Editorial

Shoppen ist unsere Freizeitbeschäf­ti­gung Nr. 1. Samstag für Samstag füllen sich die Innenstädte und Einkaufszentren mit Konsumwilligen – trotz der aktuellen Frankenstärke auch (noch) in der Schweiz.

Wer sich vergangenen Juli auf dem dreijährlich stattfindenden Branchentreff, der Düsseldorfer Messe EuroShop, umhörte, erfuhr allerdings, dass die Branche vor einem Paradigmenwechsel stehe: Der Onlinehandel mit seinem grenzüberschreitenden Auftritt und den vergleichsweise niedrigen Fixkosten macht dem traditionellen Detailhandel schwer zu schaffen. In China kauft bereits heute jeder zweite Konsument seine ­Lebensmittel nur noch online ein. Das auch hier­zulande bekannte Phänomen bedingt weitläufige Lagerflächen, mit Vorliebe an der Peripherie. ­Welche Auswirkungen hat das für Innenstädte und Verkehr?

Fakt ist, die neuen Technologien machen auch Angst: Die Konkurrenz wird global, der Preisdruck steigt.

Gleichzeitig eröffnen sich neue Möglichkeiten: Auch die Kundschaft kann weltweit angesprochen werden. Und mit der Verknüpfung von analogem Verkauf (Beratung, Haptik, Erlebnis) und digitalen Technologien (Information, Vergleich, Verfügbarkeit) lässt sich das Beste aus beiden Welten zu einem interessanten Mix verknüpfen. Im Idealfall entsteht ein Mehrwert – für Anbieter und Konsumenten, aber auch für die Städte. Dieses Heft stellt einige Lösungsansätze vor.

Tina Cieslik

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Mit Respekt vor dem Meister

11 PANORAMA
Präsentieren, ausstellen, verführen | Aneinander­gereiht | Herausforderung Verdichten

15 VITRINE
Bauen & Modernisieren 2015 | Aktuelles fürs Bad | Kauf  lust mit Licht anregen

17 SIA-FORM FORT- UND WEITERBILDUNG
Beitritte zum SIA | Potenziale der Betriebsoptimie­rung | Nachhaltiger Abbruch?

21 VERANSTALTUNGEN

22 VOM TEMPEL ZUM KLICK
Tina Cieslik
Wandel im Handel: Welche Folgen hat E-Commerce?

23 HOLLÄNDISCHER HYBRID
Klaus Englert
Markthalle Rotterdam: Shopping   Wohnen.

27 STORIES, NOT STORES
Vanessa Thulliez
Campers Pop-up-Projekt bei Vitra

28 SEXY, NICHT ARM
Michael Kasiske
Berlin: Textil­fabrik wird Concept-Mall

31 ST. GALLER NONCHALANCE
Vanessa Thulliez
«Le Soir Le Jour»: Eleganz in der Ostschweiz

32 STERNSTUNDE EINER STERBENDEN STADT
Rahel Willhardt
Bad Münstereifel: einst Kurstadt, jetzt Outlet

34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Vom Tempel zum Klick

Der Detailhandel steht vor einem Entwicklungsschritt: Zunehmender E-Commerce eröffnet internationale Märkte, macht aber zugleich Druck auf traditionelle Ladengeschäfte. Was bedeutet das für unsere Innenstädte und – im kleineren Massstab – für den Ladenbau?

Ende Juli machte der Schweizer Detailhandel Negativschlagzeilen: «Stärkste Umsatzeinbusse seit 35 Jahren, Umsatzrückgang von 2.1%, 2 Milliarden Franken weniger in der Kasse.»[1] Während der Einbruch in Rekordhöhe in der Schweiz auch dem Einkaufstourismus in die Euroländer geschuldet sein mag, steht der Detailhandel allgemein schon länger unter Druck. Mit dem Aufkommen von Onlineplattformen und einfacher Software, die es auch kleinen Firmen erlaubt, ihre Ware weltweit zu vertreiben, ist zum einen die Konkurrenz gewachsen, zum anderen sieht sich die Branche einer bestens informierten Kundschaft gegenüber. Wie sich diese Technologien für den Handel nutzen lassen, ist denn auch das Thema, das die Anbieter beschäftigt.

