Editorial

Keine Angst zu haben vor großen Gesten, figürlichen Darstellungen, starken Farben oder glänzenden Oberflächen ist die wichtigste Voraussetzung dafür, opulente Architektur zu schaffen. Losgelöst von den Hemmnissen vermeintlich angemessener Architekturästhetik braucht es jedoch einen tragenden Gedanken, eine Klammer, ein Konzept, damit aus der entfesselten Gestaltungslust kein kitschiges Durcheinander wird.

Beim Durchwandern einer Stadt möchte man allerdings auch nicht ganzen Straßenzügen voller Ornamente und expressiver Formen ausgeliefert sein, denn die Opulenz braucht Platz zum Atmen.

Nicht von ungefähr stellen wir Projekte vor, die gebührenden Abstand zu ihrer Umgebung wahren — ob durch ihren artifiziellen Charakter inmitten der Natur oder durch ihre herausgehobene Typologie im Niemandsland der städtischen Peripherie oder aber als Innenraumgestaltung, die gleich ganz im Verborgenen bleibt. So können Orte entstehen, die einen Anlass zum Staunen, zum erholsamen Vergessen aber auch zur Identifikation bieten — ohne sich je aufzudrängen. | Martin Höchst

Ein Taj Mahal für Julie

Das »House for Essex« ist einer fiktiven Frau gewidmet, die ein ganz durchschnittliches Leben führte. Seine Architektur hingegen zeigt sich ganz und gar ­ungewöhnlich und ist das Ergebnis einer wie selten ­geglückten, kohärenten und befruchtenden Zusammen­arbeit zwischen dem Künstler Grayson Perry und dem ­Architekten Charles Holland von FAT Architecture.

Architekten sprechen oft von der »Geschichte« eines Entwurfs. Wie aber verhält es sich, wenn der Entwurf selbst eine Geschichte abbilden soll? Eben das ist beim »House for Essex« der Fall und so lässt es sich auch nicht in der gängigen Art beschreiben. Bautypus, Form, Funktion und Kontext sind selbstverständlich auch hier relevant, aber nicht in dem Maß wie sonst üblich.

In der Grafschaft Essex, deren Bewohner vom Rest des Landes oft unfairer­weise als »ein wenig zu laut« charakterisiert werden, liegt das kleine, unspektakuläre Dorf Wrabness. Etwas unterhalb des Orts steht das Haus am Ende der unbefestigten Black Boy Lane, von der die Felder zu beiden Seiten sanft abfallen und der Blick auf das Mündungsgebiet des Flusses Stour fällt. Durch seine exakten Formen, die ungewöhnlichen Details und die kräftige Farb­gebung hat das kleine Gebäude eine derart spezielle Ausstrahlung, dass man annehmen könnte, es sei mit Photoshop in die idyllische Landschaft hineinmontiert worden.

Der international bekannte Künstler Grayson Perry erdachte das Haus mit der eigenartig intensiven Wirkung als »zärtlich-surreales« Denkmal für eine fiktive Frau aus Essex namens Julie Cope. Gemeinsam mit dem Architekten Charles Holland vom Büro FAT Architecture – das sich 2013 auflöste und der seither Mitinhaber des Büros Ordinary Architecture ist – hat er es für den ambitionierten Ferienhausanbieter »Living Architecture« entworfen. Unter künstlerischer Leitung des Architekturphilosophen Alain de Botton lässt ­Living Architecture seit einigen Jahren Ferienhäuser von bedeutenden ­Planern, u. a. von MVRDV und NORD, bauen. Peter Zumthor soll demnächst die Reihe der architektonisch anspruchsvollen Rückzugsorte ergänzen.

