Editorial

Angenommen, es wäre alles einfacher, als es tatsächlich ist. Dann liessen sich die Anforderungen an grossmassstäbliche Projekte und Konzepte allein situations- und zeitbezogen ­formulieren, sachlich und angemessen. Bedürfnisse der ­Bevölkerung würden berücksichtigt, Partikularinteressen, ökonomische Scheinzwänge und persönliche Animositäten blieben aussen vor. Der ideale Planungsuntergrund gewissermassen.

Angenommen also, es wäre so. Auch dann würde rasch festgestellt, dass die Komplexität hoch ist. Das bedingte nicht nur, dass diese Planungen über sämtliche Grenzen hinweg verliefen, geografisch, ordnungspolitisch und stofflich, sondern auch, dass sie nur inter- und transdisziplinär angegangen und «geplant» werden könnten. Zu den zeit- und situations­bedingten Anforderungen gehörten strategische Überlegungen zum Umgang mit Raum. Dass er ein endliches Gut ist, haben nicht erst Brundtlandtbericht und Nachhaltigkeitsdiskurs herausgefunden.

Dazu zählte auch, das mit der Charta von Athen übernommene Dogma der Funktionentrennung zu überwinden. Es beeinflusst längst nicht nur die Stadtplanung, in der es hübsch Wohnen von Arbeiten und Freizeit trennt, es hat sich längst in allen Bereichen eingenistet: Das Naturschutzgebiet liegt neben dem Naherholungsgebiet, neben dem Siedlungsrand mit den Wohnhäuschen, neben den Arbeitsplätzen.

Wenn es einfacher wäre, als es ist, würde der Raum gesamthaft gedacht und multifunktional entwickelt. Ein Ansatz wären Überlagerungen. Naturschutz und (verträgliche) Erholungsnutzungen könnten übereinander liegen und Synergien finden: höhere Akzeptanz und kürzere Wege. Überlagerungen könnten auch neue, clevere Finanzierungsstrategien hervorbringen, wenn beispielsweise Mittel für Hochwasserschutz, Verkehrsinfrastruktur, Erholung/Tourismus und Freiraum­planung miteinander gekoppelt werden.

Im Wohnungsbau werden derzeit an so vielen Orten neue Projekte angestossen. Es wird Zeit, dass auch in räumlichen und infrastrukturellen Planungen mit bestehenden Instrumenten wie Masterplänen und Freiraumkonzepten innovative Lösungen entwickelt werden: systemisch (im Sinne von ganzheitlich und inklusiv), prozessual (mit klar definierten Strukturen, Abläufen, Entscheidungswegen), dynamisch (sozial, kultu­rell und ökologisch offen, anpassungs- und widerstandsfähig).

Der Konjunktiv wunderbar. Laut Duden verwenden wir ihn für Situationen, die nicht real, sondern nur möglich sind. Ein Anfang ist es allemal.

Sabine Wolf

Inhalt

Schweizer Gartenjahr 2016: Fünf Forderungen zur Landschaft von morgen
Thomas Hasler: Murgauenpark Frauenfeld
Elise Riedo: Seenlandschaften als Spiegelbilder unserer Gesellschaft
Gudrun Hoppe: Erlebnischaraktere an Flussräumen
Martin Knuijt: Stadtentwicklung in wassersensiblen Bereichen
Raoul Ris: Malerei als Hilfsmittel zur Kommunikation
von Landschaftsqualitäten?
Robin Winogrond, Lukas Schweingruber: Lässt sich Landschaft ausstellen?
Olivier Donzé, Lionel Rinquet et Benjamin Dupont-Roy: Virtuelle Realität: ein Werkzeug für die Planung?
Harald Spiering, Christoph Lottritz: Der RuhrtalRadweg
Peter Veenstra: Singelpark à Leyde: Singelpark Leiden: ein partizipatives Experiment
Francesco Della Casa: Der Leman-Express als städtebaulicher Motor
Markus Frietsch: AlpTransit Gotthard
Franca Leverotti: Die Zerstörung einer Landschaft

Seenlandschaften als Spiegelbilder unserer Gesellschaft

Sogenannte «natürliche» Landschaften sind für die Freizeitgestaltung besonders attraktiv. Doch sobald sie von der Bevölkerung erobert werden, sind sie bedroht. Welchen Wert wollen wir unserer Freizeitgestaltung einräumen oder unserem Wunsch, am See zu wohnen – und was lassen wir der Natur übrig? urbaplans Vorschlag beruht auf einer sensiblen Lesart der Ufer des Neuenburgersees.