Konsumtempel, Kiste, Klick

Einkaufen als Freizeitbeschäftigung ist ein relativ junges Phänomen. Ende des 19. Jahrhunderts sorgten der steigende Wohlstand immer grösserer Bevölkerungsschichten und die aufstrebende Konsumgüterindustrie dafür, dass sich das Einkaufen von der reinen Bedarfsdeckung zum Konsum als Erlebnis wandelte. Einhergehend damit entstanden Handelshäuser als Teil einer lebendigen Stadtstruktur – die ersten Warenhäuser mit repräsentativer Architektur kamen auf. Ein Schnitt erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg mit der zunehmenden Mobilität. Statt auf Repräsentation legten die Anbieter nun Wert auf schnelle Erreichbarkeit und effiziente Flächennutzung. Es enstanden die bekannten «dekorierten Kisten» auf der grünen Wiese, mit teilweise fatalen Folgen für den Detailhandel in den Innenstädten.

Seit einigen Jahren sieht sich die Branche einem ähnlichen Paradigmenwechsel gegenüber: der Verlagerung von realen zu virtuellen Handelsplattformen. Interessant sind dabei vor allem die Schnittstellen und das jeweilige Ausmass. Aktuell zeichnen sich drei grosse Trends ab: ausschliesslicher Onlinehandel, Integration von neuen Technologien in bestehende Konzepte sowie die Sehnsucht nach Authentizität und Bezug zum Produkt. Daneben gibt es Mischformen in allen Varianten.

Für den reinen Onlinehandel steht in Mitteleuropa wohl kaum ein Name so sehr wie der Bekleidungshändler Zalando: Eine Vielzahl an Marken ist via Website bestellbar, wird kostenfrei nach Hause geliefert und kann ohne Gebühr retourniert werden. Der Auftritt des Händlers definiert sich allein durch dessen Website und Marketingmassnahmen – Plakatwerbung, TV-Spots und seit Kurzem auch wieder über gedruckte Kataloge (und zwei physische Outlet-Stores). Das seit der Firmengründung 2008 international expandierende System bedingt Lagerhäuser in Ostdeutschland und entsprechenden Güterverkehr. Ein ähnliches Konzept verfolgt die ebenfalls 2008 gegründete chinesische Supermarktkette Yihaodian. Sie verkauft ihre Ware via Displays in Metrostationen. Diese zeigen ein Bild einer Auslage, wie in einem herkömmlichen Supermarkt. Per App kann der Kunde einen Code des gewünschten Produkts mit dem Smartphone fotografieren und sich die Ware via Internet nach Hause liefern lassen. Neben diesen Extremen gibt es allerhand Differenzierungen wie Bezahlung per Smartphone, Self-Check-out-Kassen in Supermärkten (die im angelsächsischen Raum schon wieder auf dem Rückzug sind – zu hohe Inventurdifferenzen), Apotheken mit virtueller Sichtwahl (realer Verkaufstresen, virtuelles Produktdisplay mit Touchscreen) oder elektronische Regaletiketten, die per App Produktinformationen liefern.

Vielversprechend ist die Entwicklung zur qualitativen Differenzierung anstelle von quantitativem Wachstum. Ein sinnliches Erlebnis kann nur der reale Handel bieten. Erfolgreich entwickelt sich momentan der Trend, das Einkaufen mit interessanten gastronomischen oder kulturellen Angeboten zu verknüpfen – gern auch unter Einbindung neuer Technologien. Das zeigen Beispiele wie die Concept-Mall «Bikini Berlin» (vgl. «Sexy, nicht arm», S. 28) oder eine Auswahl an aktuellen Shopdesigns in Barcelona (vgl. E-Dossier «Retail Architecture» auf www.espazium.ch).


