Editorial

Der Architekt Ernst Neufert erstellte 1936 die «Bauentwurfslehre» als Hilfsmittel für Baufachleute. Seither wurde «der Neufert» in 19 Sprachen übersetzt und hat die 40. Auflage erreicht. Neufert hat aber auch – was meist nur Insider wissen – zahlreiche Bauten für Industrie und Verwaltung erstellt. Orientiert an der ­Moderne des Bauhauses, sind seine Bauten der Ratio­nalisierung verpflichtet, wie beispielhaft am Quelle-Versandhaus deutlich wird.

Sein Sohn Peter Neufert, ebenfalls Architekt, war in Köln als «fliegender Architekt» mit seinem ungewöhnlichen Wohnhaus X1 und seinen un­bequemen Ansichten, die er auch in der Öffentlichkeit kundtat, wohlbekannt. Er gehörte zu einer jungen Generation, die für den Aufbruch in Deutschland nach dem Krieg stand und sich an der Architektur der USA und Brasiliens orientierte. Dazu gehörte auch der Kontakt mit interna­tionalen Künstlern, die seine Architektursprache beeinflussten. Er hatte die Gabe, die richtigen Leute mit in seine Planungen einzubeziehen.

Das vorliegende Heft ist eine Erweiterung eines Buchs, das vor einigen Monaten erschienen ist (vgl. S. 10). Es zeigt sich, dass eine Kon­tinuität in der Architekturauffassung von Vater und Sohn bestand. Durch die Entwicklung des Spannbetons jedoch gingen aus Peter Neuferts Arbeit Ende der 1960er-Jahre ungeahnte Form­ex­perimente hervor, durch die sich manche seiner Bauten deutlich von denen seines Vaters unterscheiden. Er selbst drückte dies wie folgt aus: «Mein Vater war eher Architekt-Theoretiker, während ich mich eher als Architekt-Künstler sehe.»

Lilian Pfaff

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Mitten im Sportgeviert

10 PANORAMA
Die Werke der Neuferts | Neue MuKEn | Leserbrief

12 VITRINE
Das Symposium der 6. Appli-Tech | Eine neue App für Baufachleute

13 WARUM RAUMPLANUNG?
SIA-Form Fort- und Weiter­bildung | Exkursion mit Gleichgesinnten | Umsicht an der Bauschule

17 VERANSTALTUNGEN

18 PRAGMATISCH-ELEGANTER SYSTEMIKER
Michael Kasiske
Ernst Neufert, Verfasser der bekannten Bauentwurfslehre, galt auch als Meister des Industriebaus.

22 «ZWEI SELBSTBEWUSSTE MENSCHEN»
Lilian Pfaff, Johannes Kister
Ein Gespräch mit Peter Neuferts Frau Marys und seiner Tochter Nicole Delmes verdeutlicht, was Ernst und Peter Neufert charakterisierte.

24 NETWORKER MIT KUNSTSINN
Lilian Pfaff
Peter Neufert arbeitete mit namhaften Fachleuten zusammen. So hat er mit dem Ingenieur Stefan Polónyi das spektakuläre Wohnhaus X1 realisiert.

29 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Pragmatisch-eleganter Systemiker

Architekten kennen Ernst Neufert als Verfasser der Bauentwurfslehre. Dass er ab der Zwischenkriegszeit seine Systeme bei Bauten erprobte und als Meister des Industriebaus galt, ist jedoch wenig bekannt.

Zu Lebzeiten galt Ernst Neufert als Deutschlands bekanntester Architekt von Industriebauten.[1] Bezeichnend war seine klare Analyse von Bauaufgaben, aus der effiziente Konzepte hervorgingen. Jedoch überstrahlte das Bild der Autorität im weissen Anzug seine Rolle als aktiver Entwerfer – so wie heute seine Bauten hinter der Bauentwurfslehre, «dem Neufert», zurücktreten.

