Editorial

Denkmäler sind Zeichen der Erinnerung. Als Teil des öffentlichen Raums sind uns diese Monumente in Form von Standbildern, Pärken oder Stelen vertraut. Aber sind Stätten und Statuen noch zeitgemäss, können sie sich ihre Sichtbarkeit erhalten oder sich gar mit neuer Bedeutung aufladen? Und wenn ja – wie?

In diesem Heft stellen wir drei Gedenkstätten vor, die einen unterschiedlichen Umgang mit dem Thema pflegen, deren Ursprung aber ähnlich ist: Gewalt, Willkür, Terror – ob legitimiert durch den mittelalterlichen «Hexenhammer», der ab 1486 zu Europas Hexenverfolgungen führte, oder durch eine islamische Fatwa, die zum Mord an allen Ungläubigen aufruft, wie bei den Attentaten vom 11. September 2001.

Den Opfern ein Andenken zu wahren, aber auch künftige Generationen durch Mahnung vor ­solchen Verbrechen zu schützen, das ist die Aufgabe von Denkmälern und Mahnmalen. Trotz den heutigen digitalen Möglichkeiten des Erinnerns ist der Trend zur analogen Gedenk­stätte ungebrochen. Die Erkenntnis liegt nah, dass es dabei nicht ausschliesslich um die ­hehre Intention des mahnenden Erinnerns geht, ­sondern auch um cleveres Standortmarketing und das Spielen auf der Bewusstseinsklaviatur – der in Beton ge­gossene Imperativ des Gedenkens lässt sich gut verkaufen.

Wie schwer es dagegen Denkmäler haben, die an ein positives Ereignis erinnern, zeigen die seit Jahren andauernden Kontroversen um das geplante Einheitsdenkmal in Berlin. Der Erinnerung einen Raum geben – die Funktion eines Denkmals ist einfach, seine Form vielschichtig.

Tina Cieslik

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Jetzt hoppeln sie wieder

10 PANORAMA
Vier Bücher über Architektur

12 VITRINE
In neuem Licht

13 MARKUS FRIEDLI WIRD NEUER LEITER NORMEN
Architektur ist produktivste Disziplin | Überfälliger Systemwechsel

18 VERANSTALTUNGEN

18 WIE STEINE IM FLUSS DER ZEIT
Ákos Moravánszky
Warum gibt es Denkmäler und Mahnmale? Sind sie heute noch relevant?

21 EISKALTE LINIE UND FEUERPUNKT
Klaus Englert
In Vardø erinnert das Steilneset-Mahnmal an die Hexenprozesse der Vergangenheit – und soll die Touristen der Gegenwart anlocken.

26 ÜBER DAS TAL HINAUS
Tina Cieslik
Kein Standortmarketing, sondern globales Gedenken: das Glarner Mahnmal für Anna Göldi.

28 SICHTBARER VERLUST
Nathalie Cajacob
Multimedial präsentiert: das National September 11 Memorial auf Ground Zero.

AUSKLANG
31 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Wie Steine im Fluss der Zeit

Wer das Wort Denkmal hört, sieht meist erst einmal eine Reiterstatue vor dem inneren Auge. Tatsächlich gibt es aber ganz unterschiedliche Denkmäler und Mahnmale – auch heute noch. Was sind ihre Aufgaben, und sind sie überhaupt noch zeitgemäss?

Mahnmale und Denkmäler gehören zur selben Familie der Monumente; die zwei Begriffe werden oft als Synonyme verwendet, obwohl nicht jedes Denkmal ein Mahnmal ist. Wir bezeichnen auch Bauten der Vergangenheit als Denkmäler, die ursprünglich nicht mit der Absicht der Erinnerung entstanden sind. Das Wort Monument hat seinen Ursprung im lateinischen Verb monere: Es bedeutet mahnen, erinnern und hat mit der schieren ­Grösse, wie wir sie mit Monumentalität assoziieren, zunächst nichts zu tun.

