Editorial

Sammeln, Erhalten, Erforschen und Ausstellen – das sind die traditionellen Tätigkeitsbereiche von Kunst­museen. Die Verbindung von Alt und Neu, die präzise städtebauliche Setzung, eine gekonnte räumliche Erschliessung, die Rolle der Fassade für Bau und Stadtbild – das wiederum sind klassische architektonische Aufgaben, die das Museum als Entwurfsaufgabe so interessant machen. Museen gehören als In­begriff des öffentlichen Gebäudes zum Inventar eines jeden Stadtbilds, und trotz des Google Art Projects – oder vielleicht auch deswegen? – erleben gerade die der Kunst gewidmeten Häuser eine neue Blüte.

In den vergangenen fünf Monaten öffneten allein in der Schweiz zwei bedeutende Erweiterungen ihre Tore: Im April nahm das Kunstmuseum Basel seinen Erweiterungsbau von Christ & Gantenbein in Betrieb, im Juni folgte das Bündner Kunst­museum in Chur mit einem Neubau von Barozzi/ Veiga. Trotz unterschiedlicher Grösse offenbaren die Bauten Gemeinsamkeiten.

Beide sind städtebaulich gekonnt platziert, beide interpretieren die Beziehung zum Altbau als respektvolle Nähe. Die durchdachte Materialwahl der Fassaden bezieht sich auf den Bestand, ent­wickelt aber dennoch eigenständige Themen. Raumprogramm und -disposition erlauben sowohl Wechselausstellungen als auch eine an­gemessene Präsentation der Sammlungen.

Wie Architekten und Ingenieure die vielschich­tigen Anforderungen gelöst haben, zeigt der Schwerpunkt dieser Ausgabe.

Tina Cieslik

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Bau sticht Baum

10 PANORAMA
Museum der Museen

12 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

14 SEILSCHAFTEN UDN GRATWANDERUNGEN
Im Basler Himmel | Grundlagen zur Anwendung der BIM-Methode | Lernen aus der Praxis | SIA-Werkstattbericht

19 VERANSTALTUNGEN

THEMA
20 KUNSTMUSEEN, erweitert

20 EIGENSTÄNDIG, ABER ENG VERBUNDEN
Christoph Wieser
Der Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel überzeugt – städte­baulich, architektonisch, konstruktiv.

24 KEINE ILLUSION
Clementine Hegner-van Rooden
Die Fassade der Erweiterung des Kunstmuseums Basel ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung.

27 UNVOLLENDETER BRÜCKENSCHLAG
Marko Sauer
Ein Eisberg für die Kunst: Der Hauptteil des neuen Bündner Kunstmuseums in Chur verbirgt sich im Untergrund.

AUSKLANG
32 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Eigenständig, aber eng verbunden

Mit einem Flügelschlag befreit der Neubau von Christ & Gantenbein das Kunstmuseum Basel von der Monumentalität und Symmetrie des Hauptbaus. Er bezieht sich aber anspielungsreich auf ihn und etabliert so eine Beziehung, die allen zugute kommt: der Stadt, der Kunst und den Besuchenden.

Die im April dieses Jahres eröffnete Erweiterung ergänzt den streng axialsymmetrisch angelegten, von Rudolf Christ und Paul Bonatz erstellten Hauptbau von 1936 wie ein stadträumliches Passstück. Dieser bildet den ­Abschluss einer Reihe repräsentativer Bauten, die den St. Alban-Graben beidseitig säumen, bevor er mit einer Kurve zur Wettsteinbrücke überleitet.

An diesem neuralgischen Punkt befindet sich der Neubau. Das Grundstück wurde dem Kunstmuseum zusammen mit einer Spende von 50 Millionen Franken, der Hälfte der Gesamtkosten, von Maja Oeri geschenkt. Dieselbe Mäzenin ermöglichte bereits vor rund zehn Jahren mit der Stiftung des ehemaligen Nationalbankgebäudes – dem südwestlich anschliessenden Laurenzbau – eine erste Transformation des Kunstmuseums, in den die Bibliothek ausgelagert wurde.

Während sich der Hauptbau den stadträumlichen Gegebenheiten verweigert, sodass entlang der Dufourstras­se mehrere dreieckige Restflächen entstanden, ist der Neubau passgenau auf die Umgebung abgestimmt. Der Baukörper betont mit seinen Kanten und präzis gesetzten Knicken die räumliche Kontinuität der Stras­sen­räu­me.

