Editorial

Die Ausstellungsbesucher bei gedimmtem Licht und schlechter Luft durch langatmige Saaltexte und fade Raumkonzepte zu ermüden, kann freilich nicht das Ziel musealer Präsentationen sein. Vielmehr bringen neue didaktische Konzepte, eine Fülle von Medien und nicht zuletzt der Wunsch nach Ansprache auf emotionaler Ebene immer wieder neue und auch durchaus einleuchtende Darreichungsformen hervor und verlangen nach entsprechend gestalteten Räumen. Von der Firmenpräsentation bis hin zum klassischen Kunstgenuss sollen individuelle Ausstellungskonzepte Erlebnisse möglich machen, die im Gedächtnis haften bleiben. Dazu steht die gesamte Gestaltungspalette zur Verfügung. Sie reicht von der Lichtinszenierung, wie z. B. in den Höllgrotten im Schweizer Kanton Zug, wo die Gesteinsformationen mit LED-Spots in Tageslichtqualität punktgenau und abwechselnd hervorgehoben werden (s. Bild links), bis hin zur Rundumerfahrung mit Klang, Film und Interaktion. Aber auch der Raum selbst kann Bestandteil des Präsentationskonzepts werden und die Exponate in neue Sinnzusammenhänge stellen. Mit beispielhaften Projekten fächern wir in diesem Heft die ganze Bandbreite für Sie auf. | Achim Geissinger

Wunderkammern der Armut

(SUBTITLE) Dauerausstellung »Die Schwabenkinder« in Wolfegg

Wie macht man eine Ausstellung (fast) ohne Exponate? Das grenzübergreifende Geschichtsprojekt »Die Schwabenkinder« erinnert an die alljährlichen Armutswanderungen aus den Alpentälern ins reiche Oberschwaben. Weil arme Leute kaum etwas Museales hinterlassen, suchten die Historiker nach anderen Spuren, um von deren Schicksal zu erzählen. Herausgekommen ist eine gerade in ihrer Schlichtheit anrührende Inszenierung, die unlängst den renommierten CommClub Award bekam – für »crossmediales Storytelling«.

Am Anfang der Schau steht ein Paar Stiefel, alt und abgenutzt. Die Reise in die Fremde, das »Schwabengehen«, so die Botschaft, war eine Qual. Die Kinder aus Tirol, Vorarlberg oder Graubünden legten enorme Strecken zurück, die nun im Rahmen des EU-Programms »Interreg« rekonstruiert und als touristische Fernwanderwege ausgeschildert wurden. Was die heutige Erlebnisgesellschaft schätzt, waren damals jedoch Trecks von Elend und Ausbeutung, die zahlreiche Opfer forderten. Kaum acht Jahre alt, wurden jene Bergbauernkinder, die der Hof nicht ernähren konnte, im zeitigen Frühjahr über die verschneiten Bergpässe geschleust, um auf »Kindermärkte« in Friedrichshafen oder Ravensburg zu gelangen. So deckten die Großbauern über Jahrhunderte ihren Bedarf an billigen Knechten und Mägden, die keinerlei Rechte (etwa auf Schulbildung) kannten. Erst 1921 machte Württemberg dieser schon lange als Sklaverei angeprangerten Praxis ein Ende, indem es die Schulpflicht auch für Ausländer gelten ließ. Dass die beteiligten Regionen dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte gemeinsam aufarbeiteten, war überfällig, aber nur mühsam zu konkretisieren: Erst ein Puzzle aus alten Dorfchroniken und letzten Zeitzeugenberichten ließ Umfang und Ausprägung des Schwabengehens deutlich werden. Neben der Wolfegger Dauerausstellung gibt es einige weitere Museen, die sich dem Thema widmen (siehe www.schwabenkinder.eu).

