Editorial

15 Jahre dérive wären ein würdiger Anlass, einen Blick zurückzuwerfen und sich die Entwicklung unserer Arbeit vor Augen zu führen. Schließlich war es ein weiter Weg von der Idee, unserem in den 1990er Jahren in einer Mini-Auflage erschienenen Fanzine, eine Edition IWI Heavy Stuff beizustellen, bis zur heutigen Zeitschrift für Stadtforschung, die internationale Anerkennung genießt und u.a. von der Bibliothek der Princeton University oder der Architectural Association in London abonniert wird.

Geblieben ist unsere Leidenschaft für die Stadt als Œuvre und die Überzeugung, dass es mehr denn je kritische Auseinandersetzung braucht. Deswegen verzichten wir an dieser Stelle auf nostalgische Rückblicke und beschäftigen uns lieber mit unseren aktuellen Projekten.

Jubiläumsausgaben verlangen nach besonderen Themen, was der Redaktion erfahrungsgemäß Kopfzerbrechen bereitet: In der 10 Jahre-Ausgabe widmeten wir uns der Stadtforschung selbst, das 50. Heft trug den Titel Straße und in dieser 60. Ausgabe stehen Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt im Mittelpunkt. Das in den 1960ern entwickelte Recht auf Stadt genießt aufgrund der aktuellen Verhältnisse ungebrochene Aktualität und gerade in den letzten Jahren wurde vieles dazu publiziert. So gut allerdings Recht auf Stadt als Slogan funktioniert, weil er offen ist und Spielraum für Interpretationen lässt, so wenig ist – abseits der akademischen Beschäftigung – über den genaueren Zusammenhang mit Henri Lefebvre bekannt und damit über den Ursprung von Recht auf Stadt als (Auf-)Schrei und Verlangen (»comme appel, comme exigence«). Das liegt sicher auch daran, dass Lefebvres Text Le droit à la ville niemals ins Deutsche übersetzt wurde und sich sein Werk grundsätzlich einer Lektüre versperrt, die auf der Suche nach Rezepten ist.

Der Schwerpunkt Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt präsentiert – gemeinsam mit Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität – sechs Einblicke, Interpretationen und Inspirationen zu Lefebvres Recht auf Stadt. Die Beiträge behandeln unterschiedliche Aspekte, kreuzen sich aber an bestimmten Stellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den umfassenden gesellschaftlichen Anspruch von Recht auf Stadt darlegen, der sich nicht in einzelnen Forderungen erschöpft.

Den Anfang macht Anne Vogelpohl, die in ihrem Beitrag die Bedeutung der Begriffe Stadt und Urbanisierung bei Lefebvre erklärt, deren Verständnis für Recht auf Stadt grundlegend ist. Darüber hinaus erläutert sie den Begriff des Wohnens, der bei Lefebvre »eine spezifische Form des Zusammenlebens in der Stadt und des Alltagslebens insgesamt« einschließt.

Andy Merrifield, der 2006 eine sehr lesenswerte und kritische Einführung in Lefebvres Gesamtwerk (Henri Lefebvre: A Critical Introduction) veröffentlicht hat, nimmt Lefebvres Satz »The right to the city implies nothing less than a revolutionary conception of citizenship« als Ausgangspunkt, um darüber zu philosophieren, was diese citizenship heute bedeuten könnte.

Klaus Ronneberger, dérive-LeserInnen und urbanize!-Festival-BesucherInnen im Zusammenhang mit Lefebvre wohl bekannt, legt in seinem Text die gesellschaftliche Situation im Nachkriegsfrankreich dar, in der Lefebvre – der lange Jahre als Agrarsoziologe tätig war – begann, über das Urbane zu forschen und nachzudenken. Lefebvres Forderung nach einem Recht auf Zentralität steht damit in unmittelbarem Zusammenhang. Von Klaus Ronneberger ist jüngst der sehr empfehlenswerte Essay Peripherie und Ungleichzeitigkeit erschienen, der Lefebvre gemeinsam mit Pier Paolo Pasolini und Jacques Tati als Kritiker des fordistischen Alltags analysiert.