Was ist Landschaft anderes als ein Spiegel unserer Gesellschaft? Die aktuelle Beschäftigung mit Landschaft zeigt grundsätzliche Fragen zu Werten und Herausforderungen auf, mit denen wir konfrontiert sind: Landschaftsplanung, -konservierung, -aufwertung… all diese Ziele sind schwer in Einklang zu bringen, was sie paradoxerweise zu einer stimulierenden Quelle der Kreativität werden lässt. Lösungsvorschläge und Ideen für ein Gleichgewicht zwischen mehreren Sichtweisen, die manchmal als Kompromisse bezeichnet werden, ermöglichen es ebenfalls, «geschlossen» hinter einem verbindenden Projekt zu stehen, und vereinfachen dessen Verinnerlichung und Konkretisierung.

Obwohl sie einem ständigen Wandel unterliegen, sind sogenannte «natürliche» Landschaften eigentlich nicht erneuerbar. Wurden sie erst einmal zerstört, ist ihre Ursprünglichkeit für immer verloren, darin liegt die gesamte Begründung ihrer Schutzwürdigkeit. Doch diese Landschaften üben auf uns Spaziergänger, Badende, Radfahrer auch eine starke ­Anziehungskraft aus. Welchen Wert geben wir divergierenden Nutzungsansprüchen wie Erholung und Wohnen – und was bleibt Natur?

Das «Landschaftsprojekt», Skizze des Richtplans

Das Amt für Raumentwicklung des Kantons Neuenburg muss sich mit dieser sensiblen Frage auseinandersetzen, um den Zielvorgaben der Projektbögen S_31 «Landschaftserhaltung und -aufwertung» sowie S_33 «Schutz und Management der Seeufer» seines kantonalen Richtplans gerecht zu werden. Mit­arbeiter des beauftragten Unternehmens urbaplan schritten die 30 Kilometer zu Fuss ab und schlugen dann vor, mittels einer sensiblen Lesart der Ufer des Neuenburgersees Denkanstösse zu liefern. Diese Entzifferung ermöglichte zugleich das Erkennen regelrechter Lieblingsplätze in dieser Landschaft: ungewöhnliche Orte, besonders bezaubernde Stimmungen, Bereiche, die zu Projekten inspirieren. Eine Erfassung der bestehenden und potenziellen Konflikte zwischen den verschiedenen Nutzern floss ebenfalls in die Überlegungen ein. Weitere Analysen ­(sanfte Mobilität, Zugänglichkeit, Umfang der schutzwürdigen Bereiche…) sowie mehrere auf Kantons­ebene durchgeführte Studien über das Naturerbe und die Pfahlbaustätten vervollständigten diese globale Diagnose.

Alle diese Elemente haben sich nach und nach um ein «Landschaftsprojekt» herum zu einem Ganzen zusammengeschlossen. Diese Skizze eines Richtplans ermöglichte die Verankerung und Feinspatialisierung zahlreicher Vorschläge auf einer für die Beteiligten im Alltag sehr ausdrucksstarken Ebene.

Ja zum Konsens – in jedem Bereich, aber nicht überall

Im Juni 2013 wurden die circa 60 Beteiligten (Gemeinden, Interessensgruppen, Nutzer) anlässlich eines partizipativen Workshops angesprochen, welcher die Diagnose und das Projekt inhaltlich bereicherte, ebenso wie die regelmässigen Sitzungen mit den betroffenen Bundesstellen sowie mit Neuenburg Tourismus. Eine öffentliche Vorvernehmlassung bei elf Gemeinden und Interessengruppen vervollständigte den Ansatz.

Bei jeder dieser Etappen standen sich natürlich die Erwartungen der Umweltschützer und jene der Entwickler gegenüber. Es entstand jedoch ein starker Konsens zum Erhalt der landschaftlichen Vielfalt, ihrer Seltenheit und Attraktivität. Kurzum, man kam überein, dass alles angeboten werden kann, aber nicht überall. So setzte sich allmählich ein Gleichgewicht zwischen folgenden Zielsetzungen durch:
 – bereits massiv anthropogene Bereiche wie Strände und Häfen stärken und aufwerten,
 – das Netzwerk der öffentlichen Freiflächen und der sanften Mobilität optimieren und vervollständigen,
 – die Biodiversität der Mündungen sowie der bekannten Biotope bewahren und aufwerten,
 – die Eingriffe der öffentlichen Körperschaften priorisieren und hierarchisieren.

