Editorial

Nach den beiden letzten Lieblingsprojekten in der Schweiz führte Martin Höchst der Weg dieses Mal nach Ostbelgien. (S. 60) | Martin Höchst

Christine Fritzenwallner stieß auf ihr diesjähriges Projekt über die Recherche zum Thema »Energetisch sanieren«. Dabei entpuppte sich der vermeintlich sanierte Altbau als Neubau. (S. 42) | Christine Fritzenwallner

Ulrike Kunkel musste für ihr diesjähriges Lieblingsprojekt nicht bis nach China reisen; sie fand es in ihrer Heimatstadt Berlin. (S. 18) | Ulrike Kunkel

Als die Presseunterlagen für die Treppenanlage in Chur bereits im Mai in die Redaktion flatterten, war Barbara Mäurle sofort klar: Der Hybrid aus Weg und Haus von Esch Sintzel Architekten ist ihr Liebling. (S. 36) | Barbara Mäurle

Drei »zusammengewachsene« Häuser zogen Dagmar Ruhnau nach Kufstein. Dort fand sie einen Umbau vor, dessen Relevanz sich so mancher Neubau wünschen würde. (S. 52) | Dagmar Ruhnau

Achim Geissinger nutzte die blitzschnelle TGV-Verbindung nach Paris und staunte über die Aufgeschlossenheit der Wohnungsbaugesellschaft, die dort für den Bau von Studentenwohnheimen verantwortlich ist. (S. 26) | Achim Geissinger

Klare Kante für ABC-Schützen

(SUBTITLE) Erweiterung der Ludwig-Hoffmann-Schule in Berlin

Der zunehmende Bedarf an Grundschulplätzen im angesagten Berliner Innenstadtbezirk Friedrichshain machte für die Ludwig-Hoffmann-Schule einen Erweiterungsbau erforderlich. Dieser interpretiert geschickt Gestaltungsmotive des Bestandsbaus neu und schafft so eindeutige Bezüge, ohne sich bei diesem anzubiedern.

Zunächst sei die von AFF entwickelte städtebauliche Lösung hervorgehoben – wobei angemerkt sein soll, dass eine stadträumliche und funktionale Aufwertung des Standorts im Allgemeinen und der bestehenden Schulanlage im Besonderen im Wettbewerb explizit gefordert war. Die Ausgangslage auf dem etwas südwestlich des Frankfurter Tors gelegenen Areal darf als schwierig gelten. Städtebaulich präsentiert sich die Gegend so heterogen, so unentschieden und fragmentarisch, wie sie es in Berlin nur sein kann. Neben Resten der gründerzeitlichen Bebauung finden sich in der Nachbarschaft der Schule Wohnzeilen aus der Frühzeit der DDR (als Scharouns Konzept der durchgrünten Stadt auch im Osten noch Gültigkeit hatte), blockartige Strukturen aus der stalinistischen Epoche (die sich um den historischen Stadtgrundriss nicht scheren) und eine äußerst mediokre, der Stimmannschen Doktrin folgende Blockrandbebauung aus den 90er Jahren. Und zuletzt gibt es da noch die zu mickrigen Grünanlagen aufgewerteten Kriegsbrachen.

Der vergleichsweise kleine Neubau konnte in dieser Situation natürlich keine Wunder bewirken. Im Rahmen seiner Möglichkeiten glückt ihm aber Beachtliches. Dem dreiflügeligen, um einen kleinen Hofraum herum organisierten Gebäude gelingt es nämlich, dem gesamten Schulgelände so etwas wie eine Fassung und einen Zusammenhalt zu geben. V. a. der als Spiel- und Pausenfläche genutzte Bereich zwischen dem alten Hauptgebäude, dem daran anschließenden Hort und dem Erweiterungsbau kann jetzt als gemeinsamer Raum erfahren werden. Bemerkenswert erscheint außerdem, wie geschickt der zweistöckige Flachbau mit seiner mal leicht ansteigenden, dann wieder abfallenden Dachkante zwischen der unterschiedlich hohen Bebauung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft vermittelt und dabei dem Baukörper auch etwas von seiner kantigen Härte nimmt. Schließlich wird die faktische Zweiteilung des historischen Baublocks durch den Grünstreifen zwischen Lasdehner und Kadiner Straße von der neuen Schule akzentuiert und städtebaulich geklärt.

