Editorial

»We want every adult in the country to be an active member of an active neighbourhood group. [...] Neighbourhoods will be given the power to engage in genuine local planning through collaborative democracy – designing a local plan from the ›bottom up‹«. Kooperatives Schlaraffenland?! Nein – nur ein Auszug aus der 2010 veröffentlichten Broschüre Big Society Not Big Government der britischen Conservative Party. Immerhin, so könnte man anmerken, wissen die britischen Konservativen mittlerweile wieder, dass es so etwas wie Gesellschaft gibt, das war ja nicht immer so. Aber was ist davon zu halten, wenn eine der neoliberalsten Parteien Europas von »collaborative democracy«, »bottom up« und »active neighboourhood« spricht? Schließlich sind ganz ähnliche Forderungen auch im linken Urbanismus-Diskurs zu finden. Bereits 2008 hat dérive ein Schwerpunktheft zum Thema Gouvernementalität veröffentlicht, in dem die Entwicklungen entlang des Konzepts Regieren durch Community des britischen Soziologen Nikolas Rose kritisch hinterfragt wurden. Der schlanke Staat, der kein Wohlfahrtsstaat mehr sein will, will sich seiner – vor allem sozialpolitischen – Aufgaben entledigen und dafür lieber seine Untertanen einsetzen. Nicht alles, was Kooperation heißt, glänzt.

Dass es nicht ausreicht, schöne Projekte kooperativ zu entwickeln und umzusetzen, zeigt Tatjana Schneider in ihrem Beitrag Tod dem Projekt! Lang lebe der systemische Wandel. Denn dabei, so Schneider, besteht immer die Gefahr, dass schlussendlich nicht die ursprünglichen AkteurInnen profitieren. Ungleiche Macht- und Eigentumsverhältnisse sorgen regelmäßig dafür, dass hierarchische Ordnungen unangetastet bleiben und die Ergebnisse deren Aufrechterhaltung nicht gefährden können oder sie sogar stärken.

Eine der Voraussetzungen für echte Kooperation ist die Möglichkeit und das Recht zur Teilhabe jedes Bewohners und jeder Bewohnerin einer Stadt – unabhängig von der jeweiligen Staatsbürgerschaft – am Gesamtkunstwerk Stadt, wie der Wiener Bürgermeister Michael Häupl in den letzten Monaten immer so schön sagt. Sowohl aktiv, indem Wünsche, Ideen, Wissen und Tatkraft eingebracht werden, als auch passiv, indem das gemeinsame Œuvre Stadt (das ist jetzt Henri Lefebvre, nicht BM Michael Häupl) genossen und genutzt werden kann. Jochen Becker greift in seinem Beitrag das Konzept einer Urban Citizenship auf und zeigt an mehreren Beispielen aus Berlin,in welche Richtung es gehen könnte und wo die Problemezu verorten sind.

Wie soll und kann eine kooperative Stadt tatsächlich funktionieren? Welche Ansätze versprechen eine echte Kehrtwende weg vom Unternehmen Stadt? Danijela Dolenec greift diese Fragen in ihrer Beschäftigung mit Urban Commons auf und betont, dass es dabei nicht nur um die Frage des Eigentums gehen kann, sondern dass auch Fragen der Organisation und Steuerung (Governance) von entscheidender Bedeutung sind. Sie erinnert an das Werk Branko Horvats, der vor dem Hintergrund des jugoslawischen Modells der Selbstverwaltung besonders auf die Notwendigkeit der Abschaffung des bürokratischen Machtapparats hinwies.

Immer wieder als Vorbild ins Rennen geführt wird die Entwicklung freier Software und ihre Entstehungsbedingungen, wenn es um das Thema Urban Commons geht. Dubravka Sekulić unterstreicht in ihrem Beitrag, dass ein entscheidender Aspekt für die Entwicklung der digital commons die Veröffentlichung der GNU General Public License durch Richard Stallman war. Wie Tatjana Schneider betont auch sie, dass grundlegende Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um kooperative Stadtproduktion zu ermöglichen, die nicht nur der Behübschung und Festigung der bestehenden Verhältnisse dient, sondern tatsächlich Kooperation auf Augenhöhe ermöglicht.

