Editorial

Anhand von verschiedenen Ausstellungsgestaltungen (temporären und dauerhaften) stellen wir unterschiedliche Herangehensweisen und Haltungen bei der Konzeption und Umsetzung komplexer »Ausstellungslayouts« vor. Um ein Thema überzeugend, stringent und für den Betrachter nachvollziehbar in Szene zu setzten, ist u. a. die frühzeitige und konstruktive Zusammenarbeit zwischen Architekten, Kuratoren, Grafikern und Handwerkern entscheidend. | Ulrike Kunkel

Farbenfroher Kosmos

(SUBTITLE) Wanderausstellung »Alexander Girard. A Designer’s Universe« in Weil am Rhein

Der spielerische und dabei doch klar strukturierte ­und systematische Umgang mit Farbe, Form und Ornament prägt das Werk Alexander Girards und ebenso die Ausstellungsgestaltung des jungen Architekturbüros Raw Edges aus London, das die Ausstellung über Leben und Werk des Designers am Vitra Design Museum in Szene ­gesetzt hat.

Unter den Designern, deren Nachlässe das Vitra Design Museum besitzt und deren Produkte von Vitra vertrieben werden, ist Alexander Girard sicher der unbekannteste geblieben. 1907 in New York geboren, in Florenz aufgewachsen und an der Architectural Association in London ausgebildet, kehrte er 1932 in seine Heimatstadt zurück und gründete dort ein Studio für Innenarchitektur. 1937 übersiedelte er nach New York, wo er Kontakte zu der auf Radiogeräte spezialisierten Firma Detrola aufbaute und zu deren Chefdesigner er 1945 aufstieg. In diesem Zusammenhang lernte Girard Charles and Ray ­Eames kennen, drei Jahre später Eero Saarinen; Saarinen und die Eames ­waren es auch, die ihn an die Möbelfirma Herman Miller vermittelten.

Als Leiter der neugeschaffenen Textilabteilung entwarf Girard für Miller mehr als 300 Textilien, die ganz maßgeblich sein bleibendes Verdienst als Designer ­darstellen.

Anders als seine Kollegen verstand sich Alexander Girard nicht als Objekt- und Produktdesigner. Er besaß niemals ein großes Büro, sondern arbeitete die meiste Zeit als Ein-Mann-Unternehmen, unterstützt von wechselnden Assistenten.

Ausschlaggebend dafür war sein kunsthandwerkliches Verständnis der Profession, das sich besonders in seiner Liebe für Volkskunst manifes­tierte. Diese Leidenschaft hatte schon in der Kindheit begonnen und ließ ihn zu einem nachgerade obsessiven Sammler werden; letztlich war sie auch der Grund für seine Übersiedlung 1953 nach Santa Fe in New Mexico, wo die ­mexikanische Kultur sich als deutlich spürbar erwies.

Seine Sammlung, die mehr als 100 000 Objekte umfasst, wird im Museum of International Folk Art in Santa Fe aufbewahrt, wo Girard 1982 die noch heute bestehende Ausstellung »Multiple Visions: A Common Bond« einrichtete. Der übrige Nachlass gelangte 1996 – Girard war drei Jahre zuvor in Santa Fe ­gestorben – an das Vitra Design Museum nach Weil am Rhein.

Gut 20 Jahre später hat der Chefkurator des Museums, Jochen Eisenbrand, nun die lang erwartete erste große monografische Girard-Ausstellung erarbeitet. Dabei hieß es einmal wieder, mit der speziellen Raumsituation des Frank-Gehry-Baus umzugehen, der zunächst gar nicht für seine heutige Nutzung ­als Haus für Wechselsausstellungen geplant worden war. Als Vitra-CEO ­Rolf Fehlbaum 1986 dem amerikanischen Architekten den Auftrag erteilte, ­bestand die Absicht, hier die eigene Möbelsammlung für Freunde und Geschäftspartner zu präsentieren. Erst durch das Zusammentreffen Fehlbaums mit dem Möbelsammler Alexander von Vegesack, der dann zum Gründungsdirektor avancierte, entstand die Idee eines von der Firma unabhängigen Design Museums, dessen anspruchsvolle Wechselausstellungen nicht zuletzt durch weltweite Tourneen mitfinanziert werden sollten. 1989 eröffnete das Museum als erstes europäisches Werk des Architekten; obwohl nie als klassisches Museumsgebäude konzipiert, kann es doch als Nukleus all jener weit größeren Museumsbauten gelten, mit denen Gehry später reüssieren sollte.