Dialog mit dem Hauptgebäude

Das auffälligste Merkmal des Neubaus ist seine rote Klinkerfassade. Sie nimmt erkennbar Bezug auf das vom Namenspatron der Schule, dem Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, entworfene und 1909 fertiggestellte Hauptgebäude. Damit nicht genug – AFF architekten haben, so könnte man sagen, ihren Entwurf im Dialog mit dem Hoffmannschen Altbau entwickelt – nicht aus formaler Spielerei, sondern um den Kindern den Zusammenhang zwischen den Teilen ihrer Schule mit den Mitteln der Architektur und der Gestaltung zu verdeutlichen. Das fängt bei der Entscheidung für einen dreiflügeligen Baukörper an und hört bei der Wahl der Fassadenbekleidung noch lange nicht auf. Denn wo Hoffmann die Fassade mit Pilastern vertikal gliederte, betonen AFF bei ihrem Neubau die Horizontale. Das kommt in seiner bescheidenen Höhe und in den verwendeten Fensterformaten zum Ausdruck. Das bestimmte auch die sorgfältige Auswahl des auffällig flachen Klinkersteins. Und was es bei Hoffmann als Bauschmuck gab, Sandsteinverblendungen mit Blumengirlanden und medaillonartigen Porträtreliefs, verwandelt sich bei AFF nun in Rautencluster, die die Klinkerhaut des Gebäudes perforieren (sodass, wenn man nur nahe genug an die Fassade tritt, Einblicke ins Innere möglich sind), oder ihr als Relief eingeprägt sind.

Lichthof mit Treppenskulptur

Erschlossen wird der Schulkomplex über die Lasdehner Straße. Man geht durch ein niedriges, mit Punktmustern verziertes Blechtor, betritt eine sanft ansteigende Rampe, die die Schmalseite des linken Schulflügels entlangführt und gelangt nach wenigen Metern auf den dreiseitig gefassten, mit Klinkern gepflasterten Hof. Ein fast intimer Raum, der einen freundlich empfängt und Einblick gewährt in das Innere des Hauses. Links in die Schul- küche und die daran anschließende Mensa, mittig in den Flurraum des EGs. Dort geht es rein. Einen schmalen Windfang passierend betritt man den an dieser Stelle kaum breiteren Flur und hoppla – da wäre man doch fast in die Wand gelaufen. Herrje!

Eben noch die Freude über die schöne Empfangsgeste des Hofs und dann so ein Anfängerfehler. Dass dann das Erste, was man in diesem Flur erblickt, die Toilettentüren sind, macht die Sache nicht besser, auch wenn die Sanitärräume selbst, mit ihrem knallorangefarbenen Anstrich und den großen Gemeinschaftswaschbecken durchaus zu gefallen vermögen und wohl auch bei den Kindern großen Anklang finden. Im Flur jedenfalls, dessen Beton-Terrazzoboden übrigens eine weitere Reminiszenz an Hoffmanns alten Schulbau darstellt, geht es entweder links in Richtung Mensa und Lehrerzimmer oder, was lohnender ist, nach rechts, wo man bald zu einem überraschend luftigen, über zwei Stockwerke reichenden Lichthof gelangt. Von hier werden die drei ebenerdigen Klassenzimmer mitsamt den dazugehörigen Betreuungsräume erschlossen. Beherrscht aber wird dieser, von vier großen, runden Oberlichtern erhellter Raum durch eine fast skulptural anmutende Treppe, die nach einem Absatz knapp auf halber Höhe zweiläufig weiter in das obere Stockwerk führt. Wir bemerken auf dem Weg nach oben mit Schmunzeln die im Fuß der Treppe eingebaute, mit drei Matten ausgelegte »Höhle«, und wir übergehen dabei ein missglücktes »Kunst-am-Bau-Projekt«. Stattdessen wenden wir uns dem oberen Flurraum zu, der trotz seiner insgesamt bescheidenen Maße, jene Großzügigkeit atmet, die man im Eingangsbereich vermisst. Möglich war das durch einen kleinen Kunstgriff der Architekten. Sie verlegten die amtlich geforderten Garderobenschließfächer der Schüler, die normalerweise in den Klassenräumen untergebracht werden, einfach in die Flure. Aus den reinen Erschließungsflächen werden so Räume mit erstaunlicher Aufenthaltsqualität, die obendrein den gemeinschaftlichen Charakter des Schulhauses unterstreichen. Wie der im EG, ist auch der obere Flur zum Hof hin ausgerichtet. Das Licht kommt hier durch ein weiteres Oberlicht und v. a. durch die rautenförmig perforierte, vorgehängte Klinkerfassade, die – so die Sonne scheint – das grelle Südlicht bricht und ein schönes Licht- und Schattenspiel auf den Boden wirft. Die inklusive der Schulwerkstatt sieben Klassenzimmer und die dazwischengeschalteten fünf Betreuungsräume sind bewusst zu den Außenseiten des Gebäudes hin orientiert. Die Schüler sollen eben nicht durch den Blick auf im Hof spielende Kinder vom Unterricht abgelenkt werden. Sonst ist zu diesen Räumen nicht viel zu sagen. Die Klassenzimmer wirken eher klein, entsprechen aber der Norm, großzügige Fensterflächen sorgen für genügende Helligkeit und der sandfarbene Wandanstrich verbreitet eine nüchtern-freundliche Atmosphäre. In den nach Norden ausgerichteten Klassen sorgt zudem eine dynamische Lichtsteuerung für optimale Lichtverhältnisse in Anhängigkeit zur Tages- und Jahreszeit. ›