Das Thema Selbstverwaltung steht auch in Dario Azzellinis Beitrag Worker Control and Workplace Democracy im Mittelpunkt. Er wirft einen Blick zurück auf die Geschichte der ArbeiterInnenselbstverwaltung und zeigt die neueren Entwicklungen von Fabriksbesetzungen und -übernahmen durch die Arbeitenden auf, deren Beginn mit dem Zusammenbruch des argentinischen Finanzsystems und der darauf folgenden Pleitewelle 2001 anzusetzen ist.

Felix Stalder zeichnet in seinem Beitrag Zwischen Smartness und Kooperation – Möglichkeiten der informationellen Stadt die strukturellen Veränderungen der Subjektivität durch den Einfluss der sozialen Medien und des Internets nach und lotet aus, welche Auswirkungen diese Verschiebungen im Hinblick auf eine kooperative Stadt haben könnten.

Neben den theoretischen Perspektiven und Analysen liefert PlanBude St. Pauli im Rahmen des Schwerpunkts auch ein ganz konkretes Beispiel einer kooperativen Stadtproduktion in Hamburg. Nach langjährigen stadtpolitischen Kämpfen der BewohnerInnenschaft der ehemaligen Esso-Häuser in St. Pauli konnte ein kooperativer Planungsprozess von und mit dem Stadtteil durchgesetzt werden – make bottom-up funky! lautet der Schlachtruf dazu. Näheres dazu im Schwerpunkt-Beitrag der Planbuddies und beim urbanize-Festival, wo die Prozesse rund um die Esso-Häuser mit Ausstellung, Teilnahme an der Veranstaltung Kooperative Stadtproduktion bottom-up und dem Dokumentarfilm Buy, Buy St. Pauli vorgestellt werden. Ein zweites praktisches Beispiel stellt Alina Mogilyanskaya vor: Es handelt sich dabei um die Einführung eines kommunalen Personalausweises in New York, den auch Menschen bekommen können, die keinen legalen Aufenthaltsstatus in den USA haben, was ihnen das Alltagsleben einigermaßen erleichtert. In der Serie zur Geschichte der Urbanität widmet sich Manfred Russo in einer weiteren Folge Henri Lefebvre – diesmal der Revolution der Städte. Das Kunstinsert von zweintopf, setzt sich mit der schönen und zunehmend gefährdeten österreichischen Institution der Tabak
Trafik auseinander.

Allen, die zwischen 2. und 11. Oktober in Wien sind, sei noch einmal das urbanize! Festival ans Herz gelegt: In der zwischengenutzten Festivalzentrale, die seit Mitte September auch syrischen Flüchtlingen als Notunterkunft dient, wandelt urbanize! unter dem Festivalmotto Do It Together Stadttheorie in solidarische Praxis. Alle Infos zum Festival und allen Veranstaltungen finden sich unter www.urbanize.at.
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Inhalt

INHALT
dérive 61

Editorial
Christoph Laimer, Elke Rauth

Perspektiven eines kooperativen Urbanismus
Christoph Laimer, Elke Rauth

Verwebungen städtischen Handelns - Urban Citizenship oder die Umrisse einer neuen aufständischen Politik
Jochen Becker
 
Legal hacking space: What can urban commons learn from the free software hackers?
Dubravka Sekulić
 
Wir nennen es Planbude
Team Planbude

Worker Control and Workplace Democracy. An Alternative Labour History
Dario Azzelini

Die ultimative Einwandererstadt. New York City führt ein kommunales Personaldokument ein
Alina Mogilyanskaya

Zwischen Smartness und Kooperation. Möglichkeiten der informationellen Stadt
Felix Stalder
 
Common Governance als Prinzip einer sozialistischen Gouvernementalität
Danijela Dolenec
 
Tod dem Projekt! Lang lebe der systemische Wandel
Tatjana Schneider
 
Kunstinsert
zweintopf
AAA
  
Serie: Geschichte der Urbanität, Teil 49
Henri Lefebvre, Teil 5; Die Revolution der Städte
Manfred Russo

Besprechungen
Pasolini, Lefebvre, Tati und die Kritik des fordistischen Alltags
Christoph Laimer
 