Gleichzeitig spielt er das Volumen frei und schafft zwei Plätze: Über die tief einspringende Ecke zum St. Alban-Graben entsteht beim Eingang ein Vorplatz, der die Kreuzung fasst und zentriert, und dank der Fassadenfront entlang der Dufourstrasse erhält der Hauptbau ein Visavis, die ehemalige Rest­fläche mit bestehendem Brunnen und Bäumen wird aufgewertet.

Neu befindet sich der Kassenbereich in der ­Kolonnade des Hauptbaus – so können die Besucher frei wählen, ob sie zunächst über den grossen Hof das Stammhaus betreten oder direkt zum Neubau gehen wollen. Obschon beides möglich ist, sind die Hierarchien klar verteilt: Der weitgehend geschlossene Neubau erweckt durch die wuchtigen verzinkten Gitter beim Eingang und der Anlieferung einen noch introvertierteren Eindruck als der Hauptbau.

Seiner massigen Hausteinmauern von 90 cm Dicke wegen wurde Letzterer als «Tresor der Kunstschätze» bezeichnet[1] – eine Charakterisierung, die auch auf den Neubau zutrifft.

Stabile Ordnung mit Kontrapunkten

Bei aller Massivität ist beiden jedoch ein überraschend feinmassstäblicher Ausdruck eigen, hervorgerufen durch die Materialisierung. Sind es beim Hauptbau die verschiedenen Steinsorten und vielfach diversifizierten Formate, die den Fassaden eine gewisse Feingliedrigkeit geben, entsteht diese Wirkung beim Neubau über den Backstein (vgl. «Keine Illusion»).

Die lagenweise abwechselnd vor- und zurückspringenden, nur 4 cm hohen Steine betonen die Horizontale und gliedern über drei unterschiedliche Grautöne die Fassadenflächen zusätzlich.

Durch die «Feuergeburt», wie der deutsche Architekt Fritz Schumacher das Brennen der Ziegel bezeichnete,[2] erreicht das Material eine Beständigkeit, die beim Kranzgesims in Form eines Medienfrieses höchst effektvoll und auf neuartige Weise unterwandert wird: Mittels LED-Technik wird eine immaterielle «Flammenschrift» erzeugt, die auf Ausstellungen und Aktivitäten des Museums aufmerksam machen kann und so dem unverrückbaren Volumen eine dynamische Komponente verleiht.

Die Kombination von archaischem Mauerwerk und zeitgenössischer Technik findet im Innern eine Fortsetzung in der Gegenüberstellung von «armen» und «reichen» Materialien – Materialien, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen und mit verschiedenen Bedeutungen konnotiert sind wie Marmor und verzinkte Stahlbleche, Gitterroste und hochwertige Eichenböden.

Die von den Architekten als «Cross-over» bezeichnete Methode verbindet nicht nur die Vergangenheit mit der Gegenwart. Sie verweist auch auf das gewandelte Kunstverständnis und die typologische Annäherung der Kunstmuseen an die Kunsthallen, hervorgerufen durch den Bedarf an möglichst flexibel nutzbaren Ausstellungsräumen für Wechselausstellungen.

Christ & Gantenbein werden dieser Anforderung in hohem Mass gerecht, indem der Neubau eine Vielzahl unterschiedlicher Räume bereithält, die mehrheitlich mit Sonderausstellungen bespielt werden sollen. Gleichwohl ist jeder Raum klar definiert, sorgfältig pro­portioniert und spezifisch belichtet. Kunstlicht, natürliches Seiten- und Oberlicht sind, wie im Hauptbau, die bewährten Mittel dazu. Sie verorten die Besucher im Gebäude und ermöglichen über einige wenige, grossformatige Öffnungen einen Bezug zur Umgebung.

Die architektonische Ordnung schafft für die Kunstwerke einen im doppelten Sinn stabilen Hintergrund: Die massive, auf Dauerhaftigkeit ausgelegte Konstruktion in Stahlbeton mit vorgefertigten, sandgestrahlten Rippendecken bildet das tragende Gerüst.

Zudem strahlen die langlebigen Materialien mit ihrer körperhaften Präsenz Beständigkeit aus. Dazu gehören neben Beton gebrochen weiss gestrichene Gipsplatten und Eichenböden in den Ausstellungsräumen, grauer Marmor bei den Treppen, verzinkte Bleche im Eingangsgeschoss sowie ein analog zum Hauptbau grob strukturierter Verputz im Treppenhaus. Dessen ausgesprochen kühles, etwas gewöhnungsbedürftiges Grau steht in deutlichem Kontrast zum warmtonig gehaltenen Gebäude der 1930er-Jahre.