Zum Schluss wollen wir noch ein Wort über das grafische Punktmuster verlieren, das die Architekten eigens für den Schulbau entwickelt haben. Es begegnet einem zuerst auf den perforierten Blechpaneelen des Eingangstors und findet sich dann im Gebäude großflächig an den Akustikdecken der Klassenzimmer und im oberen Drittel der Flurwände wieder. Auf den schwarz grundierten Türen aber verwandelt sich das hell abgesetzte Punktmuster in eine Art Leitsystem. Auf jeder Tür erkennt man oben eine freie Form und auf den Türen, die in die Klassenräume führen, verdichten sich die Punkte im unteren Bereich zu einer Tierfigur. Das sieht hübsch aus und macht auch noch Sinn. Es ist kindgerecht, ohne kindisch zu sein, und es steht damit stellvertretend – so möchte man zumindest meinen – für die Grundhaltung mit der AFF architekten hier ans Werk gegangen sind.

db, Mi., 2012.12.05

05. Dezember 2012 Ulrike Kunkel

Gewohnheiten aufbrechen

(SUBTITLE) Studentenwohnheim in Paris (F)

Das industriell geprägte, über lange Zeit hinweg vernachlässigte Quartier zwischen den Gleissträngen zweier Bahnhöfe wird nach und nach aufgewertet. Auf das disparate Umfeld antwortet die Architektur des neuen Wohnheims mit robusten Materialien, klaren Formen und differenzierten Räumen, die in vielerlei Hinsicht Bezüge zur Umgebung herstellen. Vom Bauherrn unterstützt, konnten die Architekten pragmatisch vorgehen und mit einfachen aber durchdachten Lösungen einen wohnlichen Ort schaffen und die Themen Fremdheit und Anpassung miteinander in Einklang bringen.

Das Quartier im 18. Pariser Arrondissement ist mehr berüchtigt als berühmt; verkehrsmäßig zwar hervorragend angebunden, leider aber als Problemviertel stigmatisiert. Die Bewohnerschaft stammt zu großen Teilen aus dem nahen und dem mittleren Osten. Viele Pakistani haben hier ihre Läden, es duftet allenthalben nach Orient, aus einem Hindutempel flackert warmes Licht. Vor der Bar an der Rue Pajol treffen sich am Nachmittag verschiedene Herren zum Tee – man unterhält sich auf Arabisch, der mit Minzblatt und viel Zucker gereichte Tee schmeckt vorzüglich. Zu den landläufigen Klischees über Paris passt das alles so wenig wie das schwarze Gebäude schräg vis-à-vis, das unweigerlich die Blicke auf sich zieht. Es macht den Eindruck, als wolle es sich eigentlich viel lieber wegducken, es versucht, sich seiner Umgebung anzupassen, kann seine Andersartigkeit aber partout nicht verbergen. Ohne derlei Gedanken gezielt verfolgt zu haben, fanden die Architekten bei der Arbeit an ihrem Entwurf einen architektonischen Ausdruck dafür, wie in diesem Viertel traditionsreiche Stadtstruktur und Fremdländisches zueinanderfinden.