Christian Schmid, dessen Lefebvre-Buch Stadt, Raum und Gesellschaft all jenen wärmstens ans Herz gelegt sei, welche die Zusammenhänge von Lefebvres Denken verstehen lernen wollen, zeichnet die unterschiedlichen Phasen der Rezeption von Lefebvres Werk nach und zeigt wie es für die gegenwärtige Stadtforschung fruchtbar gemacht werden kann, während Mark Purcell Recht auf Stadt verwendet, um über die Potenziale und Bedeutung von Demokratie nachzudenken.

Manfred Russo schließlich erklärt Lefebvres Bezug­nahme auf die Pariser Commune, die Rolle der Efferveszenz und Lefebvres wunderbarer These von der Stadt als Œuvre.

Jan Zychlinskis Portrait von Jerewan ergänzt den Schwerpunkt um einen exemplarischen Einblick in die harte Realität von Kämpfen um das Recht auf Stadt: Unter dem Titel Is it a beginning …? zeigt er die zerstörerische städtische Machtpolitik in der armenischen Hauptstadt und portraitiert eine Initiative, die dagegen ankämpft.

Das Kunstinsert Geraldton goes Wajarri von Pia Lanzinger macht auf die verschwindenden Sprachen der Aboriginal in Westaustralien aufmerksam und will das Bewusstsein für kulturellen Reichtum stärken. Auch hier könnte man mit Recht auf Differenz einen Bezug zu Lefebvre herstellen – aber irgendwann reicht es dann auch wieder.

Wovon wir aber gar nicht genug bekommen können, sind ihre Rückmeldungen zu dérive: Wir wünschen uns zum Jubiläum Lob, Kritik und Geschichten: Warum lesen Sie dérive? Was bringt Ihnen die Lektüre? Was freut, was nervt? In welchem Kontext haben Sie Bekanntschaft mit dérive geschlossen? Hat dérive ihr Denken und Schaffen beeinflusst, zu Aktionen, Interventionen, Publikationen, Forschungen angeregt? Was verbinden Sie mit der Zeitschrift für Stadtforschung? Wortspenden werden unter jubel@derive.at dankend entgegen genommen.

Ach ja – falls Sie es noch nicht wissen: Von 2. – 11. Oktober steigt zum 6. Mal unser urbanize!-Festival. Unter dem Motto Do It Together eröffnen wir ein Labor für kollaborativen Urbanismus, erproben Alternativen des Zusammen und hinterfragen Chancen und Fallstricke gemeinsamer Stadtproduktion. Rege Beteiligung ist herzlichst erwünscht!
Bis dahin einen extra-feinen Sommer; nehmen Sie sich ihr Recht auf Stadt.

Christoph Laimer und Elke Rauth

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer & Elke Rauth

Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt

Die Begriffe Stadt und Urbanisierung bei Henri Lefebvre
Eine Inspiration für Recht auf Stadt-Bewegungen heute
Anne Vogelpohl

The shadow citizenry
Andy Merrifield

Henri Lefebvres Theorie der Produktion des Raumes und ihre Anwendung
Christian Schmid

Henri Lefebvre und die Frage der Zentralität
Klaus Ronneberger

Das Recht auf Stadt: Der Kampf für Demokratie in der urbanen Öffentlichkeit
Mark Purcell

Kunstinsert

Pia Lanzinger
Geraldton goes Wajarri

Serie: Geschichte der Urbanität, Teil 48
Henri Lefebre, Teil 4
Vom Recht auf die Stadt. Efferveszenz und Œuvre
Manfred Russo

Stadtentwicklung und Zivilgesellschaft in Jerewan
Jan Zychlinski

Besprechungen
Wiedervereinte Nachkriegsmoderne
Träume von Räumen
Nach der Migration – für eine andere Sichtweise in Forschung, Stadtentwicklung und Kulturbetrieb
Zur Bewertung des Wohnens