Bis in die 1970er-Jahre vermeldete die Bauwelt regelmässig Auszeichnungen und Ehrenprofessuren von Ernst Neufert. Im Nachruf 1986 steht die ironische Bemerkung: «Von seinem Ruf, der typische unpolitische Architekt zu sein, hat er sich nie ganz befreien können.»[2] Damit wird er in die Phalanx deutscher Architekten gestellt, die ihre ersten Erfolge den Aufträgen des «Dritten Reichs» verdanken. Sie beteiligten sich selbstverständlich in der Nachkriegszeit am Wiederaufbau, wobei Neufert unter ihnen eine zentrale Rolle einnahm.[3] «Er ruht auf dem bombensicheren Fundament des von ihm erfundenen Rasters», schrieb ein Kollege 1949 lakonisch, «und mit seiner Entwurfslehre verdient er erneut viel Geld.»[4]

Autarkes Anwesen in Krisenzeit

1929 entwarf Neufert sein erstes eigenes Haus als Holzbau in Gelmeroda bei Weimar. Das 10 × 10 m grosse kompakte Versuchshaus für industrielles Bauen mag durch seine aus Zweck und Bautechnik gegründeten Gestalt ideell konzipiert gewesen sein (Abb. rechts oben). Das Holzskelett wurde in der amerikanischen «Balloon Frame»-Bauweise in nur zweieinhalb Tagen errichtet.[5]

Zeit- und Kostengewinn – etwa 15 % gegenüber Ziegelbauten – gingen mit dem Bemühen progressiver Architekten der Weimarer Republik einher, ein «Haus für alle» zu ermöglichen.[6] Die Ästhetik des Baus ist nach praktischen Aspekten ausgerichtet, wie das ungewöhnlich weit auskragende flache Zeltdach und die Fensterbänder zeigen. Im Innern erschliesst ein zentrales Treppenhaus alle Räume und erübrigt Flure; Einbaumöbel nutzen das begrenzte Volumen optimal aus. Mit dem grossen Garten zur Selbstversorgung und zur körperlichen Ertüchtigung schuf Neufert zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ein autarkes Anwesen.

Architektur als Bedeutungsträger

Dagegen erscheint das über zwanzig Jahre später geplante Ledigenheim in Darmstadt altbacken (Abb. S. 18). 1951 hatte Neufert den Entwurf beim Darmstädter Gespräch zum Thema «Mensch und Raum» präsentiert.[7] Detailliert leitete er den U-förmigen Block mit der Hochhausscheibe aus der städtebaulichen Lage ab, ebenso wie er den Funktionen genau ihren Platz zuwies: vom Pförtner, der alle Kommenden und Gehenden im Blick hat, bis hin zur Disposition der Apartments, in denen es trotz der Enge nicht zu unkomfortablen Doppelnutzungen wie etwa Sofa/Bett kommen muss. Der einseitig ausgerichtete Entwurf des «Junggesellenhauses» fusst auf Neuferts Idee eines städtischen Ferienheims nah am Wald und ohne Gegenüber.[8] Sie wurde jedoch später nicht realisiert. Der Raster der Fassade aus dunklem Klinker kontrastiert mit vorgefertigten Balkonen und Stürzen aus Sichtbeton. Diese Expressivität scheint unbeabsichtigt, denn der Betrachter soll lernen, «das Echte, Logische, Gewachsene und Notwendige von dem rein äusserlich Ästhetischen und dem um der Sensation willen Sensationellen zu unterscheiden».[9]

Charakteristisch beim von 1955 bis 1965 nach einem Gesamtkonzept Neuferts bei Heidelberg errichteten Eternit-Werk (Abb. S. 20) ist der verwendete, in Eigenfabrikation hergestellte Baustoff.[10] Da die Hallen schnell gebaut und erweitert werden mussten, sind die Hauptwände des tragenden Stahlskeletts mit Porenbetonsteinen ausgefacht. Als raumabschliessende Hülle für Wände und Dächer dient Welleternit, denn es sichert die kubische Geschlossenheit und zeigt sich von eigentümlichem Reiz und selbstständiger Wirkung.[11] Es gab handfeste Gründe: Asbestzement fand im Industriebau aus Kostengründen und weil es für Sonderanschlüsse leicht verformbar war Verwendung.[12] Konstruktiv reizvoll ist der lichte Speisesaal (Abb. S. 20) mit seinen Filigranträgern. Eine sparsame Farbgebung lässt die Fabrik beeindruckend minimalistisch erscheinen.

