Editorial

Das Ruhrgebiet nimmt in vielen Aspekten eine Sonderstellung ein: »Nimmt man Kriterien wie die absolute Größe und Bevölkerung des Ballungsraums, seine politische und ökonomische Funktion und Bedeutung für das jeweilige Land insgesamt, seine administrative und ökonomische Struktur (monozentrisch oder polyzentrisch), sowie – bei polyzentrischen Räumen – die relative Größe der einzelnen Städte zueinander oder ihren Grad der Vernetzung untereinander, so ist das Ruhrgebiet unter den urbanen Ballungsräumen der Welt singulär.« (Jens Martin Gurr S. 23) Die Einzigartigkeit des Ruhrgebiets hat auch zur Folge, dass Begriffe wie »Urbanität« oder »Metropole«, die anderen Stadtregionen ohne große Diskussion angeheftet werden, lange gedreht und gewendet werden, um herauszufinden, ob sie zutreffend sind oder nicht.

Eine Entwicklung, die das Ruhrgebiet seit vielen Jahren charakterisiert, ist der wirtschaftliche Niedergang der Schwerindustrie und des Bergbaus, welche die Region über Generationen prägten. Zumindest darin unterscheidet sich die Gegend nicht von vielen anderen urbanen Räumen westlicher Industriestaaten. Eines der bekanntesten Rezepte gegen den Abstieg solcher altindustrieller Wirtschaftsregionen schrieb Anfang der 1990er Jahre Charles Landry mit seinem Konzept der Creative City: Creative Cluster, Etablierung urbaner Kunstszenen, Leuchtturmprojekte, Tourismus, Musealisierung, Historisierung und Kulturalisierung lauten die Bausteine für den (vermeintlichen) Erfolg, die seither von Großbritannien aus in die Welt exportiert werden.

Im Ruhrgebiet machte sich die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, die von 1989 bis 1999 stattfand, auf die Suche nach einer neuen Perspektive und nach tragfähigen Antworten für die Folgen der strukturellen Krise, die durch die wirtschaftliche Transformation ausgelöst worden war.

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe Urbanes Labor Ruhr wirft einerseits einen Blick zurück auf die zahlreichen (künstlerischen) Initiativen, Interventionen und Institutionen, die rund um diese Fragen und Entwicklungen aktiv waren und durch-geführt wurden. Andererseits präsentiert er aktuelle Konzepte und Maßnahmen, die sehr konkret auf die Situation des Ruhrgebiets eingehen und diese mit globalen Entwicklungen wie etwa dem Klimawandel oder Peak Oil verknüpfen.

»Welche Ressourcen und Potenziale bietet diese Region, ihre Geschichte und Gegenwart? Wie kann eine eigenständige Entwicklung aussehen, die sich nicht darauf beschränkt, vermeintliche Erfolgsmodelle zu kopieren?«, sind zwei der Fragen, die von den Schwerpunktredakteurinnen Vanessa Weber und Gesa Ziemer von der HafenCity Universität Hamburg in ihrem Einleitungstext zum Schwerpunkt aufgeworfen werden. Wie der Schwerpunkttitel schon nahelegt, spielt der Begriff des »Labors« für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Zukunft des Ruhrgebiets eine wichtige Rolle. »Denn als Labor lässt sich sowohl das Konglomerat Stadt – oder wie im Fall des Ruhrgebiets die ›Region‹ – selbst begrei-fen, als auch die einzelnen kollektiven, oft komplizenhaften Zusammenschlüsse, deren AkteurInnen gemeinsam die schier unzähligen Aspekte des Städtischen erforschen.« (Weber, Ziemer) Dabei sind sich Weber und Ziemer der Konjunktur des Begriffs sehr bewusst, was in ihrer kulturwissenschaftlichen Forschung klar thematisiert wird. Die Rolle der Kunst in und für die Stadtentwicklung bildet auch den Rahmen für das unter der Leitung von Gesa Ziemer 2013 gestartete Forschungsprojekt »art&paste – Kunst und Nachhaltigkeit« in Kooperation mit der Kunstinstitution Urbane Künste Ruhr. Die Forschungen zum dérive-Schwerpunkt Urbanes Labor Ruhr bilden einen Seitenstrang des Forschungsprojekts.

Kunst und Urbanismus waren auch für die Situationistische Internationale (SI) ein großes Thema. Die ProtagonistInnen der SI waren Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre freundschaftlich mit Henri Lefebvre verbunden und der daraus folgende Austausch ist nach Meinung von Lefebvre-Experten mit dafür verantwortlich, dass sich der Theoretiker in späteren Jahren so intensiv mit der Rolle der Stadt beschäftigt hat.

Da steht es doch einmal gut an, Genaueres über die Beziehung zwischen Lefebvre und der SI in einem Interview aus 1983 nachzulesen, das wir mit Finding a larger theory of the city übertitelt haben. Lefebvre erzählt in dem Interview auch über die Hintergründe des Streits mit Guy Debord, der die beiden intellektuellen Schwergewichte fortan getrennte Wege gehen ließ. Auch in der aktuellen Folge der Geschichte der Urbanität geht es um Henri Lefebvre: Manfred Russo widmet sich diesmal vorrangig Lefebvres Theorie der moments – in Abgrenzung oder Ergänzung zum Begriff der Situation und ihrer Konstruktion bei der SI.

Obwohl man sich ja gerne weiseren Themen zuwenden würde, lässt uns die Smart City seit der Veröffentlichung der Schwerpunktausgabe im Sommer 2014 nicht mehr los. Bedauerlicherweise bestätigen sich nämlich die in dérive N°56 geäußerten Kritikpunkte leider immer wieder aufs Neue.

Einem kaum an Dreistigkeit zu überbietenden Aspekt der Thematik widmet sich Elke Rauth in ihrem Beitrag »Smart Tales of the City«: Dem derzeit global stattfindenden Rollout der Smart Meter, die uns als große Ressourcenschoner für viel Geld verkauft werden sollen. dérive-Redakteur Thomas Ballhausen hat ein neues Buch mit Erzählungen – In dunklen Gegenden – veröffentlicht, wann und wie auch immer der Mann das macht. Ausschnitte daraus gibt es im Magazinteil. Das Kunstinsert hat diesmal Tanja Boukal für dérive gestaltet. Sie setzt sich in ihrer Arbeit mit dem eklatanten Widerspruch zwischen der europäischen Selbstwahrnehmung und -inszenierung als Kontinent freier BürgerInnen auseinander, der besonderen Wert auf Menschenrechte legt, und seiner Abschottungspolitik, die seit Jahren Tausende Tote im Mittelmeer zur Folge hat.