Wiedervereinte Nachkriegsmoderne

Wenn man durch die Ausstellung „Radikal Modern – Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre“ geht, gibt es zwei für ihren Kontext relevante Aspekte. Der Prolog thematisiert zum einen die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sowie den Bau der Berliner Mauer 1961 als wichtigste Rahmenbedingungen für die architektonischen und stadträumlichen Konzepte der 1960er Jahre, auf die in den sechs Kapiteln der Ausstellung näher eingegangen wird. Der schlechte Zustand der alten Bausubstanz als Auslöser für das Aufkeimen des radikalen Wunsches nach einer Neuausrichtung der Stadt wird hier ebenso deutlich wie die stadträumliche und ideologische Bedeutsamkeit des wichtigsten Bauwerks der Zeit – der Berliner Mauer. Die Entwürfe und Bauten müssen im Kontext einer geteilten und zerstörten Stadt gesehen werden, die ihre Vergangenheit rigoros überwinden und nach vorne schauen wollte.

Zum anderen – und dieser Aspekt wird in der Ausstellung nicht direkt thematisiert – gibt es die gegenwärtige Situation einer wiedervereinigten Stadt, in der die Rekonstruktion nach wilhelminischem Ideal vorherrscht – das Stadtschloss ist gerade im Bau – und die Zerstörung oder Umgestaltung vieler Bauten der Nachkriegsmoderne anstrebt. Aktuell werden beispielsweise die Nachahmung mittelalterlicher Strukturen an einem der zentralen Plätze der „Ostmoderne“ – dem Rathausplatz am Fernsehturm – sowie die Verdichtung des Kulturforums von Hans Scharoun im ehemaligen Westberlin unter dem Paradigma der „traditionellen, europäischen“ Stadt diskutiert. Viele Bauten und Stadträume aus der Nachkriegsmoderne sind aktuell gefährdet, dem Bauerbe der Nachkriegszeit haftet ein negatives Image an.

Die Kuratorin Ursula Müller positioniert sich ganz klar zur aktuellen Situation in Berlin: Die Ausstellung sei ein Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung des Bauerbes der 1960er Jahre.

Damalige Fragestellungen, wie z. B. die Wohnungsfrage oder die Suche nach einer neuen Stadtidentität, sind heute wieder aktuell – eine präzise Auseinandersetzung mit den Studien und Experimenten des Jahrzehnts könnte Lösungen für die Gegenwart anregen. Ebenso wie beide Systeme nach dem Mauerbau nach einer neuen Identität suchten, steht das wiedervereinigte Berlin vor der gleichen Herausforderung. Doch statt einer neuen, zeitgemäßen Herangehensweise, die den jetzigen gesellschaftlichen Anforderungen und Verhältnissen gerecht wird, gibt es eine Reorientierung hin zur Vergangenheit und touristischen Attraktion. Auch die Wohnungsfrage ist wieder da: Berlin wächst, Wohnraum ist knapp, die Mieten steigen, und die bisherige Strategie, sich auf private InvestorInnen zu verlassen, verschärft die Situation, statt sie zu verbessern. Die Ansätze und Debatten aus den 1960er Jahren waren, wie die Ausstellung zeigt, von einer Vielfalt ästhetischer Antworten auf die damaligen Verhältnisse geprägt, die von einer kritischen Debattenkultur und umfassenden Studien und Experimenten begleitet wurde.

Die unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte stellen anhand von noch bestehenden, teils vom Abriss oder Umbau bedrohten sowie zerstörten Bauten die Baukultur der 1960er Jahre in Ost- und Westberlin vor. Zugleich geben die Auseinandersetzung mit ungebauten Visionen und Stadtutopien und der Umgang der ArchitektInnen mit der historischen Bausubstanz einen Eindruck von der komplexen Debatten und dem Ideenreichtum der Zeit. Zu sehen ist auch eine differenzierte Aufbereitung der Entstehung wichtiger gebauter Beispiele wie z. B. der Neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann und des Staatsratsgebäudes von Roland Korn, Hans-Erich Bogatzky und Klaus Pätzmann – in beiden Gebäuden wurden die Ruinen in die Figur der neuen Architektur eingearbeitet – oder des Europa-Centers von Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg als Westberliner Antwort auf das Rockefeller Center und des Hauses des Lehrers von Hermann Henselmann als Ostberliner Hommage an Brasilia.