Mit dem iPod ins Elend

Nur wenige Exponate, wie die Stiefel, ein Gemälde eines Marktplatzes oder ein Bündel, das die Kinder mitschleppten, verankern die Wolfegger Schau in der »objektiven« Wirklichkeit. Der Rest sind von den historischen Forschungen unterfütterte, aber letztlich fiktive Schicksale von acht Kindern, die den Besuchern individuell über Audioguides vermittelt werden. Hierfür stehen 50 iPods zur Verfügung, die an den vier Stationen der Ausstellung aktiviert werden. Kinder aus den betreffenden Herkunftsregionen haben die Berichte gesprochen, sodass ein authentischer Eindruck entsteht.

Die vier Stationen widmen sich den Themen Heimat, Weg, Markt und Alltag. Die Architekten »verpackten« sie in vier Boxen auf dem Dachboden der mächtigen mittelalterlichen Zehntscheuer, dem Eingangsgebäude des Bauernhausmuseums. Ihr Inneres ist allein durch frei stehende Stützen gegliedert und eignet sich darum für Veranstaltungen aller Art. So findet hier jährlich ein gutes Dutzend Hochzeitsfeiern statt. Damit die ins OG entrückte Ausstellungsebene abseits der Besucherströme auch gefunden wird, durchbricht eine weitere Box die Decke. Dieser karge Treppenturm lockt die Besucher über ein subtiles Formenspiel. Zu ebener Erde ist ein Multifunktionsmöbel integriert, das einerseits als Empfang und Kasse dient, anderseits auch als Anrichte für die Bewirtschaftung genutzt werden kann. Da es auf Rollen steht, lässt es sich komplett in den Treppenturm hineinschieben, wo sodann auch die dort integrierte Küchenzeile hinter der einheitlichen grauen Fichtenschalung verschwindet.

Raue Schale, blauer Kern

Ist die umgebende Scheune knorrig und krumm, so überrascht der Einbau mit Präzision und Finesse: Die Einbauten sind nicht in Glas und Stahl, wie man das seit Karljosef Schattners Vorbild hinreichend kennt, sondern ebenfalls in Holz ausgeführt (was bei einem Gesamtbudget von einer halben Million auch eine Kostenfrage war). Den Kontrast schaffen Textur und Farbgebung des Holzes sowie eine schmale Fuge zwischen Alt und Neu.

Das Äußere der Boxen ist hellgrau lasiert und scharfkantig. Ihr Inneres leuchtet in Hellblau, der Leitfarbe des hiesigen Schwabenkinderprojekts, das auch an Stellwänden und Medienmaterial verwendet wird. Es stehe für den Himmel, der die Kinder in der Fremde an die Heimat erinnert, heißt es. Jedenfalls zieht das Treppenhaus den Besucher so in seinen Bann – auch wenn die Tünche wenig ätherische Assoziationen an Schwimmbäder durchaus aufkommen lässt. Man durchläuft beim Hinaufsteigen eine Art farbiger Gehirnwäsche und wird en passant auf eine Zeitschiene gesetzt, die das Phänomen Schwabengehen verfolgt. Oben angelangt, lassen sich die Themenstationen gut überblicken. In loser Folge stehen die mal länglichen, mal eher kubischen Boxen auf der Tenne aufgereiht. Vor dem Einstieg und auch am Schluss geht der Blick hinaus ins Freilichtmuseum, wo die überflüssig gewordenen bäuerlichen Bautypen der Gegend hübsch versammelt sind. Auch in einem dieser Gebäude findet sich übrigens die Kammer eines »Schwabenkindes«.

Im Innern der Boxen sind mal Monitore angebracht, mal senden Beamer Bilder von der Decke herab. Der Kindermarkt wird durch die Schattenrisse der Bauern auf weißem Tuch und eine Geräuschkulisse simuliert, den Alltag auf der Wiese beim Vieh (man nannte die Schwabenkinder auch Hütekinder) macht ein künstlicher Himmel atmosphärisch greifbar, auf den wechselnde Licht- und Wettersituationen projiziert werden. In der Heimat-Box verströmen Schindeln, Schwarten und Scheithölzer als einziges Zugeständnis ans Regionale heimelige Stimmung, während ansonsten preiswerte MDF-Platten, lackiert oder beschichtet, den Hintergrund für den eigentlichen Kern der Ausstellung bilden: auf den iPod-Monitoren ablaufende, auf das jeweilige Raumthema abgestimmte Geschichten.

