Editorial

Der eingeschossige Aufbau ist der bekannteste Vertreter der aufge­setzten Holzbauten – aber auch ihr langweiligster. Unkompliziert und pragmatisch schafft er zusätzlichen Nutzraum und reizt die zulässige Gebäudehöhe aus. Doch Aufstockungen und Ergänzungen in Holz können auch weitaus anregendere Lösungen in grösseren Zusammenhängen bieten:
Beim Ferienhaus Tgiesa Crapera in Lenzerheide greift die Holzkonstruktion in den Betonsockel hinein, damit sich der Wohnraum unter dem gefalteten Holzdach grosszügig zur atemberaubenden Natur öffnen kann – eine Zweitwohnung mit Mumm. Im städtischen Zürich Giesshübel dagegen bleibt das Holz weitgehend unsichtbar, ermöglicht aber einen vierstöckigen Aufbau auf einem ehemaligen Umschlaggebäude – Verdichtung auf den Punkt gebracht. Und im ländlichen Dingenhart treffen nach dem «Haus im Haus»-Konzept zwei unterschiedliche Typologien aufeinander – Scheune und Loft verschmelzen zu einer spannungsreichen Einheit, die das Ortsbild schont und die Zersiedelung eindämmt.

Bei all diesen Beispielen spielt das Material Holz statisch wie inszenatorisch eine tragende Rolle: aufgesetzt, manchmal auch im übertragenen Sinn des Worts.

Marko Sauer, Thomas Ekwall

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Drei Lichttürme auf dem Dreispitz

11 PANORAMA
Trouvaille am Zürichsee | «Uns interessiert gute Innenarchitektur»

16 VITRINE
Neues von der Schweizer Baumuster-Centrale

19 SCHWEIZER EXPERTISE IN HONGKONG
Neue Berechnung der Heizgradtage | Vernetzung der Wertschöpfungskette | Benchmarking per Knopfdruck | «Die findige Fanny»

24 VERANSTALTUNGEN

26 VERZOGEN UND VERZERRT
Judit Solt
Bauen in den Bergen: eine Aufgabe mit zwiespältigem Ruf – und ambitioniertem Ergebnis.

30 KRONE AUS HOLZ
Marko Sauer, Thomas Ekwall
Verdichten in der Stadt: Huckepack aufs Lagerhaus.

34 SCHEUNE MIT AUSBLICK
Thomas Ekwall, Marko Sauer
Umnutzung im Weiler: Wohnen im Loft-Schober statt Landwirtschaft.

38 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Verzogen und verzerrt

SAM Architekten und die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann haben ein Ferienhaus nach traditionellem Rezept erstellt: Holzaufbau auf mineralischem Sockel. Das Konstruktionsprinzip ist bekannt, doch die Interpretation hält Überraschungen bereit.

In aufgeklärten Architektenkreisen geniesst die Bauaufgabe «Ferienhaus» einen zwiespältigen Ruf – und dies nicht erst seit der Annahme von Zweitwohnungsinitiative und revidiertem Raumplanungsgesetz. Beim Ferienhaus spitzt sich das Dilemma zu, das auch beim Einfamilienhaus stets mitschwingt: Der Reiz, mit einem frei stehenden Gebäude zu experimentieren, kollidiert mit dem Unbehagen, die Landschaft zu zersiedeln und Ressourcen zu verschleissen.

Dabei ist die Nutzung beim Feriendomizil naturgemäss noch spärlicher, die induzierte Mobilität höher und der Eingriff in die Landschaft empfindlicher als beim Einfamilienhaus. Gleichzeitig ist die gestalterische Freiheit oft grösser: Neben all dem Pragmatismus, der solche Investitionen begleitet, ist das Thema des architektonischen Entwurfs näher beim Lustschloss als beim Bauen für das Existenzminimum angesiedelt. Schliesslich soll dieser Typus einen Rückzugsort aus den Zwängen des Berufslebens ermöglichen – eine fast unwiderstehliche Verlockung für viele Architektinnen und Architekten, deren Arbeitsalltag selten solche Gelegenheiten bereithält. Und eine Chance, die Bauaufgabe als technische und formale Versuchsanordnung zu nutzen.

