwilliger Dachform und wohlüberlegter Fassadenaufteilung bringt der Schul­erweiterungsbau eine seiner Bedeutung angemessene Note ins Spiel, ohne den Kontext zu überstrahlen. Die gleichermaßen edle wie auch vertraut wirkende Hülle verweist bereits auf die neutral gestalteten Innenräume, die störungsfreies Üben gewährleisten.

Der Name »Versailles« lässt durchaus ein wenig mehr Glamour erwarten. Doch starke 20 Minuten Fußmarsch vom Schloss entfernt, nachdem die zentrale Avenue de Paris einen leichten Knick gemacht hat, fallen die Palais schon deutlich niedriger aus, von Nachkriegsbauten durchsetzt nähert sich die Straßenansicht dem französischen Durchschnitt, zeigt sich die Haltestelle der Vorortbahn so ungepflegt wie überall in der Île-de-France.

Von der Avenue aus künden allenfalls einzelne Kinderzeichnungen in den Fenstern von der Grundschule Lully-Vauban und dem angeschlossenen Kindergarten. Das Ensemble liegt versteckt hinter austauschbaren Wohnbau­fassaden und bildet mit drei Höfen eine eigene abgeschlossene Welt für sich.

Wer die richtige Wagendurchfahrt zu wählen weiß, findet sich in einer disparaten Situation wieder: linkerhand schreit die gezackte, vertikale Loggienlandschaft einer postmodernen Wohnungsbaurückseite erfolgreich gegen das in den 60ern orthogonal gerasterte Schulgelände an. Weiter hinten kauern kleine, verbaute Einfamilienhäuschen, schämen sich ihrer eigenen Geringfügigkeit und hoffen, vom Fraß der Blockrandbebauung verschont zu bleiben.

In diesem Umfeld zu vermitteln, ist keine leichte Aufgabe und kann mit einem Zuviel an eigener Duftnote schnell scheitern. Den im Wettbewerb siegreichen Architekten Joly & Loiret gelingt es mit ihrem weiß verklinkerten Erweiterungsbau tatsächlich, die Balance zu halten zwischen Anpassung, Ausgleich und auch einer ausreichend auffälligen Erscheinung, die seiner Sondernutzung gerecht wird.

Zwischen Welten

Frankreich hat es gut, denn allerorten, auch tief in der Provinz, werden Kulturzentren ausgebaut oder gar neu eingerichtet. Der Gemeindeverband Communauté d’agglomération de Versailles Grand Parc leistet sich ein musisches Bildungsangebot nach Art einer Volkshochschule, das er über vier Standorte verteilt anbietet. Mit dem neuen Standbein auf dem Schulgelände schlägt die klamme Kommune mehrere Fliegen mit einer Klappe: Sie kann den Schülern direkt vor Ort erweiterten Musik- und auch Tanzunterricht anbieten, der Zugang zum Hauptgebäude ließ sich mitsamt der Pförtnerloge neu ordnen und die Schulmensa hat entscheidende Quadratmeter hinzugewonnen.

Die gesamte Gebäudeerweiterung ist durchweht vom Pragmatismus der ­Architekten, die ihre Architektur stark vom Nutzen her denken und in unzähligen Einzelentscheidungen zu vielen guten Lösungen kamen.

So ist die eigenwillige Kubatur weniger Ausdruck eines unabhängigen Formwillens als vielmehr dem Wunsch geschuldet, den beiden Tanzsälen im OG genügend Weite zu verleihen. Die exzentrische Anordnung der Oberlichter in den Pyramidenstümpfen, die das Dach bilden, geben den Tänzern ebenso Orientierung im Raum wie die unregelmäßigen Fensteröffnungen und die ­Lage der Spiegelwand. Der Kamineffekt unterstützt die (mechanische) Entlüftung.

Zudem ließ sich so ein Hochpunkt generieren, der dem Neubau – mangels Straßenraum, in den er hineinwirken könnte – gleich hinter der Durchfahrt einige, seinem öffentlichen Charakter angemessene, Dominanz verschafft.
Mit den Klinkerwänden gelingt die Anbindung an die mineralisch geprägte Umgebung. Zugleich schaffen Vertrautheit des Materials und menschlicher Maßstab einen ins Anheimelnde spielenden Eindruck, welcher in Holzfensterrahmen sogleich eine Erweiterung erfährt.

Die weißen Klinker ausfindig zu machen, bedurfte einiger Recherche. Freilich sind sie nicht blendend weiß, sondern ergeben in der Gesamtheit einen gebrochenen Crème-Ton, der sich wiederum fein in den Umgebungsfarbklang mit vielerlei Gelb- und Rottönen einfügt. Insofern muss man die Fotografen ­einerseits der kongenialen Wiedergabe der Entwurfsgedanken wegen loben, andererseits aber der Lüge zeihen, denn auch bei ­winterlich bedecktem Himmel erscheint keines der Gebäude ringsum als so weiß wie im Bild – bei willentlicher Betrachtung …, denn die Psyche deutet die Physik durchaus um: zum Eindruck »weiß«.