Neue Wege statt Nachahmung

Frei nach dem Motto »Laptop und Lederhosen« wagt die Präsentation also den Spagat zwischen Tradition und neuen Medien. Direktor Stefan Zimmermann will weg vom verstaubten Image des Heimatmuseums und zielt mit den iPods auf ein jüngeres Publikum. Im Wettbewerb sei das Konzept von VON M Architekten das einzige derart abstrakte und medienbasierte gewesen. Wenn draußen in den Bauernhäusern so viel authentisches Anschauungsmaterial vorhanden sei, könne die Sonderausstellung damit nicht konkurrieren und müsse neue Wege gehen. In den wiedererrichteten Höfen des Museums dürfen die Besucher im Rahmen von »Praxismodulen« typische Armeleute-Gerichte kochen oder auf Strohsäcken schlafen. Hier oben bleibt die Vermittlung der ohnehin dünnen Erkenntnislage abgehoben.

Dass durch die individualisierte Medienführung jeder Besucher allein bleibt und kein Austausch mit anderen Besuchern möglich ist, nimmt das Konzept in Kauf – man kennt diesen Autismus ja inzwischen von allen großen Museen der Welt. Von der Technik überforderte Besucher hat der Direktor dann auch noch nicht bemerkt. Auch Vandalismus war bislang kein Thema. Abnutzungserscheinungen sind bereits zu beobachten, erscheinen dem »armen« Gegenstand aber durchaus angemessen, zumal die Lebensdauer einer solchen »Dauer«-Ausstellung im Allgemeinen ohnehin nur auf 5-10 Jahre angelegt ist.

Die Gästebücher für die acht fiktiven Schwabenkinder am Ende der Ausstellung sind mit rührenden Botschaften und Kommentaren schon gut gefüllt – das Konzept scheint demnach anzukommen. Auch die Besucherzahlen im ersten Jahr geben dem Direktor Recht: Von 70 000 im Jahr 2011 stiegen sie auf 94 000 in der vergangenen Saison.

Dies mag aber auch mit der Brisanz des Themas zu tun haben. Das Schwabengehen sei im kollektiven Gedächtnis der Region durchaus noch präsent, meint Direktor Zimmermann. Viele Familien verbinden damit persönliche Schicksale, und auch aus den Partner-Regionen in Österreich und der Schweiz kämen Menschen herüber, um zu sehen, wie die Nachkommen der einstigen Dienstherren mit dem Thema umgehen. Die Gegenüberstellung von archaischem Gegenstand und hochtechnischer Vermittlung eröffnet dafür offenbar einen gangbaren Weg, welcher Identifikation, Einfühlung, Sich-Wundern erleichtert, ohne plump und sentimental daherzukommen. Dies ist kein Themenpark, kein Ort des Gruselns, wo man sich am Elend Anderer weidet. Eher sind die vier Boxen simple »Wunder-Kammern« der Armut.

Ein moralisches Urteil scheut die Schau indes. Gut möglich, dass daran immer noch die Agrarlobby Anteil hat, die in der Region durchaus mächtig ist. Heute kommen die Saisonarbeitskräfte nur von weiter her, aus Osteuropa, sind aber nach wie vor ziemlich rechtlos. Das Museum lädt heute auch Vertreter von Amnesty International, die auf das immer noch akute Problem der Kinderarbeit hinweisen dürfen, zu Führungen ein. Wer nach dem Rundgang durch den blauen Treppenschacht hinabtaucht, bekommt als Abschluss der Zeitschiene mit auf den Weg, dass heute weltweit schätzungsweise 215 Mio. Minderjährige bezahlte Kinderarbeit leisten.

db, Mi., 2013.01.09

09. Januar 2013 Christoph Gunßer

Untergraben

(SUBTITLE) Erweiterung des Drents Museum in Assen (NL)

Der unterirdische Erweiterungsbau verbindet zwei einzelne Bestandsgebäude miteinander und schafft neuen Raum für Wechselausstellungen, tritt dabei im Stadtbild aber nur als begehbarer Dachpark in Erscheinung. Im Innern präsentiert er sich dagegen als gleißend weiße, futuristisch anmutende Raumlandschaft, mit der sich die räumliche Struktur des Museums völlig verändert hat. Scharfe Kontraste, unterschiedliche Raumwirkungen und die Bezugnahme auf den Außenraum schaffen einen erlebnisreichen Ausstellungsort.