Beim Ferienhaus Tgiesa Crapera in Lenzer­heide GR haben SAM Architekten und Partner aus Zürich und die Churer Bauingenieure Conzett Bronzini Gartmann denn auch die Gelegenheit genutzt, konstruktive und gestalterische Ideen konsequent weiterzudenken. Das Haus befindet sich am östlichen Rand des Dorfs; es ist das vorletzte Gebäude an einem Strässchen, das sich den Hang hinaufschlängelt und im Wald verliert.

Unterhalb liegt das Tal mit dem Dorfkern, oberhalb gibt es nur noch Fichten und Lärchen und in der Ferne den kahlen Gipfel des Rothorns. Die Nachbarschaft besteht aus meist älteren Bauten, die sich unter ihren Sattel­dächern ins Gelände ducken.

Der Neubau ersetzt ein Baumeisterhaus aus den 1940er-Jahren, das nach mehreren Besitzerwechseln und einem stark gewachsenen Raumprogramm einiges von seiner ursprünglichen Qualität eingebüsst hatte. Seine prägenden Attribute – die Zufahrt von unten, der Knick im Grundriss entlang der Höhenlinie, die mächtige Terrasse im Westen, die Ausrichtung des Baukörpers gemäss den Hauptwindrichtungen und die Hinwendung zum Panorama – waren indes stimmig, und die Planer haben sie für den Neubau wieder aufgegriffen. Dabei haben sie zwei Themen besonders vertieft: zum einen die verzerrte Form des Gebäudes, dessen Geometrie dem Verlauf der Bergkante folgt, und zum anderen die traditionelle Kombination eines mineralischen Sockels mit einer aufgesetzten Holzkonstruktion.

Holz auf Beton

Die Vorfahrt unterhalb des Hauses wird dominiert von massiven, aus Weissbeton gegossenen Stützmauern. Hinter diesen befinden sich die Garage, diverse Keller- und Technikräume und der Eingang; man betritt das Haus durch eine harte, felsige, in den Hang gestemmte Sequenz. Eine Etage weiter oben, im Sockelgeschoss, wo das Gebäude teilweise aus dem Erdreich ragt, reihen sich fünf Schlafzimmer und drei Nassräume um die zentrale Treppe. Hier wechselt die Stimmung: Die Trennwände sind aus Holz, ebenso wie die Decke, die von vorgefertigten, in den Sockel eingespannten Holzpilastern gehalten wird. Die nächste Etage schliesslich, die wegen des steilen Hangs ebenerdig zum oberen Strässchen liegt, besteht aus einem einzigen, nach allen Seiten offenen Küchen- und Wohnbereich, der ganz aus Holz gezimmert ist und von einem mehrfach gefalteten Dach überspannt wird.

Chalet oder Pagode?

In diesem Dach konzentrieren sich mehrere Eigenheiten des Hauses. Auf den ersten Blick erkennbar ist die ungewöhnliche Konstruktion: Anstelle der Sparren sind in der Untersicht Pfetten als regelmässiges Streifenmuster zu sehen. Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die besondere statische Lösung (vgl. Kasten «Räumliches Tragwerk aus Holz», S. 28); die dicht angeordneten ­Pfetten betonen die horizontale Ausdehnung des Dachs, das dadurch flächiger und weiter wirkt und den Raum entsprechend grösser erscheinen lässt. Die Sparren dagegen sind nur von aussen zu erkennen, wo ihre ­Stirnen im offenen Dachrand sichtbar werden. Ihre unregelmässige Anordnung verweist auf den Kräftefluss innerhalb der Dachkon­struktion: Über den Stützen sind die Sparren doppelt so dicht angeordnet wie dazwischen. Gleichzeitig bilden die Stirnen ein rhythmisches Muster, das im Kontrast zu den strengen Streifen der Pfetten eine gestalterische Komponente einbringt.