Anmerkung:
[01] Tages-Anzeiger, «Frankenschock wird zum Detailhändler-Schock», 30.07.2015 (online)

TEC21, Fr., 2015.08.28

28. August 2015 Tina Cieslik

Holländischer Hybrid

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

Rotterdam ist eine Handelsstadt. Zweimal in der Woche verwandelt sich der der Platz über der ehemaligen Binnenrotte am drittgrössten Seehafen der Welt zu einem riesigen Freiluftmarkt. Anbieter aus allen Landesteilen präsentieren an mehr als 400 Ständen ihre Waren. Der Markt im Stadtzentrum, zwischen BlaakBoulevard und SintLaurenskerk, bietet einen unüberschaubaren Reichtum an Fischen und exotischen Früchten, die Palette reicht vom einheimischen Käse bis zur religiös korrekten Kleidung für die muslimische Frau. Der Rotterdamer Bevölkerung war das nicht genug. 2004 schrieb die Stadtverwaltung einen Investorenwettbewerb für einen Überbauung im Laurensviertel aus, das bislang durch ein Übermass an Büros und Läden geprägt war. Das Ziel: innere Verdichtung und die Verbesserung der Lebensqualität im Quartier. Die Ausschreibungsbedingungen sahen deswegen neben Wohnungen auch einen Markt vor, als Ergänzung zum bestehenden. Neue EUVorschriften verlangten aus hygienischen Gründen allerdings eine überdachte Variante.

Markthalle – neu interpretiert

Das Team von MVRDV, das gemeinsam mit dem Investor Provast den Wettbewerb gewann, nahm den Anspruch wörtlich und setzte auf ein Hybridgebäude, das wesentlich dazu beitragen soll, das Viertel zu beleben. So errichteten die Rotterdamer an der Seite des Wochenmarkts auf dem sumpfigen Grund der Binnenrotte eine Markthalle, die sich zwar an die grossen Vorbilder in Barcelona und Valencia anlehnt, dabei aber eine völlig neue Typologie schuf. MVRDV orientierte sich nicht an den spanischen EisenGlasKonstruktionen, sondern wählte ein riesiges Tonnengewölbe mit einer Länge von 120 m, einer Höhe von 40 m und einer Breite von 70 m. Ausserdem waren vier Tiefgeschosse vorgesehen, was einen Aushub von 15 m erforderlich machte.

Da die Markthalle dort errichtet werden sollte, wo einst der Damm durch die Rotte verlief, war der Boden nass und instabil, der Grundwasserspiegel lag bei 3 m unter dem Strassenniveau. Es galt also, die Baugrube durch Spundwände und ein Fundament aus 2500 Betonpfählen zu stabilisieren. Es folgte ein Stahlbetonrahmen, der die Baugrube zusätzlich bis auf 8 m sicherte und als Tragwerk des 1. Untergeschosses diente. Derartige Tiefbauarbeiten, eine Spezialität niederländischer Ingenieurtechnik, sind schwierig zu bewerkstelligen, da der auf Spundwände und Stahlbetongerüst wirkende Druck durch Flutung der Baugrube ausgeglichen werden muss. Deshalb führten Spezialisten die weiteren Aushubarbeiten und die folgende Stahlbewehrung unter Wasser durch, in einem grossen künstlichen See. Mittels schwimmender Kräne wurde die Baugrube weiter ausgehoben, der Einsatz von GPS Technologie sollte verhindern, dass das bereits bestehende Betontragwerk beschädigt wurde. Taucher verlegten die Bewehrung für die 1.5 m dicke Bodenplatte. In einem 72StundenEinsatz wurde sie ebenfalls un ter Wasser gegossen. Nach Auspumpen der Baugrube erwies sich die Platte, die eine Last von 12?000 kg/m² tragen muss, als wasserdicht. Es folgte die Errichtung der vier Untergeschosse. So entstand peu à peu die Markthalle der Superlative. Aussergewöhnlich ist die überdimensionale transparente Glaswand an den Stirnseiten des Baus.