Auf den zweiten Blick

Zunächst einmal erscheinen die drei Baukörper an der Straße allesamt um ein ganzes Geschoss zu niedrig. Die Nachbarhäuser zu beiden Seiten mit ihren klassisch gestalteten Fassaden sind deutlich höher. Allerdings gelten zwischenzeitlich ganz andere Abstandsregeln – die Traufkanten des Neubaus entsprechen exakt dem heutigen Baurecht. Dasselbe trifft auf die weiteren Bauteile in der Tiefe des Grundstücks zu. Mit einiger Akribie haben die Architekten das optimale Verhältnis von zulässiger Baumasse und größtmöglichem Lichteinfall in den Innenhof ausgetüftelt. Sicher hätte sich in dem Geviert noch eine Handvoll weiterer Wohneinheiten unterbringen lassen. Durch die Entscheidung, subtraktiv vorzugehen und verschiedene Leerräume in die Volumen zu schneiden, gewannen die Planer aber eine Reihe von Vorteilen, wie z. B. die Unterteilung der Straßenfront in Portionen, die der Körnung des Quartiers entsprechen. Vorneweg aber steht die Durchlässigkeit des Gebäudes, nicht nur für Luft und Sonnenlicht, sondern auch im Sinne der Verzahnung mit dem Quartier. Blicke hinüber zu den Nachbargrundstücken und vom Innenhof hinaus bis zur Straße lassen den Kontakt zur Stadt nicht abreißen. Umgekehrt kommt die Ausweitung in den begrünten Hof hinein wiederum dem Straßenraum zugute. Allerdings nur zum Teil: Das Tor lässt sich nur per Zahlencode öffnen und macht das Wohnheim somit zur »gated community«.

Ein Bauherr, wie man ihn sich wünscht

In Frankreich tritt der Architekt i. a. R. erst in den Planungsprozess ein, wenn Raumprogramm, Baumassen und Kostenrahmen festgelegt sind. Das Büro LAN hingegen konnte alle Rahmenbedingungen vom Wettbewerbsentwurf an selbst überdenken und daraus die optimale Lösung generieren. Möglich machte das der aufgeschlossene Bauherr: Die städtische Wohnungsbaugesellschaft RIVP (Régie immobilière de la ville de Paris) kümmert sich vorwiegend um den Bau von Sozialwohnungen und Studentenwohnheimen. Sie ist an den Schaltstellen mit Persönlichkeiten besetzt, die architektonischen Konzepte schätzen und bauliche Qualität fördern, wo sie nur können. Starre Vorgaben zu Raumgrößen und Raumprogramm gab es nicht. Rund 150 Wohneinheiten waren gewünscht, 143 sind es geworden. Entstanden ist eben kein Standard-Wohnregal, sondern ein übersichtlicher Lebensraum im Maßstab eines Dorfs, das sich um einen Platz herum entwickelt. Der Hof ist Abstandsfläche und gemeinschaftsbildendes Element in einem. Die mit unterschiedlich hohen Mauern eingefassten Baumbeete schirmen einerseits die ebenerdig zugänglichen Wohneinheiten ab und bieten andererseits Sitzmöglichkeiten und Treffpunkte.

Sinnfälligerweise nah am Eingang und von der Sonne abgewandt, liegen die raumhoch verglasten Gemeinschaftsräume für Computerarbeit und Feste samt einer Waschküche. Leider weiß das Studentenwerk, welches die Bauten von der RIVP übernimmt und verwaltet, mit dem Gemeinschaftsgedanken nicht viel anzufangen; es ist kaum möglich, den Schlüssel für die Räume zu bekommen, der Concierge ist selten greifbar. An der Unbeweglichkeit des Studentenwerks liegt es auch, dass jedes Zimmer eine autarke Wohnung mit eigenem Bad und winziger Küchenzeile bildet; das Zusammenfassen zu Wohngruppen ist in Paris nicht Usus, wie überhaupt das Verlassen einmal eingeschlagener Pfade undenkbar scheint. Ganz allgemein fehle es an Pflege, bemängelt der Projektleiter Sebastian Niemann, der seit Monaten auf die Behebung eines Brandschadens wartet und am liebsten selbst Hand anlegen würde.