Assen ist die Hauptstadt von Drenthe, einer ländlichen Provinz im Nordosten der Niederlande. Im Zentrum des verschlafenen, nur 67 000 Einwohner zählenden Städtchens befindet sich ein historischer Gebäudekomplex, zu dem u. a. ein altes Zisterzienserkloster gehört und der heute das Drents Archief sowie das Drents Museum beherbergt. Seit Kurzem markiert ein kapselartiger, weißer Pavillon zwischen den alten Gemäuern den Eingang des unlängst von ZECC Architecten umgebauten Provinzarchivs. Dass auch das benachbarte Drents Museum gerade umgebaut und erweitert wurde, bemerkt man dagegen erst auf den zweiten Blick.

Dabei handelt es sich eigentlich um einen viel drastischeren Eingriff, denn das Museum hat 2 000 m² zusätzliche Ausstellungsfläche sowie eine völlig neue Raumstruktur erhalten. Umstrukturierung und Erweiterung haben hauptsächlich unterirdisch stattgefunden und treten im historischen Stadtbild lediglich als parkähnliche, begrünte Wellenlandschaft des Dachs in Erscheinung.

Vom Kutscherhaus zur Leuchtboje

Das Drents Museum wurde 1885 gegründet und besitzt eine Sammlung mit Kunst und Kunsthandwerk aus den nördlichen Niederlanden, v. a. aber zahlreiche prähistorische Artefakte aus der Provinz Drenthe, darunter die berühmte Moorleiche des »Mädchens von Yde«. Seine Räumlichkeiten im ehemaligen Provinzverwaltungsamt am Westende des alten Klosterkomplexes waren für die aktuellen Besucherzahlen zu klein geworden. Zum Wettbewerb für Umbau und Erweiterung waren 2007 fünf internationale Architekturbüros geladen worden. Erick van Egeraats Vorschlag zur radikalen inneren Umstrukturierung und unterirdischen Erweiterung des Museums brachte ihm den Gewinn ein.

Den Haupteingang hat er vom Provinzverwaltungsamt in das benachbarte Kutscherhaus verlegt. 1781 erbaut, ist es das älteste Gebäude des Museumskomplexes – und scheint nun, dank eines neuen Glassockels, einen Meter über dem Erdboden zu schweben. So subtil der Eingriff auf Außenstehende wirken mag, hat er bei den Denkmalschützern doch für einige Aufregung gesorgt: V. a. der niederländische Reichsdienst für Archäologie, Kulturlandschaft und Denkmäler protestierte lautstark, denn auf der gegenüberliegenden Platzseite steht ein sehr ähnliches, zur selben Zeit entstandenes Gebäude. Der historische Zusammenhang gehe durch die Aufständerung verloren, argumentierte der Reichsdienst – konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen. Nun leuchtet nachts das Licht von innen durch den Glassockel und macht das Haus, wie Erick van Egeraat formuliert, zur »Leuchtboje«. Bei Tag wird die eigentliche Funktion des Sockels deutlich: Durch das Glasband kann das Tageslicht bis in die neue Unterwelt des Museums fallen. Diese befindet sich direkt unter dem Kutscherhaus, das während der Bauzeit mit einigem Aufwand um 24 m verschoben werden musste.

