Editorial
Architektur sollte nicht allein an ihrer Größe gemessen werden. Viele kleine Projekte finden wegen ihrer vermeintlichen Geringfügigkeit zwar nur wenig Beachtung, sind aber mit großer Sorgfalt und hohem Anspruch geplant. Viele Projekte, von der Imbissbude bis zum Privatmuseum, stehen an Komplexität und Anspruch den »großen« Bauaufgaben nicht unbedingt nach. Zumal es im Kleinen nochmals mehr auf durchdachte Planung und präzise Verarbeitung aller Materialien ankommt – man darf sich keine Nachlässigkeiten leisten.
Kleinere Bauaufgaben bieten mitunter aber auch Raum, die Regeln zu lockern: So stellte z. B. der Bauherr eines Pavillons in Shanghai die Chronologie auf den Kopf, indem er das flirrende Gebilde realisieren ließ, ohne genau zu wissen, wie es genutzt werden soll. Bei der Neugestaltung der Handenberger Ortsmitte scheint politisch wie auch technisch Unmögliches möglich geworden zu sein. Und ein Kunstprojekt in London fragt ganz generell, ob all die vermeintlich klaren Dinge und zwingend erscheinenden Formen, von denen wir ausgehen, nicht auch ganz anders sein könnten – das Sam Jacob Studio bildet mit seiner Installation auf dem Highgate-Friedhof geisterhaft das 1921 von Adolf Loos als Steinbau entworfene, aber nie realisierte Mausoleum für den Kunsthistoriker Max Dvorák im Maßstab 1:1 mit Gerüstnetzen auf einer leichten Holzrahmenkonstruktion nach. Mit dem Namen »A Very Small Part of Architecture« nimmt es Bezug auf den Essay »Architektur«, in welchem Loos 1910 argumentierte, dass »nur ein ganz kleiner Teil der Architektur der Kunst angehört: Das Grabmal und das Denkmal«. Wir möchten hinter diese Aussage ein Fragezeichen setzen und Sie dazu ermuntern, selbst zu entscheiden, welcher der in db 11/2016 vorgestellten kleinen Bauten auch als Kunstwerk durchgehen darf. | Achim Geissinger
Verstetigte Wolke
(SUBTITLE) Ausstellungspavillon am Huangpu-Fluss in Shanghai (CHN)
Die erste, zunächst temporäre Variante des Pavillons kam so gut an, dass die Verantwortlichen die Abänderung des Konzepts zu einer dauerhaften Einrichtung beauftragten. Es ist zwar noch gar nicht entschieden, wie das Gebilde aus Beton, Stahl und Glas genutzt werden soll, die edle Ausführung macht es aber schon jetzt zu einem atmosphärischen Ort mitten im öffentlichen Raum.
Am Ufer des Huangpu, inmitten eines großräumigen Konversionsgebiets im Süden der Shanghaier Innenstadt, ist ein architektonisches Kleinod eingeschwebt, das auch kunstinteressierte Flaneure an die neu angelegte Uferpromenade mit Grün- und Sportanlagen lockt.
Die Konversion ehemaliger Hafen- und Industrieanlagen entlang des Flusses ist seit einigen Jahren ein Schwerpunkt in der Stadtentwicklung Shanghais. Das als »West-Bund« bezeichnete Areal im Südwesten des Xuhui-Distrikts liegt etwa 7 km flussaufwärts vom eigentlichen »Bund« entfernt, dem von kolonialen Prachtbauten gesäumten historischen Wahrzeichen der Stadt. (Bund ist Hindi für »befestigte Uferzone« – ein von den Briten aus den indischen Kolonien eingeführter Begriff).
Entlang des West-Bunds wird durch Erhalt einzelner Industriefragmente wie Bahnanlagen, Verladekräne und Öltanks an den industriellen Charakter des Gebiets erinnert. Das »Shanghai Dreams Center« im Süden des Areals soll in Zukunft neben Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten und Büros auch nationale und internationale Filmindustrie beherbergen. Mehrere erfolgreiche Kunstmuseen in Ufernähe, wie z. B. das Long Museum West Bund des Shanghaier Architekturbüros Atelier Deshaus (s. db 8/2014, S. 64), sind bereits eröffnet. Nördlich davon entsteht ein neuer urbaner Schwerpunkt mit Einrichtungen des Gesundheits- und Finanzwesens, Dienstleistungen, öffentlichen Parkanlagen und weiteren Kulturfunktionen (Planung: gmp Architekten).