Die wohl scharfsinnigste Analyse der verschiedenen Denkmalkategorien stammt von Alois Riegl (1858–1905). In seiner Studie «Der moderne Denkmalkultus» (1903) unterschied der Wiener Kunsthistoriker zwischen «gewollten Denkmalen», also solchen, die in erinnernder Absicht aufgestellt wurden (den Mahnmalen), und den «historischen Denkmalen», die für einen anderen Zweck errichtet worden sind und erst mit der Zeit einen kommemorativen Wert erlangten – wie z. B. berühmte Bauten oder Kunstwerke.[1] In dieser Studie beschrieb Riegl ein hierarchisches System von verschiedenen Denkmalwerten, die er in zwei grosse, zueinander in dialektischem Verhältnis stehenden Gruppen einordnete. Die Erinnerungswerte schlagen eine Brücke zur Vergangenheit, während die Gegenwartswerte im Heute wurzeln. Ein altes Bauernhaus wird z. B. vor ­allem wegen seines Erinnerungswerts als historisches Dokument geschützt. Wir schätzen allerdings nicht weniger die unmittelbare, unreflektierte, sinnliche Wirkung eines neuen Mahnmals wie die von Peter Zumthors Hexenmonument im norwegischen Vardø (vgl. «Eiskalte Linie und Feuerpunkt», S. 21).

Riegl ging aber noch weiter und definierte verschiedene, einander oft gegenseitig ausschliessende Kategorien innerhalb dieser Gruppen. Die Kategorie der Erinnerungswerte besteht aus dem Alterswert ­(ver­bunden mit der Wertschätzung der direkt wahrnehmbaren Zeichen der Zeit), dem historischen Wert (das Denkmal als Dokument der Geschichte) und dem gewollten Erinnerungswert, verbunden mit seiner ­kommemorativen Funktion. Im Fall der Mahnmale in Vardø und Glarus ist dies die Erinnerung an die Hexenprozesse im 17. und im 18. Jahrhundert. Das National September 11 Memorial in New York will an die Opfer der Anschläge von 9/11 erinnern (vgl. «Sichtbarer Verlust», S. 28).

Gefühl als Schlüssel zur Vergangenheit

Dauerhaftigkeit ist dabei wohl die wichtigste Eigenschaft des Mahnmals als «gewolltes Denkmal». Im Unterschied zum Alterswert ist der Zweck des Mahnmals, «einen Moment gewissermassen niemals zur Vergangenheit werden zu lassen, im Bewusstsein der Nachlebenden stets gegenwärtig und lebendig zu erhalten».[2] Die materielle oder kulturelle Dauerhaftigkeit des gewollten Denkmals verlangt ständige Pflege, um der Nach­welt unversehrt weitergegeben werden zu können.

Riegl diagnostizierte allerdings ein neues, seiner Auffassung nach «modernes» Interesse an Stimmung, die er mit den Spuren der Zeit am Denkmal verbindet und die gegen die Forderung nach Dauerhaftigkeit wirkt. Die Massen können «niemals mit Verstandesargumenten, sondern nur mit dem Appell an das Gefühl und dessen Bedürfnisse überzeugt und gewonnen werden», schrieb er.[3] Das Gefühl war für ihn nichts Primitives, er verstand es als starkes, identitätsstiftendes Element der Kultur.

Das Ziel der modernen Kunst sei, Stimmung zu erwecken, was sich etwa im Kult des Natur-Erhabenen zeige, so in der seit Albrecht von Haller praktizierten Verklärung der Alpen. Man kann ähnlich vom Erhabenen des Denkmals sprechen: Es geht nicht um Harmonie, die man mit dem Klassisch-Schönen assoziiert, sondern um das Vergängliche (und deshalb Naturnahe), Fragmentierte und Ruinenhafte.[4] Die andachtsvolle Stimmung, die Riegl dem alternden Denkmal zuschreibt, ist eine Art Reli­gionsersatz: «Dem Walten der Natur, auch nach seiner zerstörenden und auflösenden Seite, die als unablässige Erneuerung des Lebens aufgefasst wird, erscheint das gleiche Recht eingeräumt wie dem schaffenden Walten des Menschen.»[5] Es ist kein Zufall, dass Riegls Text als Beitrag zur Ende des 19. Jahrhunderts heftig geführten Debatte über die Restaurierung oder Konservierung der Ruine des Heidelberger Schlosses geschrieben wurde.[6]