Schrill und tragisch

Die Lebensgeschichte von Julie Cope ist in einem langen Gedicht, das als schmales grünes Büchlein auch im Dorfladen von Wrabness erhältlich ist, niedergeschrieben. Julie wurde 1953 auf Canvey Island am nördlichen Ufer der Themse auf einem Lurexvorhang, der von einer Gardinenstange gerissen worden war, geboren. Dank ihrer Intelligenz stieg sie aus der Arbeiterklasse auf und führte ein Leben in der Mittelschicht. Sie starb 2014, umgerissen von einem Mopedfahrer, der ihr gerade ein Currygericht nach Hause in die Black Boy Lane liefern sollte. Ihrem zweiten Mann Rob hatte sie einmal erzählt, dass sie am glücklichsten mit ihm in der indischen Stadt Agra gewesen sei, und so gelobt er, ein »Taj Mahal am Stour« zu bauen.

Das House for Essex ist ein Mini-Taj Mahal von maximaler Opulenz. Hervorzuheben sind dabei die wunderschönen aufwendig handgefertigten Keramikfliesen der Fassade, deren geprägte Motive sich auf verschiedene Aspekte von Julies Leben und der Grafschaft Essex beziehen: nackte Julies, Herzen, Audiokassetten, der Buchstabe J, Sicherheitsnadeln für Windeln, Räder und das Wappen von Essex. Das Dach ist mit übergroßen Skulpturen geschmückt – ein karmisches Rad, eine schwangere Julie aus Metall, eine Leuchtturmlampe und ein gebauchter keramischer Schornsteinaufsatz. Diese Gestaltung könnte man ohne Weiteres als lustig, aber auch als unbeholfen oder infantil bezeichnen. Doch sie ist nicht trivial; auch nicht dekadent oder betont künstlerisch aufgemacht. Vielmehr ist sie durchdrungen von einem ironischen und zugleich zugewandten Blick auf das vermeintlich Banale eines jeden Lebens.

Artefakte statt Abstraktionen

Kürzlich fragte Holland in einem Artikel: »Können Gebäude sowohl in der Welt anspruchsvoller Architektur als auch im alltäglichen, gängigen Sinn bestehen?« Er bejaht die Frage und ist überzeugt davon, dass Dinge Bedeutungen besitzen können, »die der Tendenz in der Architektur, dem Abstrakten an sich einen hohen Wert beizumessen, widerstehen«.

Das House for Essex hat nichts Abstraktes – auch wenn es schwerfällt, seine Form und Materialität einem genauen Architekturtypus oder -stil zuzuordnen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, kann das Gebäude mit all seinen Artefakten als Ort der Erinnerung bezeichnet werden. Aber auch andere ­Interpretationen liegen nahe: ein Mausoleum, eine »folie«, eine neo-mittel­alterliche Stabkirche; Holland selbst findet, es sei einer russischen Datscha nicht unähnlich.

Eine »folie« der Erinnerung ist wohl die zutreffendste Typologisierung, und aufgrund seiner Detailfülle und seiner starken objekthaften Wirkung könnte das Haus mit Gebäuden wie der Triangular Lodge in Rushton verglichen werden, die 1597 von Sir Thomas Tresham als Hommage an die Heilige Dreifaltigkeit realisiert wurde. Auch hier sollten Bauform und Details eine bestimmte Botschaft vermitteln – in diesem Fall über die ­numinosen Qualitäten der Zahl Drei: Die Lodge hat drei Geschosse und einen dreieckigen Kamin, die drei Fassaden sind 33 Fuß breit, und jede Fassade hat drei Giebel, drei dreieckige Fenster und drei Wasserspeier.

Das House for Essex wiederum zeichnet sich durch eine teleskopartige Abwicklung entlang seiner Längsachse aus: Man kann sich gut vorstellen, wie seine reich verzierten Bestandteile sauber in- oder auseinander gleiten. Von Süden gesehen, zeigt es sich als gestaffeltes Ensemble vierer giebelseitig verbundener Gebäudeabschnitte, die jeweils von einem steilen, kupfergedeckten Satteldach mit doppelter Tonnengaube abgeschlossen werden. Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Größe sind die Bauteile praktisch identisch – einer Matroschka-Puppe nicht unähnlich.

Die rote Tür des Haupteingangs geht vom kleinsten Baukörper aus nach ­Süden; auf beiden Seiten des dritten Baukörpers befinden sich Flügeltüren, und Stufen führen zu einem an eine Kirchenpforte erinnernden Eingangsvorbau auf der Nordseite.