Die West Bund Kunst- und Architekturbiennale gab im Jahr 2013 den Auftakt für die kulturelle Entwicklung der ufernahen Bereiche mit Skulpturenpark, Galerien und Pavillons.
Im Vorfeld waren 20 nationale und internationale Architekturbüros (neben Schmidt Hammer Lassen u. a. Michael Bell und Eunjeong Seong, Wang Shu, Anton Abril, Yung Ho Chang, Atelier Bow-Wow, Li Hu und Johnston Marklee) aufgefordert worden, temporäre Pavillons an selbst gewählten Bauplätzen am Ufer zu entwerfen und mögliche Nutzungen vorzuschlagen.
Die ursprüngliche Idee für den »Cloud Pavilion« fußte laut Chris Hardie, Partner von Schmidt Hammer Lassen und Architekt des Pavillons, auf dem ephemeren Charakter der Bauaufgabe, der Anknüpfung an die historische Nutzung des Orts und dem Wunsch, das Areal in Gänze erfahrbar zu machen: Gleich einer vorüberschwebenden Wolke sollte der Pavillon auf einem der erhaltenen Verladekräne »hängenbleiben« und als leichtes, lichtes Konstrukt Überblick über die neuen Entwicklungen beiderseits des Flusses geben. Das Bild der Wolke, in China ein glückverheißendes Symbol, sprach die Kuratoren an, und so wurde der Entwurf von Schmidt Hammer Lassen als einer von zwölf Pavillons für die Biennale ausgewählt (von denen allerdings nur die Hälfte realisiert wurde).
Sicherheitsbedenken, Zeit- und Budgetknappheit holten die Wolke aber bald aus luftigen Höhen herab und verankerten sie auf festem Grund. Die zunächst geplanten lichtleitenden Glasfaserkabel, zwischen zwei filigrane Platten gespannt, wurden durch weiße Seile und Stahlstützen zwischen weiß lackierten Betonplatten ersetzt. Trotz der etwas groben Ausführung war der Pavillon am Ufer ein Publikumserfolg: Die Seile luden zum Hindurchschlängeln ein, nach einigem Verschleiß auch zum Schwingen und Verknoten.
Baukunst zum Anfassen – auch in China auf jeden Fall ein Renner!
So entschied der Auftraggeber, die Shanghai West Bund Development Group, den ehemals für nur zwei Monate Ausstellungszeit gebauten Pavillon in eine permanente Einrichtung für Einzelexponate oder Veranstaltungen umzuwandeln. Auch die Neuauflage, von den Architekten »Cloud Pavillon 2.0« getauft, durfte bedauerlicherweise nicht in die Lüfte gehoben werden und arbeitet nun mit der vorhandenen Struktur der auf runden Stahlstützen aufgeständerten Betonplatten. Da nun auf der rechteckigen Grundfläche ein abgeschlossener Raum von 100 m² mit kleiner Küche und Lagerraum gefordert war, ließ sich die luftige Leichtigkeit und Transparenz nicht nach dem ursprünglichen Konzept herstellen – Glasfaserkabel lagen auch diesmal nicht im Budget.
Die Cloud wird nun durch gebogene Glaswände um eine homogene Lichtdecke in Form einer stilisierten Wolke gebildet. Außerhalb der Wolke sind in quadratischem Raster Vierkantrohre aus gebürstetem Edelstahl gestellt oder gehängt, deren Reflexion in der mit spiegelndem Edelstahl bekleideten, leicht auskragenden Deckenplatte eine optische Erhöhung des Raums bewirkt – Vierkante anstelle von Rundstäben, da die leicht verspiegelte Verglasung ihre Kanten als feine Linien reflektiert und vervielfältigt. Der außermittig gesetzte, zylindrische Küchenkern ist mit vertikal um die Rundung gesetzten Kanthölzern bekleidet. Ziel dieses Spiels mit Linien und Reflexionen ist die optische Auflösung des gläsernen Wolkenkörpers. Dies gelingt v. a. an (in Shanghai leider eher seltenen) klaren Sonnentagen – dann findet sich die filigrane Ästhetik der »Cloud 1.0« wieder. Bei Nacht lässt die weiße Lichtdecke in ihrer comic-haften Form das Spiel der Stäbe in den Hintergrund treten; von innen betrachtet erscheint sie als lichter Himmel, während die Umgebung in der Spiegelung der Glasfassade verschwindet.