Dass die hofseitigen Fassaden mit Lamellen aus Lärchenholz bekleidet werden konnten, ist wiederum dem aufgeschlossenen Bauherrn zu verdanken. Ihre Brandlast ist freilich nicht unproblematisch, die ausführende Firma durfte aber loslegen, weil sie einen positiven Test und eine für vier Jahre geltende Ausnahmegenehmigung vorweisen konnte. Letztere ist inzwischen ausgelaufen, sehr zum Leidwesen der Pariser Architektenkollegen, die Ähnliches gerne bauen würden. Zusammen mit dem gelben Bodenbelag und den gut angewachsenen Bäumen schafft das noch nicht allzu sehr vergraute Holz eine heimelige Atmosphäre. Der weiche Spielplatzboden aus Kautschukgranulat tut sein Übriges, indem er das Gehgefühl eines Teppichs vermittelt, Schall schluckt und Regenwasser schnell in das darunter liegende Schotterbett ableitet.

Schutz bietet die weite Fahrradabstellfläche, für die das gesamte EG des mittleren Blocks freigelassen wurde und die bei Bedarf auch für größere Feste freigeräumt werden kann. Der Spaß am konkreten, nicht nur konzeptionellen Gestalten ist hier deutlich spürbar: Da das Standard-Angebot an Fahrradständern nicht befriedigen konnte, wurde kurzerhand der Schlosser beiseitegenommen und mit ihm zusammen eine ebenso simple wie gefällige Lösung aus Stahlblechen erarbeitet. Um die niedrige Deckenhöhe zu kompensieren, versah man die Untersicht mit polierten Stahlblechen. Sie reflektieren die Farbe der Gehflächen und erzeugen daraus einen warmen Goldton, der auch die leider nötigen dafür aber sehr edel ausgeführten Raumeinfassungen aus Metallgewebe umspielt.

Den passenden Kontrapunkt zu diesen »sauberen« Materialien bilden die ausnehmend lebendig wirkenden Ziegelfassaden. Der Festlegung von Backstein als vorherrschendes Material des Bezirks folgend, suchten die Architekten analog zum dunklen Ton typischer Dacheindeckungen einen der dunkelsten Steine aus. Den Mörtel definierten sie eher als Kleber und ließen die Fugen dadurch unbetont. Ganz im Vordergrund steht die stark zerklüftete Backsteinoberfläche, sie lässt die Handarbeit erahnen und sieht von Nahem wie auch in der Fläche aus wie bereits uralt, wie eine Hausrückseite, die schon viel mitgemacht hat.

Sparen an der richtigen Stelle

Wie in jedem Studentenwohnheim geht es auch hier im Innern recht spartanisch zu. Während robuste Materialien mit starkem Eigencharakter den Außenraum prägen, sind die Flure und Zimmer in neutralem Weiß gehalten. Obwohl schon eine Weile in Gebrauch, sind die Oberflächen noch fast wie neu – offenbar schätzen die Studenten ihr Wohnumfeld. Ein Leitsystem erleichtert die Orientierung, indem es jedem Haus eine bestimmte Farbe zuweist, die sich auch in einem kleinen Detail in den Zimmern wieder findet: als schmaler Streifen hinter den transluzenten abgehängten Decken in den Zimmerfluren. Um die ärgerliche Optik billiger Leuchten zu umgehen, hat man die Leuchtstoffröhren kurzerhand hinter Doppelstegplatten versteckt, den schmalen Durchgang dadurch etwas niedriger proportioniert, um den anschließenden Wohnraum dann umso großzügiger erscheinen zu lassen. Die Kante ist als Buchregal ausgestaltet und wird als solches gerne angenommen. Küchenzeile und Bad sind auf das Allernötigste reduziert, auch in der Materialwahl (Gipskarton). Der weiße Anstrich und dunkelgraue Fliesen bilden einen neutralen Hintergrund.