Düstere Oberwelt, lichtdurchflutete Unterwelt

Man betritt das Museum durch das Kutscherhaus, das trotz zweier großer neuer Fenster, welche frühere Holztore ersetzen, ein ziemlich düsteres Gemäuer ist. Schwarz gestrichene Wände und die Dachkonstruktion aus schweren Holzbalken dominieren den spärlich beleuchteten Raum, in dem – gleichsam als Vorbote des kommenden Raumerlebnisses – nur ein dramatisch von unten beleuchteter weißer Ticketschalter thront. Die Besucher steigen eine ebenfalls weiße Marmorwendeltreppe hinab in die Unterwelt. Und siehe da: Auf einmal findet man sich in einer gleißend weißen, lichtdurchfluteten Halle wieder.

In einer Umkehrung jeglicher Erwartungshaltung stellt der Architekt dem finsteren historischen Eingangsbau eine strahlend helle, futuristisch anmutende Unterwelt gegenüber. Das verfehlt seine Wirkung nicht: Der Besucher wird geradezu wachgerüttelt.

Die unterirdische Halle dient als Verteilerraum inklusive Museumsshop und Garderobe. Vom Boden über die Wände, Möbel und Treppen ist rundum alles weiß, mit zwei Aufzugschächten aus Chrom und Glas als einziger Ausnahme. Ganz so klinisch rein wie auf den Architekturfotos sieht das in Wirklichkeit nicht aus, denn das quietschbunte Warenangebot des Museumsshops bringt Farbe ins Bild. Die Schmutzstreifen, die schon jetzt an einigen Stellen zu sehen sind, fallen angesichts der blendenden Weiße noch nicht ins Gewicht. Ob das aber auch in Zukunft so bleiben wird?

Dass es sich um einen Entwurf des Maximalisten Erick van Egeraat handelt, bezeugen nur vier tordierte Säulen, die das Kutscherhaus tragen, sowie die ebenfalls skulptural verdrehte Wendeltreppe, deren Formensprache ein wenig an Erich Mendelsohn denken lässt. Eine zweite, baugleiche Wendeltreppe am Nordende der Halle führt in den Altbau des Museums, in dem die Sammlung untergebracht ist. Erklimmt man sie, wird man plötzlich wieder in die Vergangenheit versetzt, denn der Altbau birgt ein düsteres Labyrinth aus historischen Sälen mit üppig verzierten Wänden und dunklen Holzböden. Die in schummrigem Licht ausgestellten Moorleichen jagen einem unweigerlich Schauer über den Rücken. ›

Organisch gestaffelte Dachlandschaft

Dann geht es wieder die Wendeltreppe hinab, zurück in die etwas überdimensionierte weiße Weite der Halle. An ihrem gegenüberliegenden Ende befindet sich der Zugang zum 1 000 m² großen neuen Saal, der für Wechselausstellungen konzipiert wurde. Seine bogenförmigen, versetzt angeordneten Dachsegmente haben verglaste Seiten, sodass viel Licht in den 6-8 m hohen Raum fällt, das mittels eingebauter Jalousien reguliert werden kann. Die nötigen Leuchten sind, wie alle Installationen, in schlitzförmige Kanäle in der Decke integriert.

Mit seiner unverstellten Weite ist der Saal ein Gegenbild zu den verwinkelten Räumen und Gängen im historischen Teil des Museums und bietet Gelegenheit für Ausstellungen mit großformatigen Werken. Für die meterhohen Gemälde des sowjetischen Realismus', die dort zurzeit zu sehen sind, bildet er einen sehr passenden Rahmen. Ein »White Cube« im klassischen Sinne ist er jedoch trotz aller Weiße nicht, denn die expressiven Wellenformen des Dachs sind sehr präsent und alles andere als neutral. Auch die Stadt ist auf unerwartete Weise im Saal präsent, denn an seinem Südende führt eine Treppe auf eine Empore mit Glasfront, durch die man auf einen kleinen, in weißen Marmor gefassten Teich und die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite blickt – und in die Realität zurückgeholt wird.