Erstaunliche Parallelen in der Formensprache der Ost- und Westmoderne wurden aufgespürt, und es wird deutlich, dass über die physische Grenze der Mauer hinweg nicht nur Konkurrenz zwischen Ost und West herrschte, sondern auch Verflechtungen und Korrespondenzen aufrechterhalten wurden, zumal die Realisation des Kollektivplanes, welcher zunächst auf die Gesamtstadt ausgerichtet war, in beiden Stadthälften vor dem Hintergrund der Teilung weitergedacht werden musste. Hier bricht die Ausstellung mit den gewohnten Erzählstrategien des Kalten Krieges, die die Konkurrenz und unterschiedlichen Bezugssysteme der zwei Stadthälften in den Vordergrund stellen, und lenkt den Blick auf die Gemeinsamkeiten: Das Bild der Moderne, das Bild der Zukunft waren richtungsweisend. Beide Seiten erlebten einen Bauboom, begleitet von gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen und dem Enthusiasmus für eine neue Zukunft – beide Systeme wollten die jüngste Vergangenheit überwinden und fanden ihr städtebauliches Leitbild in der autogerechten Stadt. Dabei entstanden aus dem Geist des rationalisierten Bauens und dem Einsatz neuer Bautechniken und Materialien radikal neue Räume.

Man war sich zugleich auf beiden Seiten bewusst, dass die technisch-ökonomischen Vorgaben und die Orientierung an der Bauwirtschaft auch Nachteile mit sich brachten, und setzte sich z. B. mit der Monotoniegefahr der Typisierung im Wohnungsbau auseinander. Interessant ist in diesem Zusammenhang die detaillierte Präsentation der Punkthochhaus-Studien von Manfred Zumpe (Ost) und Klaus Müller-Rehm (West) – beide eindrucksvolle Wiederentdeckungen –, die sich ausgiebig mit dieser Thematik befassten. Zumpes gut aufbereitete Korrespondenz mit Walter Gropius, der damals an den Planungen für die Gropiusstadt arbeitete, offenbart zugleich exemplarisch die Verflechtungen zwischen Ost und West.

Diese sowie andere Beispiele lassen den sachlichen Blick der KuratorInnen erkennen, zumal der Nostalgiegefahr mit einer detaillierten Dokumentation der inhärenten Kritik der Zweiten Moderne entgegengesteuert wird. Die Zweite Moderne war demnach nicht nur radikal, Kritik und selbstkritische Auseinandersetzungen waren oft prägend für die Entwicklung der Bauten und Stadträume. Es war beispielsweise nicht vorgesehen, dass die Ruinen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erhalten wurden. Der Protest der Kirchengemeinde und Bevölkerung überzeugte Egon Eiermann, den neuen Entwurf mit der Ruine zusammenzuführen. Auch viele der unrealisierten Entwürfe sind als zeitnahe Kritik am bauwirtschaftlichen Mainstream zu verstehen: Georg Kohlmaier und Barta von Sartorys Entwurf für rollende Gehwege (West) sollte den Menschen vor der Dominanz der motorisierten Stadt schützen; Engelbert Kremsers „Erdarchitektur“ als Entwurf für das Europa-Center, das an heutige parametrische Renderings denken lässt, beruhte auf einer komplett neuen Bautechnik und unterminierte die mächtige Bauwirtschaft. In Ostberlin hingegen wurden Josef Kaisers Großhügelhäuser, die mit Dieter Urbachs eindrucksvollen Collagen den Zukunftsoptimismus der Zeit verbildlichen, „unter Verweis auf aktuelle soziologische Studien“ mit dem Argument abgelehnt, „dass angesichts der zunehmenden Differenzierung der Lebensbedürfnisse ein solch gigantisches Wohnhausprojekt widersinnig sei“.