Ethnographie des Urbanen
Anja Schwanhäußer
 
Occupy, Resist, Produce
Paula Pfoser
 
Erfahre deine Stadt über Musik
Maja Debşka

Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im Alltag wie Informationen zur Verfügung stellen, Dinge verborgen, mit Rat und Tat zur Seite stehen oder Feste gemeinsam feiern. Diese nichtkommerziellen Formen der Kooperation bilden die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens würden ohne diesen elementaren Kommunismus nicht funktionieren. Das gilt sowohl für den normalen Alltag als auch für Ausnahmesituationen wie beispielsweise die aktuelle Flüchtlingskrise. Man möchte sich gar nicht ausmalen, mit welcher menschlichen Katastrophe wir konfrontiert wären, gäbe es nicht die beeindruckende Zusammenarbeit von NGOs, Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern und Helferinnen an den Grenzen, Bahnhöfen, Flüchtlingsunterkünften. Wie die kommerzielle und polit-bürokratische Variante der Betreuung von AsylwerberInnen funktioniert, zeigen uns die Firma ORS und die politischen Verantwortlichen in Bund und Ländern, die alles andere als kooperativ sind, seit Monaten und Jahren im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und der unerträglichen Debatte um die Unterbringung von AsylwerberInnen.

Die Wirkmächtigkeit des kapitalistischen Realismus

Ähnliche Beispiele für spontane, bottom-up-organisierte Hilfe in Kooperation mit Hilfsorganisationen gibt es zuhauf und immer wieder zeigt sich, dass warenförmiger Austausch und Konkurrenz in unmittelbaren Katastrophensituationen zu langsam, zu kompliziert und deswegen schlicht ungeeignet sind oder wie im Falle des kommerziellen Schlepperwesens gefährlich und teuer. Der elementare Kommunismus ist also nicht irgendeine Träumerei weltfremder UtopistInnen sondern Voraussetzung und Basis für das Funktionieren der Gesellschaft. Trotzdem steht er unter ständigem Druck und muss sich gegen die Einspeisung in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie zur Wehr setzen.

Selbst in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht revolutionären Aufbegehrens stehen, machen sich JournalistInnen mittlerweile Sorgen um die »letzten Brachen sinnfreien Vor-sichhinlebens« (ja, auch die sind gefährdet), die die »kapitalistische Logik« zu verschlingen droht: »Das war schon immer der Trick des Kapitalismus: Uns zu verkaufen, was es vorher umsonst gab. Jetzt hat er die neueste Marktlücke entdeckt: den Kommunismus.« (Staun 2013)

Obwohl – abgesehen von ein paar übereifrigen neoliberalen MusterschülerInnen – die Mehrheit der Menschen ihre konkurrenzbefreiten, nichtkommerziellen Oasen des Alltags wohl kaum opfern wollen würde, gilt das kapitalistische Wettbewerbssystem dennoch weithin als unverzichtbar und notwendig – sozusagen als Normalzustand. Ideologien bringen es mit sich, dass nicht nur BefürworterInnen an ihre allumfassende Wahrheit glauben, sondern es auch GegnerInnen schwer fällt, des Kaisers neue Kleider als Schwindel zu erkennen. Die viel zitierte Bemerkung von Frederic Jameson, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, bringt auf den Punkt, wie schwer es ist, Alternativen außerhalb des herrschenden Systems zu denken. Kapitalistischen Realismus nennt der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diese Wirkmächtigkeit, diese »alles durchdringende Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulierung von Arbeit und Bildung, die zudem als eine Art unsichtbare Barriere fungiert, die das Denken und Handeln hemmt« (Fisher 2013). So verwundert es nicht, dass KritikerInnen des Wettbewerbssystems die Durchdringung der Gesellschaft mit Konkurrenzdenken als umfassender wahrnehmen, als sie tatsächlich ist. Mit ein Grund, warum auch die Möglichkeiten für Verän-derung oft nicht erkannt oder unterschätzt werden.

Von PaläoanthropologInnen wissen wir, dass Kooperation schon am Beginn der Menschheitsgeschichte stand. In Studien weisen sie darauf hin, dass der Homo Sapiens sich u.a. durch »increased social cooperation« (Antón et al. 2014) von anderen Arten der Gattung Homo unterschieden hat – ohne Kooperation kein Homo sapiens sapiens. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist einer der Hauptgründe, warum es Menschen gelang und gelingt, unter widrigsten Bedingungen zu überleben. »Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen.« (Meretz 2012) Fragt sich nur: »Warum konnten sich dennoch ›Konkurrenzverhältnisse‹ etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann ›leisten konnte‹, also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war.

Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Ko-operation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.« (ebd.)

Sand im Getriebe der Verwertungsmaschinerie

Dem ständig nach neuen Verwertungsmöglichkeiten Ausschau haltenden Kapital ist das Prinzip des Wettbewerbs und der Konkurrenz unauslöschlich eingeschrieben – Konkurrenz ist seine innere Natur, schrieb Karl Marx. Die freie Konkurrenz der Individuen, der Wettbewerb der Ideen gelten heute als Voraussetzung jeglicher Innovation. Seit der Neoliberalismus zur Leitideologie unseres Gesellschaftssystems geworden ist und der Prozess der Inwertsetzung sich anschickt, die letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Menschheit zu erobern, finden sich auch die Städte im Wettbewerbssystem wieder: sei es der Wettbewerb um Investitionen, um LeistungsträgerInnen, TouristInnen, Kreative, Megaevents. Konkurrenz hat sich als einer der Pfeiler der Gesellschaft etabliert und verdrängt andere Formen der gesellschaftlichen Organisation sowohl aus immer mehr Handlungsfeldern des Alltags als auch aus dem Bewusstsein der Menschen. Als jüngste Entwicklung setzt der Neoliberalismus an, die letzten Winkel des Privaten in Wert zu setzen – aus Gastfreundschaft wird Airbnb, aus Mitfahrgelegenheiten Uber, aus Nachbarschaftshilfe Leihdirwas.

Gegen diesen Prozess organisiert sich in vielen Städten Widerstand, der auch auf kooperativen Formen der Zusammenarbeit fußt. Er manifestiert sich in der Commons-Bewegung ebenso wie in politischen Bottom-up-Netzwerken und BürgerInnen-Initiativen. Bei den spanischen Regionalwahlen 2015 feierten basisdemokratisch organisierte Wahl-Plattformen erdrutschartige Erfolge, die einen Machtwechsel in vier der fünf größten Städte Spaniens, darunter Barcelona und Madrid, einbrachten. Kooperation abseits von Konkurrenz und Verwertung hat es in Städten immer gegeben; das Bewusstsein, aktiv neue Formen als Gegenmodell zu testen, hat sich jedoch erst in den letzten Jahren verstärkt. Die Netzkultur mit ihren flachen Hierarchien und neuen Formen der Arbeitsorganisation, ihrer Forderung nach Transparenz und offenem Zugang zu Wissen bietet nicht nur technische Möglichkeiten, sondern inspiriert auch zu neuen Formen der Organisation. Michael Hardt verweist in diesem Zusammenhang auf Lenin, der davon ausging, dass die Form der Arbeitsorganisation in hohem Maße auch die Form der Organisation politischen Denken und Handelns bestimmt. Wenn also, so Hardt, »die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation heute in horizontalen und dezentralisierten Kooperations-Netzwerken besteht, könnte man sich eine politische Form vorstellen, die ebenso dezentralisiert und horizontal ist. […]

Menschen sind bei ihrer Arbeit flexibel, autonom und kooperativ, und das erlaubt ihnen, in der Politik horizontale Netzwerke zu knüpfen und zusammen zu arbeiten.« (Vogel 2010) Der Postfordismus mit seinen flexiblen und dezentralen Organisationsformen der Arbeit eröffnet als unbeabsichtigtes Nebenprodukt somit möglicherweise Fenster für eine andere Zukunft der Stadtgesellschaft.

Die Stadt als Œuvre

Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass Städte ein kooperatives Werk aller StadtbewohnerInnen sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung, Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind.

Stadt ist das natürliche Habitat der Kooperation und ein logischer Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in Einklang zu bringen. Dabei bilden Kooperation und Konkurrenz nicht notwendigerweise ein Gegensatzpaar, wie Richard Sennett (2014) betont: Die Stadt als Raum in ständiger Bewegung, als Ort von Konflikt und Aushandlung benötigt wohl beides. Kooperation definiert Sennett als Handwerk, das den Dialog als Möglichkeit mehrere Meinungen anzuerkennen und eher dem Zuhören Raum zu geben als dem geschliffenen Argument ebenso umfasst wie das Denken und Kommunizieren in Möglichkeitsräumen statt in absoluten Wahrheiten. Empathie sieht er als jene Fähigkeit, Neugier für andere Lebenswelten zu entwickeln, die es gegenseitig zu erkunden gilt.