Mit den Energiestandards hinkt Frankreich im europäischen Vergleich noch hinterher. Dem eigenen Anspruch folgend strebte das Büro LAN eine höhere Effizienzstufe an als die vom Bauherrn eingeforderte. Dabei kam ihm der örtliche Baustandard entgegen: Paris baut alles in Beton, massiv. Die thermische Trägheit der Wände und Decken sorgt für gleichmäßige Temperaturen im Innern, die Mineralwolledämmung besorgt den Rest. Für den Betrieb der Heizkörper in den Zimmern und die Warmwasserbereitung steht die Nahwärmeversorgung zur Verfügung, unterstützt durch Sonnenkollektoren auf dem Dach. Erfahrungsgemäß reicht die Solarenergie in den warmen Jahreszeiten sechs Monate lang. Die Räume werden zwar mechanisch entlüftet, für weitere Technik für die Behandlung von Zu- und Abluft reichte es jedoch nicht. Die Fenster lassen sich weit öffnen – einige der Zimmer haben einen Balkon oder sogar Zutritt zu einer Terrasse. Auch dem Schallschutz kommt die massive Konstruktion entgegen, wo nicht, z. B. bei Zimmertrennwänden, behalf man sich mit fünf-lagigem Trockenbau. Man geht auf Kautschukböden.

Obwohl das Gelände nicht gerade weitläufig, das Projekt nicht sonderlich groß und seine Struktur recht simpel ist, lädt die Anlage doch zum Entdecken und Aneignen ein. Das Angebot an Erschließungsräumen mit Aufenthaltsqualität und durchdachten Details – z. B. eine regengeschützte Sitzbank in einem der hinteren Höfe oder die intime Tribüne im anderen – machen den Komplex sehr reich. Davon künden bereits die lebendig gestalteten Straßenfassaden mit den unterschiedlich tiefen Laibungen der gegeneinander versetzten Fenster. Auch wenn das Areal nicht frei zugänglich ist, ist der Bau doch ein Plädoyer für Offenheit und Vielfalt, und er zeigt, dass die Gleichzeitigkeit von Tradition und Neuerung, das Einbinden des Fremden in das Bewährte möglich und erstrebenswert ist. Das multinational besetzte Büro LAN geht dabei beispielhaft voran. Die studentischen Bewohner scheinen es zu danken: Man hört von Mehrfachbelegungen der Zimmer – das kann nicht allein an der günstigen Verkehrsanbindung liegen.

db, Mi., 2012.12.05

05. Dezember 2012 Achim Geissinger

Zwiesprache mit dem Ort

(SUBTITLE) Fussgängerverbindung mit Schräglift in Chur (CH)

Die Situation war prekär: 1 300 Schüler mussten mehrmals täglich die stark befahrende Bergstraße nach Arosa überwinden, um von einem Klassenraum zum anderen zu gelangen. Von behindertengerechtem Ausbau ganz zu schweigen. Anstatt aber »nur« einen Tunnel in den Berg zu treiben, entschieden sich Esch Sintzel Architekten dazu, den Weg mit grandiosen Ausblicken in Szene zu setzen. So haben die Schüler heute, beim Wechsel von dem einen zu dem anderen Schulgebäude, eine kurze Auszeit an der frischen Luft.