100 000 Pakete pro Tag

Der ebenfalls 1955 begonnene und bis 1975 abschnittsweise realisierte Komplex des Versandhauses Quelle in Nürnberg ist voluminöser und funktional dichter. Anlass war die gewünschte Steigerung des Ausstosses auf mindestens 100 000 Pakete täglich. Dafür wurde ein dreigeteiltes System entwickelt: «ein koordinatengesteuertes Kommissionierungslager, ein ‹chaotisch› arbeitendes Überfliesslager und ein Auslieferungslager, in dem die Waren auf Band so zusammenliefen, dass ein Bestellvorgang in einem Packvorgang mündete».[13]

Das Informatiksystem Quelle bestand aus Bandanlagen, Kreisförderer und Paternoster, die bestimmten gesteuerten Abläufen gehorchen mussten.[14] «Hier muss der Architekt unkonventionelle Wege gehen», erkannte Neufert, «und sich auch mit […] Transportanlagen beschäftigen, um alles zu einem harmonischen Ganzen zu führen.» Er schlussfolgerte, dass «dazu eine weise Beschränkung auf nur wenige Baustoffe anzuraten [ist]».[15] Deshalb wurde der Quelle-Komplex als flexibler Stahlbetonbau mit einer Verkleidung aus Klinker errichtet, deren Verband fliessend wirkt (Abb. S. 21).

Auch die übereck geführten, mit Sichtbeton abgesetzten Fensterbänder lassen die horizontalen inneren Abläufe sichtbar werden. Neben eleganten Details beeindruckt der Bau vor allem als wirtschaftlich errichtete Masse.

Im seinem Schaffen blieb Neufert der Ökonomie von Funktion, Geometrie und Material verpflichtet. Selbst die Villen erscheinen wie Einfamilienhäuser, jedoch stets mit besonderem Bezug zur Landschaft. Ernst Neuferts Erfolg lag in seiner Person begründet, wie die Charakterisierung eines Hochschulkollegen ahnen lässt: «Neufert war ein Meister des Aufschneidens und der subtilen Verfälschung, in Letzterem Albert Speer nicht unähnlich, sagen wir doch einfach: Er war ein Architekt.»[16]


Anmerkungen:
[01] Vgl. Werner Durth, Deutsche Architekten. Biografische Verflechtungen 1900–1970, Braunschweig 1986, S. 378 f.
[02] Autor unbekannt, Bauwelt, 77. Jg., Heft 10, Berlin/Gütersloh 1986, S. 306.
[03] Durth, a. a. O., S. 115, S. 152 ff.
[04] Rudolf Wolters in einem Brief an Paul Bonatz, Dezember 1949, zitiert nach: Durth, a. a. O., S. 270.
[05] Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert, zusammengestellt von Walter Prigge, Frankfurt/New York 1999, o. S. [S. 188].
[06] Vgl. Kurt Junghanns, Das Haus für alle. Zur Geschichte der Vorfertigung in Deutschland, Berlin 1994, S. 76 ff.
[07] Siehe: Mensch und Raum. Darmstädter Gespräch. Herausgegeben im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1951 von Otto Bartning, Darmstadt 1952, S. 182 ff.
[08] Ebenda, S. 185.
[09] Fritz Gotthelf, Ernst Neufert. Ein Architekt unserer Zeit, Frankfurt und Berlin 1960, S. 19.
[10] Ernst Neufert: Industriebauten, herausgegeben von Joachim Peter Heymann-Berg, Renate Netter und Helmut Netter, Wiesbaden-Berlin/Hannover 1973, S. 72.
[11] Ebenda, S. 78.
[12] Ebenda, S. 8.
[13   14] Detlev Borchers, Versandhaus Quelle. Am Anfang war ein grosser Fluss. In: c’t Magazin für Computertechnik, 19.12.2009, zitiert nach www.heise.de/ct/artikel/ Versandhaus-Quelle-Am-Anfang-war-ein-grosser-Fluss-890227.html
[15] Ernst Neufert: Industriebauten, a. a. O., S. 8,
[16] Max Bächer in einem Brief vom 22.7.1998 an Gert Kähler, zitiert nach: Gert Kähler, Pragmatisch, Praktisch, Gut. Neufert und die Industriearchitektur nach 1945. In: Neufert, Normierte Baukunst im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 265.

TEC21, Fr., 2015.01.30

30. Januar 2015 Michael Kasiske

«Zwei selbstbewusste Menschen»

Jeder ein Ausdruck seiner Zeit: Obwohl Peter Neufert dieselbe Laufbahn einschlug wie sein Vater Ernst, stand er nicht in dessen Schatten. Was die beiden Architekten charakterisiert, verdeutlicht ein Gespräch mit Peter Neuferts Frau Marys und seiner Tochter Nicole Delmes.