In der urbanen Praxis eröffnen kooperative Ansätze jedoch nicht nur eine Reihe von Chancen, sondern auch eine Menge Fragen: Einerseits hat sich die Suche nach neuen Formen des Miteinanders deutlich intensiviert, andererseits dreht sich das Wettbewerbskarussell immer schneller und zwingt nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen, Institutionen und Städte in eine ständige Konkurrenzsituation. Gleichzeitig hat die Finanzkrise weltweit Bewegungen Aufschwung verliehen, die nach alternativen Wegen suchen, um den sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Egal ob Recht auf Stadt-Netzwerke, De-Growth/Post-Wachstums-Bewegung, Urban Commons, Gemeinwohl-Ökonomie, freie Software- oder Sharing-Initiativen – den Ausgangspunkt dieser Suche bildet immer Kooperation im Sinne des Zusammenwirkens einzelner zum Wohle vieler. Dass es dabei bessere und schlechtere, wichtige und weniger wichtige und selbstverständlich auch zu kritisierende Modelle und Ansätze gibt, versteht sich von selbst. Erfahrungen mit staatlichen Programmen wie Big Society (GB) oder Participation Society (NL) zeigen beispielsweise, wie viel neoliberale Kraft im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit mit ihren BürgerInnen steckt.[1] Als dominantes Narrativ verdeckt der Ruf nach Kooperation wichtige Diskussionen über die Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand unserer demokratischen Systeme. Bürgerbeteiligungen und partizipative Planungsansätze bilden allzu oft nur ein Feigenblatt in längst beschlossenen Stadtentwicklungsprozessen. Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis kooperieren soll.

Die im Titel des Schwerpunkts angesprochenen Perspektiven sehen wir in Konzepten wie Urban Citizenship, Urban Commons, Autogestion bzw. Selbstverwaltung. Es geht in diesem Heft also um Fragen einer umfassenden Gleichberechtigung jedes einzelnen Individuums der Stadtbevölkerung, der Produktion und Verteilung von Gütern, der kollektiven Stadtproduktion und der Möglichkeit der Mitgestaltung und Teilhabe, der Kommunikation und der Gesellschaftsorganisation. Also um nicht mehr und nicht weniger als die kooperative Stadt.


Anmerkung:
[01] 2013 hat der niederländische König Willem-Alexander in einer Fernsehansprache das Ende des Wohlfahrtsstaates angekündigt und verlautbart, dass dieser durch eine »Participatiemaatschappij«, eine Gesellschaft der Partizipation ersetzt werden wird: »These days people want to make their own choices, arrange their own lives and look after each other. These developments make it appropriate to organise care and social provision close to people and in collaboration with them.« (The Amsterdam Herald 2013). Vorbild dafür ist David Camerons Vision einer Big Society, die ebenfalls das Ziel hat, staatliche Leistungen zu kürzen, um BürgerInnen und Kommunen damit zu belasten.

Literatur:
Antón, Susan C.; Potts, Richard & Aiello, Leslie C. (2014): Evolution of early Homo: An integrated biological perspective. In: Science, Vol. 345 no. 6192. DOI: 10.1126/science.1236828.
Fisher, Mark (2012): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Symptome unserer kulturellen Malaise. Hamburg: VSA.
Graeber, David (2014): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. München: Wilhelm Goldmann.
Meretz, Stefan (2012): Konkurrenz und Kooperation. In: Streifzüge, Heft 56. Verfügbar unter: www.streifzuege.org/2012/konkurrenz-und-kooperation [20.09.2015]
Meretz, Stefan (2014): Grundrisse einer freien Gesellschaft. In: Konicz, Tomasz & Rötzer, Florian (Hg.):
Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise. Hamburg: Heise.
Senett, Richard (2014): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: dtv.
Staun, Harald (2013): Der Terror des Teilens, In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2013. Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/shareconomy-der-terror-des-teilens-12722202.html [20.09.2015].
The Amsterdam Herald (2013): King Willem-Alexander: ›participation society‹ must replace welfare state. In: The Amsterdam Herald, 17.9.2013. Verfügbar unter: www.amsterdamherald.com/index.php/rss/982-20130917-king-willem-alexander-participation-society-must-replace-welfare-state-netherlands-dutch-recession-royals-politics [20.09.2015].
Vogel, Steffen (2010): Michael Hardt im Interview. In: Freitag, 6.4.2010. Verfügbar unter: www.freitag.de/autoren/der-freitag/michael-hardt-im-interview [20.09.2015].