Und zum Schluss gibt es noch eine Nachschau des von dérive veranstalteten Stadtforschungsfestivals ur5anize!, für alle, die es nicht nach Wien geschafft haben. Vielleicht sehen wir uns ja beim nächsten Festival im Oktober 2015.

Viel Klingeling und jede Menge Kekse wünschen, Christoph Laimer und Elke Rauth

Inhalt

Editorial Christoph Laimer

Schwerpunkt

Konstellationen, Konfrontationen und Kombinationen
Das Ruhrgebiet als urbanes Labor?
Gesa Ziemer & Vanessa Weber

Urbane Künste und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet
Ein Gespräch mit der Kuratorin Katja Aßmann
Vanessa Weber

Pott ohne Kohle
Das Ruhrgebiet als urbanes Labor für die postfossile Stadt
Tim Rieniets

Sankt Ruhrgebiet –
Plädoyer für eine andere Versuchsanordnung
Dirk E. Haas

Das Ruhrgebiet als Herausforderung für Kategorien und Ansätze der Stadtforschung
Jens Martin Gurr

Künstlerische Forschung und Partizipation in den urbanen Räumen des Ruhrgebiets
Fabian Saavedra-Lara

Kunstinsert
Tanja Boukal
Ode an die Freude

Magazin
Geflecht
Thomas Ballhausen

Smart Tales of the City
Elke Rauth

Finding a larger theory of the city
Henri Lefebvre und die Situationistische Internationale
Henri Lefebvre & Kristin Ross

Serie: Geschichte der Urbanität, Teil 46
Henri Lefebvre. Ein Wegbereiter der urbanen Performität. Teil 2
Manfred Russo

Das war ur5anize! — Safe City

Besprechungen
Eine produktive Fiktion
Als die Tabakfabrik Linz noch ein Industriebetrieb war
Henri Lefebvre und das Vergnügen an der Architektur
Mister X
Geschichte der Hausbesetzungen und autonomen Bewegungen in Europa

Impressum

Konstellationen, Konfrontationen und Kombinationen

(SUBTITLE) Das Ruhrgebiet als urbanes Labor?

Metropole Ruhr ist das Stichwort für eine Region aus 53 Städten, die gezwungen sind, die Zeit von Kohle, Stahl und Schwerindustrie hinter sich zu lassen und eine Verwandlung zu vollziehen. Die Idee von der einen gemeinsamen Identität dieses diversifizierten Raumes scheint wie ein dichter Nebel über der Region zu liegen. Doch das Ende der Zukunft ist nah: Die Transformation eines polyzentral strukturierten Konglomerats unterschiedlichster städtebaulicher, naturräumlicher und kultureller Erscheinungsformen zur Metropole erweist sich als fernab der Lebenswirklichkeiten, die sich im Ruhrgebiet vorfinden lassen. Vielmehr schließt diese Vorstellung an den planungs- und wirtschaftspolitischen Wunsch an, eine innovative Stadtregion von europäischem Rang sein zu wollen, die ihre Lösung der drängenden Fragen darin sieht, an den stark konkurrenzbezogenen Wettbewerb der so genannten Global Cities anzuschließen. Seit den erfolgreichen Großereignissen der letzten Jahrzehnte, wie der IBA Emscher Park[1] oder der Kulturhauptstadt RUHR.2010, gilt es die spezifische Urbanität dieser vielschichtigen Region zwischen den Universitäten in Dortmund, Witten, Hagen, Essen, Bochum und Duisburg, den Industriedenkmälern wie der Zeche Zollverein in Essen, dem Gasometer in Oberhausen, dem Emscher Landschaftspark, den Medien- und Kulturzentren wie dem Dortmunder U, den Sportstätten und Stadien, den vielen Museen und Theatern, den letzten noch bestehenden Industrieanlagen, den Flughäfen Dortmund, Köln/Bonn und Düsseldorf, den Autobahnen A2, A42 sowie dem Ruhrschnellweg und vielen anderen Orten herauszuarbeiten.

»Das Ruhrtal war grün. 53 Städte wuchsen aus Arbeit, Dreck und Schweiß. Für eine glänzende Zukunft. Viele kamen und blieben. Depression, Hoffnung und Kreativität«.[2] Im Rahmen einer Theatertour durch das Ruhrgebiet erprobten die Performancekollektive kainkollektiv, LIGNA, Invisible Playground sowie copy&waste die 54. Stadt und spielten damit, eine große Vision Wirklichkeit werden zu lassen: Eine Stadt – Ruhrstadt – die 54. Stadt, die Urbanität nicht im (klein-)städtischen, sondern in der ganzen Region verortete und das Ende der Zukunft einläutete. Denn die spezifische Urbanität dieser heterogenen Region scheint sich bei weitem nicht in einem standardisierten Geflecht von Baukultur, Wirtschaftsförderung und Kulturprogrammen zu bewegen. Und dennoch schließen die Kriterien, die zur Bestimmung dieser besonderen Form von Urbanität angewendet werden und an deren standardisierter Deutung die unterschiedlichsten AkteurInnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft beteiligt sind, größtenteils noch immer an den Wunsch nach eindeutigen Zuschreibungen und damit an die bekannten ökonomischen und technizistischen Paradigmen der globalen Rankings an: Wachstum und Wohlstand.