Die Ausstellung wirkt wie ein Befreiungsschlag aus den emotional und ideologisch geführten Debatten, in denen die Ostmoderne pauschal als totalitäre, unmenschliche Utopie und die Westmoderne als unwirtliche, unästhetische Architektur geschmäht und die Rückkehr zum Mythos einer „gewachsenen europäischen“ Stadt für die Berliner idealisiert wird. Durch das Zusammendenken beider Stadthälften in der ersten Dekade nach der endgültigen räumlichen Teilung wird deutlich, dass die Nachkriegsmoderne als Antwort auf die gesellschaftlichen, räumlichen und kulturellen Umstände und Bedingungen der 1960er gesehen werden muss. Die Parallelen und Analogien deuten auf eine Unbedingtheit dieser Formensprache zur Überwindung des Zweiten Weltkriegs und einer Distanzierung von der mythologisierenden, historisierenden Ästhetik des Nationalsozialismus. In diesem Zusammenhang würde man sich heute dringend einen Paradigmenwechsel und eine neue Debattenkultur für das wiedervereinigte Berlin wünschen. Die Ausstellung bietet hierfür eine sehr gute Grundlage, und man kann nur hoffen, dass sie mit der Betrachtung der 1970er, 1980er und 1990er Jahre bis zur heutigen Zeit eine Fortsetzung erfährt. Vielleicht würde dadurch nachvollziehbar, wie es zur gegenwärtigen „radikalen Unmoderne“ kommen konnte.


Radikal Modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre
29. 5.–26. 10. 2015
Berlinische Galerie – Museum für Moderne Kunst, Berlin

Radikal Modern Symposium
Verflechtungen. Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre
26. 6. 2015, 10–17 Uhr, Auditorium Berlinische Galerie

Ausstellungskatalog
Thomas Köhler und Ursula Müller für die Berlinische Galerie (Hg.)
Radikal Modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre
Berlin: Wasmuth, 2015
208 Seiten, 38 Euro

dérive, Mi., 2015.07.29

29. Juli 2015 Niloufar Tajeri

Nach der Migration – für eine andere Sichtweise in Forschung, Stadtentwicklung und Kulturbetrieb

„Migration bewegt und bildet die Gesellschaft“ lautet das Motto des Sammelbandes Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft von Erol Yildiz und Marc Hill.

Ausgangspunkt der Herausgeber ist dabei die Beobachtung „Seit es Menschen gibt, gibt es auch Wanderungen.“ Mobilität gab und gibt es zu allen Zeiten und in verschiedene Richtungen – keineswegs erst seit dem 20. Jahrhundert und nur in die europäischen Industriestaaten. Mobilität, nicht dauerhafte Sesshaftigkeit, bildet aus historischer Sicht die Norm von Gesellschaften, Gemeinwesen und Städten.

Im öffentlichen Bewusstsein wird Migration heute jedoch oft als Abweichung von der Norm bzw. tendenziell als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Gegen diese „skeptische bis skandalisierende Sichtweise“ wendet sich der Sammelband. Die Beiträge möchten deutlich machen, „dass Menschen mehrere Heimaten und Zugehörigkeiten haben“, vielfältige Netzwerke schaffen, transnationale Lebensstrategien entwickeln sowie mit negativen Zuschreibungen „kreativ und subversiv umzugehen wissen“. Dadurch entstehen „postmigrantische, mehrheimische, hybride und transkulturelle Alltagspraktiken“. Ziel der Publikation ist es, diese Perspektiven und Erfahrungen in den Mittelpunkt zu rücken und sich von eindeutigen Kategorisierungen wie MigrantInnen und Einheimische zu verabschieden. Das Buch tritt für eine ressourcenorientierte Sichtweise auf migrationsbedingte Phänomene ein und grenzt sich vom vorherrschenden, häufig defizitorientierten Integrationsdiskurs ab. Damit schließt es an neuere Diskurse der kritischen Migrationsforschung an.

Die Herausgeber bringen in ihrem Sammelband konzeptionelle Forschungsperspektiven und empirische Studien zusammen. Die Beiträge kommen aus verschiedenen Disziplinen der Migrations- und Stadtforschung, z. B. der Erziehungswissenschaft, Kulturanthropologie, Medienwissenschaft und Soziologie, aber auch von TheatermacherInnen, ArchitektInnen, KuratorInnen und anderen. Der Schwerpunkt liegt auf Entwicklungen in Österreich und Deutschland.