Seltsam unsichtbar

Im Gegensatz zum Interesse für das historische Denkmal als Objekt eines modernen Kults der Stimmung steht das Desinteresse am gewollten Denkmal, am Mahnmal als politischem Monument. Robert Musil (1880–1942) behauptet in seinem kurzen Essay «Denkmale», das Auffallendste an Monumenten sei, dass man sie nicht bemerke: «Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt Wassertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben.»[7]

Musil hatte das Denkmal seiner Zeit vor Augen, das symbolhaft und emotional wirken wollte. Die ­gros­sen Helden auf ihren Sockeln sollen in der Stadt als Zeichen der kollektiven Erinnerung wirken, aber gerade das Pathos der Inszenierung erschien schon damals hohl. «Da man ihnen im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie, gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens», schrieb er.[8]

Während also Riegl dem historischen Denkmal, das die Spuren der Zeit trägt und sich im Zustand der Auflösung befindet, aufgrund der Befindlichkeit und des Einfühlungsvermögens des Publikums eine besondere Aktualität zuschreibt, spricht Musil dem gewollten Denkmal jegliche Relevanz ab. Das Mahnmal könne in der modernen Stadt des Flaneurs und der Zerstreuung seine «mahnende», erinnernde Funktion nicht mehr erfüllen.

Trotzdem: Mahnmale brauchen Aufmerksamkeit, auch weil sie zentrale Stellen im städtischen Raum besetzen, die dann für andere Funktionen nicht zur Verfügung stehen. Die Monumentalität des Mahnmals hat mit dieser Position zu tun, mit der Fähigkeit, seine Umgebung zu strukturieren. Die Rhythmen des Alltags und die Vergangenheit werden durch das Denkmal miteinander verflochten. Zeit wird durch Bewegung oder Wechsel im Verhältnis zu einem Fixpunkt wahrgenommen. Mahnmale werden oft als solche Fixpunkte verstanden, auch wegen ihrer Dauerhaftigkeit und Materialität – wie Steine im Flussbett, die die Strömung des Wassers sichtbar machen.

Mobile Monumente

Es gibt allerdings Mahnmale, deren Verbindung zur Macht so absolut ist, dass sie den Alltag ganz ausschliessen. Andere wiederum – wie der Petersplatz in Rom oder die Mall in Washington – dienen nicht nur den offiziellen Ritualen der kollektiven Erinnerung wie Kranzniederlegungen, sondern bieten dem Theater des Alltags eine Bühne. Dort können sich Touristen, Liebespaare und Spaziergänger in einer ganz beson­deren Weise von der monumentalen Umgebung inszeniert fühlen. Die Millionen von Selfies, die vor den Denkmälern in Venedig gemacht werden, zeugen vor der immer noch existierenden Anziehungskraft der Monumente, als Möglichkeit, historische Zeit und Eigenzeit
zu verbinden.

Die von Musil beschriebene gesellschaftliche Unsichtbarkeit des stereotypischen Standbilds des 19. Jahrhunderts, aber auch des nicht figuralen modernen Denkmals führte zur Suche nach Gegenstrategien. Eine solche Strategie war die im Sommer 1999 in Zürich ­inszenierte Aktion «Transit 1999». Die Standbilder von Escher, Zwingli, Pestalozzi und Waldmann wurden von ihren Sockeln gehoben und ins Industriequartier verschoben. Die zum Teil heftigen öffentlichen Re­aktionen, die sich in Leserbriefen an die Tagespresse äus­serten, lieferten den Beweis dafür, dass Denkmäler doch ­wieder sichtbar gemacht werden können – auch wenn der Preis dafür paradoxerweise ihr temporäres Verschwinden ist.[9]

