Editorial

Dieses Heft versammelt Berichte von Menschen, die wissen wollten, wie es anderen Menschen ergeht, unter welchen Umständen sie wohnen und leben und das nicht nur vom Hörensagen, sondern die aufgebrochen sind, um sich mit eigenen Augen ein Bild zu machen, – und es enthält Texte, die unmittelbar auf solchen Berichten aufbauen.

Was bringt Menschen dazu, sich Erfahrungen auszusetzen, die neu und ungewohnt sind, in unbekannte Welten aufzubrechen, körperlich wie geistig, obwohl es höllisch unbequem sein kann und jede Menge Verunsicherung mit sich bringt? Was ist ihre Triebkraft – und direkt im Anschluss daran: Was war unsere Triebkraft, dieses Heft zu machen?

Neugierde? Ein brennendes Interesse an den anderen Menschen? Neugierde ist sicherlich eine (nicht nur) anthropogene Konstante, wahrscheinlich ist sie eine Konstante des Lebens überhaupt, ein Motor seiner Entwicklung – entgegen dem negativen Beigeschmack, der ihr gern verliehen wird. Auch das Interesse am Anderen gehört zur anthropogenen Grundausstattung – notwendigerweise, schließlich sind die Menschen aufeinander angewiesen. Diese beiden Faktoren liefern durchaus eine ausreichende Erklärung, aber es soll hier um mehr noch gehen. Warum also Empirie, und vor allem, warum politische Empirie? Oder anders gefragt: Gibt es denn im Zusammenhang mit sozialen Verhältnissen auch eine unpolitische Empirie?

Beim dargestellten Text handelt es sich um eine Kurzfassung.
Vollständigen Artikel ansehen. (http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,3817,1,0.html)

Sabine Kraft, Philipp Schneider

Inhalt

02 Tragende Linien – Tragende Flächen. Konstuktionsprinzipien im Werk von Stefan Polonyi
Rolf Gerhardt

04 „Offene Stadt“ Gemeinsam konstruieren
Michael Hensel

05 „wirkt“. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Projektentwickler oder Architekten
Jan Krause

06 Hans G Helms 8.6.1932 - 11.3.2012
Joachim Krausse

07 Bernd Meurer 11.2.1935 - 17.12.2011
Joachim Krausse

07 HygroScope. Meteorosensitive Morphology
Achim Menges

08 Referenz Großburgwedel
Franziska Kramer

08 Bücher zum Heftthema

Thema Empire
10 Editorial Politsche Empire

12 Wege des Empirischen
Joachim Krausse im Gespräch mit Sabine Kraft

17 Kalkulierte Krise –Zählen, Rechnen und Messen als Grundlagen der Moderne
Sebastian Manhart

22 Walks on the wild side – Zur Geschichte der Stadtforschung
Rolf Lindner

26 Recherchen vor Ort. Emile Zolas Skizzen für seinen Arbeiterroman der „Totschläger“
Michèle Sacquin

28 Die totale soziale Tatsache. Ein Ethnologe in der Metro
Marc Augé

32 Empirische Forschung und der „göttliche Blick“ von oben
Jeanne Haffner

36 Digitale Realitätsvermehrung
Elisabeth Kremer


Focus: Information Design

40 Internationaler Wettbewerb Out of Balance – Kritik der Gegenwart
Information Design nach Otto Neurath.
ausgelobt von ARCH und Stiftung Bauhaus Dessau

44 Die neue Zeit im Lichte der Zahlen
Otto Neurath

46 Das Sachbild. Bildstatistik nach der Wiener Methode
Otto Neurath


Stadthygiene

52 Historie: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845)
Friedrich Engels

54 Historie: Französische Zustände. Heinrich Heine über die Cholera in Paris (1832)

56 Historie: Mittheilungen über die Typhus – Epidemie in Oberschlesien (1848)
Rudolf Virchow

57 Historie: Die großen Epidemien der Menschheit bis zum 20. Jahrhundert
Sabine Kraft

58 Historie: Abwehr von Realität. Materialien zur Cholera-Epidemie in Hamburg (1892)

60 Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen
Peter Reinhart Gleichmann

67 Slum-Ökologie aus: Planet der Slums
Mike Davis

73 Das Recht auf Wasser – Die Entprivatisierung der Wasserversorgung in El Alto
Philipp Schneider


Wohnverhältnisse

78 Historie: Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande (1848)
Bettina von Arnim

80 Historie: Unsere erste Wohnungs-Enquête. Im Auftrag des Vorstands der Ortskrankenkasse (1902)

82 Historie: Suppe, Seife, Seelenheil, aus: Slums. Erlebnisse in den Schlammvierteln moderner Großstädte (1911)
Else Spiller