dérive, Mo., 2015.10.26

26. Oktober 2015 Elke Rauth, Christoph Laimer

Pasolini, Lefebvre, Tati und die Kritik des fordistischen Alltags

Beim urbanize-Festival 2012 hat Klaus Ronneberger im Wiener Filmmuseum einen höchst interessanten Vortrag zur Urbanismuskritik von Guy Debord, Henri Lefebvre und Jacques Tati gehalten. Vor kurzem ist eine Publikation von ihm erschienen, in der er das Thema wieder aufgreift, nur dass er Guy Debord durch Pier Paolo Pasolini ersetzt.

Die drei Zeitgenossen, die persönlich nicht miteinander in Kontakt standen, werden in jeweils einem eigenen Kapitel »als Kritiker des fordistischen Alltags« portraitiert. In seiner Einleitung schreibt Ronneberger, dass ihn die Kritik aller drei an der fordistischen Nachkriegsmoderne und der »wachsenden Entfremdung der Menschen von ihren Alltagsbedingungen durch den ›Konsumkapitalismus‹« sowie an dem damals weit verbreiteten Fortschrittsoptimismus interessiert hat. Unter Peripherie und Ungleichzeitigkeit fasst er das Aufeinanderprallen von der in weiten Teilen noch stark agrarisch geprägten, kleinteilig föderalistischen Gesellschaft Italiens und Frankreichs mit der durch eine staatliche, zentralistische Normierungsstrategie geförderten Modernisierung, die »das Andere, das Vormoderne als Abweichung registriert und gegebenenfalls auch verfolgt«, zusammen. In beiden Ländern kam es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zu einer starken Landflucht und im Falle Frankreichs auch zu einer transnationalen Zuwanderung, die zu einer umfassenden Urbanisierung führte und die Städte an ihren Rändern wachsen ließ.

Industrialisierung und Massenproduktion setzen sich mit – im Vergleich zu England und Deutschland – Verspätung durch und etablierten sich in einer, vor allem in Italien noch in weiten Teilen handwerklich und kleingewerblich strukturierten und geprägten Wirtschaft. Die Kritik der drei Protagonisten schrammt (wenn überhaupt) stets nur äußerst knapp an einer konservativen Nostalgie vorbei und war damals z.B. im Vergleich zu den britischen Cultural Studies und ihrer Einschätzung der Möglichkeiten, sich durch Konsum selbst zu ermächtigen und kreativ zu sein, auf den ersten Blick wohl heillos antiquiert. Pasolini sprach in Zusammenhang mit dem hedonistischen Konsumismus gar von einem »neuen Faschismus«.

Aus heutiger Sicht verschwimmen die damals noch klaren Widersprüche. All das, was in der (Massen-)Konsumgesellschaft ursprünglich verschwand, also Handwerk, Authentizität, Ursprünglichkeit, kleinteilige bäuerliche Strukturen, Wissen über Produktionsabläufe, Herstellungsmethoden, Inhaltsstoffe etc., steht heute wieder hoch im Kurs. Der widerständige Charakter existiert allerdings nur noch in Nischen oder ist zur bloßen Attitüde verkommen. Attribute wie Authentizität sind mittlerweile selbst feste Bestandteile der Welt des Konsums.

Pasolini lebte, bevor er nach Rom ging, in einem kleinen Ort im norditalienischen Friaul. Besonders fasziniert war er von Furlan, der Sprache der Region, die dort heute noch sowohl Alltags- als auch Amtssprache ist. Er schätzte ihre Klarheit und die Abwesenheit »von bürgerlichen Metamorphosen und Metaphern«. Eine Faszination, die er später in Rom für den in den Borgate, den ursprünglich informell errichteten Siedlungen der Vorstädte, gesprochenen Jargon erneut aufbrachte. Den Normierungsdruck, der auf Sprachen wie Furlan oder den Verhaltensweisen der BewohnerInnen der Borgate lastete, nahm Pasolini als Nivellierung und »Kolonialisierung subalterner Alltagspraktiken« wahr.