Besonders deutlich wurde dies nach der politischen Wende in Osteuropa. Während der öffentlichen Debatten um 1990 sind in Budapest die Monumente als Objekte spontaner oder inszenierter Aktionen der Zerstörung, Verschiebung oder kritischer Neuinszenierung wieder sichtbar geworden. In dem Augenblick, als den Bewohnern der Stadt bewusst wurde, dass sie die Geschichte aktiv gestalten, waren die Monumente plötzlich wieder da.[10]

Der postmoderne Denkmalkult

Die gefühlvolle Vereinigung der Massen mit dem ­Alterswert, dem, was Riegl als «Denkmalkultus» be­zeichnete, hat nicht stattgefunden. Das historische Denkmal bleibt im Gegensatz zu Riegls Vermutung vor allem jenen zugänglich, die etwas über die Vergangenheit in Erfahrung bringen wollen. Es sind heute die Mahn­male, die «gewollten» Denkmäler, die nicht mit «Verstandesargumenten», sondern mit atmosphärischen Wirkungen operieren.

Riegls Feststellung über die Stimmung als Inhalt des modernen Denkmals scheint bis heute ihre Gültigkeit zu behalten. Allerdings sucht die Öffent­lichkeit diese Stimmung nicht im zum Gefühl der ­Vergänglichkeit gebundenen Alterswert, sondern im Gegenwartswert des neuen Kunstwerks. Diese Wende hat womöglich mit der inzwischen vollzogenen Pri­vatisierung der Erinnerung zu tun. Wir haben heute zahlreiche neue technische Möglichkeiten, um unser Verhältnis zur Zeit und zur Vergangenheit zu artikulieren – denken wir nur an die Millionen von Fotos und Videos, die jeden Tag gefertigt und zum Teil im Internet «veröffentlicht» werden. Das Problem ist heute nicht die Speicherung unserer Vergangenheit, sondern vielmehr die Schwierigkeit, unsere digitalen Spuren zu löschen.

Die Gesellschaft braucht das Mahnmal nicht mehr als Erinnerungsspeicher; die Rolle des Standortmarketings, das nach einprägsamen «Landmarks» sucht, ist viel grösser – wie auch (teilweise) im Fall der in diesem Heft vorgestellten Monumente. Die als Mahnmale errichteten und als Gesamtkunstwerke konzipierten Bauten ziehen zwar viele Besucher an. Wie die aura­tischen, immersiven Mahnmale zeigen, suchen diese aber nicht die kollektive Erinnerung, sondern das Atmosphärische als Gegenwartswert.


Anmerkungen:
[01] Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus: Sein Wesen und seine Entstehung. Wien und Leipzig 1903, neu abgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze. Augsburg, Wien 1929, S. 144–193
[02] Ebd., S. 172
[03] Riegl 1929 (wie Anm. 1), S. 165
[04] Vgl. Alois Riegl, «Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst» (1899), in Riegl 1929 (Anm. 1), S. 28–39
[05] Riegl, op. cit. (Anm. 1), S. 162
[06] Die Diskussion über die Aufgaben der Denkmal­pflege – Wiederherstellung oder Erhaltung – im Fall der Schlossruine ging als «Heidelberger Schlossstreit» in die Geschichte ein.
[07] Musil, Denkmale, in ders., Nachlass zu Lebzeiten.Reinbek bei Hamburg 1962, S. 61f.
[08] Ebd., S. 63
[09] Vgl. auch: Jan Morgenthaler, Eva Schumacher (Hrsg.), Ein flüchtiger Sommer in Zürich. Transit 1999. Zürich 1999
[10] Ákos Moravánszky, «The Visibility of Monuments», in: Harvard Design Review 13, 2001, S. 44–51

TEC21, So., 2014.12.14

14. Dezember 2014 Ákos Moravánszky

Eiskalte Linie und Feuerpunkt

Das Steilneset-Mahnmal des Architekten Peter Zumthor und der Künstlerin Louise Bourgeois im norwegischen Vardø erinnert an die Hexenprozesse in der Finnmark. Die Installation im Gedenken an die Vergangenheit soll auch helfen, die Zukunft der Stadt zu sichern.