Genau diese Denkweisen, die in Anlehnung an Vorstellungen florierender europäischer Städte auf Wachstum, Wohlstand und Fortschritt, ausgelöst durch das so genannte richtige Humankapital, setzen, lassen sich nicht auf das von Strukturwandel und Schrumpfungsprozessen geprägte Ruhrgebiet und seine eigenlogischen Dimensionen übertragen – auch nicht, wenn die Metropole Ruhr ausgerufen wird. Vielmehr gilt es die zeitgenössischen Verflechtungen, die die Ruhrregion charakterisieren, freizulegen: Die vielschichtigen Lebensformen, die pluralen Ökonomien, die wechselseitigen Strukturen von
Zentralität und Dezentralität, die polymorphen Beziehungen und Vernetzungen, die besondere Bedeutung von Mobilität mit den durch Brüche gekennzeichneten Arbeitsbiographien. Welche Ressourcen und Potenziale bietet diese Region, ihre Geschichte und Gegenwart? Wie kann eine eigenständige Entwicklung aussehen, die sich nicht darauf beschränkt vermeintliche Erfolgsmodelle zu kopieren? Und wie kann eine Diskussion über diese Fragen in einem Gebiet wie dem Ruhrgebiet beschaffen sein?

Ungewöhnliche Verbindungen

Es sind diese Fragen unter vielen anderen, die das Ruhrgebiet im Sinne eines vielschichtigen Laboratoriums zu einem komplexen Forschungs- und Experimentierfeld von VertreterInnen aus u. a. Urbanismus, Geographie, Soziologie, Ingenieurwesen, Kulturwissenschaften, Stadtplanung, Architektur und Kunst machen. Und damit das Spektrum zwischen einerseits dem Wunsch nach Eindeutigkeit und andererseits der Erfahrung von Mehrdeutigkeiten aufspannen. Die Versuchsanordnungen, die durch die Interaktionen der unterschiedlichen AkteurInnen in Zusammenhang mit den vielfältigen Fragestellungen hervorgerufen werden, ermöglichen eine spezifische Sicht auf diese besondere Region – das Ruhrgebiet.

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive vereint verschiedene Perspektiven auf das Urbane Labor Ruhr und versucht, den Laborbegriff für das Ruhrgebiet produktiv zu machen. Dies deshalb, weil in den letzten Jahrzehnten in der Region von Recklinghausen bis Essen, von Duisburg bis Hamm einige Zusammenschlüsse installiert wurden oder sich gebildet haben, die sich mit der zukünftigen Entwicklung dieser Region befassen. Die Bandbreite der Formate reicht hierbei von den seitens der Regionalplanung ausgerufenen Ideenwettbewerben, Fachdialogen und Foren über die von der Kulturförderung initiierten künstlerischen und kulturellen Interventionen bis hin zu den vielschichtigen Eigeninitiativen der BürgerInnen dieser 53 Städte.

Die AutorInnen thematisieren die ambivalenten Merkmale des Laboratoriums zwischen Ordnung und Chaos, Wiederholbarkeit und Einmaligkeit, Sterilität und Fruchtbarkeit, Bestimmtheit und Offenheit, Planbarkeit und Experimentierfreude, Rationalität und Verwunschenheit sowie den Umgang mit Komplexität, indem sie die spezifische Urbanität des Ruhrgebiets – die Ruhrbanität[3] – als polyzentrisches und polyperipheres Städtegeflecht diskutieren. Der Laborbegriff eignet sich vor allem deshalb, weil in der konkreten Analyse einiger Vorgänge im Ruhrgebiet hervorsticht, dass die Übertragbarkeit, also das Copy-and-paste von Ereignissen und Erkenntnissen bestimmter Situationen auf andere urbane Settings, oft mit Vorsicht zu genießen ist und im je konkreten Fall an die Grenzen der Planbarkeit reicht. Zwischen Versuch und Irrtum der Erzeugung urbaner Situationen (Katja Aßmann), der spezifischen Raumartenvielfalt in Zusammenhang mit einem DIY-Urbanismus (Dirk Haas), den Grenzen von Messbarkeit und Planung in den Weiten der Literatur (Jens Gurr), den Chancen einer nachhaltigen Entwicklung unter Rückbesinnung auf die Besonderheiten der Region (Tim Rieniets) sowie der Steuerung des Scheiterns künstlerischer Projekte, die die Grenzen von Fiktion und Realität neu verhandeln (Fabian Saavedra-Lara), scheint es weit wichtiger, »spezifische räumliche, kulturelle, habituelle, atmosphärische Besonderheiten« (Haas 2013) dieser Region zu betonen und diese der »stattfindenden Vereinheitlichung von Stadtbildern entgegenzustellen und lokale Identität zu behaupten.« (Ebd.)

Die Kunstinstitution Urbane Künste Ruhr stellt ein solches Labor dar, in dem künstlerische Praktiken den Strukturwandel begleiten oder auch mitinitiieren sollen. Seite an Seite mit baulichen sowie stadt- und regionalplanerischen Zugängen suchen KünstlerInnen, NetzwerkerInnen und Kulturinstitutionen »nach dem Kern des Urbanen«[4] und verstehen Kunst im öffentlichen Raum als tiefgreifende Neugestaltung von Stadt und Region, denn es stellt die Frage inwieweit ein solcher (hoher) Anspruch nachhaltig eingelöst werden kann. Diese spezielle Situation ist besonders für die kulturwissenschaftliche Forschung interessant. Aus diesem Grund hat die HafenCity Universität Hamburg, die auf das Thema Metropolenentwicklung und Baukunst spezialisiert ist, den ersten Teil einer begleitenden Forschung realisiert, aus deren Diskursen in diesem dérive-Schwerpunkt Auszüge dargestellt werden. Die Forschungsfragen lauteten: Wie kann soziale Innovation qua Kunst implementiert werden? Können solche Aktivitäten nachhaltig sein? Die Diskussion mit ExpertInnen und einer interessierten Öffentlichkeit hat sich immer stärker um den Laborbegriff formiert. Dieser zielt beispielsweise auf Symposien, Salons, Konferenzen, hybride künstlerische Formate zwischen installativen, interventionistischen und performativen Praktiken, Workshops, temporäre Institutionen und viele andere flüchtige Arrangements und Praktiken, die statt der Abgeschiedenheit des naturwissenschaftlichen Labors als Lehr- und Forschungsstätte im Rahmen von Urbane Künste Ruhr auf Kommunikation, Diskursivität und den erfahrungsbasierten Umgang mit Mehrdeutigkeiten, Unvorhergesehenem, Ambivalenzen und Widersprüchen setzen: »Ein solcher Prozeß wird nicht etwa bloß durch endliche Zielgenauigkeit begrenzt, sondern ist von vornherein durch Mehrdeutigkeit charakterisiert: er ist nach vorne offen.« (Rheinberger 2006, S. 25)