Die Bauqualität darf man als gut einstufen, die glatte Betonplatte ist unempfindlich und leicht zu reinigen. Allerdings droht im hiesigen Klima immer die Gefahr, dass Stahl Flugrost ansetzt. Sicher hätte sich die Konstruktion auch noch ein wenig filigraner umsetzen lassen; die örtlichen Statiker arbeiten vor dem Hintergrund möglicher Erdbeben aber lieber mit höheren Sicherheitsbeiwerten.
Auch in seiner neuen Gestalt setzt der Pavillon einen erfrischenden Akzent entlang des Flussufers. Die Plattform lädt Flaneure weiterhin zum Verweilen ein, wenn auch nicht mehr in ihrer spielerisch offenen, interaktiven Form – durch die Belegung der Mitte durch den doppelverglasten Raum bleibt nur wenig Fläche zum Niedersetzen oder gar Durchschreiten übrig. Gemeinsam mit den Architekten wünscht man sich eine kulturelle, nicht kommerzielle Nutzung – es wurde noch nicht entschieden, wie und wann dort etwas stattfinden wird –, doch das bleibt, wie die übrigen budgetgetriebenen Entscheidungen, die die Wolke so pragmatisch auf den Boden holten, im Ermessen des Auftraggebers. Wie dieser sich auch entscheiden mag, im Kontext der Uferpromenade bleibt uns ein ästhetisches, gutes Stück Architektur mit hoher Qualität und Attraktivität.db, Sa., 2016.11.05
05. November 2016 Fanny Hoffmann-Loss
Gestalt gewordenes Zusammengehörigkeitsgefühl
(SUBTITLE) Ortsplatzgestaltung in Handenberg (A)
Mit Geduld und durch die Bündelung des politischen Willens geriet die Neugestaltung der dörflichen Ortsmitte zu einer architektonischen Erfolgsgeschichte. Sinnfällig zoniert und ebenso gefällig wie nutzbar möbliert hebt der Platz die örtlichen Besonderheiten hervor und hat mit der frei auskragenden Stahlbetonkonstruktion des Schutzdachs nun ein weiteres staunenswertes Unikum zu bieten.
Viele Autofahrer, die den oberösterreichischen Ort Handenberg auf dem Weg von Salzburg nach Braunau am Inn durchqueren, nehmen die Qualitäten des neuen Dorfplatzes oberhalb der Landesstraße 156 vermutlich gar nicht wahr. Und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil der neue Platz zwischen Kirche und Gemeindeamt so gut gelungen ist.
Die 1453 geweihte Pfarrkirche St. Martin ist mit Abstand das dominanteste, höchste und vermutlich auch älteste Gebäude Handenbergs. Umgeben von einer ringförmigen Friedhofsmauer liegt sie am höchsten Punkt des Orts, unmittelbar neben einem Teich, auf dem sich, der Sage nach, einst eine Ente mit Hostie im Schnabel zeigte. Eine solche Ente ziert zwar das heutige Gemeindewappen, Historikern zufolge geht der Ortsname aber nicht aus »Antenberg« hervor, sondern ist auf einen Mönch namens Hanto zurückzuführen, der hier um 1100 das erste Gotteshaus errichten ließ. Geschichte und Geschichten spielen im gut 1 000 Einwohner zählenden Handenberg bis heute eine große Rolle, und so ist es umso erstaunlicher, dass es gerade hier zu einer Ortsplatzgestaltung kam, die sich als dezidiert zeitgenössisches, weit über den Ort hinaus wirkendes Statement lesen lässt.