Die Ausstellungsfläche des Vitra Design Museums ist relativ beschränkt und überdies nicht leicht zu bespielen, da drei der Haupträume – die im übrigen, auch wenn die Außenansicht des dekonstruktivistischen Baus anderes vermuten lässt – rechteckige Grundrisse besitzen – miteinander visuell verbunden sind und z. T. extreme Raumhöhen aufweisen. Von der Galerie des vierten Raums blickt man zurück in die Räume darunter, sodass die Exponate stets aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden. Es gilt also für Kuratoren und Gestalter einerseits, ortsspezifische Lösungen zu finden, die auf die Eigenarten des Gehry-Baus abgestimmt sind, und andererseits Ausstellungen so zu konzipieren, dass sie als Wanderausstellungen in völlig unterschiedlichen räumlichen Kontexten gezeigt werden können.

Nachdem in den früheren Jahren vornehmlich Dieter Thiel für die Ausstellungsdesigns verantwortlich gewesen war, haben die Kuratoren in der vergangenen Zeit mit wechselnden Gestaltern und Architekten zusammengearbeitet – u. a. mit dem Berliner Büro Kuehn Malvezzi. Für Jochen Eisenbrand kam eine kühle, klassische und etwas trockene Präsentation angesichts des farbenfrohen Œuvres von Girard aber nicht infrage. Daher ging der Auftrag an das Büro Raw Edges, das von den beiden Israelis Shay Alkalay und Yael Mer 2007 in London gegründet wurde, nachdem sie ihren Bachelor an der Bezalel Academy in Jerusamlem und ihren Master am Royal College of Art in der britischen Kapitale absolviert hatten. Mit steigendem internationalen Erfolg sind Raw Edges seither in verschiedenen Bereichen tätig: als ­Textil- und Produktdesigner, aber auch als Gestalter von Showrooms. Das Schneiderhandwerk ist für sie ein wichtiges Referenzfeld, und immer wieder spielt die Auseinandersetzung mit Stoff eine zentrale Rolle für sie. So entwickelten sie etwa eine Stuhlkollektion, deren Sitze aus individuell geformten, kunstharzgehärteten Filzrollen bestehen; und für den Auftritt des dänischen Herstellers Kvadrat auf der Stockholm Furniture & Light Fair Anfang 2013 realisierten sie einen Auftritt, bei dem der Raum durch gestaffelte, hängende Textilbänder gefasst wurde. Dieser Auftrag war es, der den Ausschlag zur Beauftragung durch das Vitra Design Museum gab – und damit zur ersten Realisierung einer Museumsausstellung von Raw Edges führte. In enger Abstimmung entstand ein Konzept, das von Arbeiten Girards inspiriert ist, diesen jedoch nicht allzu direkt folgt. Es handelt sich also weniger um Nachbauten von Raum- oder Ausstellungssituationen als um assoziative Adaptionen. Das wird insbesondere im zweiten Ausstellungssaal deutlich, der den Textilentwürfen gewidmet ist. Von Papprollen abgewickelt, hängen die Stoffmuster an den Wänden und lassen die ­Atmosphäre eines Textil-Verlagskontors anklingen; andere Stoffbahnen sind zeltartig über den Raum gespannt und greifen damit Elemente der Ausstellung »The Design Process at Herman Miller« ­auf, die Girard 1975 im Walker Art Center in Minneapolis eingerichtet hatte. Die Sitzmulde mit den unterschiedlich bezogenen Kisten im folgenden Raum hat ihr Vorbild in Girards Innenraumgestaltung von Eero Saarinens »Miller ­House in Columbus«, Indiana, während die Bestückung der großen, den Wänden folgenden Glasvitrinen an Objektarrangements Girards orientiert ist. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die 60 m lange Wandgestaltung, die er 1964 ­für das Verwaltungszentrum des Landmaschinenherstellers John Deere in Moline, Illinois, realisierte.