Doch auch außerhalb des institutionellen Rahmens von Urbane Künste Ruhr entstehen Urban Labs. Beispielsweise durch ungewöhnliche Kooperationen wie die des Theaters Oberhausen mit dem freien Performance-Kollektiv geheimagentur. So initiierten die GeheimagentInnen in den letzten Jahren verschiedene Einrichtungen wie die Beratungsstelle Get Away!, Schwarzbank – Kohle für alle, das Wettbüro: Alles oder alles (2013) und die Factory (2014), die zwischen Fiktion und Wirklichkeit eine neue Realität produzieren. Bei der Schwarzbank diente ein Container in der Oberhausener Fußgängerzone für den Zeitraum von zwei Wochen als Bank-filiale, um die von der geheimagentur gedruckte Währung – die Kohle – in Umlauf zu bringen. Die Schwarzbank bot einen Kleinkredit an, für den die KreditnehmerInnen eine Tätigkeit leisten mussten, für die sie schon immer einmal bezahlt werden wollten: von Kinderbetreuung über öffentliche Tanzstunden bis hin zum Wahrsagen vor der Bankfiliale. Die alternative Währung zirkulierte nicht nur über den Zeitraum dieser performativen Installation ausgesprochen erfolgreich. Das Interesse an der Kohle war so groß, dass auch nachdem die geheimagentur die Arbeit offiziell an die Stadt Oberhausen und ihre BürgerInnen übergab, weiter intensiv über die Möglichkeiten und Machbarkeiten einer alternativen Währung als Oberhausener Pilotprojekt mit zahlreichen ExpertInnen diskutiert wurde. Obwohl die Implementierung einer Komplementärwährung 2014 als gescheitert erklärt wurde, hat diese Arbeit als Laboratorium eine Möglichkeit zum Umgang mit Geld erprobt, die die Grenzen von Legalität und Illegalität, von Fiktion und Wirklichkeit, von Vision und Umsetzung, wenn zunächst auch nur temporär, so doch verschiebt: und damit etwas Unwahrscheinliches plötzlich wahrscheinlich wird.[5]

Kommen wir noch einmal zurück zum Ausgangspunkt und fragen, was die Allgegenwart der Urban Labs bedeutet. Worin könnte die Verbindung des Laboratoriums mit dem Urbanen und dem Feld der Kunst bestehen? Welche Elemente sind es, die diese Sphären miteinander verbinden? An welchen Stellen lassen sich ihre Differenzierungslinien ziehen und wie entgrenzen sie sich wohin? Und schließlich, wie kann eine ganze Region zum Laboratorium avancieren? Halten wir zunächst fest: Die Ausweitung des Laborbegriffs hat Konjunktur. Insbesondere der Bezug des Laboratoriums zum Städtischen scheint verlockend zu sein. Außerhalb seiner ursprünglichen Bezeichnung als traditionellem Ort der Naturwissenschaften hat das Konzept des Labors die unzähligen Urban Labs hervorgebracht, die sich wie ein unaufhaltsam wachsender Organismus dort ausbreiten, wo über die ungewissen und noch verhandelbaren Zukünfte des Städtischen samt ihrer sozialen Implikationen gerungen wird. Spätestens seit Bruno Latour konstatierte, dass er die Welt aus den Angeln heben würde, sofern man ihm ein Laboratorium gebe, hat das Labor endgültig Einzug in das Vokabular der Gesellschafts- und Stadtforschung genommen: »We are only just starting to take up the challenge that laboratory practices present for the study of society.« (Latour 1999, S. 169)

In Bezug auf unseren Kontext scheint es am augenscheinlichsten, die Differenzierung zunächst am Maßstab und den Grenzziehungen zu verorten. Denn als Labor lässt sich sowohl das Konglomerat Stadt – oder wie im Fall des Ruhrge-biets die Region – selbst begreifen als auch die einzelnen kollektiven, oft komplizenhaften Zusammenschlüsse, deren AkteurInnen gemeinsam die schier unzähligen Aspekte des Städtischen erforschen: »Wie eine Metropole im Kleinen ist das Laboratorium zunächst ein Ort, an dem Kombinationen und Konfrontationen von Mensch und Maschine, Körper und Technik, Organismus und Mechanismus stattfinden, deren Effekte registriert, gemessen und berechnet werden.« (Schmidgen 2011) Jedoch lassen sich die Urban Labs weder auf die administrativen Grenzen der Städte beschränken noch auf einzelne Zusammenschlüsse Gleichgesinnter. Vielmehr sind diese Laboratorien »soziale Formen« (Knorr-Cetina 1988, S. 85) deren Innen niemals vollständig von ihrem Außen zu trennen ist. Sie tauchen unlängst auch an Orten auf, die sich einer dichotomen Zuschreibung von Stadt und Land entziehen: eben an Orten wie dem Ruhrgebiet. Sie tauchen dort auf, wo es keinen Konsens über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Zusammenlebens gibt. Sie lassen sich entsprechend weder auf Themen noch auf Kontexte begrenzen und werden durch die unterschiedlichsten Verbindungen hervorgerufen: mal geplant, mal ungeplant; mal forciert, mal zufällig; mal breiten sie sich aus, mal bleiben sie singuläre Ereignisse; mal werden sie vermarktet, mal sind sie Gegenkultur; mal sind sie feste Verbindungen, mal lose Zusammenschlüsse; mal haben sie Folgen, mal scheint es, als habe es sie nie gegeben. Und manchmal, da sind sie etwas ganz anderes, etwas Dazwischenliegendes: »Nach Art einer literarischen Metapher zusammengefügt, die anscheinend nicht Zusammengehörendes in einem Bild vereint, das an Doktor Mabuses düsteres Kabinett mit Reagenzgläsern, Kolben und Zylindern, siedenden Flüssigkeiten und scharf riechenden Dämpfen ebenso denken lässt wie an die gleißend hellen, sterilen, computerisierten High-Tech-Forschungsstätten in Universitäten oder Betrieben der chemischen und pharmazeutischen Industrie, gehören die Begriffe Laboratorium und Moderne doch ein und demselben
Kontext an.« (Neitzke 2000, S. 124)