Den passenden Interventionsgrad finden

Das andere zu findende Gleichgewicht betraf die Suche nach dem passenden Detaillierungsniveau. Ein kantonaler Richtplan zielt nicht darauf ab, alles zu regeln, und muss den passenden Interventionsgrad haben. Den kommunalen Stellen sowie Dritten muss ausreichend Spielraum gelassen werden.

Der Schwerpunkt des Richtplans beruht auf drei allgemeinen Grundsätzen für primäre und sekundäre Umsetzungsmassnahmen, die getrennt erfasst sind. Ein Teil davon ist rechtlich bindend, während der andere detailreicher ist und lediglich Empfehlungscharakter besitzt:
 – Natur, Landschaft und Erbe: Eine der primären Massnahmen schlägt die Einrichtung eines weitläufigen Parks auf der Ebene des Ballungsraums Neuenburg vor, in dem Freizeitgestaltung und wachsende Artenvielfalt vereint auftreten.
 – Urbanisierung und Tourismus: Hierarchisierung prioritärer und sekundärer Entwicklungsbereiche, wobei einige Stätten für ein umfangreiches öffentliches Programm am Seeufer reserviert wurden.
 – Sanfte Mobilität und Schifffahrt: Der Seeweg Neuenburgersee, der dem Ufer fast durchgehend folgt, wird durch touristisch ansprechende Stätten ergänzt, doch in seinen natürlichen Bereichen aus dem Fokus genommen. Aquarius, ein unter anderem auf Gewässerökologie und Fischereibiologie spezialisiertes Büro, brachte seine Expertise bei der Definition der Entwicklungsbereiche der Sportschifffahrt und schützenswerten Zonen ein.

Die zweite Konsultationsphase ist nunmehr beendet. Der Richtplan wird mit dem Ziel, Anfang 2017 vom Staatsrat genehmigt zu werden, abgeschlossen. Die festgelegten Massnahmen werden danach von verschiedenen staatlichen Behörden und den Gemeinden mit ihren lokalen Planungswerkzeugen umgesetzt.

anthos, Do., 2016.11.24

24. November 2016 Élise Riedo

Erlebnischaraktere an Flussräumen

Flussräume gehören zu unseren wichtigsten Naherholungsgebieten. Unterschiede des Erlebnis­charakters wurden bis anhin nicht näher untersucht. Das Initialprojekt «Vom Rauschen zur Stille» stellt eine auf andere Flussräume übertragbare Methodik vor, die vier Charaktertypen unterscheidet und Ansätze für eine typengerechte Aufwertung entwickelt.

Der Hochrhein zwischen Stein am Rhein und Rheinau ist ein wertvoller und sehr gut besuchter Nah­erholungsraum von überregionaler bis internationaler Bedeutung. Als ganz besonderer Flussraum mit vielen landschaftlichen und kulturellen Höhepunkten, wie beispielsweise der Stadt Stein am Rhein mit ihrem historischen Altstadtkern, dem Klostergut Paradies oder dem international bedeutenden Rheinfall, ermöglicht er Erlebnisse unterschiedlichster Art und Intensität im und am Wasser. Allerdings weist der Flussabschnitt auch Gebiete mit Beeinträchtigungen bei gleichzeitig hohem Aufwertungspotenzial auf.

1. Abschnittsbildung und Typisierung

In einem ersten Schritt unterteilten wir die Rheinufer im betrachteten Perimeter in typische Abschnitte. ­Gesamthaft identifizierten und untersuchten wir 49 Flussabschnitte, wobei wir das rechte und das linke Ufer unabhängig betrachteten.

Die Abschnitte unterscheiden sich insbesondere in ihrem Erlebnischarakter und den Schwerpunkten der Erholungstätigkeiten der Bevölkerung. Charakteristisch sind – und bereits dieser Analyseschritt ist auf andere Flussläufe übertragbar – vier Typen: Die «Stadtlandschaft am Fluss», die «Parklandschaft am Fluss», die «Kulturlandschaft am Fluss» und die «Naturlandschaft am Fluss». Für die 49 Abschnitte wurde auf einer dreistufigen Skala (hoch, mittel, gering) der Erlebniswert ermittelt. Bestehende Abhängigkeiten formulierten wir in Ausgangshypothesen wie «Je höher die Aufenthaltsqualität am Gewässer, umso höher der Erlebniswert». In die Beurteilung flossen positiv beeinflussende ebenso wie störende Faktoren ein. Positive Faktoren sind beispielsweise Ufer mit Kulissenwert, Aufenthaltsbereiche am Wasser und Bereiche mit hoher Gewässerdynamik.