Will man die Entstehungsgeschichte der im Frühjahr fertiggestellten Fußgängerverbindung zwischen zwei Schulkomplexen nahe der Churer Altstadt erzählen, ist es unumgänglich, ausführlich auf den städtebaulichen Kontext einzugehen. Vielleicht intensiver als sonst üblich. Denn der Ort besitzt architektonische Besonderheiten, auf die die Treppenanlage, ohne sich unterzuordnen, sensibel eingeht. Beim Einstieg, in der »Plessur-Aue«, wurde zwischen 1962 und 1964 von Andres Liesch das Bündner Lehrerseminar erbaut – ein wohlproportionierter Sichtbetonbau mit L-förmigem Grundriss, der aufgrund einer umfassenden Sanierung durch den Churer Architekten Pablo Horváth seine ursprüngliche Anmutung gänzlich zurückerhalten hat. Parallel zum Hang angeordnet wird der Bau außerdem seit 1999 durch einen gläsernen Naturwissenschaftstrakt nach Plänen von Bearth & Deplazes städtebaulich ergänzt. Mit weitem Blick ins Rheintal befindet sich am Ausstieg der Anlage, »auf der Halde«, die monumentale Kantonsschule von Max Kasper aus dem Jahr 1965. Auch dieses Gebäude ist – wie das Bündner Lehrerseminar – ein bedeutendes Stück Architekturgeschichte für Schulbauten aus den 60er Jahren. Bei der Kantonsschule Halde ist die Sanierung zwischen 2007 und 2010 durch Jüngling & Hagmann jedoch mit weniger Feingefühl vonstattengegangen als bei seinem Gegenstück im Tal: Die ursprüngliche Cortenstahl-Fassade wurde abgenommen und durch braunes Glas ersetzt. Schade, würde sie heute doch gut mit der rostigen Hülle der neuen Fußgängerverbindung korrespondieren.

Nähert man sich der neuen »Aufstiegshilfe« von Esch Sintzel , die weder Skulptur noch Gebäude ist, vom Tal her, kann der Besucher den Eindruck gewinnen, dass der Weg schnurstracks hinauf zur romanischen Churer Kathedrale mit Friedhof, bischöflichem Weinberg und Priesterseminar führt. Ein Eindruck, der zeigt, wie sensibel alle Baumeister, trotz Monumentalbauten in direkter Nachbarschaft, mit der Kirche im letzten halben Jahrhundert umgegangen sind. Erwähnenswert im städtebaulichen Kontext ist außerdem das Konvikt der Bündner Kantonsschule aus den 60er Jahren von Otto Glaus, Ruedi Lienhard und Sep Marti: Der monolithische Sichtbetonbau in steiler Hanglage ist weiter oben am Berg etwas abseits angesiedelt und besitzt die archaische Ausstrahlung eines tibetischen Klosters. Das Gebäude steht zwar nicht in direktem Zusammenhang mit der Treppenanlage, ist aber – zumindest für die Schüler des Internats – Teil ihres täglichen Schulwegs. Auch dieses denkmalgeschützte Gebäude soll saniert werden – im Moment ist aber noch ungewiss wie, da die monolithischen Betonkonstruktionen aus den 60er Jahren bekanntermaßen große Schwierigkeiten in sich bergen.

Ausgangssituation und Wettbewerb

Aufgrund der Schließung des Lehrerseminars 2005 konnte die aus allen Nähten platzende Kantonsschule auf der Halde den Gebäudekomplex in der Plessur-Aue übernehmen. Dies bedeutete zwar zusätzlichen Raumgewinn, über 1 300 Schüler mussten aber nun mehrmals täglich zwischen Tal und Berg per pedes pendeln. Rund 30 Höhenmeter galt es zu überwinden. Einzige Verbindung stellte die steile, kurvige Straße nach Arosa dar, die zudem von Schwerlastverkehr befahren wird. 2009 suchte die Gemeinde Chur im Rahmen einer eingeladenen Studie nach Lösungen für die durchaus prekäre Situation für Schüler und Lehrer. Die Züricher Architekten Esch Sintzel konnten mit ihrem Entwurf gegen viel Lokalprominenz überzeugen, da sie nicht, wie erwartet, einen Tunnel in den Berg trieben, sondern den Schulweg als eine dichte Abfolge von Ausblicken auf Kathedrale, Altstadt, Plessur- und Rheintal inszenierten. Des Weiteren sprach für die Idee der Planer, dass ihr Weg für Behinderte und Schüler ohne Handicap an den gleichen Punkten startet und ankommt. Gelungen ist ihnen das durch die Einbindung eines seilgezogenen Schrägaufzugs, um dessen Achse sich die Treppenanlage quasi herumwindet.