Um den Anforderungen der Wanderausstellung gerecht zu werden, lassen sich sämtliche Einbauten zerlegen. Das gilt für die im separaten ersten Raum installierten Sperrholztafeln, die mit Stahlrohren an den Wänden befestigt sind, ebenso wie für die diversen Vitrinen. Deren größte befindet sich im OG und dient der Präsentation der Volkskunst-Objekte. Mit Podesten ist innerhalb der Vitrine eine Stufenlandschaft gestaltet. Rundbogenelemente finden sich sowohl hier als auch in einem kleinen Kabinett im ersten Raum, in dem das spielerische Projekt der »Republic of Fife« vorgestellt wird, dem Entwurf eines fiktiven Staats, der Girard während seiner Jugend- und Studienjahre beschäftigte.

Neben der Materialfarbigkeit des Sperrholzes an verschiedenen Paneelen und den Vitrinen setzten die Ausstellungsgestalter auf vereinzelte Farbakzente, die sie der Palette Girards entlehnt haben. Farben haben den Designer ein Leben lang beschäftigt: bei seinen Interieurs, bei seinen Stoffentwürfen, aber auch bei einem Farbkonzept für das Geschäftszentrum der Washington Street (1964) in Columbus. Mal nutzte er eher pastellfarbene Töne, mal aggressive Farben in ungewöhnlichen Kombinationen. Für die Gestalter galt es eine Balance zu finden, um die Eigenfarbigkeit der Exponate nicht zu konkurrenzieren. Farbakzente werde daher eher zurückhaltend gesetzt, nur in dem kleinen Seitenraum, in dem es um Girards Gestaltungskonzept der Braniff Airline geht, werden seine Streifendekore zu einer farbintensiven, raumbeherrschenden Supergrafik.

Insgesamt ist es Raw Edges gelungen, für das Werk von Alexander Girard eine Szenografie zu finden, die weder unterkühlt ist noch sich gegenüber dem farbigen Kosmos des Designers in den Vordergrund drängt. Die Inszenierung wird also im besten Sinne dem Werk von Girard gerecht.

db, Fr., 2016.06.03

03. Juni 2016 Hubertus Adam

Bar jeder ­Bergidylle

(SUBTITLE) Sonderausstellung »FRONT – HEIMAT«. Tirol im Ersten Weltkrieg in Innsbruck (A)

Unter Verwendung natürlicher Materialien, weniger ­Formen und dezenter Farben entwickelten die Architekten ein veränderbares Ausstellungssystem, das die dargestellten Themen auch architektonisch erfahrbar macht und in das die einzelnen Exponate wie eingewoben sind. Die variable Struktur zieht sich konsequent durch die Ausstellungsgestaltung und setzt das sensible Thema »Tirol im Ersten Weltkrieg« angemessen in Szene.

Fläche und Linie – darauf basiert ganz wesentlich das bestechend klar und einfach gehaltene architektonische Gesamtkonzept der Ausstellung »Front – Heimat« von münzing architekten aus Stuttgart am Tiroler Landesmuseum in Innsbruck. Vertikal oder horizontal angeordnet, verdichtet oder aufgeweitet, nebeneinander oder ineinander verschränkt, geordnet oder in Unordnung geraten: Das System aus Flächen und Linien wird über die neun Ausstellungsstationen jeweils variiert und verdeutlicht so auf architektonische Weise die dargestellten Themen eindrücklich für den Betrachter.