Raumgefühl

Zum Entwurfskonzept gehört der strenge Gegensatz zwischen den Nicht­farben außen und in den Übungsräumen gegenüber den warmen Tönen der Erschließungszone. Die beiden Flure und das verbindende Treppenhaus sind eine Offenbarung in Sachen Aufenthaltsqualität: Holzoberflächen, gewachste Lehmwände, akzentuierende Beleuchtung und eine Vielzahl von Sitzgelegenheiten, wahlweise im Fensterrahmen, entlang der Wände oder in der Arbeitsnische würden jedem Wellnesshotel Ehre machen.

Ganz erheblich zur Wirkung trägt die Deckengestaltung der Künstlerin Marie Maillard bei. Sie hat sich schon bei der Zusammenarbeit mit Jean Nouvel ­Meriten erworben und nimmt mit Farben und Formen assoziativ Bezug auf Kräfte in der Natur, die Sonne (Ludwig XIV.), Bewegung und musikalischen Atem. Das wohnliche Ambiente soll sich mäßigend auf das umtriebige Gemüt der Schüler auswirken, bevor sie in die Unterrichtsräume wechseln. Der ­Rezensent jedenfalls wollte nur ungern wieder aufstehen.

Wie stark schließlich der Kontrast zu den neutral und funktional gestalteten Umkleidebereichen und zu den Übungsräumen! Reinweiß gestrichen kommen diese Räume fast ganz zum Verschwinden und treten gänzlich vor dem zurück, was drinnen passiert. Sie bieten eine neutrale Folie, vor der sich die künstlerische Arbeit entfalten kann – die Konzentration liegt ganz auf den Agierenden und ihrem Tun. Die Fenster der Musikzimmer im EG liegen so hoch, dass noch ein Bezug zum Außenraum gewahrt bleibt, ohne dass aber durch Bewegung auf dem Hof Ablenkung entsteht. Die Schrägstellung der Trennwände im Grundriss ergibt leichte Störungen, die ein Regal- oder Schubfachgefühl auf subtile Weise verhindern. Zudem gibt es unterschiedlich tiefe Abstellflächen in und unter Schränken für allerlei Gerätschaften und ­Instrumente. Grafisch angeordnete Lichtbänder in der Decke sorgen für ein wenig Dynamik.

Pragmatisch nach den Anforderungen gesetzte Öffnungen für Durchgänge, in die Wand eingelassene Schränke und Technik wirken leider sehr willkürlich und blieben ohne gestalterische Anbindung. Man wünscht sich ein paar wenige durchgängige Linien, ordnende Elemente – aber wer zahlt bei durchschnittlich knappem Budget für Zierleisten oder unterschiedliche Putz­strukturen?

Höchst pragmatisch gingen die Architekten auch bei der Konstruktion vor. Das UG entstand der »lauten« Musikräume wegen massiv in Beton. Die ­Räume sind akustisch vollständig entkoppelt, quasi als Haus im Haus. Da die Baustelle den Schulbetrieb möglichst wenig beeinträchtigen sollte und über die Durchfahrt nur sehr schlecht angeliefert werden konnte, wurde das OG als Holzständerkonstruktion ausgeführt – was den Architekten entgegenkam, da sie sich den natürlichen Materialien, z. B. aus nachhaltiger Forstwirtschaft, ohnehin näher fühlen und zu deren Anwendung auch forschend tätig sind.

Mit den ausführenden Firmen hatte man weniger Glück: Die Ziegelwand zum Hof musste dreimal gemauert werden, bis man sich für deren Erscheinungsbild nicht mehr schämen musste. Auch die Schreiner dachten, sie kämen mit dem halben Aufwand davon, und müssen immer noch nacharbeiten. Sicherheitshalber und um einen ruppigen Beiklang einzumischen, wurden die Holzeinbauten, Tür- und Fensterrahmen gleich von vornherein in simplen, robusten Formen ohne Gehrung entworfen. Für Schweizer Handwerk wäre vieles davon schmachvoll. In Frankreich darf man aber bereits von einem Maximum sprechen. Ohnehin erhebt sich die Frage, ob gute Architektur nur als solche gelten darf, wenn sie perfekt ausgeführt ist. So eng gesehen müsste man vieles aus den Geschichtsbüchern streichen.

db, Mi., 2017.03.01

01. März 2017 Achim Geissinger



verknüpfte Bauwerke
Tanz- und Musikschule in Versailles

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