Siri Knudsdatter wurde am 11. Januar 1621 im nordnorwegischen Vardø der Hexerei angeklagt. Die Gerichtsakten verzeichnen, die Beschuldigte «habe Leute verzaubert, die dann krank wurden und starben». Da die Frau leugnete, musste sie sich der Wasserprobe stellen: An Händen und Füssen gefesselt wurde sie in die eiskalten Fluten der Barentssee geworfen. Die Akten vermerken: «Wurde der Wasserprobe unterzogen und schwamm wie ein Korken.» Die Wasserprobe zögerte ihren Tod lediglich hinaus – wäre Siri Knudsdatter untergegangen, hätte der Richter das als Zeichen ihrer Unschuld gewertet. Dass die Angeklagte obenauf schwamm, sah er als Beweis ihrer Schuld an: Das reine Element des Wassers habe den vom Teufel besessenen Körper nicht aufnehmen wollen. So wurde sie öffentlich verbrannt. Zwölf weitere Frauen mussten sich im Lauf des Jahres der Wasserprobe unterziehen. Auch sie gingen nicht unter. Auch sie ereilte der Tod auf dem Scheiterhaufen.

Fatale Willfährigkeit

Die an der Universität Tromsø lehrende Historikerin Liv Helene Willumsen erforscht seit Jahren die Hexenprozesse in der Finnmark des 17. Jahrhunderts, einer Region von der Grösse der Schweiz. Wie Willumsen herausfand, war die Hinrichtungsserie von 1621 darauf zurückzuführen, dass John Cunningham, der kurz zuvor zum Festungskommandanten von Vardøhus berufen wurde, unnachgiebige Strenge und moralische Integrität gegenüber dem dänischen König beweisen wollte. Cunningham war zuständig für den Verwaltungsbezirk Finnmark, wo lediglich 0.8 % der norwegischen Bevölkerung lebten, aber 31 % von Norwegens Hexenprozessen stattfanden.[1] Allein in Vardø, einem kleinen Dorf mit damals kaum mehr als 300 Einwohnern, wurden ­zwischen 1601 und 1692 91 Personen wegen Hexerei hingerichtet. Die Historikerin fand heraus, dass die Festungskommandanten, die die Macht in Vardø innehatten und lediglich dem König in Kopenhagen unterstellt waren, vornehmlich die weibliche Bevölkerung im Visier hatten: Neben 14 Männern wurden 77 Frauen der Hexerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Unter ihnen waren besonders die Zugezogenen der indigenen Sámi-Bevölkerung der Kommandantenwillkür ausgeliefert.

Ansichten der Stille

Willumsen brachte ihr Wissen in ein aussergewöhn­liches Projekt ein: Sie beriet den Architekten Peter ­Zumthor und die Künstlerin Louise Bourgeois, die beide am nordöstlichen Ende der 2100 km langen Norwegischen Landschaftsrouten[2], dort, wo der Varanger-Fjord an russisches Territorium grenzt, eine imposante Installation errichteten. Im Rahmen ihres «Detour»-Programms möchte die norwegische Strassenverwaltung, die Attraktivität bestimmter Standorte entlang der Landschaftsrouten erhöhen.

Deswegen engagierte sie bislang rund fünfzig Architekten, Landschafts­architekten, Designer und Künstler, möglichst ori­ginelle Beiträge für die norwegische Küstenlandschaft zu liefern. Die Projekte sollen Provinzorte zu Aus­flugszielen aufwerten. Bislang kamen bis auf wenige Ausnahmen junge norwegische Büros zum Zug. Für den nördlichsten Punkt der Route in Vardø wollte man aber zwei international bekannte Grössen einladen. Die Wahl fiel auf den Architekten Peter Zumthor und die hochbetagte französisch-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois. Sie realisierten ein künstlerisch gestaltetes Denkmal am Steilneset, dem Hinrichtungsplatz aus dem 17. Jahrhundert, zum Gedenken an die hier Verstorbenen.