Die mit der Farbgebung verbundene Atmosphäre des Neubaus entspricht einem wesentlichen Zug der hervorragenden, weltweit ältesten öffentlichen Kunstsammlung: «Nüchternheit, Strenge und radikale Wirklichkeitsbefragung sind – vielleicht aus einer speziell baslerischen protestantischen Tra­dition heraus – über mehrere Jahrhunderte hinweg wichtige Kategorien für Ankaufsentscheide gewesen.

Daneben existiert jedoch auch eine diese Tradition ­kreuzende Leitlinie, die von der Lust zur Opulenz, zum Fabulieren, zu Ausschmückung und Faszination am Ding charakterisiert ist.»[3]

Treppenhäuser als Rückgrat

Solche Kontrapunkte begegnen einem auch im Neubau, besonders im Treppenhaus. Da finden sich eine überraschend geschwungene Treppenuntersicht, eine elegant geschnittene Geländerabdeckung in Marmor oder eine Verschwenkung der Treppenläufe zueinander.

Auf diese Weise entsteht eine Dynamik, die eingangs als befreiender Flügelschlag bezeichnet wurde. Die neue Treppe, die von der Eingangshalle des Hauptbaus hinunter zum grosszügig dimensionierten und mit Kunst bestückten Verbindungstrakt unter der Dufourstrasse führt, folgt der rechtwinkligen Logik des Bestands.

Das daran anschliessende Foyer im Untergeschoss der Erweiterung ist jedoch leicht abgedreht, worin sich die Positionierung des Neubaus manifestiert. Weil alle Ausstellungsbereiche parallel zu den umgebenden Strassen angeordnet sind, entsteht ein polygonaler Treppenraum, der die unregelmässige Form des Grundstücks aufnimmt und in eine ebenso imposante wie spannende Raumfolge übersetzt.

Dank der gleich starken Gewichtung der Treppenanlage im Neubau wie im Hauptbau entsteht eine innenräumliche Verklammerung der beiden Häuser, die bereits im Stadtraum als Paar auftreten. Es gelingt den Architekten, den Rahmenbedingungen der hochkomplexen Aufgabe gerecht zu werden und sie scheinbar mühelos in eine geometrisch entspannte Ordnung von hoher Stabilität zu überführen. Sie verleiht dem Neubau physische und stadträumliche Präsenz.


Anmerkungen:
[01] «Bautechnisches vom neuen Basler Kunstmuseum». In: Schweizerische Bauzeitung, 26.6.1937, S. 307.
[02] Fritz Schumacher: Das Wesen des Neuzeitlichen Backsteinbaus. München: Callwey 1920, S. 17.
[03] Bernhard Mendes Bürgi: «Vorwort». In: Derselbe und Nina Zimmer (Hrsg.): Kunstmuseum Basel. Die Meisterwerke. Ostfildern: Hatje Cantz 2001, S. 6–7.

TEC21, Fr., 2016.08.12

12. August 2016 Christoph Wieser

Keine Illusion

Die Fassade der Erweiterung des Kunstmuseums in Basel ist gemauert, riesig und ohne Dilatationsfugen erstellt – mit ein Grund, weshalb sich der Neubau geglückt in den Kontext eingliedert. ZPF Ingenieure aus Basel konzipierten die Fassadenkonstruktion, ohne ein Trugbild zu erstellen.

Als grauer, präzise geformter Körper bettet sich die Erweiterung in den städtischen Kontext mit dem monumentalen Hauptbau gegenüber und der St. Alban-Vorstadt daneben, einer der historisch wertvollen Altstadtgassen Basels (vgl. «Eigenständig, aber eng verbunden»). Der aus einem strukturellen Entwurf von den Architekten Christ & Gantenbein entwickelte Kubus hat gegenüber den Häuserzeilen in seiner Umgebung eine auffallende Proportion und Dimension.

Mit seiner Form und Grösse kontrastiert er das Massintervall im direkten Umfeld, gleichzeitig orientiert er sich auch an ihm: Der vertikale Farbverlauf von dunklem zu hellem Grau nimmt Bezug zum Hauptbau und den umliegenden Gebäuden. Ausserdem betten sich die kolossalen Wandflächen aus Sichtmauerwerk von bis zu knapp 28 m Höhe nuanciert und erstaunlich konform in den Kontext. Erstaunlich deshalb, weil historische und moderne Fassaden vor allem aus technischer Sicht so unterschiedlich sind.