Der Teich ist Teil der Außengestaltung des neuen Gebäudeflügels, den eine organisch gestaffelte, begrünte Dachlandschaft bedeckt. Sie ist an die Stelle eines früheren Parkplatzes getreten und soll den Architekten zufolge eine Verbindung zwischen einem kleinen Park im Westen und dem Gelände eines alten Landguts im Osten des Museumskomplexes schaffen. Da der Garten jedoch eingezäunt und nur während der Museumsöffnungszeiten zugänglich ist, will er sich in der Praxis nicht so recht in den grünen Korridor eingliedern. Ohnehin präsentiert er sich weniger als Park denn als etwas eigenartige Mischung aus begrüntem Dach und Kräutergarten. Die Hügellandschaft ist mit niedrigen Bodendeckern, Gräsern und Kräutern in Streifen bepflanzt und auf Pfaden begehbar. Durch die Fenster unter den wuchtigen Holz-Dachbalken kann man auch den einen oder anderen Blick in den großen Museumssaal werfen.

Mit der Streifenbegrünung und der aufwendigen Gestaltung der hölzernen Balken und Fensterpfosten trägt die Dachlandschaft viel deutlicher die Handschrift Erick van Egeraats als das Museumsinterieur. Dort wollte er der Üppigkeit der historischen Museumssäle offenbar ganz bewusst eine minimalistische neue Unterwelt gegenüberstellen. In der Tat könnte der Kontrast kaum größer sein: Der Besucher wird in ein Wechselbad der Raumeindrücke getaucht: von der geheimnisvollen Düsternis des Kutscherhauses bis zur lichtdurchfluteten, blendenden Weiße der Halle und des neuen Saals. Bei aller räumlichen Theatralik könnten die Exponate beim Museumsbesuch schnell zur Nebensache werden, aber zumindest die großformatigen, pompösen Gemälde des sozialistischen Realismus' können sich gut behaupten. Ob das auch für leisere Kunstwerke gilt, muss der nächste Besuch zeigen.

db, Mi., 2013.01.09

09. Januar 2013 Anneke Bokern

Empathie zum Bestand

(SUBTITLE) Kunstmuseum Ravensburg

Das am südlichen Rand der Ravensburger Altstadt situierte Kunstmuseum gilt als weltweit erstes zertifiziertes Museum in Passivhausbauweise. Ein besonderes Schmuckstück ist es aber nicht allein deshalb, sondern v. a., weil es zeigt, wie gut sich ein Gebäude in sein Umfeld einordnen kann, ohne auf eine unverwechselbare eigene Identität verzichten zu müssen.

Ziegelsteine, Kupfer, Beton, Holz, Glas – diese Baumaterialien verleihen dem Kunstmuseum Ravensburg einen dezidiert handwerklichen und zeitlosen Charakter. Sie vermitteln Vertrautheit und Nähe, zeugen aber auch vom offenen Dialog mit der großflächig erstaunlich gut erhaltenen Altstadt. Das Gebäude nimmt sich dabei bescheiden zurück – ohne sich zugleich wegzuducken. Im Gegenteil. Durch seine nicht unerhebliche Baumasse, die Hülle aus grob verfugten Recyclingziegeln und die erhabene Geste der sanften Bogenschwünge am Dachrand ist es in der kleinteilig bebauten Umgebung so präsent wie kaum ein anderes Haus. Das gleichzeitige Bedürfnis nach städtebaulicher Integration und architektonischer Präsenz irritiert und macht neugierig: etwas Besseres hätte dem neuen Kunstmuseum einer Kleinstadt mit 50 000 Einwohnern gar nicht passieren können.

Den Kern der Ausstellungstätigkeit bildet die Kunstsammlung von Gudrun Selinka, die der Stadt Ravensburg angeboten hatte, ihre 230 Werke des deutschen Expressionismus und der Künstlergruppen Cobra und Spur als Dauerleihgaben zur Verfügung zu stellen. Um hierfür einen adäquaten Rahmen bieten und auch bezahlen zu können, kooperierte die Stadt mit dem Bauunternehmer Georg Reisch, der das Museum als Investor auf einem sanierungsbedürftigen Areal nahe der Museen Humpis-Quartier und Ravensburger errichtete und nun für 30 Jahre vermietet. Den 2009 ausgelobten Architektenwettbewerb konnten die Architekten von Lederer Ragnarsdóttir Oei für sich entscheiden.