Ordnung und Unordnung

Die Sonderausstellung (gezeigt von Mai bis November 2015) thematisierte auf rund 1 200 m² auf zwei Ebenen die Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Kriegsende in Tirol. Mit dem Kriegseintritt Italiens am 23. Mai 1915 wurde auch Tirol zum Kriegsschauplatz und in den Alltag der Bevölkerung, in ihre Heimat, drängte sich die Frontlinie hinein – daher auch der Ausstellungstitel Front – Heimat. Erzählt wird aus der Perspektive von Einzelpersonen, das besondere Augenmerk liegt auf dem Menschen und seinen alltäglichen Erfahrungen und Katastrophen in dieser Zeit. Als Grundthema gingen die Architekten, die frühzeitig in die Überlegungen zum Ausstellungskonzept mit einbezogen wurden und dieses mit entwickelten, den Fragen nach: Was verändert sich, wenn plötzlich in der Heimat eine Front entsteht? Welche Umwidmung erfahren gewohnte Gegenstände, Themen und ­Situationen in Kriegszeiten? Um das zu beantworten und für den Besucher nachvollziehbar zu machen, bildet den Auftakt der Ausstellung eine Art ­Bestandsaufnahme Tirols im frühen 20. Jahrhundert. Mit wenig Text und zahlreichen Objekten wie Tourismusplakaten, Modelleisenbahnen, Möbeln und Gebrauchsgegenständen wird ein Stimmungsbild erzeugt. Die Ausstellungsarchitektur ist hier klar und geordnet, wie das ungestörte Leben vor Kriegseinbruch, Flächen und Linien bilden Räume für verschiedene Situationen, die skizzenhaft Eindrücke vermitteln.

Nachdem der Besucher zunächst also auf die damalige Zeit eingestimmt ­wurde, kommen am sogenannten Strategietisch und in den Rahmenstruk­turen gegenüber geschichtliche Fakten und Hintergründe hinzu. Daran ­anschließend, in einem immer dichter und unübersichtlicher werdenden »Stelenwald« werden Einzelschicksale anhand von Totenbildern und Totenbüchern dargestellt; der Krieg wird präsent, die Geschichten der Front stören den Alltag und prägen ihn. Dies wird auch über die Ausstellungsinstallation vermittelt: Die Struktur beginnt sich aufzulösen, die Installation lässt den Raum nach hinten hin immer enger werden, der Besucher wird (durch den Krieg) bedrängt und eingeengt. Verstärkt wird dieser Eindruck zusätzlich durch die gegenüber liegende, sich schräg in den Raum schiebende Medienwand, auf der über projizierte Bilder und Schlagzeilen von Flugblättern und Zeitungen den persönlichen Schicksalen die offizielle Kriegspropaganda ­gegenübergestellt wird. Die riesige Wand verbindet außerdem die beiden Ausstellungseben miteinander; entlang einer künstlerischen Großgrafik auf der Rückseite gelangt der Museumsbesucher ins OG. In einer Punktewolke werden hier die gefallenen Tiroler Soldaten sinnbildlich dargestellt.

In der nächsten Sektion, »Hinterland« (hinter der Front), begegnen einem wiederum Alltagsgegenstände und -themen, nun aber durch den Krieg in ­ihren Funktionen umdefiniert. Die in den ersten Ausstellungsstationen noch stehenden Rahmenstrukturen sind wie in sich zusammengefallen und in­einander verschränkt.

Die definierten Flächen sind hier weitgehend als Flachvitrinen ausgebildet, in ihnen und auf der Holzstruktur direkt sind die Expo­nate verteilt. Ebenso die begleitenden Objekt- und Ausstellungstexte, die, ­­wie angepinnt, mal in der Vitrine, mal auf dem Holz, mal neben, dann wieder über dem Objekt angeordnet sind. Die nicht definierte Platzierung, die ­unterschiedlichen Formate sowie die gewählte Typografie nehmen Bezug auf ­Aushänge und plakatierte Bekanntmachungen in der Zeit des Ersten ­Weltkriegs.

Natürliche Materialien, dezente Farben

Die von den Architekten für die gesamte Ausstellung gewählte zurück­haltende Farbigkeit hat etwas Natürliches; sie orientiert sich am Menschen. So sind die Flächen, auf denen die Exponate präsentiert werden, in zartem Matt-Rosa gehalten.