Gerade das Fassadenbild des Neubaus ermöglicht die geglückte Eingliederung in den städtischen Kontext. Es oszilliert zwischen einer hellen, einheitlichen Fläche aus der Weite und einer rauen, handgefertigten Anmutung aus der Nähe. Damit öffnet sich ein Spannungsfeld zwischen detaillierter Feinheit und oberflächlicher Einfachheit – ein Effekt, wie ihn Fassaden vor allem historischer Häuserzeilen bewirken können.

Das durchdachte Konstruktionsprinzip der Basler ZPF Ingenieure ermöglichte diese Wirkung – keine einfache Aufgabe, denn aktuelle Dämmanforderungen verhindern heute oft die in europäischen Altstädten so prägenden monolithischen Fassaden von Massivbauten.

Fassade und Massivität

Bevor Wärmedämmanforderungen an Gebäude gestellt wurden, waren Wände vergleichsweise homogene Gebilde, die durchgängig gemauert werden konnten. Infolge der Ansprüche an den Energieverbrauch von Gebäuden ist eine solche Bauweise heute nur noch selten möglich. Die erforderliche Dämmschicht bricht die Wand als kompaktes Tragwerk auf, den Abschluss zum Stadtraum bilden meist leichte Schichten wie Verputz, Plättchen, Glasplatten oder Blech, die vor der Dämm­ebene aufgebracht werden.

Die äussere Wandschicht ist zudem von der Tragkonstruktion thermisch entkoppelt und hohen Temperaturschwankungen ausgesetzt. Aussenhaut und Innenkonstruktion sind somit infolge unterschiedlicher Temperaturen differenziellen Bewegungen ausgesetzt. Vor allem auch deshalb sind Mauer­werksfassaden – vor allem solche in der schieren Grösse des Erweiterungsbaus – zu komplexen Ingenieurtragwerken geworden.

Bei bisherigen Standardlösungen wird die äus­sere Wandschicht als Mauerwerksimitat an die Dämmung geklebt oder als Vormauerung an die innenliegende Tragkonstruktion gehängt und mit horizontalen und vertikalen Bewegungsfugen versehen. Solche Bewegungsfugen sind zwar klein und kaum wahrnehmbar, trotzdem prägen sie das Erscheinungsbild einer neu erstellten Fassade markant.

Die jüngeren Konstruktionen unterschieden sich dadurch von den monolithischen (ohne Dilatationsfugen = fugenlos) Fassadenwänden. Das Konstruktionsprinzip Ersterer widerspricht zudem dem Baumaterial Mauerwerk – dessen Eigen­schaften werden nicht ausgeschöpft, nicht einmal mehr vertikale Lasten werden übernommen. Die Standardlösungen erzeugen folglich ein illusionäres, irreführendes Bild der Fassade. Die wahre Massivität der Mauerwerks­fassade geht verloren – aus konstruktiver, aber auch aus gestalterischer und oft auch optischer Sicht.

Um die architektonische Massivität im Sinn einer ­kompromisslosen Klarheit des Fassadenentwurfs trotz aktuellen Ansprüchen zu bewahren, liessen sich die ­Ingenieure von ZPF auf einen herausfordernden ­Planungsprozess ein. Sie fanden einen ingeniösen Weg, die monolithischen Fassaden wiederzubeleben, ohne die diversen Anforderungen einzuschränken und insbesondere ohne dabei ein Trugbild zu erstellen. Sie konstruierten eine selbsttragende und durchgehend fugenlose Aussenhaut.

Handwerk und Simulationen

Die zehn Wandabschnitte des polygonalen Baus sind 9.4 m bis 32.4 m lang und insgesamt 75 bis 85 cm dick. Auf der inneren, 30 bis 40 cm dicken Betonwand klebt die 24 cm starke Dämmschicht, und zwischen der Isolation und der Fassade ist ein rund 4 cm breiter Luftraum angeordnet. Die äussere etwa 172 bis 197 mm starke Schale aus dänischen Vollziegeln (228 × 108 × 40 mm) ist frei stehend, in sich bewehrt und an die innere Betonwand rückverankert.