Lilian Pfaff: Wie kam es zur Gründung des gemeinsamen Büros von Ernst Neufert und seinem Sohn Peter? Es bestand von 1953 bis 1955 – war das eine sogenannte Starthilfe des Vaters für den Sohn?
Marys Neufert: Das kann man so sagen.
Nicole Delmes: Es gibt Tagebücher von meinem Grossvater aus der Zeit, als er noch Peter in Darmstadt unterrichtet hat. Dort steht, dass Peter ein wilder Kerl gewesen sei, nur Flausen im Kopf hatte und nach Amerika wollte. Das heisst, Ernst Neufert wusste, wo es langging. Ich kann mir vorstellen, dass er ihn schützen oder ihm ins Leben helfen wollte.

Johannes Kister: Amerika war für beide wichtig.
Neufert: Das muss man aus der Zeit heraus verstehen. Damals nach Amerika zu gehen, direkt nach der Uni, war ein Abenteuer. Peter wollte etwas Eigenes auf die Beine stellen. Es war aber zehn Jahre nach Kriegsende, das darf man nicht vergessen. Man hatte von Amerika viel gehört, aber davon, was es bedeutete, dort als Architekt ein Büro aufzumachen, wusste man nicht viel. Ernst Neufert ist unter anderen Umständen nach Amerika gegangen. F. L. Wright hatte ihn nach Taliesin East in sein Haus eingeladen.

Kister: Man könnte sich vorstellen, dass Ernst Neufert seinen Sohn ermutigt hätte, nach Amerika zu gehen, denn für ihn selbst waren die amerikanischen Architekten eine wichtige Referenz. Aber es hört sich eher so an, dass er hierbleiben sollte, um zu lernen, was ein richtiger Architekt ist.
Delmes: Es ist erstaunlich, denn Peter hätte sich in Amerika mit seiner Architektur ausleben können, mit den besten Referenzen durch seinen Vater. Ernst war wohl froh, dass sein Sohn nicht nach Amerika ging. Denn er selber wollte sich 1936 auf den Weg in die Staaten machen, als die «Bauentwurfslehre» ein so grosser Erfolg wurde. Das kann aber auch eine Geschichte sein, die er selbst erzählt hat, um seinen Entschluss hierzubleiben zu rechtfertigen.

Pfaff: Haben sich Vater und Sohn über ihre Architektur ausgetauscht?
Neufert: Architekten schauen sich Projekte der anderen an. Sie haben gegenseitig ihre Bauten gesehen, aber nicht alle. Beim Haus X1 hat sich Ernst Neufert immer mal wieder in den Garten gestellt und gesagt, o. k., so kann man das auch machen … so eine Aussage seinerseits bedeutete viel.

Pfaff: Es gibt deutliche Differenzen in der architektonischen Auffassung.
Neufert: Das Selbstbewusstsein von Ernst Neufert hat das gut verkraftet. Peter hatte sich schon immer von seinem alten Herrn abgegrenzt, sobald er aus Darmstadt weggegangen war, war die Distanz hergestellt. Deswegen ist er auch als erste Abnabelung vom Vater ins Büro Peter Friedrich Schneider in Köln gegangen.

Kister: Woran würden Sie das noch festmachen?
Neufert: Ich glaube nicht, dass er es anders machen wollte. Er hatte seine Ideen, die er durch­setzte – aber nicht gegen den Vater, das lag ihm nicht. Er konnte auch zahlreiche Einfamilienhäuser realisieren, so wie er gern wollte. Da brauchte es keinen Kampf mit dem Vater, der eigentlich auch keine Kämpfernatur war. Sie waren eigenständige, selbstbewusste Menschen.

Pfaff: Peter Neufert wurde als Fliegerarchitekt bezeich­net, der über seine Baustellen fliegt, und als jemand, der sich in öffentliche Diskussionen einschaltete.
Neufert: Das ist etwas übertrieben. Das mit dem Flieger macht natürlich eine schöne Überschrift in der Zeitung, dass die Bauherren alles aus der Luft serviert bekommen, aber es war ein winziges Flugzeug, und nirgendwo steht, dass Ernst Neufert auch schon geflogen ist.

Pfaff: Peter feierte gern Feste. Wer war eingeladen?
Neufert: Das war unterschiedlich. Es gab Cocktails nur für Bauherren, die zusammenpassen mussten, denn man konnte sie nicht willkürlich mischen. Es war immer viel los, alle zwei Wochen gab es eine Cocktailparty. Und dann gab es Feste mit einem Motto und Dekoration, zu denen man kostümiert kam.