Die Komplexität der Einfachheit

Flankiert von einem winzigen roten Stadthäuschen und zur engen, aber viel befahrenen Burgstraße mit Glaslamellen abgegrenzt, führt der Weg ins Innere des Kunstmuseums über einen kleinen Vorplatz. Nach dem Passieren der kupferbekleideten Drehtür gelangen die Besucher auf einen ebenfalls kupfernen Gitterrost, der wie ein roter Teppich auf den Empfangsbereich zuführt. Am Ende dieser Achse steht eine elegante Thekenskulptur mit samtiger Sichtbetonoberfläche, hinter der sich eine große schwarze, von oben natürlich belichtete Ablagenische auftut.

Angesichts dieser subtilen räumlichen Inszenierung, aber auch im Vergleich zur feinsinnig materialsichtigen Gebäudehülle wirkt das längliche EG mit rohem Estrichboden und weißen Wand- und Deckenoberflächen zunächst eigenartig glatt und banal. Natürlich wird sich das Foyer nach der offiziellen Eröffnung im März als vielfältig bespielbare, lebhafte Fläche für Wechselausstellungen, Veranstaltungen und die Museumspädagogik präsentieren. Dennoch ist dieser Eindruck von Leere nicht ganz falsch, zeigt er doch, wie ernst es den Architekten ist, wenn sie davon sprechen, dass Architektur in den Ausstellungsflächen »sekundär« sei. Ähnlich wie auf städtebaulicher Ebene – wo sie zuerst »die Stadt, dann die Architektur« sehen und sich einem »Weiterbauen« im Sinne Hans Döllgasts verpflichtet fühlen – wollen sie hier weder die Haustechnik noch Architekturdetails oder Raumkonzepte, sondern: Kunstwerke ausstellen. Dass sie deshalb in anderen Bereichen nicht auf das für ihr Büro typische, von der Moderne inspirierte Formenvokabular verzichten mussten, zeigen eigens gestaltete Deckenleuchten und die Beleuchtungselemente im Treppenhaus ebenso wie die Wasserspeier oder die offenen vertikalen Kupfer-Regenwasserrinnen in der Fassade.

White Cube und Gewölbe aus Recyclingziegeln

Im Mittelpunkt des Entwurfskonzepts steht der rechtwinklige, dem Grundstück in maximaler Größe einbeschriebene Grundriss der neutralen, vielseitig konfigurierbaren Ausstellungsbereiche. Seitliche Restflächen enthalten einen Aufzug sowie zwei Treppenräume, die zahlreiche verschiedene Museumsrundgänge ermöglichen. Die nördliche Treppe wirkt eher funktional und introvertiert und führt nach oben in die fensterlosen Ausstellungsebenen sowie zum Depot, zur Anlieferung, zu den Toiletten und zu den Büroräumen der Museumsverwaltung im UG. Die einläufige Haupttreppe in die OGs hingegen bietet den Besuchern bei jedem Geschosswechsel viel Tageslicht und einen wunderbaren Blick in die Umgebung – etwa zum baumbestandenen Veitsburghügel oder zum »Mehlsack«, einem um 1400 erbauten Wehrturm.

In dem als White Cube konzipierten 1. OG werden unter immer wieder wechselnden Mottos jeweils Teile der Sammlung Selinka präsentiert, während das Dachgeschoss Wechselausstellungen zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts vorbehalten bleibt. Dort machen tragende, verschränkt konische Gewölbe aus Sichtmauerwerk einerseits die Form des geschwungenen Dachrands plausibel: »Wir spekulieren darauf, dass die Besucher genau dieser Form im Innern wieder begegnen wollen und das Treppensteigen deshalb als umso leichter empfinden«, sagen die Architekten. Andererseits findet sich am »Endpunkt der räumlichen Sequenz« durch die Verwendung der auch hier grob verfugten Recyclingziegel jene gestalterisch-ästhetische Kontinuität zwischen Innen und Außen, die man in den unteren Geschossen noch vermisst hat.