Die Bewegungen der Fassade werden von Lagern, Ankern und den Mörtelfugen aufgenommen. Dabei handelt es sich um konstruktive Elemente, die mit Forschungsarbeit, Versuchen und Computersimulationen entwickelt und geprüft wurden, weil dieses Konstruktionskonzept in der Schweiz für Grossprojekte bislang noch nicht angewendet wurde.

Nach dem Vorprojekt beauftragten die Ingenieure den dänischen Experten Hans Bendix Pedersen von Grontmij A/S in Glostrup mit einer unabhängigen Überprüfung des Konzepts. Eine zweite Prüfung erfolgte auf Wunsch der Bauherrschaft durch Dr. Hans Rudolf Ganz der Ganz Consulting in Bösingen.

Im Anschluss an die positiven Rückmeldungen erfolgten experimentelle Untersuchungen der einzusetzenden Ziegelsteine, des Mörtels und der Verankerung. Das Fassaden-Mock-up wurde mit Sensoren bestückt und die Temperatur im Innern der Mauer über einen halben Jahreszyklus gemessen und aufgezeichnet. Die Messungen bestätigten den Entscheid der Ingenieure, die rechnerisch ein­zusetzende Temperaturdifferenz von ±15 °C nach SIA 261:2003 auf projektspezifische ±25 °C zu erhöhen.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Harald Schuler führte die Fachhochschule Nordwestschweiz zudem eine aufwendige Versuchsreihe im Zusammenhang mit Mauerwerk und Verankerung durch.

Drei Druck- und 25 Ausziehversuche der Verankerung an 29 cm hohen, 1.5 Ziegelsteine tiefen und 46 cm breiten Mauerstücken – eigens dafür erstellte Probekörper in zwei Grautönen (ganz hell und ganz dunkel, um die Unterschiede der Herstellung auszuschliessen) – übertrafen die statisch notwendigen Widerstände nach Abminderung durch die Sicherheitsbeiwerte. Zusätzliche experimentelle Prüfungen erörterten die Frost-Tau-Beständigkeit des Baustoffs. Auch diese Versuche fielen für die vorgesehenen Steine positiv aus.

Die Erstellung der Fassade und die Produktion der Ziegel erforderten viel handwerkliches Know-how und Geschick. Die Produktion erfolgte maschinell, jedoch bewusst nicht wie bei herkömmlichen Backsteinen im Strangpressverfahren. Stattdessen presste man einen nassen Lehmklumpen in einen Holzrost und strich den überflüssigen Lehm ab. Die Steine werden weniger homogen, sie unterscheiden sich in Textur und Form leicht voneinander und geben der Fassade eine handwerkliche, vorindustriell gefertigte Komponente.

Gemauert wurden die Fassadenwände schliesslich in reiner Handarbeit. Auf knapp 4000 m² Fassadenfläche (inkl. Öffnungen) verlegten die Maurer anderthalb Steine in der Tiefe pro Lage und damit rund 550 000 Ziegel in 399 (strassenseitig) bis 528 (hofseitig) Lagen – jede Steinlage mit individuellen Anforderungen und Detaillösungen: drei ineinander laufende Grautöne, vier Mauerwerksarten (liniertes Relief 2 cm, liniertes Relief 1 cm, LED-Fries, glattes Mauerwerk), vier Mörtel (einer für unter Terrain plus drei Lagen über Terrain, drei für über Terrain in verschiedenen Farbtönen), 18 Öffnungen (12 Fenster in sechs verschiedenen Geometrien, sechs Türen in sechs verschiedenen Geo­metrien und Ausführungen) sowie diverse integrierte Spezialelemente wie Überwachungskameras, Aussenwasserhahn, Badge-Leser, Schlüsseltresor, Wandleuchte, Mauerringe und Mauerbolzen zur Befestigung von Strassenbeleuchtung und Tramfahrleitungen.

Konstruktive Einfachheit

Hinter der schlichten und doch prägnanten Aussenhaut steckt differenzierte, anspruchsvolle und profunde Konstruktionsarbeit. Es entstand eine Mauerwerks­fassade, die den aktuellen energetischen Anforderungen zu entsprechen vermag und zugleich die architektonischen Ansprüche erfüllen kann.