In diesem Zusammenhang steht eine schnörkellose Sichtbetonkonstruktion im Mittelpunkt: Sie besteht aus einer 8,5 m langen, sich nach oben verjüngenden Wandscheibe, auf die eine 12 m frei auskragende, rund 80 m² große Dachfläche scheinbar nur aufgelegt ist. Für sich betrachtet sind diese Abmessungen so gewaltig, dass unwillkürlich Fragen zur Statik des Bauwerks aufkommen. Errichtet wurde es gänzlich ohne vorgespannte Bauteile, dafür aber mit einbetonierten I-Stahlträgern in nur einem Betonierabschnitt, wobei aufgrund der langen Anfahrtswege für die geforderte Betonqualität C40/50 B5 lediglich eine Einbauzeit von 60 Minuten zur Verfügung stand. Die Überhöhung der Auskragung betrug vor dem Betonieren 26 cm.
Flugdach als Vermittler
So herausfordernd die Konstruktion des Betondachs für den Statiker und das Bauunternehmen aber auch gewesen sein mag, so selbstverständlich steht es heute vor der Pfarrkirche St. Martin. Das liegt einerseits daran, dass es als ein auf das wirklich Nötigste reduziertes Bauwerk erscheint: vollkommen glatt und monolithisch, ohne jegliche Ornamentik und ohne sichtbare Details und aufgesetzte Bauteile wie z. B. Leuchten, Verblechungen oder Rinnen. Die Entwässerung erfolgt durch seitliche Betonaufkantungen und innenliegende Fallrohre, zur Beleuchtung wurden an den Stößen der Schaltafeln flächenbündige Leuchtkörper einbetoniert. Andererseits lässt sich das Flugdach aber auch keiner Bauwerkskategorie – wie z. B. Haus, Pavillon, Dach – zuordnen. Vielmehr erscheint es als künstlerische Freiform, der es gelingt, gestalterisch zwischen einer gotischen Kirche mit barock anmutendem Turm, schmucklosen Wohngebäuden und einem in den 70er Jahren mit volkstümlichen Sgraffiti verzierten Gemeindeamt zu vermitteln.
Integration des städtebaulichen Kontexts
Wesentlich wichtiger noch als die Gestalt des Flugdachs ist seine konzeptionelle Einbindung in den städtebaulichen, aber auch politischen Gesamtkontext. Ausgangspunkt war ein von der Gemeinde Mitte 2014 ausgelobter geladener Architekturwettbewerb für eine Fläche, die erst durch den ein Jahr zuvor erfolgten Abbruch des nicht erhaltenswerten »Lamprechthauses« entstand – ein Altbau, der den westlichen Kirchenvorplatz zwischen Friedhofsmauer, Landesstraße und dem damals völlig überwucherten Teich besetzte. Die in der Auslobung formulierten Ziele, »die Nutzungsmöglichkeiten gemeinschaftlichen Lebens und Begegnens im öffentlichen Raum zu stärken« und einen neuen »Mittelpunkt des Dorfgeschehens« zu schaffen, erfüllte das siegreiche Projekt des Linzer Architekten Andreas Heidl am besten. Er sah eine einheitlich gepflasterte Platzfläche vor, die durch lang gestreckte Holz-Sitzbänke, den neu in Szene gesetzten Teich und das am ehemaligen Standort des Lamprechthauses platzierte Flugdach in drei Bereiche gegliedert wird.
Formelle und informelle Platzbereiche
Der östliche Bereich zwischen Kirche und Gemeindeamt dient v. a. als formeller Vorplatz für Kirche und Friedhof – sowohl für Beerdigungen als auch für Hochzeiten – sowie als Veranstaltungsfläche z. B. für Feuerwehr- und Musikfeste. Eher informell wirkt dagegen der westliche Teil der Platzfläche, der mit einem großflächigen Holzdeck mit Sitzstufen zum Teich orientiert ist. Hier treffen sich sonntägliche Kirchgänger, Hochzeitsgäste, aber auch Passanten oder die Kinder der unmittelbar benachbarten Volksschule für einen Moment der Ruhe. Das Flugdach grenzt diese beiden Platzflächen voneinander ab, ohne sie jedoch räumlich oder visuell zu trennen – aus der Fußgängerperspektive erscheint es ja lediglich als dünner horizontaler Betonstreifen. Trotzdem bietet es einen 80 m² großen, vor Witterung und gegenüber der Landesstraße geschützten »Raum«: für Standkonzerte der Kapelle Handenberg, für Bars und/oder Verpflegungsstationen bei Festen und für Jugendliche, die hier abends »chillen« wollen.