Es handelt sich um eine Seilnetzfassade, bestehend aus einem Raster vorgespannter, 9 bis 15 cm dicker Stahlseile, zwischen die die jeweiligen Glasscheiben geklemmt wurden. Vergleichbar mit einem Tennisschläger bilden die Seiten der Fassadenöffnung einen steifen Rahmen, während die Fassade selber beweglich ist und auch schweren Stürmen standhält. Sie kann bis zu 70 cm nach innen gedrückt werden, dabei dehnen sich die Seile um bis zu 4 cm.

Kurz bevor die Markthalle im Herbst 2014 eröffnete, erhielt das Gewölbe den letzten Schliff. Neben dem Detailhandel auf der ersten Ebene überspannt es 96 Marktstände, die alles anbieten – von der rheinischen Currywurst bis zu arabischen Gewürzen, vom holländischen Käse bis zum türkischen Baklava. Einige der Stände sind für temporäre Nutzungen reserviert. Auf 4500 perforierten Aluminiumpaneelen, 2 mm dick und 152?×?152 cm gross, haben die Rotterdamer Künstler Arno Coenen und Iris Roskam ein computergeneriertes Riesengemälde aufgetragen, das bereits auf dem Vorplatz die Blicke der Passanten auf sich zieht. Das 11?000 m² grosse, nachts erleuchtete Pixelbild «Füllhorn», das an Motive niederländischer Barockstillleben erinnert, lässt über den Köpfen der Marktbesucher allerlei Früchte und Gemüse in kräftigen Farben herabregnen.

Keine Luxusinsel

Die Grossform der Markthalle mutet zwar wie ein überdimensionaler Fremdkörper im Rotterdamer Stadtbild an, doch verrät die langjährige Beschäftigung der Architekten mit dem öffentlichen Raum, dass sie sich für eine technisch innovative, an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Architektur begeistern, die den Stadtraum bereichert. Daraus entwickelten sie ihre Vorliebe fürs Hybridgebäude. Die MVRDVLosung «Eine Stadt in der Stadt errichten» zielt nicht auf einen massiven Turmkomplex, wie ihn Rem Koolhaas an der Maas hochgezogen hat («De Rotterdam» von 2013). Vielmehr steckte das Rotterdamer Trio Maas, van Rijs und de Vries 228 Wohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen zwischen dem dritten und elften Geschoss in die Flügel des Tonnengewölbes. Die über dem Detailhandel in den ersten beiden Ebenen gelegenen 102 Miet und 126 Eigentumswohnungen, 80 bis 300 m² gross, verfügen alle über eine Terrasse, die sich über die gesamte Länge der Wohnung erstreckt. In der Angebotspalette finden sich Lofts und Maisonettewohnungen; die Hälfte gestatten – hinter dreifach verglasten Scheiben – den Blick aufs quirlige Treiben des Markts. Allerdings sind die oberen Penthousewohnungen, die den Bogen schliessen, stark abgeschrägt, da ansonsten der Tageslichteinfall nicht ausreichend gewesen wäre.

Mehr als nur Architektur

Den Rotterdamer Architekten ist es gelungen, eine Stadt im Kleinen zu errichten – mit Marktständen, unterirdischen Parkgeschossen, einer kleinen, von Kossmann.dejong gestalteten archäologischen Dauerausstellung, Supermarkt, Detailhandel sowie Miet und Eigentumswohnungen. Alles unter einem Dach. Das Resultat – die Architekten nennen es «24StundenGebäude» – ist ein kleines holländisches Wunder, das dereinst auch Kulturveranstaltungen einschliessen soll. Schon jetzt ist der Bau aus Rotterdam nicht mehr wegzudenken

TEC21, Fr., 2015.08.28

28. August 2015 Klaus Englert



verknüpfte Bauwerke
Markthal Rotterdam

4 | 3 | 2 | 1