Ermöglicht haben es die Ingenieure, die eine Konstruktion entwickelten, die dem Mauerwerk gerecht wird. Dabei bleiben sie der ingenieurspezifischen Terminologie treu, wonach mit Massivität nicht nur die Masse, sondern in gewissem Sinn auch der Massivbau angesprochen ist. Sie erstellten eine Fassade, die als raumabschliessendes Element mit der vertikalen Lastabtragung zumindest teilweise auch eine statische Funktion übernimmt und die ohne störende Dilata­tionsfugen sowie selbsttragend tatsächlich einen massiven Körper darstellt. Diesem konstruktiven Kunstgriff und dieser konstruktiven Einfachheit liegt das Potenzial inne, die herkömmliche Massivität eines städtischen Fassadenbilds zu erhalten.

TEC21, Fr., 2016.08.12

12. August 2016 Clementine Hegner-van Rooden

Unvollendeter Brückenschlag

Mit dem Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum in Chur gelingt den Architekten Barozzi/Veiga ein gut gesetzter, expressiver Solitär. Bei der Verbindung zum ebenso qualitätsvollen Bestand aber hapert es.

Die Bündner Identität ist bisweilen eine fragile Angelegenheit: Die Bundesverwaltung zählt das Bündnerland zwar zur Ostschweiz, doch den Kantonen von Schaffhausen bis Glarus fühlen sich die Bündnerinnen und Bündner nicht zugehörig. Vor einigen Jahren wurde für dieses Bewusstsein der Begriff «Südostschweiz» geprägt, der sich aber erst mit dem gleichnamigen Medienhaus verbreitete.

Das kulturelle Selbstverständnis der Bündner hatte im Kunstmuseum Chur immer eine prominente Bühne und die als autochthon erlebte Kultur einen wunderbaren Ort, an dem sie sich manifestieren konnte. Junge Künstlerinnen und Künstler starteten ihre Karrieren als Laureaten des Manor-Kunstpreises mit einer Ausstellung in der Villa Planta – unter ihnen Zilla Leutenegger 2004 oder Mirko Baseglia mit seinem fantastischen Kabinett von verstörenden Objekten, die 2013 auf höchst charmante Art das Bündner Kunstmuseum besetzten.

Im gleichen Jahr fanden auch die beiden Ausstellungen «Ansichtssache – 150 Jahre Architekturfotografie in Graubünden» und die Jahresausstellung der Bündner Künstlerinnen und Künstler statt – all dies formte das Bild des Bündnerlands gegen innen und gegen aussen. Und über alldem thronen die Titanen: Segantini, Kirchner, Giacometti.
Erweitern, aber nicht bedrängen

Das Bündner Kunstmuseum ist das Gravitationszentrum dieser kulturellen Identität und sein Mittelpunkt wiederum die eigenwillige Villa Planta, die Ende des 19. Jahrhunderts für den Baumwollhändler Jacques Ambrosius von Planta erstellt wurde, der aus Alexandria in die Heimat zurückkehrte (vgl. Kasten unten). Das reich verzierte, neopalladianische Gebäude erinnert mit seinem ausschweifenden baukünstlerischen Schmuck an die Villa Patumbah in Zürich (vgl. TEC21 41–42/2013).

Nach dem Umbau 1987–1989 wurde das ehemalige Naturmuseum, der sogenannte «Sulserbau», über eine Passerelle verbunden und für Wechselausstellungen genutzt, das Untergeschoss der Villa diente als katakombenartiges Kabinett. Der nun erfolgte Erweiterungsbau sollte das Bündner Kunstmuseum in eine neue Liga hieven: Um rund 2500 m² Nutzfläche sollte das Haus anwachsen und damit auch die Möglichkeiten, völlig anders ausgerichtete Ausstellungen zu zeigen.

An dieses Programm, das einen Zuwachs zum Bestand von rund 140 Prozent bedeutet, haben sich 18 Teams im selektiven Wettbewerb gewagt. Die zentrale Aufgabe bestand darin, der Villa Planta einen Nachbarn an die Seite zu stellen, der mit ihr zwar eine Einheit bildet, sie aber nicht zu sehr bedrängt. Unter dem Titel «Die Kunst der Fuge» haben die Architekten Barozzi/Veiga aus Barcelona ihr Siegerprojekt abgegeben – die namensgebende Fuge bezog sich ebenso auf das Verhältnis zum Stammhaus wie auf die Fügung der Fassaden aus vorgefertigten Betonelementen.
Gut gesetzt, aber schlecht verbunden

Die Erweiterung zeigt eine überzeugende Lösung für die gestellte Aufgabe: Die zwei Ebenen der Ausstellung sind im Boden versenkt, wodurch im Stadtraum ein gut proportioniertes Volumen übrig bleibt, das Distanz zum Stammhaus wahrt und dennoch seine Selbstständigkeit behält. Im Schnitt zeigt sich die Konsequenz dieser klaren Haltung: Der oberirdische Teil umfasst lediglich einen Bruchteil des Volumens.