Auf kurzem Weg vom Wettbewerb zum Passivhaus

Die aus Abbruchgebäuden einer Klosteranlage in Belgien stammenden Ziegel sind aber nicht nur gestalterisches Element mit sinnlicher Patina, sondern Teil eines umfassenden Nachhaltigkeitskonzepts. Als Gebrauchtmaterial sind sie zwar keineswegs billiger als vergleichbare neue Ziegel, dafür weisen sie eine positivere Energiebilanz auf, weil sie nicht erst aufwendig hergestellt werden mussten. Überlegungen zu Lebenszyklus und Recyclingfähigkeit der Baumaterialien prägten den Entwurf von Anfang an ebenso wie ein kompakter und damit energetisch günstiger Baukörper, die Betonkerntemperierung für Heizung und Kühlung, eine Gas-Absorptions-Wärmepumpe und eine Lüftungsanlage, die je nach Luftqualität und Besucheranzahl Frischluft- bzw. Umluft liefert und damit Wärmeverluste reduziert. All diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass der Weg vom Wettbewerbsentwurf zum Passivhaus nicht mehr allzu weit war, als der Bauherr kurz vor der Werkplanung beschloss, das Kunstmuseum im Passivhausstandard zu realisieren. Und so kam ein hinzugezogener Passivhausberater schnell zum Schluss, dass das spärlich befensterte Gebäude zwar kaum solare Gewinne verzeichnet, dafür aber über zahlreiche andere Wärmequellen – von den Besuchern über permanent betriebene technische Anlagen bis hin zur Beleuchtung – sowie eine günstige Energiebilanz verfügt.

Energetische Optimierungen

Hauptaugenmerk der energetischen Optimierungen lag v. a. auf der zweischaligen Gebäudehülle. Hier wurde zunächst die Dämmstärke der Mineralfaserdämmung auf 24 cm erhöht und auch eine bessere Wärmeleitfähigkeitsgruppe ausgewählt. Hohe Aufmerksamkeit erhielt auch die konsequente Beseitigung von Wärmebrücken. Hierfür wurden Flankendämmungen im UG vergrößert, v. a. aber spezielle Mauerwerksanker eingesetzt. Statt der üblichen Konsolanker, deren massive Flachstahlquerschnitte starke Wärmebrücken ausbilden, kamen stabförmig aufgelöste Anker zum Einsatz, mit denen sich die Wärmeleitfähigkeit halbieren ließ. Hinzu kamen mitunter überraschende Fragen zu einzelnen Bauteilen. Beispielsweise waren zwar passivhauszertifizierte Automatik-Glasschiebetüren auf dem Markt erhältlich, aber keine Drehtüren. Rechnerisch hätte das Gebäude undichte Türen mit schlechten Dämmeigenschaften durchaus kompensiert. Doch wäre in diesem Fall mit großen winterlichen Kondenswassermengen zu rechnen gewesen. Gemeinsam mit einem Hersteller entwickelten die Planer daher eine Drehtür mit isolierverglasten Flügeln, gedämmten und thermisch getrennten Seitenwänden, Dach- und Bodenbekleidungen sowie doppelten Bürstendichtungen.

Dass die Zertifizierung als Passivhaus letztlich keine gravierenden Veränderungen des ursprünglichen Wettbewerbsbeitrags erforderte, liegt an einem Entwurfskonzept, das von Anfang an als in jeder Hinsicht nachhaltig angelegt war: im sensiblen Umgang mit der historischen Umgebung und der flexiblen Bespielbarkeit der Ausstellungsräume ebenso wie im Einsatz energieeffizienter Haustechnik und natürlicher Baumaterialien, die sich am Ende des Lebenszyklus' problemlos entsorgen lassen – ein Zeitpunkt, der hoffentlich noch weit entfernt liegt.

db, Mi., 2013.01.09

09. Januar 2013 Roland Pawlitschko

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