Verhandelbare Orte

Das Labor als Lehr-, Arbeits- und Forschungsstätte ist ein Ort, der eng an eine ikonographische Vorstellung als Ort der Naturwissenschaft geknüpft ist, in dem in Abgeschiedenheit natürliche Situationen künstlich reproduziert werden, um Entdeckungen, Erfindungen und andere Konstruktionen voranzutreiben. Es werden Experimente oder Versuche durchgeführt, um wissenschaftliche Tatsachen zu schaffen.[6] (vgl. Palfner 2012, S. 161) Einerseits bezieht sich die Ikonographie des Labors entsprechend auf die Idee von Ordnung, Gewissheit, Kontrollierbarkeit, Stabilität und Routine, auf naturwissenschaftlich-technizitische Erklärungsmodelle, mit denen Licht ins Dunkel der Welt gebracht werden soll und deren Diktion sich noch heute in den High-Tech-Forschungsstätten findet.[7] Andererseits rücken Aspekte des Experimentierenden, Unvorhersehbaren, Chaotischen und Zukunftsoffenen des düsteren Kabinetts in den Blick der Aufmerksamkeit. Es scheint genau die Verhandlung dieser beiden Vorstellungen von ein und demselben Ort, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Auf der einen Seite der Wahn der Stadt- und Regionalplanung, der Investorenschaft und der Verwaltung, Ordnung im undurchsichtigen Chaos von Urbanität zu schaffen. Das Ruhrgebiet soll eine eigene Urbanität entwickeln, gleichzei-tig ist das Ziel den Anschluss an die Metropolen des 21. Jahrhunderts zu schaffen: sei es über das Aneinanderreihen von Großevents die Steigerung der Attraktivität zum Zwecke touristischer Vermarktung zu erzielen oder um Investitionen, Industrien und eine kreative Klasse anzuziehen. Zwar soll die Region dynamisch, lebhaft und profitabel sein, gleichermaßen jedoch weniger widersprüchlich und gegensätzlich. (vgl. Neitzke 2000, S. 127) Der Begriff Urbanität wird zielgerichtet als Element zeitgemäßer Standortpolitik verwendet. Seiner wird sich unbeachtet des Kontextes auf vielfältige Weise bedient, nämlich immer dann, wenn er die Stadt in einem weltoffenen Licht erscheinen lässt, das eine gute Vermarktungsstrategie verspricht. Auf der anderen Seite lassen sich in einem erweiterten Verständnis des Labors als Ort der Wissenschaft hin zum Raum der Wissensproduktion, der nicht an einen morphologischen Ort gebunden ist, Labore insbesondere in Bezug auf urbane Kunstproduktion als künstlerische Forschung ausfindig machen, die sich selbst an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Forschung sieht. Auch das Programm von Urbane Künste Ruhr ist ein künstlerisch-laborhafter Versuchsaufbau im urbanen Raum. Gemeinsam ist all ihren Projekten, dass sie mit Prozesshaftigkeiten in Verbindung stehen, die in ihrer jeweiligen Praxis durch Verflüssigungen, Vernetzungen und durch Verschiebungen charakterisiert sind: Sie entgrenzen sich von der Werk- hin zur Ereignisästhetik, von der Installation hin zur Performance, von der singulären Autorenschaft hin zum Kollektiv, von dem Genie als Einzelkünstler hin zur Auflösung vom Publikum. In ihrer Widersprüchlichkeit und mit ihrem subversiven Potenzial sind sie wie »Urbanität [...] immer auch gegen die glatte, ordentliche und übersichtliche Stadt gerichtet.« (Siebel 1994, S. 8)

Die Verwendung der Labormetapher speziell in Bezug auf das Ruhrgebiet spiegelt seitens der Planung einerseits den Wunsch Urbanismus im Reagenzglas herzustellen, ihn beliebig oft zu reproduzieren und überall dort zu verwenden, wo es im Auge der Akteure und Akteurinnen der Stadtentwicklung an Urbanität fehlt. Denn ein Spezifikum an der Laborarbeit ist der nachvollziehbare Aufbau des Experiments und die Verwendung von spezifischen Methodensets. Beides soll für Wiederholbarkeit sorgen. Der Vergleich liegt also sehr nah, da die Disziplin der Stadtplanung unaufhörlich versucht, den extrem komplexen Zusammenhang Stadt zu planen und steuerbar zu machen. Vielleicht liegt die Faszination andererseits aber auch im Zauberhaften des Laboratoriums, welches das Versprechen einzulösen vermag, das Land in die Stadt zu verwandeln – so wie die Alchimisten, die Blei zu Gold werden ließen. Jedes Labor enthält auch Dimensionen des Unsichtbaren und Unvorhersehbaren, die eben gerade nicht einfach dargestellt werden können oder wiederholbar sind. Die Anziehungskraft der Urban Labs könnte entsprechend auch in dem dringenden Verlangen danach liegen, die unzähligen Dimensionen des Urbanen zu erforschen und das Städtische weniger als einen Ort, denn mehr als einen Raum zu umreißen, samt den »ungezählten Schichten seiner Realität: historischen, ästhetischen, politischen, geographischen, geologischen, realen wie mythologischen, sichtbaren und unsichtbaren, erinnerten, vergessenen, verdrängten, tabuisierten.« (Blum 2010, S. 28)

In diesem Verständnis können die Urban Labs in bestimmten Settings dazu beitragen, die komplexen Zusammenhänge einer verstädterten Region experimentell zu erforschen. Urbane Künste Ruhr und viele andere Initiativen öffnen dabei das Urbane zum Feld der Kunst und entgrenzen damit sowohl die Künste als auch die Stadt- und Regionalplanung als Dis-ziplinen hin zu einem offeneren Verständnis der Entwicklung von Städten und Regionen – so, dass das Ende der Zukunft der 54. Stadt wieder offen zu sein scheint. Denn das Unwahrscheinliche, das neben dem Geplanten aus dem Experiment hervorgehen kann, vermag eine andere Zukunft zu versprechen: »Als die kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung sind Experimentalsysteme so eingerichtet, daß sie noch unbekannte Antworten auf Fragen geben, die der Experimentator ebenfalls noch gar nicht klar zu stellen in der Lage ist.« (Rheinberger 2006, S. 25) Die Kriterien wie Mess- und Reproduzierbarkeit, des Zauberhaften und der Wunsch danach Komplexität gerecht zu werden, geben uns Aufschluss darüber, warum der Laborbegriff – nicht nur im Ruhrgebiet – gerne auf Städte und Regionen übertragen wird. Wenn um das Ausloten des Städtischen zwischen anderen gegenwärtigen Konstellationen und zukünftigen Möglichkeiten gerungen wird, ist eines klar: nämlich, dass es immer auch ganz anders sein könnte.