2. Zielbildentwurf

Zielbilder, sogenannte «Strände», umschreiben die spezifische Erholungsqualität. Der Begriff des Strands steht stellvertretend für Freiraum, Musse und Naherholung mit hohem Wasserbezug. Jeder der vier Strandtypen weist eigene Erlebnismöglichkeiten auf und eignet sich für ganz unterschiedliche Erholungstätigkeiten und Wassererlebnisse.

Im nächsten Schritt schieden wir Vorrang­gebiete für unterschiedliche Erholungstätigkeiten und Schwer­­punkte aus, die sich am jeweiligen Hauptcharakter der Flusslandschaft orientieren. Ihre Identifikation steht in engem Zusammenhang mit der Überprüfung und Weiterentwicklung des Fusswegnetzes. Zur Kommunikation der verschiedenen Charaktere der Wege an die Bevölkerung differenzierten wir erneut in vier Möglichkeiten, welche auf ihre Beschaffenheit und das entsprechende Umfeld hindeuten. Zur grafischen Übersetzung wählten wir eine einfache Symbolik: das jeweils geeignete Schuhwerk. So kann der «Stadtstrand» mit dem Stöckelschuh erkundet werden, der «Parkstrand» mit dem Flipflop, der «Landschaftsstrand» mit dem Turnschuh. Der «Naturstrand» sollte ausserhalb der Wege nicht betreten werden – das zugewiesene Icon ist ein Fernglas.

Die Zielbilder geben Hinweise darauf, wie die unterschiedlichen Typen mit mittlerem oder geringem Erlebniswert spezifisch aufgewertet werden könnten: Die Abschnitte mit hohem Erlebniswert gilt es vor allem zu erhalten. Mögliche Aufwertungen für den Stadtstrand sind die Schaffung von Promenaden mit Bäumen wie auch gestaltete Zugänge zum Wasser. Der Parkstrand sollte vielfältige Wasserzugänge, ­Bademöglichkeiten, gestaltete und naturnahe Ufer­bereiche, Schattenplätze und Liegewiesen aufweisen. Für Stadt- und Parkstrand stellt die Erholungsnutzung eine wichtige Vorrangnutzung gegenüber anderen Nutzungen dar. Der Landschaftsstrand eignet sich für ausgedehnte Spaziergänge entlang renaturierter Flussufer; Zugänge zum Wasser sind wichtige Elemente. Am Naturstrand hat die Natur Vorrang, das Erlebnis und die Naturbeobachtung von Wegen aus sollten jedoch möglich sein.

3. Schwerpunkte und Realisierungs­empfehlungen

Die Aufteilung in die vier grundsätzlichen Typen hilft Schwerpunkte zu setzen. Sie kann gut und allgemein verständlich kommuniziert werden, auch zum Schutz und zur Schonung von empfindlichen, ökologisch wertvollen Gebieten. Abschnitte, die sich als Vorranggebiete für Erholungsräume (Parklandschaft, Parkstrand) eignen, können ermittelt und entsprechend in der Planung festgelegt werden.

Für 40 der 49 Abschnitte konnten wir Aufwertungsempfehlungen formulieren; bereits bestehende Projektideen bezogen wir mit ein. Wir unterschieden fünf Massnahmentypen: Bereinigung von Konflikten, Aufwertungen des Langsamverkehrs, Aufwertungen von Erholungsbereichen, Förderung naturnaher Ufer, Förderung gestalteter Uferzugänge.

Unsere Fliessgewässer sind wichtige und beliebte Naherholungsräume mit wachsender Bedeutung. Aufwertungen zugunsten der Naherholung als angestrebter Nutzung stossen ausserhalb der grossen Städte jedoch häufig auf Hindernisse wie kollidierende Interessen mit dem Naturschutz, der Landwirtschaft oder Investoren mit Über­bauungsabsichten und dem Versprechen «Blick aufs Wasser». In den Agglomerationsräumen wird zunehmend verdichtet gebaut, die Divergenz der ­Bedürfnisse an erreichbare Erholungsräume und deren Verfügbarkeit steigt. Nehmen wir Verdichtung ganzheitlich ernst, ist Naherholung eine wichtige ­Infrastrukturaufgabe, die es inklusive ihrer Finanzierungsmöglichkeiten differenziert zu entwickeln gilt – denn Erholung dient der Gesundheit!

anthos, Do., 2016.11.24

24. November 2016 Gudrun Hoppe

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