Halb Kapelle, halb Sakristei

Das kleinste Volumen im Süden nimmt einen Windfang mit einem Bad da­rüber auf, im zweiten befindet sich eine Diele mit Treppenaufgang und WC, im dritten dann eine Wohnküche mit zwei Schlafzimmern darüber, und im größten Volumen ein zwei Geschoss hohes Wohnzimmer. Leuchtend bunte Wandteppiche und Tapeten mit Szenen aus Julies Leben bestimmen diesen Raum, in dem die in ihren Unfall verwickelte Honda C90 als eine Art Kronleuchter hängt.

Für Holland ist das Wohnzimmer eine Kapelle und die übrigen, dienenden Räume des Hauses entsprechen der Sakristei. Die Übergänge zwischen »Kapelle« und »Sakristei« sind äußerst theatralisch gestaltet: Neben dem ­Kamin im EG befindet sich eine Geheimtür, aus den Schlafzimmern führen Schränke ohne Rückwand zu Balkonen mit Blick auf den Kapellenraum. ­Hollands Inspirationen für diese architektonischen Spiele reichen von Sir John Soanes Haus in London (einer Mischung aus Wohnhaus und Museum im Stil des Eklektizismus) über Edwin Lutyens räumliche Widersprüche bis hin zu den stark handwerklich geprägten Innenräumen eines Adolf Loos.

An den Wochenenden, so steht es in Perrys Gedicht, »suchten [Julie und Rob] einen Schrein, ein Heim / Für ihre Liebe, und sie schlenderten darin herum, / Ein zusammengestückeltes Haus an einer Nase / die über den Stour nach ­Norden nach Suffolk blinzelte / mit rauem Putz, banal, aber ganz besonders für sie …« Grayson Perry und Charles ­Holland haben dafür gesorgt, dass Julie Cope nicht gelangweilt umhergeistern muss. Sie ­haben eine ungewöhnliche und eindringlich menschliche Erinnerungsstätte geschaffen, mit der sie einzigartiges und zugleich ganz gewöhnliches Leben würdigen. Das Haus ist ein opulentes memento mori, in seiner Verortung im 21. Jahrhundert so eindrücklich wie etwa Ligier Richiers Skulptur von Wilhelm von Oraniens ­Skelett, umgeben von den Symbolen seines privilegierten Lebens im 16. Jahrhundert.

Selten ergänzen sich Künstler und Architekten so, dass sich ihre Arbeit ­tatsächlich als gemeinsames Werk vermittelt. Julie Copes Schmuckschatulle von einem Heim, zugleich architektonische Realität und Fantasterei, beweist, dass es möglich ist.
[Übersetzung: Dagmar Ruhnau]

db, So., 2016.05.01

01. Mai 2016 Jay Merrick

Große Geste am Meer

(SUBTITLE) Schiffsterminal in Porto (P)

Mit diesem Gebäude ist dem Architekten Luís Pedro ­Silva zweifellos ein großer Wurf gelungen: ein ästhetischer Fels in der Brandung der Belanglosigkeit, aber auch ein eng mit seiner Umgebung vernetztes, funktionales Bauwerk, das sich mühelos gegenüber den »schwimmenden Hochhäusern« am Landungssteg behaupten kann.

Gegründet vor gut zwei Jahrtausenden an einem Ort am Atlantik, der schon von Steinzeitmenschen und Kelten bewohnt war, zählt Porto zu den ältesten Städten Europas. Sie ist die namensgebende Stadt des Landes und des Portweins, ihre Altstadt gehört zum Weltkulturerbe, zugleich ist sie aber auch ein wissenschaftliches, kulturelles und industrielles Zentrum von internationalem Rang. Kein Wunder also, dass Porto längst auch ein wichtiges touristisches Ziel ist. Während der weitaus größte Teil der Touristen immer noch mit dem Flugzeug anreist, stieg in den letzten Jahren auch die Zahl derer, die die Stadt mit großen Kreuzfahrtschiffen ansteuern. Bis Mitte 2015 stand hierfür eine Anlegestelle im Industriehafen Porto de Leixões zur Verfügung. Die relativ schlechte Anbindung an die Innenstadt, die unattraktive Lage zwischen Frachtschiffen, Kränen und Containern, und nicht zuletzt fehlende Platz­reserven führten dazu, dass die Stadt und die Hafenverwaltung im Jahr 2004 erste städtebauliche Überlegungen für eine Neuordnung anstellten.