Anmerkungen:
[01] Internationale Bauausstellung, die von 1989 bis 1999 im Ruhrgebiet stattfand. »Das Ziel: mehr Lebens- und Wohnqualität, architektonische, städtebauliche, soziale und ökologische Maßnahmen als Grundlage für den wirtschaftlichen Wandel in einer alten Industrieregion.« (www.iba.nrw.de
[02] 54. Stadt – Das Ende der Zukunft: http://www.urbanekuensteruhr.de/de/projekte/54-stadt.62/. Zugriff vom 15.09.2014.
[03] Der Begriff Ruhrbanität wurde in einem Forschungsprojekt unter der Leitung von Christa Reicher in Kooperation mit Urbane Künste Ruhr geprägt (vgl. Reicher et. al. 2011).
[04] Homepage Urbane Künste Ruhr: http://www.urbanekuensteruhr.de/de/ueber-uns/. Zugriff vom 28.09.2014.
[05] Vgl. zu den Selbstbeschreibungen der unterschiedlichen Projekte die Homepage der Geheimagentur: http://geheimagentur.net
[06] Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Hans-Jörg Rheinberger (2006, S. 27ff.) zu Experimentalsystemen und epistemischen Dingen bei dessen Erläuterungen er in Bezug auf epistemische und technische Dinge auch auf die Forschungen von Bruno Latour und Michel Serres eingeht.
[07] Vgl. zur Bedeutung von Ordnung und eindeutigen Zuschreibungen, die im Kontrast zu den postmodernen Erfahrungen von Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten stehen, die weitreichenden Ausführungen Zygmunt Baumans (2005 [1992]) in Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit.


Literatur:
Bauman, Zygmunt (2005 [1992]): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit . Hamburg: Hamburger Edition, HIS.
Blum, Elisabeth (2010): Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess räumlicher Wahrnehmung . Baden: Lars Müller Verlag.
Haas, Dirk E. (2013): Gemengelagenurbanismus. Dirk E. Haas im Gespräch mit Labkultur. Verfügbar unter: http://legendista.wordpress.com/2013/07/13/gemengelagenurbanismus (Stand 20.7.2014).
Knorr Cetina, Karin (1988): Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der ›Verdichtung‹ von Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie , Jg. 17, Heft 2. Stuttgart: F. Enke Verlag, S. 85-101.
Latour, Bruno (1999): Give me a Laboratory and I will Raise the World. In: Biagioli, Mario (Hg): The Sience Studies Reader . New York/London: Routledge, S. 256-275.
Neitzke, Peter (2000): Unerreichbare Sterilität oder Die Großstadt ist kein Laboratorium. In: Matejovski, Dirk (Hg.): Metropolen. Laboratorien der Moderne . Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 124 – 132.
Palfner, Sonja (2012): Labor. In: Marquardt, Nadine; Schreiber, Verena (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 160 -165.
Reicher, Christa; Kunzmann, Klaus R.; Polívka, Jan; Roost, Frank; Utku, Yasemin & Wegener, Michael (Hg.) (2011): Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets . Berlin: Jovis Verlag.
Rheinberger, Hans-Jörg (2006): Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas . Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Schmidgen, Henning (2011): Labor. In: Institut für Europäische Geschichte (Hg): Europäische Geschichte Online (EGO) . Verfügbar unter: http://ieg-ego.eu/de/ threads/crossroads/wissensraeume/henning-schmidgen-labor (Stand 20.5.2014.)
Siebel, Walter (1994): Was macht eine Stadt urban? Zur Stadtkultur und Stadtentwicklung. In: Busch, Friedrich & Havekost, Hermann (Hg.): Oldenburger Universitätsreden . Oldenburg

dérive, Mo., 2015.02.02

02. Februar 2015 Gesa Ziemer, Vanessa Weber

Eine produktive Fiktion

Das Buch Team 10 East. Revisionist Architecture in Real Existing Modernism, herausgegeben von Lukasz Stanek, weist gleich in der Einführung darauf hin, dass es sich bei der Bezeichnung »Team 10 East« um ein fiktives Konzept und nicht etwa um einen osteuropäischen Zweig des Team 10 handelt.

Im Unterschied zur CIAM, die in nationalen und regionalen Gruppen organisiert war – österreichische, tschechoslowakische, ungarische, polnische und jugoslawische ArchitektInnen riefen sogar kurzzeitig das CIAM-East ins Leben –, waren die osteuropäischen Mitglieder des Team 10 abgeneigt eine einheitliche Haltung einzunehmen und somit die ideologische Spaltung des Eisernen Vorhangs zu bestätigen. Sie fühlten sich mit ihren Kollegen und Kolleginnen im Westen stark verbunden in dem Bestreben dem technologischen und sozialen Paradigmenwechsel nach dem Wiederaufbau mit erneuerten architektonischen und urbanistischen Herangehensweisen und Konzepten gerecht zu werden. Sie waren sich einig darüber, dass eine neue avantgardistische Architektur die technokratische, funktionalistische Massenarchitektur der Nachkriegszeit überwinden, Veränderbarkeit und Wachstum ermöglichen und den Menschen in den Mittelpunkt stellen müsse. Die Bezeichnung East im Titel der Publikation bekräftigt entsprechend nicht etwa eine Dichotomie der Architekturideologien des Kalten Krieges, wie so oft am Beispiel Ost- und Westberlins vollzogen, sondern – und dies wird durch das Hinzufügen zweier Staaten zum Team 10 East deutlich: Finnland, einem westlichen, militärisch neutralen Wohlfahrtsstaat, sowie Jugoslawien, nach dem Tito-Stalin-Bruch Gründungsmitglied der Blockfreien Staaten – rückt zum ersten Mal die Vielfalt sozialistischer Auslegungen und Ausprägungen der Neuausrichtung der Nachkriegsmoderne in den Vordergrund. Der Diskurs des Team 10 beruhte demnach keinesfalls auf einem klaren Konsens sondern entsprach der Komplexität der politischen und wirtschaftlichen Landschaft zur Zeit des Kalten Krieges.