Was sich bereits im Wettbewerb andeutete, wurde mit der Umsetzung belegt: Das Gebäude fügt sich sehr gut in diese Ecke der Stadt. Ebenso gelungen sind die abstrakt ausgeführten Fassaden mit Betonelementen. Ihre wenigen, präzise gesetzten Öffnungen unterstützen die beinahe sakrale Erscheinung der aus profilierten Quadern gefügten Oberfläche. Die Verkleidung der Fassaden wechselt ab zwischen geschlossenen Teilen und durchlässigen, hinter denen sich Fenster verbergen.

Auf diese Weise treten auf den ersten Blick lediglich die Öffnungen im Erdgeschoss in Erscheinung: der in eine betonierte Laibung gefasste Eingang, ein liegendes Fensterband im betonierten Sockel gegen Osten und das geschosshohe Panoramafenster zur Villa Planta. Die Architekten berufen sich in ihrem Entwurf wiederholt auf Eigenschaften der Villa Planta: Symmetrie und Ornament sind die beiden Begriffe, die in ihrem Erläuterungsbericht wie auch bei der Führung vor Ort immer wieder fallen.

Um diese Themen kreist der Entwurf der katalanischen Architekten, dank ihnen verknüpfen sie Bestand und Neubau. Doch in welcher Gestalt tauchen diese beiden Motive in der Erweiterung auf? Erschöpft sich die Verwandtschaft in der Narration des Entwurfs, oder führen die beiden Begriffe zu einer tieferen Verbindung der beiden Häuser? Die Verwandtschaft ist zwar nachvollziehbar, aber es fällt schwer, sie auch nachzuempfinden.

Die Symmetrie der Villa Planta ist fein moduliert und der Eingangsbereich zur Bahnhofstrasse ist als Portikus ausgebildet – ein Element, das die Architekten mit ihrem scharf geschnittenen Portal aus Beton aufnehmen und damit ihr Haus auf die Grabenstrasse ausrichten.

Auch der Blick auf die Grundrisse zeigt eine Verwandtschaft bezüglich Symmetrie, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: In der Villa sind die Räume rund um ein zentrales Treppenhaus als Enfilade angeordnet, während im Erweiterungsbau durchgehende Säle zwischen den beiden raumhaltigen Schichten liegen.

Dies führt dazu, dass die oberirdischen Räume der Erweiterung über die Längsseite betreten werden, was zwar in den Obergeschossen mit Labor (Wechselausstellung, 1. OG), Museumspädagogik (2. OG) und Werkstätten (3. OG) durchaus funktioniert, in der Eingangshalle jedoch zu Irritationen führt: Gegen Osten geht der Blick in die banale Ecke zwischen Zeughaus- und Grabenstrasse, nach Westen ist auf der ganzen Breite die Rückseite der Villa Planta zu sehen.

Just an dieser Stelle stand früher die Passerelle, die das Stammhaus mit dem für den Neubau abgerissenen Sulserbau verband. Sie war eines der zentralen Elemente im Umbau von 1987–89 von Peter Calonder, Hans-Jörg Ruch (der auch in der Jury für den Wettbewerb der Erweiterung sass) und Urs Hüsler sowie Peter Zumthor – und sie war ein sehr poetisches Bauteil.[01]

Es mag eine Sentimentalität sein, dass diese Leerstelle dem Besucher schmerzhaft ins Auge sticht, doch die Panoramafenster richten den Blick auf ein Manko des Entwurfs: die Anbindung an die Villa. Diese will auf der Ebene der Details nicht gelingen, denn die vollflächige Pflasterung mit Bundsteinen rund um die Erweiterung findet keine Entsprechung im Kiesbelag des Haupthauses.