Empfang und Verbindung

Den kurz darauf ausgelobten Wettbewerb zur Ausarbeitung eines Strategieplans für das Hafengelände konnte der Architekt Luís Pedro Silva für sich entscheiden. Zu seinen Aufgaben zählte u. a., den neuen Standort für ein Kreuzfahrtschiffsterminal zu finden, das er schließlich an einem funktionslos gewordenen, geschwungenen Pier aus dem 19. Jahrhundert an der Hafeneinfahrt vorsah. Was zu dieser Zeit noch kaum mehr als ein schriftlicher Eintrag auf einem Plan war, entwickelte sich im Laufe von zehn Jahren zu jenem einzigartigen Gebäude, das heute von ca. 80 000 Kreuzfahrtreisenden jährlich frequentiert wird. Für die Architekten stand der Wunsch nach einem ebenso einprägsamen wie einladenden Gebäude im Mittelpunkt, das den Hafen nicht als hermetisch abgeschlossenes Areal begreift, sondern wie selbstverständlich in die Stadt integriert ist, indem es sich ihr gegenüber wörtlich und im übertragenen Sinn öffnet.

In einer ersten Realisierungsphase wurde der alte Pier seitlich um einen rund 340 m langen und 18 m breiten Landungssteg erweitert, der zugleich als An­legestelle für ein großes Kreuzfahrtschiff und als Umfassung eines neuen Yachthafens für bis zu 170 Boote dient. Der Bau der entsprechenden Anlege­stege sowie eines kleinen Gebäudes mit Café und Räumen des Hafenmeisters stehen noch aus. Unmittelbar dort, wo sich die Straße vom Festland in den ­alten Pier und den Landungssteg gabelt, befindet sich das neue Terminal. Ganz gleich, ob sich Besucher nun vom Schiff, vom Yachthafen oder vom Festland aus annähern, der erste Eindruck ist aus allen Richtungen fast der­selbe.

Das Gebäude erscheint zunächst nicht als »Haus« mit Wänden, Fenstern und Dach, sondern vielmehr als kunstvoll drapierte Struktur aus ineinander verschlungenen, weißen Bändern, zwischen denen horizontale Glasstreifen liegen. Um die Geometrie dieses eleganten Knäuels zu verstehen (tatsächlich handelt es sich um zwei lange »Schlaufen«, die sich von außen ins Gebäude hinein und wieder hinaus winden), bräuchte man ein Architekturmodell – oder einen Helikopterrundflug. In beiden Fällen würde man in dem opulent geschwungenen Körper unwillkürlich einen riesigen Oktopus erkennen, der drei seiner weichen Tentakeln von sich streckt. ­Bilder wie die des Tintenfischs spielten für Luís Pedro Silva überall im Gebäude eine wichtige Rolle – einfach nur Selbstzweck sind sie dennoch nirgendwo. Die Tentakeln beispielsweise bieten Fußwege ins Gebäudeinnere: von der Straße, vom alten Pier bzw. vom Landungssteg.