Die durchgängig verwendete Rahmenstruktur aus gehobelten Kanthölzern ist an den ersten Stationen der Ausstellung noch dunkler, kontrastreicher lasiert, zum Ende hin wird die Lasur immer heller und dezenter: Das Leben, das Gewohnte ist in Auflösung begriffen, die Ausstellungsarchitektur ist es ebenfalls und auch die Farbe schwindet mehr und mehr.

Von der Sektion »Hinterland« aus hat man den Blick »an die Front«. Ein ­zerlegtes Großfoto (gedruckt auf Stoff) zeigt den mühsamen Aufstieg der ­Soldaten zur Frontlinie. In dieser Sektion strebt auch die Architektur nach oben; die Holzrahmen wachsen in die Höhe, ähnlich einem Gebirge entstehen Spalten und Nischen, die die Objekte beherbergen. Der Besucher bahnt sich den Weg hindurch und wieder zurück, bevor er sich im mittleren Bereich des Ausstellungsraums abermals mit persönlichen Kriegsschilderungen u. a. in Form von Briefen sowie offizieller Berichterstattung konfrontiert sieht.

Den Abschluss bildet das »Plateau der Funde«. Wie Eis- oder Erdschollen ­liegen die begehbaren Flächen auf dem Boden, leicht angehoben durch Kanthölzer; in den spaltenartigen Zwischenräumen befinden sich die Exponate ­direkt auf dem Boden. Es sind archäologische Funde des Ersten Weltkriegs, die erst mit der Zeit freigegeben wurden.

Das Ausstellungsprojekt war bereits die sechste erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen münzing architekten und dem Tiroler Landesmuseum. Das »bestehende Grundvertrauen«, so Uwe Münzing, »merkt man dem Ergebnis durchaus an.« Beide Seiten profitieren auch davon, dass die Architekten mit der nicht ganz einfachen Raumsituation – im Grunde ein großer Erschließungsbereich, der ursprünglich nicht für Ausstellungen vorgesehen war – bereits vertraut sind. So konnte dieses komplexe Projekt in kürzester Zeit quasi Hand in Hand zwischen Kuratorin, Architekten und der Werkstatt des Museums überzeugend entwickelt und umgesetzt werden. Wollen wir hoffen, dass es nicht das letzte war!

db, Fr., 2016.06.03

03. Juni 2016 Ulrike Kunkel

Gehobener Sprachschatz

Seit September 2015 bereichert die Grimmwelt die Kasseler Museumslandschaft. Zum Publikumserfolg der Schau über Leben und Werk der Brüder Grimm trägt ganz wesentlich die Ausstellungsgestaltung bei: So führt die Wanderung durch die Welt der Märchensammler durch ­einen stilisierten Papierwald.

Gegenstand der Ausstellung ist nicht nur das gewaltige Werk der Brüder Grimm, sondern auch ihr weit gespanntes Wirken. Wie aber z.B. das unermüdliche Briefeschreiben der beiden Wortarbeiter illustrieren? Wie ihre unausgesetzte Korrespondenz mit rund 1400 Personen aus aller Welt zur Darstellung bringen? Wie das Erstaunliche so in Szene setzen, dass es staunen macht? Die Lösung ist am Haltepunkt »Organisierung« zu besichtigen. Dort geht die Post ab – und zwar auf einem Kartentisch, der die Umrisse von Europa zeigt: Vom hessischen Kassel als dem pulsierenden Herz des Kontinents spannen sich feine Glasfaserstränge bis zu Adressen in ganz Europa. Auf diesen Linien wandern unablässig Lichtpunkte hin und her. Innerhalb Deutschlands, wo der Briefverkehr am intensivsten ist, leuchtet der Stern besonders hell. Doch strahlt er aus bis Moskau, Edinburgh, Lissabon und Palermo. Die digitaltechnisch aufwendige Installation fasziniert, weil sie einen langwierig-unanschaulichen Prozess in einem leicht fasslichen Bild einfängt. Freilich sind es keineswegs nur die Hightech-Formate, die in der Grimmwelt faszinieren.

Anderswo gibt es andere Highlights. Mal sind es alte, vergilbte Bücher, mal historische Zeichnungen und Objekte, mal moderne Skulpturen und Installationen.