In den zwölf Texten werden ausgewählte Projekte des Team 10 East im Zusammenhang mit politischen Gegebenheiten und Produktionsbedingungen und auch als Teil eines internationalen Netzwerks und Diskurses thematisiert. Dabei wird nicht selten deutlich, wie unterschiedlich die Team 10 Postulate »openness«, »greatest number« und »participation« ausgelegt wurden, aber auch, wo diese Konzepte aufgrund der spezifischen politischen Bedingungen besonders wirksam Anwendung fanden. Das Prinzip der offenen Form und Unfertigkeit (»openness«), die durch den Einsatz von additiven Strukturen und funktionaler Flexibilität realisierbar wurde, kam beispielsweise in Jugoslawien besonders zum Tragen, da die Bauvorhaben nicht selten durch die finanziellen Engpässe des real existierenden Sozialismus nur teilweise fertiggestellt werden konnten. Auch das Konzept der Partizipation (»participation«) hatte in Jugoslawien einen erhöhten Stellenwert und eine besondere Reichweite, da diese als architektonische Version des Prinzips der dort gängigen Selbstverwaltung ausgelegt wurde und den Nutzern und Nutzerinnen eine maximale Mitbestimmung und Beteiligung ermöglichte.

Oskar Hansens Projekt »Linear Continuous System« stellt die radikalste Auslegung des Umgangs mit der Masse (»greatest number«) dar – es provozierte nicht nur im Kontext des Team 10 sondern auch in polnischen Regierungskreisen. Sein Konzept berief sich zum einen auf eine marxistische Deutung der Masse und beruhte entsprechend auf einer großmaßstäblichen landesweiten Enteignung von Land, um eine klassenlose, hierarchiefreie und egalitäre Versorgung zu ermöglichen – eine Maßnahme, die im Diskurs des Team 10 sicherlich kritisch diskutiert wurde. Im Zusammenhang mit seinem Manifest Open Form (1959) forderte zum anderen eine architektonische Form, in der die Individualität des Menschen mit all ihren Zufälligkeiten und Unvorhersehbarkeiten den Raum bereichern und zugleich formen kann.

Hier wird deutlich, warum er in Polen auch durchaus als Dissident gesehen werden konnte: Seine Planung stellte die Autorität des Staates ganz im Sinne des »Absterben des Staates« in Frage.

Der Kunstgriff des Herausgebers Lukasz Stanek, die Architekten und Architektinnen aus Polen, Finnland, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei nach mehreren Jahrzehnten in der Theorie zu vereinen, erweist sich in diesem Buch als äußerst produktive Methode, eröffnet sie doch eine neue, differenzierte Perspektive auf die etablierte Narrative des Übergangs von CIAM zu Team 10. Dass ein radikaler Bruch mit CIAM bzw. ihre Auflösung, wie maßgeblich von den niederländischen und englischen Mitglieder forciert, von vielen Mitgliedern des Team 10 nicht befürwortet wurde, kommt in einem Brief von den polnischen Mitgliedern Oskar Hansen und Jerzy Soltan an die Ratsmitglieder der CIAM 1957 zum Ausdruck: Das Bewusstsein für die Errungenschaften der CIAM als Organisation, die einen breiten internationalen Diskurs etablierte und ermöglichte, war vor allem hinsichtlich der angespannten politischen Situation nicht nur für die osteuropäischen sondern generell für alle nicht-westlichen Mitglieder von besonderer Relevanz, da sie von einer organisierten Infrastruktur politisch und/oder baukulturell abhängig waren. Auch vertraten sie einen gemäßigteren Standpunkt, was das Verhältnis zur Moderne betraf. Soltan, ebenso wie viele andere Mitglieder des fiktiven Team 10 East, trat für eine Weiterführung der Moderne unter neuen Vorzeichen ein – einer »Moderne mit menschlichem Antlitz« –, anstelle ihrer radikalen, avantgardistischen Erneuerung. Doch das von den Smithsons angeregte Bestreben ab 1958 nur noch Mitglieder einzuladen, die der Team-10-Denkweise entsprachen, führte dazu, dass die Belange der Peripherie nicht mehr berücksichtigt wurden und der Diskurs um die Neuausrichtung der Nachkriegsmoderne wesentlich eingeschränkter geführt wurde. Der avantgardistische Anspruch, der sich inhaltlich um eine progressive Weiterentwicklung architektonischer Prinzipien wie Flexibilität, Mobilität, Offenheit und Partizipation bemühte, führte was den Diskurs betraf zu einer autoritären, dogmatischen und steifen Ausschluss-Dynamik, die den Eurozentrismus und Elitismus der Gruppe ins Extrem führte.

Die subversive Leistung des Buches besteht darin, den Mythos des Konsenses innerhalb des Team 10 aufzuheben, die verschiedenen politischen Haltungen, die zweifellos im Kontext des Kalten Krieges zu verstehen sind, zu differenzieren und sie in einem direkten Zusammenhang mit den vielfältigen Haltungen und Ausprägungen des architektonischen Revisionismus zu untersuchen. Auch wird das vorherrschende Narrative des Team 10, das den Einfluss des Sozialismus kaum berücksichtigt, auf den Kopf gestellt: Indem er die Wirkungsmacht der Projekte und Ideen des Team 10 East in den Vordergrund stellt, bekräftigt Stanek, dass der Diskurs des Team 10 nicht nur mit sozialistischen Vorstellungen und Themen verwoben sondern, ebenso wie dies vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, durch diese gesteuert wurde.