Integration des politischen Kontexts
Selbstverständlich bildet der Entwurf von Andreas Heidl den dreidimensionalen Rahmen für dieses Miteinander. Maßgeblich daran beteiligt ist aber auch die jahrelange Grundlagenarbeit des Bürgermeisters Gottfried Alois Neumaier, die bereits 2009 ihren Ausgang nahm als die Gemeinde das Grundstück des Lamprechthauses kaufte und zugleich die Ortsumgestaltung beschloss. Zu seinen wesentlichen Zielen zählte einerseits die Einbeziehung aller politischen Kräfte im Ort.
Aus diesem Grund stellte beim Architekturwettbewerb jede im Gemeinderat vertretene Partei ein Jurymitglied, andererseits wurde aber auch ein Dorf- und Stadtentwicklungsverein gegründet und an der Erstellung der Auslobungsunterlagen beteiligt. Beides diente dazu, die gesamte Bürgerschaft in die Planung einzubinden, damit am Ende möglichst wenig Konfliktpotenzial und kein bauliches Flickwerk entstehen. Der Wettbewerb selbst war dabei als Instrument unverzichtbar. Er brachte den unverstellten, neutralen Blick eines auswärtigen Architekten ins Spiel, v. a. aber konnten nach der einstimmigen Juryentscheidung Ziele festgezurrt werden, die sich im Hin und Her des von persönlichen Interessen geprägten politischen Tagesgeschäfts nie hätten erreichen lassen. Hinzu kommt die aus den unterschiedlichen Regional-, Landes- und Bundesfördermitteln zusammengesetzte Finanzierung des am Ende mit 420 000 Euro (brutto) bezifferten Projekts, die sich durch dieses Verfahren wesentlich vereinfachte. All diese Aspekte zusammen haben dazu geführt, dass der Platz von den Handenbergern heute als Gestalt gewordenes Zusammengehörigkeitsgefühl wahrgenommen und genutzt wird. Als nächstes Projekt steht nun die Neugestaltung des Umfelds von Leichenhalle und Kindergarten an. Die Chancen stehen gut, dass auch diese Planungen die Dorfgemeinschaft weiter stärken werden.db, Sa., 2016.11.05
05. November 2016 Roland Pawlitschko
verknüpfte Bauwerke
Ortsplatz Handenberg
Zum goldenen Würstel
(SUBTITLE) Imbissstand in Wien (A)
Einen banalen Würstchenstand in ein von alteingesessenen Geschäften geprägtes Umfeld einzufügen, ist keine leichte Aufgabe. Mit viel Verständnis für die Bauaufgabe und einem Händchen für die Materialauswahl geriet die Würstelbude zum Schmuckstück – ein überaus appetitlicher Beitrag zu dieser sonst wenig beachteten, in ihrer Komplexität oft unterschätzten Sparte des Bauens.
»Einen Kasäkrainer bitte, mit a bissl an Schoafn«, sagt die Dame in Abendgarderobe. Ob sie wohl von einer Vernissage kommt – oder vielleicht nach dem ersten Akt aus der Staatsoper geflüchtet ist? »Und a Gurkerl noch dazu.« Man kann die Kundin gut verstehen, nicht nur, dass dieser Imbiss zu den besten der Innenstadt gehören soll, auch die auf dem Grill präsentierte Ware sieht mehr als appetitlich aus. Vorausgesetzt natürlich, man hat etwas übrig für die Jahrhunderte alte, in dieser Stadt von jeher besonders ausschlachtend zelebrierte Verwurstungskultur. Die Wiener und ihre Würstel. Ein Kapitel für sich.
»Ich kann echt keine Würstel mehr sehen«, sagt indes die Architektin Johanna Schuberth. »So ein kleines Projekt ist extrem komplex, bedarf vieler Bauherrenbesprechungen und v. a. unzähliger Abstimmungen mit den städtischen Magistratsabteilungen, und bei jedem einzelnen Termin wurden uns fürwahr wunderbare Würstel kredenzt. Aber jetzt reicht’s.«
Das Wurstveto ist freilich mit Vorsicht zu genießen.