Der Reader ist in drei Themenbereiche gegliedert. Im ersten Teil Migration bewegt die Forschung werden „postmigrantische“ Forschungsperspektiven für die Geistes- und Sozialwissenschaften vorgestellt. Erol Yildiz möchte mit dem Begriff des „Postmigrantischen“ Dualismen wie Inländer/Ausländer dekonstruieren und auf alltägliche Mehrfachzugehörigkeiten, Übergänge und ironische Umdeutungen hinweisen. Ferner plädiert er dafür, die Migrationsforschung aus ihrer Nische herauszuholen und als kritische Gesellschaftsanalyse zu etablieren. Einem ähnlichen Plädoyer widmen sich die Beiträge von Regina Römhild und Sabine Hess. Der Beitrag von Elka Tschernokoshewa ist wiederum mit Blick auf die Hybridität von Minderheiten in dieser Perspektive verortet. Mark Terkessidis fordert am Beispiel des Kulturbetriebs sämtliche gesellschaftlichen Institutionen zu einem Umdenken auf, das in Form eines Programms „Interkultur“ realisiert werden sollte.

Im zweiten Schwerpunkt Migration bewegt die Stadt werden Veränderungen in Stadtentwicklung und Urbanität durch Zuwanderung und Diversität in überwiegend qualitativen Studien untersucht. Der Beitrag von Wolf-Dietrich Bukow sucht von einem Entwicklungspotenzial für Städte ausgehend neue, gerechtere Strategien der Inklusion in Stadtgesellschaften. Marc Hill setzt sich mit postmigrantischen Alltagspraktiken von Jugendlichen im Bahnhofsviertel von Klagenfurt auseinander. In den Beiträgen von Elke Krasny, Angela Pilch Ortega, Amila Širbegović und Miriam Yildiz liegt der Fokus ebenfalls auf hybriden, transnationalen und postmigrantischen Phänomenen in unterschiedlichen migrationsgeprägten Stadtteilen, etwa von Wien, Graz, Köln, Sarajevo und St. Louis.

Der dritte Themenbereich Migration bewegt den Kulturbetrieb stellt Reaktionen von Kultureinrichtungen auf Migration vor und behandelt neue Impulse am Beispiel künstlerischer Produktionen aus Österreich, die sich mit Migration kreativ auseinandersetzen. Indem auch Involvierte aus dem Kulturbetrieb zu Wort kommen, werden unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt. Der Beitrag von Natalie Bayer beschäftigt sich z. B. kritisch mit hegemonialen Repräsentationspraktiken im Museum. Ferner gibt es Beiträge zu Lebensgeschichten und Prekarität im Film (Brigitte Hipfl), migrantischen Medien am Beispiel eines Wiener Jugendmagazins (Viktorija Ratković), postmigrantischem Hiphop (Rosa Reitsamer und Rainer Prokop) sowie einem Performanceformat zum Thema Aussiedelung (Katrin Ackerl Konstantin und Rosalia Kopeinig).

Mit ihren Forschungsperspektiven, empirischen Studien und künstlerischen Projekten leistet die Publikation einen wichtigen Beitrag zu einem in Teilen bereits begonnenen Perspektivenwechsel innerhalb der aktuellen Migrationsforschung. Dabei gelingt es den AutorInnen, Aspekte, Lebensentwürfe und Geschichten näher zu beleuchten, die „in nationalen Erzählungen marginalisiert, ignoriert oder verdrängt wurden.“ In diesem Sinne ist es ein Anliegen der Herausgeber, Migrationsgeschichte neu zu erzählen. Beispielsweise werden die so genannten GastarbeiterInnen als „Pioniere einer Transnationalisierung“ gedeutet, die aktuell relevante Kompetenzen und „Mobilitätswissen“ für gegenwärtige transnationale Lebensentwürfe besitzen.