Lukasz Stanek (Hg.)
Team 10 East:
Revisionist Architecture in Real
Existing Modernism
Warschau: Museum of Modern Art in Warsaw, 2014
250 Seiten, 25 Euro

dérive, Mo., 2015.02.02

02. Februar 2015 Niloufar Tajeri

Als die Tabakfabrik Linz noch ein Industriebetrieb war

Mit der Schließung der Tabakfabrik 2009 endete die seit 1850 bestehende Tabakproduktion in Linz. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dies ausgerechnet in jenem Jahr stattfand, in dem sich Linz als Kulturhauptstadt Europas präsentierte und die Stadt am Höhepunkt ihrer langjährigen Positionierungsbemühungen als Kulturstadt stand. Nach der Schließung der Fabrik, eine Folge der Privatisierungspolitik ab Mitte der 1990er Jahre, kaufte die Stadt Linz das Gebäude. Ziel war es ein Cluster der Kreativwirtschaft zu etablieren. Doch die schiere Größe sowie die Denkmalschutzbestimmungen stellen nach wie vor eine Herausforderung für die Nutzung des von den beiden Architekten Peter Behrens und Alexander Popp geplanten und 1935 eröffneten Gebäudes dar.

Einige Teile des Gebäudes sind bereits adaptiert und Büroinfrastrukturen wurden installiert. Es wird also wieder gearbeitet. Doch es handelt sich dabei eben nicht um jene Form der industriellen Produktion, die in einer postindustriellen Gesellschaft als unmodern empfunden und daher in Billiglohnländer ausgelagert wird – es ist vielmehr die sogenannte kreative Industrie, die hier Einzug halten soll.

Doch wie gestalteten sich eigentlich die Arbeits- und Lebenswelten jener Personen, die in der Tabakfabrik arbeiteten? Dieser Frage gehen die Soziologin Waltraud Kannonier-Finster und der Soziologe Meinrad Ziegler in ihrem Buch Ohne Filter nach. Vor dem Hintergrund der Veränderungen der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen ab 1945 legen die beiden HerausgeberInnen gemeinsam mit weiteren AutorInnen den Fokus darauf, wie die Belegschaft der Tabakfabrik den Aufschwung und den Niedergang dieses Industriebetriebs erlebte und verarbeitete. Im Rahmen einer ethnografisch angelegten Studie erforschten sie die vom Betrieb vorgegebenen Arbeits- und Lebensbedingungen sowie deren Transformationen durch die Krise der staatlichen Industrie, die schrittweise Privatisierung und letztlich die Schließung.

In den ersten drei Kapiteln skizzieren die AutorInnen den allgemeinen Rahmen. Neben der sozialhistorischen Einordnung der Tabakproduktion in Österreich wird dabei auf die Hierarchie zwischen Angestellten und ArbeiterInnen, die Arbeitsplatzpolitik sowie auf die unterschiedlichen Teilbereiche der Institution, die neben der Fabrik auch Wohnraum, Kinderbetreuungseinrichtungen und den Sportverein umfasste, eingegangen. Diese sozialpolitischen Maßnahmen waren einerseits Ausdruck der sozialen Verantwortung des Unternehmens gegenüber seinen MitarbeiterInnen und dienten der Etablierung einer langjährigen Bindung an den Betrieb, andererseits waren damit auch Disziplinierungsabsichten verbunden.

Den zentralen Teil des Buches – auch im Hinblick auf den Umfang – stellt Kapitel 4 dar.

Anhand von sieben exemplarischen Lebensgeschichten, die drei Generationen umfassen, werden unterschiedliche Aspekte des sozialen Wandels in den letzten 60 Jahren erzählt. Diese biographischen Erzählungen, in denen die Transformation von Arbeit, Politik und kulturellem Leben zu Ausdruck kommt, werden durch Zwischenkapitel ergänzt, die etwa Einblick in die technischen Abläufe der Produktion, die verschiedenen Modelle der Arbeitszeitorganisation oder den Sportverein geben.
Kapitel 5 und 6 beleuchten schließlich die Umstände der Privatisierung und Schließung der Tabakfabrik aus dem Blickwinkel der politischen Ökonomie. Dabei werden zahlreiche weniger geläufige Hintergrundinformationen geliefert, die es ermöglichen das biographische Material unter neuen Vorzeichen zu lesen.

In Kapitel 5 stehen vor allem die Macht- und Grabenkämpfe der Parteien SPÖ und ÖVP im Vordergrund. Doch obwohl die Privatisierung nach der Jahrtausendwende unter der ÖVP-FPÖ-Regierung umgesetzt wurde, kristallisierte sich der politische Wille dazu bereits zuvor heraus. Auch wurden die ersten Schritte dafür bereits unter der SPÖ-ÖVP-Regierung ab Mitte der 1990er Jahre gesetzt.

Das sechste Kapitel geht noch einmal auf die Schließung der Tabakfabrik ein. Trotz eines Sozialplans, der ausverhandelt wurde, stellte die Schließung vor allem für langjährige ArbeiterInnen eine persönliche Krise dar, während der Umgang mit den Anforderungen des flexiblen Kapitalismus jüngeren MitarbeiterInnen tendenziell leichter fiel.

Das siebte Kapitel bietet schließlich noch einige fotographische Einblicke und im finalen achten Kapitel findet sich eine chronologische Darstellung ab der Gründung der Tabakfabrik im Jahr 1850 bis zu ihrer Schließung 2009.

Das Buch Ohne Filter reiht sich in die Tradition arbeits- bzw. industriesoziologischer Arbeiten ein, die unter anderen mit der berühmten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal (1933) von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel begründet wurde. Da dem biographischen Material viel Raum gegeben wird, erlaubt es einen tiefgehenden Einblick in die Veränderungen der Lebenswelten und die sozialen Umstände der ArbeiterInnen-Schicht ab dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch hebt sich dadurch von anderen Arbeiten in diesem Feld ab. Und auch wenn die eine oder andere Kritik am neoliberalen Paradigma, die aus der Entwicklung der Fabrik abgeleitet wird, eher skizzenhaft verbleibt, eröffnet dieses Stück Industriegeschichte, das hier auf fundierte Art erzählt wird, einen neuen Blick auf die Tabakfabrik und auf die Stadt Linz selbst.


Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler (Hg.)
Ohne Filter. Arbeit und Kultur
in der Tabakfabrik.
Innsbruck: Studienverlag, 2013 (2. Aufl.)
291 Seiten, 28,90 Euro

dérive, Mo., 2015.02.02

02. Februar 2015 Florian Huber

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