Zum Portfolio des Büros, das die Architektin gemeinsam mit ihrem Bruder Gregor betreibt, zählen nicht nur geförderte Wohnungsbauten, sondern auch Einfamilienhäuser, Objektsanierungen, Gastronomiebetriebe – und eben Imbissstände. Der kleine Wurstpalast am Graben ist das mittlerweile vierte realisierte Projekt dieser Art. Weitere Anfragen sind bereits in Bearbeitung.
»Ich liebe es, mit solchen Bauaufgaben umzugehen«, sagt Schuberth. »So ein Würstelstand ist ein Bauwerk mit unendlich vielen Zwängen und de facto sehr geringen Gestaltungsmöglichkeiten. In diesem formalen, technischen, logistischen und letztlich auch gesetzlichen Korsett« – in Wien gilt ein Imbissstand als ein auf Pachtgrund errichtetes und bis auf Widerruf genehmigtes, temporäres Bauwerk – »gedeihen oft die besten, spannendsten Ideen.« Das tun sie.
Durchgeplant
Mit seiner strukturellen und materiellen Selbstverständlichkeit passt sich das nur 12 m² große und 2,80 m hohe Häuschen der historischen Umgebung an. Die Geometrie der Außenhülle scheint mit der historischen Curtain-Wall-Fassade des benachbarten Geschäfts förmlich zusammenzufließen. Und die Details und Oberflächen wirken, als seien sie der denkmalgeschützten Traditionsboutique Braun & Co. gleich nebenan entlehnt. Durch das Glasdach, das täglich gereinigt wird, blickt man hoch in die Geschichte der Wiener Baukunst.
»Die Magistratsabteilung für Stadtgestaltung (MA 19) hat gefordert, dass wir uns der Umgebung unterordnen«, erzählt Johanna Schuberth. »Über fehlende Inspirationsquellen können wir uns in dieser hochsensiblen Innenstadtlage wirklich nicht beklagen.« Fast wie eine elegante, formal neu interpretierte Dependance von Braun & Co. steht der kleine Gastronomiepavillon am Rande der Fußgängerzone. Das grünlich hinterleuchtete, massiv geschichtete Glas, das als Lockmittel aus der Spiegelgasse hinausleuchtet, verleiht ihm einen Hauch von kupfernem Glanz.
Mit geschickter Hand und dem Materialpotpourri aus Stahl, hochglänzendem Edelstahlblech, Glas, künstlichem Marmor – echter Stein hätte der aggressiven Kombination aus Hitze und Fett farblich nicht standgehalten – und bronzefarben lackiertem, ein wenig an Hammerschlag erinnernden Reliefblech ist es gelungen, eine Mischung aus Jugendstil und Eklektizismus zu erschaffen. Hie und da scheint sogar Adolf Loos aus dem Innern hervorzuwinken.
»Wir haben die Funktionen wie bei Loos’ Raumplan in der Tat dreidimensional geordnet – solange, bis sich alles perfekt ausgegangen ist.« Die Schwierigkeit des richtigen Arrangements liege nicht nur in der Beachtung des Lieferverkehrs und der Feuerwehrzufahrten sowie den damit verbundenen Breiten und maximal erlaubten Dachüberständen, sondern v. a. auch in der Komposition des Innenlebens. Dieses, meint Gül Fethi, sei gelungen. »Ich habe schon in vielen Imbissbuden gearbeitet«, sagt der Mitarbeiter, »aber diesen Würstelstand mag ich wirklich sehr. Die Arbeitsabläufe sind perfekt geplant. Und obwohl ich die ganze Schicht hindurch stehe, ermüde ich weniger als in anderen Buden.«
Grillplatte, Kocher und allerlei heiße Geräte stehen auf engstem Raum neben Kühlschränken, -laden und -vitrinen. Zwar handelt es sich dabei um Standardware der Großkücheneinrichter. »Aber in dieser Platzknappheit«, so Schuberth, die das gesamte Projekt in 3D abgewickelt hat, »muss man dann doch Wärmedämmelemente vorsehen und etliche Anschlüsse im Millimeterbereich umplanen.« Bei manchen Details habe man um jeden einzelnen Kabelquerschnitt kämpfen und dafür Platz finden müssen.