Auch Filme, Hologramme und Dioramen fügen sich harmonisch in den gestalterischen Rahmen, den das Kuratorinnen-Team um Annemarie Hürlimann und Nicola Lepp sowie die Ausstellungsdesigner ­Holzer Kobler Architekturen geschaffen haben.

Den meisten Inszenierungen der Grimmwelt liegen naturgemäß Texte zugrunde. Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) haben Berge beschriebenen Papiers hinterlassen, und ein gewichtiger Teil dieser Zettel, Kladden, Dossiers und Bücher ist in Kassel entstanden. Dort haben die in Hanau geborenen Brüder zwischen 1798 und 1829 gelebt. Dort trugen sie auch den Grundstock ihrer weltberühmten Märchensammlung zusammen, betrieben umfangreiche germanistische Studien und publizierten Bücher über Sagen, Runen und Rechtsaltertümer. Die Ausstellung berücksichtigt jedoch nicht nur die Kasseler Zeit der Brüder, sondern auch ihr späteres Wirken in Göttingen und Berlin, wobei die gemeinsame Arbeit am »Deutschen Wörterbuch« einen Schwerpunkt bildet. Reiches biografisches Anschauungsmaterial steuert ein dritter, heute zu Unrecht kaum noch beachteter Bruder Grimm bei: Ohne die Zeichnungen und Bilder des Malers Ludwig Emil Grimm (1790-1863), der an der Kasseler Kunstakademie lehrte, wäre die Schau um einige ihrer schönsten Exponate ärmer.

Der Rahmen des Rahmens

Attraktiv ist indes nicht nur der Inhalt der Grimmwelt. Schon das landschaftliche und architektonische Drumherum lohnt den Besuch. Das vom Aachener Büro kadawittfeldarchitektur entworfene, 2015 fertiggestellte Museumsgebäude steht in einem malerischen Park nahe der Kasseler Innenstadt. Steintreppen, Mauerfragmente und Pergolen prägen die Atmosphäre der Grünanlage am Hang des Weinbergs. Der neue Baukörper verstellt diese Kulisse nicht, sondern bereichert sie.

Betont wird die Zugehörigkeit durch die weitgehend geschlossene Bruchsteinhülle, die abgetreppte Kubatur und eine Funktionalität, die über das bloße Einhausen eines Inhalts weit hinausgeht: Als öffentlich zugängliche Treppenanlage, die ihren Abschluss in der Aussichtsterrasse auf dem Dach findet, gehört das Gebäude gewissermaßen schon zur Ausstellungsarchitektur, führt es den Besuchern doch die Landschaft vor Augen, in der die Brüder einmal zu Hause waren.

Im Innern erstreckt sich ein zentrales Foyer vom Eingang bis zu einem lichtdurchfluteten Café mit Panoramablick auf die Kasseler Karlsaue. Gegenüber dem offenen Museumsshop in der Mitte des Foyers gewährt eine Galerie Einblick in die tiefer gelegene Split-Level-Ebene. An die Rückwand dieses »Auftraktraums« projizierte Wörter markieren den Übergang in die eigentliche Grimmwelt. Die Galerie war ursprünglich nicht vorgesehen. Man habe »die Lösung gemeinsam mit den Architekten und den Kuratorinnen erarbeitet«, sagt die bei Holzer Kobler für das Projekt verantwortliche Planerin Simone Haar. Auch anderenorts wurden Raumstrukturen an die Wünsche der Ausstellungsgestalter angepasst. Beispielsweise entstanden statt der geplanten Ausstellungskabinette Großräume mit eigens entwickelter Binnengliederung.