Mythischer Ort

Dabei ist nicht nur ein Mahnmal entstanden, das schlicht und würdevoll der Opfer gedenkt. Anders als Tausende anderer Denkmäler im städtischen Raum ist Zumthors und Bourgeois’ Mahnmal ein Stück Land-Art, das sich wie selbstverständlich in die ­atemberaubende Naturkulisse einfügt – als sei es mit diesem Ort verwachsen. Zugleich ist ein Gedenkort voller künstlerischer Kraft entstanden. Es überrascht daher nicht, dass der im Juni 2011 eröffneten Gedenkstätte zwei ­Jahre später der North Norwegian Architecture Prize zuerkannt wurde.

Nachdem Bourgeois und Zumthor 2006 mit dem Bau beauftragt worden waren, einigten sie sich auf eine archaische Formensprache. «Zumthor und ich haben Erde, Wasser, Feuer und Licht genutzt, um Ansichten der Stille zu schaffen», sagte Bourgeois wenig später.[3] Zumthor, der damals mit der zum Himmel geöffneten Bruder-Klaus-Kapelle auf den Feldern des Eifeldorfs Mechernich-Wachendorf beschäftigt war, setzte sich in der norwegischen Arktis ebenfalls intensiv mit der Umgebung auseinander. Eine kleine Kapelle mit einem umfriedeten Gottesacker findet sich auch in Vardø. Wer an diesem besinnlichen Ort vorbeikommt, sieht vor sich das Mahnmal wie eine riesige, fragile Holzskulptur auftauchen, dahinter die Meerenge der Barentssee und am Horizont den Domen, den Hexenberg. Unweit von Steilneset ragt die Vardøhus-Festung aus dem frühen 18. Jahrhundert empor, Norwegens als uneinnehmbar geltendes Bollwerk gegen das russische Reich.

Ein Licht für jedes Opfer

Die 120 m lange begehbare Holzkonstruktion des im Juni 2011 fertiggestellten Denkmals erinnert an die Trockenfischanlagen, die heute in den Aussenbezirken von Vardø ungenutzt vor sich hin rotten und weitgehend vergessen sind. Zumthor interessierte sich für diese Konstruktionsweise, die man auch im einzigem Hotel der Stadt auf zeitgenössischen Fotos entdecken kann. Der so entstandene, einfach anmutende Bau ist der ­Tradition der Finnmark-Fischer nachempfunden und trotzt mit minimalem Aufwand den heftigen Winden am Ufer der Barentssee.

Schräg nach aussen greifende Stützen, die jeweils mit einer einfachen Schraube mit den 60 Holzrahmen verbunden sind, stabilisieren die Konstruktion. Darin eingespannt ist der über dem Boden schwebende, schlauchförmige Ausstellungsgang. Er besteht aus einem mit Teflon beschichteten, innen schwarzen, aussen hellen Fiberglastextil, ein Element geht jeweils über drei Felder. Die Textilkonstruktion wurde vorgefertigt, die 17 Einzelteile sowie das Anfangs- und Endstück wurden auf der Baustelle zusammengefügt. Textil und Befestigung erinnern an Segeltuch und Verankerungen aus dem Schiffsbau. Zwei Rampen führen ins Innere.

Zumthor war es wichtig, dass die Passage bei Wind und Wetter, bei Tag und Nacht betretbar ist. Wer den endlos anmutenden, nur rund 1.50 m breiten Gang entlanggeht, vorbei an 91 Tafeln aus schwarzer Seide, fühlt sich niemals allein: Wind und Meeresrauschen sind ständige Begleiter. Kurze biografische Texte künden in weisser Schrift von den Prozessakten, die Inschriften stammen von der Historikerin Willumsen.