Glasierte Schuppen

Beim Näherkommen wird deutlich, dass die Oberflächen der weißen Bänder nicht aus einem Guss sind, sondern sich aus glänzend glasierten Keramikfliesen zusammensetzen, die die Form von flachen, oben schräg »abgeschnittenen« Sechsecksäulen haben. Natürlich erinnern sie sofort an Fischschuppen, aber auch an die in Porto an fast allen älteren Bauten vorzufindenden blau-weißen Azulejo. Nach vielen Voruntersuchungen und Diskussionen mit dem Bauherrn fiel die Wahl aber letztlich aus ganz praktischen Gründen auf die Fliesen – schlicht weil es der verantwortlichen Baufirma nicht gelang, die zuvor favorisierten Lösungen aus Sichtbeton oder weißem Glas fristgerecht zu kalkulieren. Die gegen Wind, Wetter und die aggressive Seeluft unempfindlichen Fliesen hatten den Vorteil, dass sich ihre Herstellung und das Verkleben mit Spezialkleber relativ einfach in Quadratmeterpreisen errechnen ließen. Dass dies dennoch eine besondere Herausforderung bedeutete, zeigt die Tatsache, dass auf einer Fläche von 16 000 m² (Innenräume und Fassade) insgesamt rund 900 000 Fliesen zu verlegen waren, ein Arbeiter pro Tag aber lediglich 5 m² Fläche bewältigte. Verlegepläne gab es nicht, wohl aber die Vorgabe, dass direkt nebeneinander liegende Fliesen mit ihrer schrägen Oberfläche nicht in dieselbe Richtung zeigen durften. Das Ergebnis zeigt sich als unregelmäßige, aber homogene Oberfläche, die durch die schillernden Lichtreflexionen von jedem Standpunkt aus anders anmutet.

Reisen und Forschen

Die fensterlosen Bänder lassen von außen kaum erkennen, wie üppig das Terminal eigentlich dimensioniert ist. Wer z. B. von dem teilweise unter der Tentakel zur Straße situierten Busparkplatz in die Empfangsebene im EG gelangt, steht in einem runden, überraschend großen und hohen Atrium. Von hier aus windet sich, verknüpft mit einem der weißen Bänder, eine Rampe nach oben – in Richtung eines flach geneigten Glasdachs. Im 1. OG befinden sich ins­besondere die Räumlichkeiten zur Abfertigung der ankommenden und abreisenden Kreuzfahrtschiffspassagiere (Zollkontrollen, Gepäckausgabe, Wartebereiche, Cafeteria etc.). Eine der Tentakeln bietet von hier als lang gestreckter Steg die witterungsgeschützte Verbindung zum Schiff. Im 2. OG waren ­ursprünglich Shopflächen vorgesehen, die im Planungsverlauf den Labor- und Büroflächen des »Interdisciplinary Centre of Marine and Environmental Research« der Universität Porto gewichen sind. Insgesamt 250 Forscher widmen sich hier in zweigeschossigen, zum Atrium vollverglasten Raumeinheiten der meeresbiologischen Forschung – im UG sind deshalb, neben einer Tiefgarage, zusätzlich noch etliche Fischzuchtbecken eingerichtet worden. Im 3. OG schließlich liegt ein 600 m² großer Ausstellungs- bzw. Multifunktionsbereich, ein Vortragssaal und ein Restaurant.

Brandschutztechnisch konnten die ­Architekten das sämtliche Bereiche flankierende Atrium wie einen Außenraum behandeln, weil im Dach eine mechanische Rauchabzugsanlage installiert wurde, und zudem hohe Unterzüge an den Geschossdecken den Brandüberschlag zum Atrium hin verhindern. So wurden sämtliche Erschließungsbereiche offen und durchlässig ausgeführt, gänzlich ohne spezielle Brandschutzverglasungen der zum Atrium orientierten Räume.

Detailreich und komplex

Der räumlichen Komplexität und dem im Wesentlichen aus Deckenplatten und unregelmäßig gesetzten, teils geneigten Stützen bestehenden Tragwerk stehen einheitlich weiße Oberflächen gegenüber: Böden mit weißem Industrieestrich, weiß verputzte Wände (teilweise mit dunklen Wischspuren), ­weiße Glaspaneele, weiße Möbel und Theken sowie die auch im Innern prägenden weißen Fliesenbänder. Farbakzente bieten z. B. die knallig roten, in abstrahierter Form als Fische gestalteten Kästen, die zur Unterbringung des Feuermelders, eines Wasserschlauchs und des Feuerlöschers dienen. Aus all dem Weiß stechen einige Räume mit besonderen Funktionen hervor: der Vortragssaal gänzlich mit tiefblauem Samt ausgeschlagen oder das Restaurant mit einer Wand- und Bodenbekleidung aus goldbraunen Alupaneelen.