Ronneberger schildert die Nachkriegs-Stadtentwicklung Roms und Pasolinis ausufernde Streifzüge durch die ihn faszinierende römische Peripherie, deren BewohnerInnen dem allgegenwärtigen Konformismus weniger zu verfallen schienen als die sich entwickelnde italienische Massengesellschaft. Interessant ist Pasolinis Verhältnis zum Katholizismus. Diesen sah er historisch zwar als Machtmittel der Eliten, seine Grundlagen übten trotzdem eine Anziehungskraft auf ihn aus. Seine filmische Auseinandersetzung mit religiösen Themen wurde sicher durch den Umstand gefördert, dass er auch Religion durch die »konsumistische Revolution« gefährdet sah, da er meinte, die Herrschenden seien für den Machterhalt nicht mehr auf sie angewiesen.

Was Lefebvre mit Pasolini teilt, ist die Wertschätzung einfacher, traditioneller Alltagspraktiken. Was für Pasolini das Friaul, waren für Lefebvre die Pyrenäen, denen er sich zeitlebens verbunden fühlte. Ronneberger registriert eine starke Sympathie für »die sozialen und kulturellen Überreste längst vergangener Hirten- und Bauernrepubliken« und »[e]ine nostalgische Sehnsucht nach einem nicht entfremdeten Leben«. Das fordistische Konsummodell, dem Lefebvre ebenso kritisch gegenüber stand wie Pasolini, ermöglichte es der westlichen Gesellschaft, »auf offene Gewalt« zu verzichten. Lefebvre sah Zeit und Raum immer stärker dem Markt unterworfen und somit dem selbstbestimmten Alltag der Menschen entrissen. Lefebvres Kritik am Urbanismus von oben und der Reduktion des Wohnens auf reine Unterbringung in den Grands Ensembles der Banlieues dürfte dérive-LeserInnen weitgehend bekannt sein, weshalb hier nicht weiter darauf eingegangen wird.

Somit zu Jacques Tati bei dem die Sehnsucht nach der vormodernen Zeit, dem noch nicht entfremdeten Alltag ebenfalls ständig zu spüren ist. Technizistische Konsumartikel, moderne Möbel und Architektur sowie die neue Arbeitswelt sind in seinen Filmen ständiger Anlass für feinen Spott und treffen auf großes Unverständnis. Der auf der Hand liegende Verdacht, Tati sei völlig technikfeindlich und rückwärtsgewandt und verkläre nur das gute alte französische Landleben mit seiner angeblichen Gemütlichkeit, spießt sich allerdings mit seinen Anstrengungen, seine Filme technisch möglichst perfekt zu produzieren und dabei – ohne Rücksicht auf Verluste – auch auf neueste zum Teil noch unausgereifte Innovationen zu setzen.

Ronneberger hebt hervor, dass Tati »manche Mythen der Nachkriegsgesellschaft entzaubert« und ebenso wie Pasolini und Lefebvre »auf der Suche nach dem Widerständigen gegen die Zumutungen der fordistischen Rationalität« war. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine Szene in Playtime, in der ein offensichtlich ohne handwerkliche Sorgfalt errichtetes Restaurant im Laufe eines Abends Schritt für Schritt in Bruch geht, was die Stimmung der Gäste jedoch keineswegs dämpft, sondern – ganz im Gegenteil – vielmehr Anlass für größte Ausgelassenheit ist. Die Absicht, das subversive Potenzial, das genau in solchen Momenten aufblitzt, zu zeigen, vereint Pasolini, Lefebvre und Tati und Ronneberger versteht es, sie in den Werken aller drei aufzuspüren und schärft damit unseren Blick für die Brüche und Risse in der polierten Fassade des kapitalistischen Alltags.


Klaus Ronneberger
Peripherie und Ungleichzeitigkeit. Pier Paolo Pasolini, Henri Lefebvre und Jacques Tati als Kritiker des fordistischen Alltags
Hamburg: adocs, 2015
132 Seiten, 15,90 Euro

dérive, Mo., 2015.10.26

26. Oktober 2015 Christoph Laimer

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