Entlang der schwarzen Wände fügte Zumthor 91 in der Höhe variierende Gucklöcher ein, schmale, in das Textil gespannte Metallvitrinen, beleuchtet von 91 Glühbirnen – eine Öffnung für jedes Opfer. Sie geben den Blick auf Dorf und Meer frei und verweisen auf die nordische Tradition, ein Licht im Wohnzimmerfenster aufzustellen, um den dunklen Nächten zu trotzen. Die sinnliche Raumgestaltung, in der jedes Detail den konzisen Gesamtentwurf verrät, steht im Dienst der Opfer, derer das Mahnmal gedenken will.

Verstörende Inszenierung

Während Zumthors Denkmal zur meditativen Ver­senkung einlädt, liefert Bourgeois’ Installation «The Damned, the Possessed and the Beloved» ein starkes Bild zu den Hexenprozessen. Etwas landeinwärts errichtete Zumthor für die Installation einen kubischen, knapp 10 m auf 10 m grossen Pavillon aus 17 Scheiben aus getöntem Rauchglas. Nach dem aufwühlenden Gang durch die Ausstellung erwartet einen unverhofft der dramatische Höhepunkt: Zentrum des Pavillons ist ein stählerner Stuhl, durch dessen Sitzfläche fünf Stichflammen züngeln. Ein schmaler, konkaver Betonring umschliesst den Feuerstuhl, der Gedanke an die sprühenden Feuermassen bei einem Vulkanausbruch liegt nah. Auch theatralische Effekte kommen zum Einsatz: Sieben ovale, um den Stuhl herum befestigte Spiegel verzerren das Konterfei des Besuchers, erinnern an die schmerzverzerrten Gesichter der Opfer.

Die Opfer der Neuzeit

In Vardø gibt es niemanden, der über Steilneset, die Folterungen, die mittelalterliche Festung, die Menta­lität der Kommandanten und die lange Tradition der «Vardøhus Festning» mehr erzählen kann als Elisabeth Eikeland, Majorin der norwegischen Armee und erste weibliche Festungskommandantin nach 44 Vorgängern. So berichtet sie, dass die Festung 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. Nachdem zwei Partisanen die norwegische Fahne gehisst hatten, ordnete Reichskommissar Josef Terboven, der eigens nach Vardø gereist war, die Erschiessung der beiden Norweger an. Vom Terror, den die Deutschen in Vardø anrichteten, ist auf den Fotos eines Wehrmachtssoldaten, die im kleinen Vardøhus-Museum ausgestellt sind, allerdings nichts zu sehen.

Den Menschen in Vardø ist diese Schreckenszeit weit entrückt. Lieber machen sie heute Werbung für das rund 10 Mio. Euro teure Steilneset Memorial. Anfangs mit wenig Erfolg – den Touristen der Hurtigruten-Kreuzfahrtschiffe, die für ganze zwei Stunden am ­Hafen anlegen, bleibt für eine Besichtigung keine Zeit. Aber das Mahnmal, das vor drei Jahren eröffnete, hat andere städtische Projekte gefördert. Beispielweise ist jetzt am Ende des Hafenbeckens das neue Rathaus fertiggestellt, dem auch ein Kulturzentrum angegliedert ist. Und seit zwei Jahren findet in Ultima Thule zudem jährlich das «Komafest» statt, das sich auch «Urban Art Festival Vardø» nennt und zu dem Künstler sogar aus Brasilien und den Vereinigten Staaten anreisen. Nach vielen Jahren des Niedergangs gibt es also Hoffnung, selbst im kleinen arktischen Vardø.


Anmerkungen:
[01] Liv Helene Willumsen, The Witchcraft Trials in Finnmark Northern Norway, Leikanger 2010
[02] Die Landschaftsrouten sollen die norwegische Natur erlebbar machen. Bis 2023 sollen 250 Rastplätze und Aussichtspunkte mit moderner Architektur und Kunst entlang von 18 Streckenabschnitten realisiert sein. www.nasjonaleturistveger.no/de
[03] Sebastian Frenzel, «Teufelswerk», in: Monopol – Zeitschrift für Kunst und Leben, 10.07.2011
[04] www.archdaily.com

TEC21, So., 2014.12.14

14. Dezember 2014 Klaus Englert

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