Diese Spannung zwischen den nüchternen Entwurfs- und Konstruktionsregeln, die sich die Planer selbst auferlegt haben, und der zurückhaltenden Verspieltheit, mit der sie sie auslegen, prägt das ganze Gebäude und verleiht ihm seinen leicht subversiven Reiz. Dass im ganzen Haus kein einziger rechteckiger Raum zu finden ist, müsste keineswegs zwingend aus der Figur des Vorgängerbaus folgen. Doch im Neubau ist fast alles verzerrt und verzogen: die Zimmer, das Treppenhaus, die fünfeckigen Bodenplatten im Eingangsgeschoss, die sich nach unten verjüngenden Pilaster in der Fassadenebene, die schrägen Stützen rund um das Treppenauge, das Dreieck-Sterne-Muster der Tapeten in den Zimmern, das Faltdach aus Trapez- und Dreiecksflächen, der schräg abgeschnittene Dachabschluss und sogar noch das Kamin mit der trapezförmigen Seitenansicht.

Selbst «unverfängliche» Elemente wie die Wasserspeier wirken mehrdeutig: Ihre Überlänge ist im alpinen Raum sinnvoll und durchaus üblich; doch die Proportionen und die schrägen Spitzen evozieren auch gereckte Drachenhälse, und diese Assoziation unterläuft die rationale Begründung. Ein latenter Spiel­trieb beseelt das Haus mit unzähligen, leise angedeuteten Fährten, denen die geneigte Fantasie folgen kann. Wer sich darauf einlässt, entdeckt eine Welt von Interpretationen. Dieses mächtige, bewegte Dach mit seinen spitzigen Speiern, das sich unter dunklen Fichten und Lärchen und steilen Schneehängen an den Berg schmiegt – gehört es zu einem alpinen Ferienhaus, einem würdigen Nachfolger des gemütlich-hölzernen helvetischen Chalets, oder am Ende vielleicht doch zu einer japanischen Pagode, die sich aus einem Manga hierher verirrt hat?

TEC21, Fr., 2015.05.08

08. Mai 2015 Judit Solt

Krone aus Holz

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

Verdichtung und Mobilität: Diese beiden Stichworte prägen die städtebauliche Debatte seit geraumer Zeit. In ihrem Spannungsfeld wird jede Baulücke geschlossen, der öV ausgebaut, und es schiessen die Städte in die Höhe. So auch auf dem Grundstück der Sihltal Zürich Uetliberg­bahn (SZU) im Zürcher Kreis 3: Mit 9000 m² Fläche und einem eigenen Bahnhof – zwei Stationen ab Zürich HB – bot das ehemalige Werksgelände optimale Bedingungen, die beiden Maximen der Entwicklung zu vereinen.

Um ein geeignetes Projekt zu finden, wurde 2006 ein Wettbewerb unter sechs Büros durchgeführt. Das ­Siegerprojekt von burkhalter sumi architekten behielt als einziges das bestehende Umschlaggebäude von 1962 als Teil der Überbauung bei (vgl. Situationsplan S. 31).

Dieses wurde von einem Aufbau aus Stahl aus den 1980er-Jahren befreit, aufgestockt und weitergenutzt. Entscheidend für das Konzept war die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren von Dr. Lüchinger   Meyer, denn im Sinn der Verdichtung musste die Aufstockung substanziell ausfallen. Sie erkannten die hohe Tragfähigkeit des zweistöckigen Baukörpers aus Stahlbeton. Und weil das Bauwerk ursprünglich hohen Nutzlasten standhalten musste, waren Stützen und Fundamente entsprechend grosszügig dimensioniert.

Die Untersuchungen zeigten, dass der Stahlbau entfernt werden konnte und ein vierstöckiger Aufbau in Holz ohne kostspielige Verstärkungen des Bestands möglich war. Nicht etwa der kulturelle Wert des Bauwerks, sondern seine Robustheit war für den Erhalt entscheidend. Die grosszügige räumliche Qualität des Gebäudes kam als Bonus dazu. Mit dem Erhalt des Umschlagsgebäudes liessen sich aber auch Kosten sparen: In den beiden Sockelgeschossen sind weiterhin Verwaltungsräume der SZU untergebracht, im Untergeschoss konnte die bestehende Relaisstation verbleiben.