Noch ist das neue Kreuzfahrtschiffsterminal nicht vollständig in Betrieb. Zwar legen bereits Kreuzfahrtschiffe an, doch sind längst nicht alle ­Labore bezogen und auch das Restaurant ist noch nicht eröffnet. Und weil die Straße zum Festland immer noch als Teil des Hafengeländes gilt, also nicht ­öffentlich zugänglich ist, bleibt auch die in Form eines Amphitheaters angelegte Dachterrasse bislang weitgehend ungenutzt. Das ist nicht nur wegen des atemberaubenden Blicks über den Atlantik, die Strände und den Hafen bedauerlich, sondern weil sie als quasi öffentlicher Raum den bildhaften krönenden und opulenten Abschluss des Gebäudes bildet. Hier können Stadt­touristen, Reisende, Anwohner und Universitätsmitarbeiter gemeinsam ein vielfältiges Stück Stadt leben: sonnenbaden, picknicken, entspannen, sich besprechen, arbeiten. Wie gut die Idee der Vernetzung mit der Stadt aufgeht, zeigte ein letzten September veranstalteter Tag der offenen Tür, an dem 16 000 Besucher gezählt wurden. Der Grund für die bislang fehlende Anbindung an die Stadt ist einfach: für die letzten Umstrukturierungsmaßnahmen (z. B. Yachthafen, Straßenneubau, Verlängerung einer Tramlinie bis direkt zum Terminal) fehlt es schlicht an den nötigen öffentlichen Geldern. In diesem Zusammenhang hat Luís Pedro Silva seinen Beitrag bereits geleistet. Statt der ursprünglich veranschlagten 28,5 Mio. Euro kostete das Terminal am Ende nur 26 Mio. Euro – und das, obwohl es mit großem Detailreichtum als ganzheitlich durchdachtes Baukunstwerk ausgeführt ist.

db, So., 2016.05.01

01. Mai 2016 Roland Pawlitschko

Der Tanz des Lattenzauns

(SUBTITLE) Wohnhochhaus in Wien (A)

Der Citygate Tower im äußersten Norden von Wien ist eine eigenwillige Erscheinung. Das 35-geschossige Wohnhochhaus vereint Ästhetik und Banalität, Opulenz und Wirtschaftlichkeit, silbernschimmernde Eleganz und kostengünstigen Baumarkt-Chic.

Autohäuser, Reifenhändler, Tankstellen, Lagerhallen, Erotiksupermärkte, XXL-Discounter, Hundefutter- und Katzenstreugeschäfte und mittendrin ein dunkelblauer Ikea. Doch plötzlich ragen aus dem peripheren Gewerbe- und Fachmarktsumpf, als hätte jemand ein Stückchen Erdkruste extrudiert, zwei monumentale Hochhausstelen in den Himmel. Auf den ersten Blick wirken die beiden, zugegebenermaßen nicht uneleganten Turmbrüder wie fehlgelandete Versatzstücke aus Hongkong, Benidorm oder Las Vegas.

Tatsächlich ist die Existenz des 100 m hohen Citygate Towers und des etwas kleineren Leopoldtowers einer urwienerischen Verkettung von stadtplanerischen Umständen zu verdanken. Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie 1 wurde der Norden Wiens, beinahe 10 km vom Stadtzentrum entfernt, unmittelbar aufgewertet. Die Immobilienbranche witterte ihre Chance und machte sich schon bald für eine lukrative Umwidmung der letzten noch ungenutzten Freiflächen im Quartier stark. Luxuriöse Bürotürme mit Blick auf ganz Wien. Das war die Vision.

Wohnungen statt Büros

Im Zuge der Finanzkrise 2008 musste der Investor und Immobilienentwickler Georg Stumpf, der sich mit der Errichtung des 202 m hohen Millennium Towers 1999 einen Namen gemacht hatte, jedoch umdenken und beschloss, die umgewidmeten Grundstücke mit den großen zugelassenen Gebäudehöhen nun für Wohnzwecke zu nutzen. Keine schlechte Idee angesichts steigender Einwohnerzahlen, dachte sich die Stadt Wien und gab für die Pläne grünes Licht.