Zu sehen ist von diesem Kampf nicht das Geringste. Ganz im Gegenteil: Der Betrieb »Zum Goldenen Würstel« kommt überaus komfortabel und wandelbar daher. Während die Stehpulte im Winter beheizbar sind, lässt sich für die heißen Sommer über den Köpfen der Gäste eine Sprühnebelanlage installieren. Auf der Längsseite, auf der sich auch die beiden Verkaufs- und Übergabefenster befinden, lässt sich bei Sonne und Regen eine farbig angepasste Markise ausfahren. Die oben angebrachten Feuchtraumsteckdosen sind eine vorausschauende Maßnahme für Weihnachtsbeleuchtung und diverse andere temporäre Lichtinstallationen. Und die gesamte Fassade ist so konzipiert, dass sich Verteilerkasten, Wasseranschluss und Küchengeräte von mal innen, mal außen durch leicht zugängliche Revisionsöffnungen warten lassen.
»Die Arbeit nimmt bei so einem Projekt kein Ende«, blickt Johanna Schuberth auf die Planungs- und Bauphase zurück. Mehr als 1 200 Arbeitsstunden flossen in den rund 300 000 Euro teuren Imbissstand. Allein die Küchentechnik schlug mit 70 000 Euro zu Buche. »Kaum hat man die wichtigsten konstruktiven Details fertig gezeichnet, findet man sich beim Abmessen von Getränkeflaschen und Hot-Dog-Brötchen wieder und beim Entwerfen einer Display-Choreografie für die in den Vitrinen präsentierten Lebensmittel.« Dazu gehört auch die richtige Lichtplanung. Wie bei Fleischtheken im Supermarkt kommt im Wurstbereich warmes, rötliches LED-Licht zum Einsatz. Das rückt die hier brutzelnden Fettspeisen ins richtige Licht. Oberste Prämisse in der Würstelstand-Architektur: »Keine Fotos von Speisen. Das macht die beste Lichtplanung kaputt.«
Konstruktiv, lernt man am Ende der Lektion bei Bratwurst und Senf: Bei einem Würstelstand handelt es sich um einen reinen Stahlbau, der im Werk bis zur letzten Schraube vorgefertigt wird. Der Grund dafür, meint die Architektin, liege nicht so sehr in der Mobilität, die sich bei den heiß gehandelten Pachtgrundstücken mit gewerblicher Konzession sowieso in Grenzen hält, sondern vielmehr in den strengen Bau- und Montagevorschriften in der Wiener Innenstadt. »Das gesamte Ding wurde in einer Nacht mit einem Sondertransport an Ort und Stelle gebracht. Und schon in den frühen Morgenstunden war der Würstelstand angeschlossen und einsatzbereit.« Einzig für die wenigen Minuten, die das Goldene Würstel an einem Haken vom Autokran baumelte, musste der Stahlbau nicht nur auf Druck, sondern auch auf Zug berechnet und ausgeführt werden. Das machte das konstruktive Tragwerk mit seinen stützenlosen Ecken und seinem tonnenschweren Innenleben entsprechend aufwendig und teurer. »An so etwas denkt man natürlich nicht, wenn man in seinen Käsekrainer beißt«, scherzt die Architektin.
Es ist spät geworden. Der letzte Kunde ist verschwunden. Kurz vor Sperrstunde wird der 50-KW-Betrieb nach und nach heruntergefahren, mit Fettlösern gereinigt, so für den nächsten Tag vorbereitet und verschlossen. »Jetzt verrate ich Ihnen noch ein Geheimnis«, sagt Johanna Schuberth: »Eigentlich wollten wir den Schriftzug oben auf dem Dach aus Messingblech herstellen lassen. Aber das wäre technisch sehr schwierig gewesen. Letztlich haben wir die extrudierten Blechbuchstaben blattvergolden lassen. Ist das nicht großartig?« Das Projekt »Zum Goldenen Würstel« wurde in aller Konsequenz zu Ende gedacht.db, Sa., 2016.11.05
05. November 2016 Wojciech Czaja