Yildiz’ und Hills „postmigrantische Perspektiven“ werfen verschiedene Themen und Fragen auf, worauf die unterschiedlichen Beiträge vielfältige Antworten geben. Dabei sensibilisieren die Beiträge unter anderem für das Kreative, das „nach der Migration“ eben auch und oft unbemerkt passiert, und inspirieren zu einer kritischen Auseinandersetzung mit gängigen Konzepten. In diesem Zusammenhang weist der Band zu Recht darauf hin, dass Migration in Deutschland und Österreich „seit Generationen ein gesellschaftliches Faktum ist, das zunächst anerkannt werden muss.“ Der Titel Nach der Migration.

Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft bringt diese Aspekte treffend zum Ausdruck.


Erol Yildiz, Marc Hill (Hg.)
Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft
Bielefeld: Transcript Verlag, 2014
298 Seiten, 29,99 Euro

dérive, Mi., 2015.07.29

29. Juli 2015 Julia Splitt

Zur Bewertung des Wohnens

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Mit dem ständig wachsenden Anteil der in Städten lebenden Weltbevölkerung ist dieser Anspruch zu einem globalen geworden. Wie lassen sich aber internationale Ansätze mit ihren regionalen Spezifika in ihren Unterschiedlichkeiten bewerten und miteinander vergleichen?

Das Buch Affordable Living – Housing for Everyone stellt anhand von sechs Essays und sechzehn Projektbeispielen internationale stadtplanerische und architektonische Lösungsansätze der jüngsten Zeit dar, die einen Beitrag zu diesem Thema leisten. Der Band stellt das Ergebnis einer mehrjährigen Auseinandersetzung im Rahmen eines akademischen Austausches zwischen der Universität Münster und dem Harbin Institute of Technology in Shenzen, China, dar.

Im Zentrum dessen, was leistbarer Wohnbau sein kann, stehen die an diesen Entwicklungsprozessen beteiligten AkteurInnen und die Abhängigkeiten zwischen Investition, Rechtsform und Regulativen. Die allerorts fortschreitende Liberalisierung der Märkte legt die Produktion sowie die Regelung des Zuganges zu Wohnraum und dessen Verwaltung vor allem im massenweise produzierten sozialen Wohnbau zusehends in die Hände von privaten InvestorInnen. Im indischen Bangalore, wo die Gentrifizierung innerstädtischer Gebiete eine starke Verdrängung der ärmeren Bevölkerung nach sich zieht, treten nunmehr mehrgeschossige Wohnbauten an die Stelle informeller, niedriger Strukturen.

Kostengünstiger Wohnraum als am stärksten nachgefragtes Marktsegment wird nach westlichem Vorbild durch PPP-Modelle oder allein durch private InvestorInnen gedeckt. Die Wohnraumproduktion dient dabei buchstäblich der Umverteilung von unten nach oben, selbst die SlumbewohnerInnen werden nunmehr vertikal geschichtet, die zentralen Fragen nach dem Zugang zu Mobilität und zu Land bleiben dabei im großen Maßstab ungelöst.

Gegensätzlich dazu gestaltet sich die Situation in China, wo ein Tandem aus staatlichen und informellen Maßnahmen kostengünstigen Wohnraum sichert. So sind es in Shenzen ehemalige Bauern, die einen Großteil des Bedarfes an leistbarem Wohnraum informell decken. Ihnen wurde vom Staat großflächig Bauland für die Errichtung von Wohngebäuden als Kompensation für ihre landwirtschaftlichen Flächen gegeben. Auf diesen dehnt sich nun die Stadt rings um die ehemaligen Dörfer aus. Aus den ehemaligen Bauern wurden notgedrungen Bauherren, die das in kollektivem Besitz stehende Land dicht bebauten, um den Wohnraum an zugezogene ArbeiterInnen zu vermieten. Diese so genannten Urban Villages decken gemeinsam mit dem staatlichen sozialen Wohnungsbau im Rahmen der regulierenden wirtschaftlichen Maßnahmen den Bedarf an kostengünstigem Wohnraum.