Ursprünglich wollte der Bauherr, nachdem die Turmpläne anderer Büros vom Grundstücks- und Fachbeirat bereits zweimal abgelehnt worden waren, von dem international etablierten Architekturbüro querkraft lediglich einen Fassadenentwurf. Dies lehnten die Architekten jedoch ab und erhielten schließlich den Auftrag für die gesamte Planung, und nun ist das Resultat der fast zehn Jahre andauernden Genese endlich gebaute Materie.

»Wenn schon Hochhaus, dann aber wirklich«, sagt Jakob Dunkl, Partner bei querkraft. »Ein Hochhaus muss nicht nur alle Funktionen wie normale Gebäude erfüllen, sondern stellt darüber hinaus ein weithin sichtbares Zeichen in der Stadt dar. Wir wollten diesen skulpturalen Charakter aus der Struktur heraus entwickeln, und so sind die tanzenden Linien an der Fassade Abbild der Funktion und des Innenlebens.« Im Klartext: Der Turm ist über die gesamte Höhe mit Balkonbändern umfasst. Zu jeder Wohnung gehört zumindest ein Bereich, an dem sich der 1,20 m tiefe, lineare Freiraum punktuell auf 2,10 m weitet. Die Ausbuchtung, die Frühstückstisch und Sonnenliege aufnehmen kann, wandert pro Geschoss um ein paar Zentimeter und führt auf diese Weise zum charakteristischen, aus der Ferne wirksamen, linearen Relief.

Üppig und sparsam zugleich

»Ja, natürlich ist die Geste opulent, aber immerhin ist es uns gelungen, diese Opulenz mit den einfachsten und billigsten Mitteln herzustellen«, erklärt der Architekt. Zwar habe man sich auch hochwertige Materiallösungen überlegt, letztendlich fiel die Wahl jedoch auf einen handelsüblichen Lattenzaun, den man auch im Baumarkt bekommt. Mehr als 38 000 Aluminiumlatten wurden im Citygate Tower verbaut, 4,2 km in Summe, wobei die Höhe und Dichte der Elemente im Bereich der runden Ausbuchtung sichtbar zunimmt. Hier sollte auch im 30. Stock noch ein Gefühl von Geborgenheit entstehen können. In gewisser Weise hat sich querkraft mit dieser hocheleganten Low-Budget-Lösung der pulsierenden, tanzenden Adern seine Alleinstellungsphilosophie der ersten ­Bürostunde erhalten: »Big wow for little money«.

Das an dieser Stelle eingesparte Geld – ein konventioneller Lattenzaun belastet das Baubudget weniger als jedes andere Brüstungsmaterial – sollte der sozialen Nachhaltigkeit zugutekommen. An der Nordseite des Turms setzten die Architekten einen haushohen, vertikalen Schnitt an. Statt Wohnungen sind hier Gemeinschaftsräume und Infrastruktureinrichtungen für die Allgemeinheit untergebracht. Wie Schubladen schweben die Funktionsboxen in unterschiedlichen Etagen, mal ein-, mal zweigeschossig, mal weiter vorne, mal leicht eingerückt. Die dazwischen liegenden Lufträume dienen als Gemeinschaftsterrassen und Belichtungsschotten für den weit im Gebäudeinnern ­liegenden Erschließungskern.

Soweit die Theorie. Die Praxis ist eine andere. Wo bis zuletzt Skygarten, Heimkino, Kletterhalle und Tischtennisraum geplant waren, befinden sich nun trostlose Mehrzweckräume mit Spannteppich und Alibimobiliar. Lediglich Yogaraum und Waschküche dürften den Transfer von der Vision in die Realität einigermaßen unbeschadet überstanden haben. »Wir haben vier Kinder und wir würden die Kinderspielräume gerne öfter nutzen«, sagt Farsana Nuuri, wohnhaft im sechsten Stock. »Aber das sind leere Räume mit nichts drin. Was sollen wir da machen? Ab und zu treffe ich dort andere Mütter, aber da wäre wirklich mehr möglich gewesen.«