Eine kniehohe Mauer schneidet zudem das neue Haus aus dem Geviert heraus – eine verpasste Chance, wenn man bedenkt, wie gut sich das Volumen sonst in seine Umgebung einfügt. Als Fremdkörper wirkt zudem ein bündig in den Kiesbelag eingelassenes und mit einem Ornament versehenes Glas vor dem Sockel der Villa: Es ist das Oberlicht über dem Verbindungsgang zum Altbau.
Räume wie Versprechen

In den unterirdischen Ausstellungsgeschossen zeigt sich das Konzept von Barozzi/Veiga vielgestaltig und variantenreich. Eine zusätzliche Raumschicht umgibt die beiden Kerne, und im 1. Untergeschoss folgt eine Enfilade von neutralen, länglichen Ausstellungsräumen, in deren Decken grosse Leuchtenfelder eingelassen sind. Die Decken leuchten die Säle als Grundbeleuchtung aus, rund um die Felder sind Schienen eingelassen, an denen bei Bedarf Spots und Projektoren hängen.

Als Leuchtmittel dienen im gesamten Haus LED-Leuchten, die ein überraschend angenehmes Licht verbreiten: Lediglich wenn sie gedimmt werden – wie dies bei der grafischen Sammlung der Fall ist –, hat das Licht einen eigenartigen Stich ins Graue. Die Detaillierung ist abstrakt gehalten: Nur wenige Installationen stören die glatten weissen Wände. Zwischen den Stützmauern und den Ausstellungswänden verläuft eine umlaufende Installationsschicht, in der die Medien geführt werden.

Das 1. Untergeschoss mit seinem kammerartigen Grundriss beherbergt die Sammlung. Da die Trennwände entfernt werden können, bietet es Raum für unterschiedlich grosse Ausstellungen mit verschiedenen Konzepten. Die Architekten präsentieren hier zeitgemässe Ausstellungsräume auf Augenhöhe mit anderen Häusern. Ihr wahres Potenzial zeigen die Räume aber im 2. Untergeschoss, in dem die trennenden Wände weggelassen wurden und der Raum sich rund um die beiden Kerne herum entwickelt.

Im Teil mit den Wechselausstellungen beweist das Team um Museumsdirektor Stephan Kunz eindrücklich, dass es diese neuen Räume auch zu nutzen versteht. Die Eröffnungsausstellung «SOLO WALKS» wartet mit grossformatigen Werken auf, die viel Platz benötigen: Im Bündner Kunstmuseum wird in Zukunft mit der grossen Kelle angerührt.
Die Kunst solls richten

Besonders interessant ist auch in den Ausstellungsgeschossen die Verbindung zum Altbau. Was sich an der Oberfläche abzeichnet, wiederholt sich im Untergeschoss: Die Anbindung an die Villa Planta ist nicht mit der gleichen Konsequenz und Liebe zum Detail gelöst wie die restliche Erweiterung.

Das Konzept lässt sich keinem der beiden Häuser zuordnen: Das bereits erwähnte Glas mit geometrischem Muster dient als Oberlicht über dem Verbindungsgang, die Treppe vermag weder die räumlichen Qualitäten der Erweiterung zu transportieren noch diejenigen der Villa Planta aufzunehmen. Mehr noch, in der neuen Halle im Untergeschoss der Villa stellt sich zum zweiten Mal ein Phantomschmerz ein: Der ehemals eigenwillige, katakombenartige Raum ist einer sterilen Halle mit einer Tendenz zum Monumentalen gewichen.

Auch hier schliesst wieder ein geätztes Glas die Decke ab, diesmal geht der Blick durch ein Motiv, das den Bodenplatten nachempfunden ist, nach oben ins Atrium der Villa.

Die Instandstellung der Villa Planta wurde in einem separaten Verfahren ausgelobt: Das Planerwahlverfahren gewann das Büro Gredig Walser Architekten AG aus Chur. Es musste die Anforderungen der unterschiedlichen Nutzungen (Ausstellung, Cafébetrieb, Verwaltung) mit der Ertüchtigung bezüglich Brandschutz, Feuchteschutz und dem Ersatz des Dachs vereinen.

Das Resultat ist in sich ebenso überzeugend wie der Erweiterungsbau, doch die Verbindung der beiden Häuser ist noch nicht vollzogen. Vielleicht gelingt dieser Spagat folgenden Generationen Bündner Künstlerinnen und Künstler – Brücken zu bauen ist schliesslich auch wesentlicher Teil ihrer Kultur.


Anmerkung:
[01] Der Churer Bauingenieur Patrick Gartmann konnte die Passerelle retten. Momentan wartet sie auf einer Brache auf einen neuen Einsatz.

TEC21, Fr., 2016.08.12

12. August 2016 Marko Sauer

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