Von Ärschlein bis Zettel

Thematisch gliedert sich die Schau in drei Abteilungen. Die erste ist im Zwischengeschoss untergebracht und widmet sich dem philologischen Schaffen der Brüder. Im UG präsentiert sich zunächst die Märchenwelt mit einer Fülle medialer Inszenierungen und abschließend die biografische Abteilung, die unter anderem mit Skizzen von Ludwig Emil Grimm aufwartet. Das eigentliche Ausstellungskonzept leiteten die Kuratorinnen aus dem Grimmschen Sprachkosmos ab: Ein Glossar, dessen Stichwörter dem »Deutschen Wörterbuch« entnommen wurden, ordnet den Stoff und weist den Weg durch die Schau. Insgesamt gibt es 25 Haltepunkte, die durch Leuchtbuchstaben von A bis Z gekennzeichnet sind, aber nicht der alphabetischen Ordnung folgen. Der Rundgang beginnt bei »Zettel«, führt über »Buch« und »Froteufel« zu »Ärschlein« und verläuft sich eine Treppe tiefer in der »Dornenhecke«, in »Cassel« oder im »Glück«.

Mit »Zettel« hat es eine besondere Bewandtnis. »All ihre Ideen, Geschichten und Gedanken notierten die Brüder Grimm auf kleine Stücke Papier, die sie sortierten und schließlich zu Werken mit völlig konträrem Charakter zusammenfügten«, sagt Simone Haar. »Diese komplexe Strategie mit ihren unendlichen Möglichkeiten fesselte uns und wurde zum Gestaltungsprinzip der Ausstellung.« Die Grundidee manifestierte sich als ein System aus papierartigen Wandscheiben. Die Anmutung rührt von dünnen, transluzenten Glasfaserplatten her, die beidseitig auf Metallgestelle geschraubt wurden. Die Scheiben zonieren Räume, schlucken Geräusche, grenzen Schaustücke voneinander ab, bilden eine neutrale Folie für unterschiedliche Figuren und stiften formale Einheit. Darüber hinaus haben sie eine dezent illustrative Funktion. Im ersten Teil der Ausstellung erinnern die hintereinander gestaffelten Scheiben an ein Register oder an Buchseiten, in der Märchenabteilung lichtet sich die Struktur und wirkt dank gezackter Ränder wie die Silhouette eines Walds.

Einsichten und Erkenntnisse

Insgesamt bildet das System einen flexiblen und ästhetisch reizvollen Rahmen für eine Ausstellung, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen anspricht.

Überraschende Einsichten und Erkenntnisse vermittelt die Schau auf Schritt und Tritt. Bei »Ärschlein« bombardiert ein Schimpfwortgenerator die Besucher mit Kraftworten von »Bumbs« bis »Pissblume«. In der Station gleich gegenüber dreht es sich um das von den Brüdern Grimm begonnene, aber nur bis zum Stichwort »Froteufel« selbst redigierte Mammutprojekt »Deutsches Wörterbuch«. Im Fokus stehen hier Bildkästen mit Papierkunstwerken von Alexej Tchernyi, die zauberhafte Einblicke in die Genese des erst 1971 abgeschlossenen Werks gewähren. Eine Etage tiefer stößt man in der »Dornen­hecke« auf einen sprechenden Spiegel, in einem gespenstischen Hexenhaus auf einen riesenhaften Punchingball und in einer Videobox auf den Filmemacher Alexander Kluge, der anregend übers »Glück« parliert. Darüber hinaus machen wispernde Bäume und spannende Filme den Aufenthalt in der Märchenwelt zum Erlebnis. Die biografische Abteilung schließlich wartet u. a. mit einem über 5 m langen Bilder-Leporello auf, in dem Ludwig Emil Grimm die Lebensgeschichte einer liebenswerten Sau nachgezeichnet hat.

Kunstwerke von Ai Weiwei, Ecke Bonk, Lutz & Guggisberg und anderen ergänzen das Repertoire der Denkwürdigkeiten. Dass Architekten, Kuratoren und Ausstellungsgestalter ihre Arbeit gut gemacht haben, zeigt nicht zuletzt der überwältigende Publikumserfolg. »So viele Menschen wie zuletzt hatten sich seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Kasseler Balkon mit Blick über die Südstadt aufgehalten«, meldete die Regionalzeitung HNA Anfang April. »Grund für diese Entwicklung ist die Grimmwelt, die sieben Monate nach ihrer Eröffnung den 100 000. Besucher begrüßt.«

db, Fr., 2016.06.03

03. Juni 2016 Klaus Meyer



verknüpfte Bauwerke
GrimmWelt Kassel

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