Auch die Architekten sind enttäuscht, dass ihre Idee der »vertikalen Dorf­straße« nicht konsequent verfolgt wurde. Dominik Bertl von querkraft, der in das Projekt von Anfang an involviert war, erklärt »Wir haben die Räume im Kostenrahmen geplant, aber letztendlich beschloss der Investor, den Rotstift anzusetzen und die soziale Nachhaltigkeit gegen kurzfristige Wirtschaftlichkeit einzutauschen.« Besonders bitter ist das für den geplanten ­Fitnessraum im 30. und 31. Stock. Statt mit Sportgeräten wurde die Skybox mit Lagerabteilen wie in einem Keller zugestellt. Den Blick ins Weinviertel gibt’s gratis dazu. Einen luxuriöseren und ressourcenfeindlicheren Hort für Einmachgläser und leere Kartons gibt es in ganz Europa nicht.

Charmant kaschiert

Sinnvollerweise überaus luxuriös und geradezu vereinnahmend ist hingegen das Farbkonzept des Wiener Künstlers Heimo Zobernig. Es beruht auf einer Studie mit 1 888 Männern und Frauen und bildet ab, mit welcher Farbe die Befragten jeweils den Begriff »Geselligkeit« assoziieren. Das Resultat der Umfrage ist nun als prozentuales Farbspektrum auf die Höhe des gesamten Turms aufgeteilt: Treppenhaus, Korridore, Mehrzweckräume, Fassadeneinschnitt an der Nordseite. Ein Glück, dass nur 8 % der Befragten einen Braunton favorisierten. »Ich habe das Glück, in einem grünen Geschoss zu wohnen, aber ich finde die Idee mit den Farben auch grundsätzlich sehr schön«, meint Branko Pavlovsky aus dem 21. Stock. »Das ist mir allemal lieber als weiße, gesichtslose Flure, denn tatsächlich ist das Innere eines solchen Hochhauses recht eintönig und repetitiv.«

Die Farben verleihen dem Turm, der in konventioneller Bauweise und Struktur errichtet wurde, eine zusätzliche Qualität. Viel Effekt für wenig Geld eben. Alles andere als üppig und opulent nämlich ist das konstruktive und technische Innenleben des Wohnturms, der mit insgesamt 309 geförderten und frei finanzierten, durchwegs geschickt strukturierten und modular aufgebauten Wohnungen bestückt ist: Stahlbetonbauweise, Vollwärmeschutzfassade, Fernwärme, einfachste technische Details. Man sehe schon, dass an einigen Stellen gespart wurde, sagt ein Bewohner im raschen Vorbeigehen im Treppenhaus. Aber es sei auch das Bemühen sichtbar, die Wirtschaftlichkeit charmant zu kaschieren. Das Konzept scheint gelungen. Viele Bewohner haben an den Alulatten auf ihren Balkonen großen Gefallen gefunden. Dass es dabei um ein preisgünstiges Ready-made handelt, ist nur den wenigsten bewusst.

Der Citygate Tower, dieses Gebilde über dem nordwienerischen Gewerbeteppich, ist ein eleganter Turm, dessen tanzende Linien man von Weitem gerne betrachtet. Die Architekten haben beste Arbeit geleistet, doch solange der gewinnmaximierungsorientierte Investor an der sozialen Qualität des Projekts spart, bleibt man besser auf Distanz. Soeben hat querkraft eine Petition mit ­einer Gratis-Postwurfsendung an die 309 Haushalte des Turms gestartet. In ­einem kleinen Büchlein wird das ursprüngliche Konzept des Hauses erläutert. Darin erfährt man z. B. über die zunächst geplante Nutzung der »Kellerab­teile« im 30. und 31. Stock und dass die Skygärten mit Bäumen bestückt werden sollten. Vielleicht, so Jakob Dunkl, finde sich ja eine Gruppe von Bewohnern, die die Gemeinschaftsräume einrichtet und das nachholt, was der Investor versäumt hat – mit etwas mehr sozialer und funktionaler Opulenz.

db, So., 2016.05.01

01. Mai 2016 Wojciech Czaja



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