Schwerer Sockel, leichte Hülle

Nimmt man es ganz genau, startet die Treppenanlage geschätzte 10 m vor dem Aufzug – sie nimmt »Anlauf« und gräbt sich zuerst einmal unter der Straße nach Arosa durch den Fels. Dann geht es mal parallel, mal orthogonal zum Hang bzw. zum Lift – immer mit wechselnden Ausblicken in die Landschaft und durch die Überdachung mit Cortenstahl gut vor Witterung geschützt – steil den Berg hinauf. Und das zügiger als zu Beginn erwartet. Das letzte Wegstück verläuft wie zu Anfang parallel zum Schrägaufzug. Fußgänger und Liftnutzer erreichen letztendlich exakt am gleichen Punkt ihr Ziel.

Zu keiner Zeit wirkt der Weg dabei dunkel oder gar abweisend. Bei Dunkelheit leuchten unsichtbar unter dem Handlauf angebrachte LEDs Schülern und Lehrern den Weg. Die Beleuchtung wird aber selten angeschaltet, da sich das Tageslicht als ausreichend herausstellte. Für viel Helligkeit sorgt dazu ein weißer Anstrich im Innern, der dem Schiffsbau entlehnt ist sowie die filigrane, nur 12 mm dicke Ummantelung aus wetterfestem Baustahl. Verstärkt wird die Filigranität des Materials durch die wabenförmigen Ausschnitte in den Seitenwänden. Gestalterische Anregungen zur Konzeption der papierhaften Gebäudehülle fanden die Architekten bei zwei völlig unterschiedlichen Gebäuden: zum einen beeindruckte sie hinsichtlich des Materials ein Wohnhaus in Tokio mit 16 mm dicken Cortenstahl-Wänden von Kazuyo Sejima zum anderen ließen sie sich bei der Gebäudeform durch die gedeckten Wallfahrtwege in Oberitalien inspirieren. Genauer gesagt vom Bogengang »Portico di San Luc«, der bei Bologna zum Kloster »Madonna di San Luca« (1674-1793) hinaufführt. Das Bild des überdachten Pilgerwegs passt in diesem Fall besonders gut zur benachbarten Kathedrale und unterstreicht ihre Sonderstellung im baulichen Kontext. Die sechseckigen, wabenförmigen Öffnungen haben wiederum einen anderen Hintergrund: Diese Geometrie entsteht, wenn ein Stahlträger mittig auseinandergeschnitten und um ein Element versetzt wieder zusammengefügt wird. »Die Sprache des Stahlbaus und die Räumlichkeit der Arkade werden damit zusammen gebracht« – so Architekt Esch.

Ein großer Teil des Bauwerks berührt den Fels, ist aus dem Fels gehauen, auf den Fels gestellt oder am Fels »angegossen«. Hier kam Beton zum Einsatz. In den ersten Planungen sollte der Fels im Tunnel sichtbar bleiben, jedoch stellte sich der Hang als zu instabil heraus, um diese Idee Realität werden zu lassen. Die darüber gesetzte Cortenstahl-Hülle ist geschweißt und eine kubistisch geknickte, doppelte Dachkonstruktion verleiht ihr die benötigte Standhaftigkeit.

Ausblick in die nahe Zukunft

Mit einem Hybrid aus Weg und Haus ist es Esch Sintzel Architekten gelungen, dem imposanten Ort einfühlsam den noch fehlenden Zusammenhalt zu geben. Ein wichtiges Verbindungselement zwischen oben und unten, alter und neuer Architekturgeschichte, Berg und Tal. Dabei ist der Bau kein reines, sich unterordnendes Verbindungselement, sondern behauptet sich als selbstständiges Gebilde im bestehenden Kontext. Der ganze Charme der Anlage wird sich jedoch erst entfalten können, wenn in der Plessur-Aue unten im Tal die letzten Holzbaracken abgerissen und durch Neubauten ersetzt sind. Ein Wettbewerb dazu ist bereits durchgeführt. Diesen konnte der St. Gallener Architekt Andy Senn für sich entscheiden. Mit zwei Bauköpern wird er den Schulkomplex vervollständigen und die Treppenanlage städtebaulich näher ins Zentrum des Campus´ rücken. Das architekturgeschichtlich wichtige Schwimmbad von 1922 bleibt erhalten und wird durch die neue städtebauliche Situation aufgewertet.

db, Mi., 2012.12.05

05. Dezember 2012 Barbara Mäurle

31. 1969

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