Kister: Ernst Neufert war vom Bauhaus-Gedanken beeinflusst, bei dem die Technik als Teil der sozialen Verantwortung galt. War das bei seinem Sohn auch Teil der Zukunftsvision? Die Faszination des Bewegens scheint für ihn wichtig gewesen zu sein.
Neufert: Viele der Materialien, die dies ermöglichten, wurden damals erst erfunden oder erstmals im Bauwesen eingesetzt, wie z. B. Kunststoff. Er hat sich dafür interessiert und damit experimentiert. Aber ganze Wände aus Kunststoff gab es noch nicht, das war alles in den Anfangsstadien.
Delmes: Wie die Verkleidung einer ganzen Fassade durch den Künstler Otto Piene an der Wormland-Fassade in der Hohen Strasse in Köln (Abb. S. 22).

Pfaff: Wie kam es dazu?
Neufert: Peter hatte ihn über die Künstlerin Mary Bauermeister kennengelernt. Und als Piene anmerkte, dass man seine Kunst auch als Fassade machen könnte, hat Peter ihn mit dem Bauherrn bekannt gemacht. Das Kunstwerk war mehr als nur eine Fassade, es war kinetisch – es drehte sich und war beleuchtet.

Kister: Wäre Peter gern Künstler geworden?
Delmes: Nein, er war mehr am Austausch interessiert und wie weit man die Dinge noch ausreizen könne, als dass er sich allein damit im Atelier beschäftigen wollte. Es gab die Ausstellung «Der Geist der Zeit» in unserem Haus mit verschiedenen Künstlern, wie Arman, Max Bill, Heinz Mack, Almir Mavignier, Arnulf Rainer, Dieter Rot, Daniel Spoerri und anderen.
Neufert: Ich erinnere mich, Mary Bauermeister hat die Ausstellung kuratiert, und sie kannte all die Künstler. Sie wohnte in der Lintgasse, in einem Wohnhaus, das Peter entworfen hatte. Da man nicht sicher war, ob die Decke im Obergeschoss statisch trägt, haben wir angeboten, die Ausstellung bei uns zu machen. Moderne Kunst war noch gewöhnungs­bedürftig. Otto Piene war gefragt worden, was denn moderne Kunst sei. Er setzte sich an der Eröffnung zehn Minuten hin und sagte gar nichts. Danach meinte er: Sehen Sie, was Sie jetzt gedacht haben, das ist moderne Kunst.

Pfaff: Peters eigenes Haus X1 ist ein Paradebeispiel für seine künstlerische architektonische Haltung. Die Fassade erinnert an Malewitschs Kuben oder eine dreidimensionale Umsetzung eines Vasarely-Bilds.
Neufert: Hinten den einzelnen Kästen ver­bergen sich Schränke, Heizungen, Lüftungen und Müll­eimer. Alles funktionale Einheiten, die sich an der Fassade als Ausstülpungen ablesen lassen.

Kister: Peter scheint einen persönlichen Zugang zu den Projekten gehabt zu haben, ohne theoretischen Überbau.
Delmes: Mein Vater war nicht jemand, der ein Werk schaffen oder eine künstlerische Handschrift etablieren wollte. Er interessierte sich für das Projekt, und wenn es gebaut war, war es nicht mehr der Rede wert, sondern es musste etwas Neues kommen. Ich kann mich erinnern, wie er sich jahrelang aufgerieben hat für das Palmenhaus. Er hatte die Idee, Wohnen und Geschäfte in einem Mini-Gesellschaftskonzept zu vereinen. Das wurde nicht genehmigt wegen eines Stockwerks. Für diese Idee hat er jeden Meter gekämpft und dann aufgeben müssen. Es wurde so verkleinert, dass der Bau keine Kraft mehr ausstrahlte. Unter dieser Beschränkung hat er sehr gelitten.


[Interview von Lilian Pfaff, Korrespondentin TEC21, und Johannes Kister, Professor an der Hochschule Dessau am Bauhaus, der die Bauentwurfslehre für die Neufert-Stiftung aktualisiert, mit Peter Neuferts Frau Marys Neufert, und Tochter Nicole Delmes am 2. August 2013 im Haus X1 in Köln.]

TEC21, Fr., 2015.01.30

30. Januar 2015 Lilian Pfaff, Johannes Kister

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