Gemeinschaftliches Eigentum steht auch im Zentrum der bottom-up organisierten Kooperativen und Baugenossenschaften, die sich in Westeuropa immer größerer Beliebtheit erfreuen. Sein eigener Bauherr zu werden kann mitunter bedeuten, für sich selbst die Standards zu definieren, nach denen Wohnraum noch einen Bedarf deckt und nicht Ausdruck einer Bedürfnisproduktion darstellt, frei nach der Frage „Wieviel ist genug?“

Den Hauptteil des Buches bilden die sechzehn Projektbeispiele, die in vier Themengebiete gegliedert sind: Standards/Participation, Mass Housing, Minimizing/Externalization und Prefabrication. Ihnen werden jeweils vier ausgesuchte Wohngebäude aus Europa, Asien und den USA zugeordnet, die einer Analyse im ökonomischen, sozialen und städtebaulichen Kontext unterzogen werden. Die Projekte werden dabei textlich kontextualisiert und anhand ihrer Entstehungsgeschichte und regionaler Besonderheiten erläutert. Den methodologischen Kern der Publikation bilden hierbei Diagramme zur Leistbarkeit, der Bebauungsdichte und charakteristischen Kostenwerten. Die Leistbarkeit der Projekte wird dabei im Verhältnis zum Anteil des Monatseinkommens definiert, der im Durchschnitt für Wohnen ausgegeben wird. Ergänzt werden diese Darstellungen durch einen grafisch übersetzten Qualitätenkatalog, der sich über mehrere Maßstabsebenen von gebäudebezogenen und bauphysikalischen Kennwerten bis zur städtebaulichen Integration erstreckt. Durch diese Abstraktion werden die Projekte weniger an eine relative Vergleichbarkeit herangeführt als vielmehr hinsichtlich des Zusammenhangs von architektonischen Stellschrauben und Kosten vergleichbar.

Der Blick auf die globalen Vorgänge ermöglicht die Kontextualisierung der Prozesse und Ansätze, und es zeigt sich erwartungsgemäß, dass sich das Kriterium der Leistbarkeit hervorragend als Lesart für die Kontextualisierung von Wohnbau und Politik eignet. Die Essays bieten Einblicke in städtebauliche, soziokulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge, wobei sich die Beschreibungen teils recht unabhängig voneinander hinsichtlich der zu Grunde liegenden Prozesse entwickeln, die die Leistbarkeit von Wohnraum prägen. Die diagrammatische Aufbereitung der Projektbeispiele wiederum knüpft an aktuelle Fragen der Repräsentation und Vermittelbarkeit von Wissen in Architektur und Städtebau an.

Dies überzeugt mehr als die Auswahl der Projektbeispiele, denen hinsichtlich der Vergleichbarkeit auch eine stärkere Fokussierung gut getan hätte, etwa ausschließlich auf Mietprojekte. Auch würde man sich eine Untersuchung der in den Essays erwähnten radikaleren Projekte wünschen, wie beispielsweise eines Wohnbaus aus den eingangs erwähnten Urban Villages von Shenzen. Die würden sich vielleicht nicht direkt in die mitteleuropäische Logik der Wohnraumproduktion übertragen lassen, könnten diese aber umso mehr in Frage stellen. Ebenso interessant wie die Diagramme in Bezug auf die Projekte wäre eine Darstellung der am Wohnbau beteiligten AkteurInnen, deren jeweiliger Einflussbereiche und ihrer Interessen.

Insgesamt wird das Handbuchhafte durch das Layout und das handliche Format der Publikation schlüssig umgesetzt. Das Buch stellt sowohl für praktizierende ArchitektInnen als auch für Studierende einen wertvollen Beitrag zu der Frage dar, welche Maßnahmen für kostengünstiges Bauen ausschlaggebend sind. Darüber hinaus leistet es auf der Ebene der Vermittlung einen wichtigen Beitrag zur einem Verständnis komplexer Zusammenhänge.


Klaus Dömer, Hans Drexler, Joachim Schultz-Granberg (Hg.)
Affordable Living – Housing for Everyone
Berlin: Jovis, 2014
272 Seiten, englisch, 19,80 Euro

dérive, Mi., 2015.07.29

29. Juli 2015 Ernst Gruber

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