Abbild der bestehenden Struktur

Die Aufstockung bedingte ein Tragwerk in Leichtbauweise. Obwohl ein Stahlskelett mit Verbunddecken – bei vergleichbarer Belastung – etwa 10 % günstiger gewesen wäre, setzte sich ein Holzbau durch. Denn Ständerwände und Decken lassen sich mit dem gleichen Material vorfertigen und schnell montieren, die Einrichtung der Baustelle braucht nur wenig Platz. Zudem können Holzträger ohne thermische Brücken die aussenliegenden Balkone abfangen und die Lasten weiterleiten. Schliesslich geniesst Holz ein gutes Image und benötigt für die Herstellung und Bearbeitung wenig graue Energie.

Der Grundriss der Aufstockung musste auf den Sockel abgestimmt werden, ohne Lasten ins Gebäudezentrum abzugeben. Die bestehenden Rahmen spannen 11 m in Querrichtung bei einem Achsmass von 5 m in Längsrichtung. Der Raster war für die Wohnnutzung geeignet und wurde für die vertikalen Tragelemente übernommen. Analog zum Rahmenriegel überspannen Hauptbinder aus Brettschichtholz den Innenraum. Sie kragen beidseits 2 m aus, um die aussenliegenden Balkone abzufangen. Diese Durchlaufwirkung ist sowohl statisch als auch konstruktiv vorteilhaft, denn die ­Biegemomente des Binders sind reduziert, und die ­Balkone können stützenlos getragen werden.

In den Wandelementen werden die Lasten über Holzstützen getragen, deren Querschnitt gegen oben kontinuierlich abnimmt (180/300, 180/240, 180/180, 180/120). Die oberste Decke des Bestands wurde in der Tragachse mit Stahlträgern verstärkt, um die Holz­ständer des Neubaus abzufangen. Somit leiten die bestehenden Rahmenpfosten sämtliche Vertikallasten der Aufstockung in die Fundamente weiter. Die Anschlüsse des Holzbaus an den Massivbau sind als Neoprenlager ausgeführt und auf diese Weise akustisch entkoppelt – neben der Bahnlinie ein Muss. Die beiden Liftschächte, die Fluchttreppen und das Treppenhaus wurden in Beton erstellt. Sie steifen das Gebäude zusammen mit den Holzständerwänden in Querrichtung gegen Erdbeben und Windkräfte aus.

Um Höhe zu sparen, sind die tragenden Decken in der gleichen ­Ebene wie die Hauptbinder angeordnet. Die Elemente bestehen aus beidseitigen Dreischichtplatten, die mit einem dazwischenliegenden Vollholzträger verleimt sind. Zusammen bilden sie einen Hohlkastenquerschnitt, der mit einer Gesamtstärke von 275 mm entsprechend schlank ausfällt (l/h = 18.2). Den Schallschutz gewähren eingelegte Gartenplatten, ein schwimmender Unterlagsboden und eine an Feder­bügeln abgehängte Decke.

Im Innern ist die Holzkonstruktion nicht sichtbar. Wegen der Anforderungen REI 60, EI 30 (nicht brennbar) sind die tragenden und raumabschliessenden Bauteile mit Gipsplatten verkleidet. Das sechsstöckige Bauwerk entspricht der Qualitätssicherungsstufe Q4 gemäss Lignum-Dokumentation «Bauen mit Holz – Qualitätssicherung und Brandschutz», weshalb die Holzkonstruktion von einem externen und anerkannten Fach­ingenieur bezüglich Brandschutz geprüft werden musste. Die hohen Ansprüche an den Holzbau führten die am Wettbewerb beteiligten Ingenieure dazu, diesen Teil des Projekts an den spezialisierten Holzbauplaner Makiol   Wiederkehr zu vergeben – ein übliches Verfahren, das sich auch in diesem Fall bewährte.

Die Aussenwand ist mit hinterlüfteten Elementen ausgeführt, die zwischen den Ständern gedämmt sind. Beidseitig sind sie mit Gipsfaserplatten beplankt und innen mit einer aussteifende Dreischichtplatte versehen. Ein einheitlicher Putz überzieht Sockel und Aufstockung – das Holz in den Fassaden zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Noch ist die Stadt nicht das Territorium des offen zur Schau getragenen Holzbaus.

TEC21, Fr., 2015.05.08

08. Mai 2015 Marko Sauer, Thomas Ekwall

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