84 Historie: So leben wir ... 1320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben (1932)
Käthe Leichter

86 Portraits from Above – Hongkongs informelle Dachsiedlungen
Rufina Wu, Stefan Canham

92 Palm Springs – Der Mythos „Kalifornien“ in Hongkong
Laura Ruggeri

94 Wanderarbeiter in den Golfstaaten
Todd Reisz

98 Die materielle Welt der Familien – Ein globales Porträt
Peter Menzel

104 Wiederaufbau in ländlichen Regionen Haitis
Heinz Oelers


Globalisierung/Verstädterung

110 Arrival City – Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab.
Doug Saunders

117 Europas Mauern – Mobile Hindernisse in Wüsten und Meeren
Alain Morice, Claire Rodier

122 Mega Cities: Leben in getrennten Welten
Janna Greve

126 Welt wird Stadt
Sabine Kraft, Philipp Schneider

128 Planet der Slums
Mike Davis

132 Mythos Mikrokredit oder das Geschäft mit der Armut
Gerhard Klas

136 Outsourcing. Zur Architektur globaler Ungleicheit und ihrem Nutzen
Philipp Oswalt

139 Der Aufstand des Gewissens
Jean Ziegler

140 Agroimperialismus
Philipp Schneider

Baufokus: Licht
142 Einzelleuchten
144 Produkt-Familie
145 Licht-Inszenierung
147 Außenleuchten
153 ARCH features 6 ludloff ludloff. Über die Zusammensetzung von Atmosphären
Christa Kamleithner

Empirische Forschung und der „göttliche Blick“ von oben

Womöglich scheint kein technisches Hilfsmittel auf den ersten Blick so weit vom Alltagsleben entfernt wie die Luftbildfotografie. Für viele der Inbegriff des „göttlichen Blicks“, scheint sie den alles sehenden Betrachter vom Chaos, von der soziologischen Komplexität und von der allgemeinen Dynamik des Lebens auf der Erde zu distanzieren. Die einzigartige Fähigkeit dieses Werkzeugs, nur aus der Ferne erkennbare, abstrakte geometrische Formen auf der Erdoberfläche zu veranschaulichen, wäre für Stadtplaner und Architekten möglicherweise von besonderem Nutzen, da diese Professionen sich einer solchen Perspektive bedienen könnten, um „rationalere“ und effizientere städtische Räume zu entwerfen. Es wäre viel zu gewinnen, so scheint es, wenn man den maßgeblichen Aspekt der menschlichen Nutzung oder „Praxis“ außer Acht ließe und sich stattdessen mit abstrakten Umrissen oder Formen von Räumen befasste, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Maßstäbe, seien es städtische, ländliche, vorstädtische, regionale oder sogar auch globale.

Tatsächlich ist die Luftbildfotografie jedoch von jeher zum Verständnis der menschlichen Aktivitäten und des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Erde – die wirkliche Grundlage empirischer Forschung – eingesetzt worden. Architekten, Stadtplaner und Sozialwissenschaftler aus einer Vielzahl von Fachdisziplinen – aber vor allem Historiker, Ethnografen und Humangeografen – vertraten im frühen zwanzigsten Jahrhundert gern die Ansicht, dass die von Luftbildaufnahmen sichtbar gemachte „Form“ des Lebensraums tatsächlich der Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Normen, Werte und Produktionsweisen der Gesellschaften sei, die diese Form hervorbrachten. Oder, anders formuliert, der Blick von oben war ein notwendiges Instrument, um den Blick von unten einzufangen.

23. Juli 2012 Jeanne Haffner

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Out of Balance

(SUBTITLE) Kritik der Gegenwart. Information Desing nach Otto Neurath

Internationaler Wettbewerb ausgelobt von ARCH und Stiftung Bauhaus Dessau

In der Gegenwart zeichnen sich gesellschaftliche Prozesse ab, die ein Ausbalancieren sozialer Ungleichheiten immer unwahrscheinlicher machen und die eine ernsthafte Gefahr des Auseinanderdriftens der Gesellschaft bedeuten, sowohl im globalen und nationalen wie auch regionalen und lokalen Maßstab.

Menschen werden in sozialräumliche Verhältnisse hineingeboren. Ihre Lebenschancen sind, durch diese „Zufälligkeit“ der Geburt bedingt, extrem unterschiedlich. Im Interesse der sozialen Integration und gemäß dem Gleichheitspostulat der Demokratie verkörpern moderne Gesellschaften das Versprechen einer Angleichung der Lebensverhältnisse. Sie ist ein Garant für die politische Stabilität eines Gemeinwesens. Es ist also nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, nach der Einlösung dieses politischen Anspruchs zu fragen. Das heißt, zu fragen, wie die soziale Wirklichkeit tatsächlich aussieht, zu fragen, was die Bilanz einer 30jährigen Phase neoliberalen Wirtschaftens im Weltmaßstab ist, zu fragen, welche Auswirkungen die Deregulierung und Privatisierung staatlicher Aufgaben und der Umbau der Sozialsysteme in Europa hat, zu fragen, wie sich die Entfesselung der globalen Finanzwirtschaft vor allem auf die ökonomisch Schwächeren rückwirkt.

Städte sind seit jeher Orte der Überlebens- und Aufstiegshoffnung der Zuwandernden, sie sind aber gleichzeitig Orte organisierter Abwehr, Ungleichheit und Ausgrenzung. Die Verstädterung der Weltgesellschaft ist ein sich beschleunigender Prozess. Das 21. Jahrhundert hat zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mehr Stadt- als Landbewohner mit kaum übersehbaren und zunächst katastrophalen Folgen sowohl für das Land wie die Städte. In den Megalopolen der Dritten Welt und der Schwellenländer wiederholt sich in potenzierter Form, was für die sozialen Verhältnisse im Europa des 19. Jahrhunderts gilt. Gleichzeitig wirken diese Prozesse rück auf die „alte“ Welt durch Ströme von Kapital, Waren und Migranten und erzeugen dort neue Ungleichgewichte und Benachteiligungen. Ausgehend von den Finanzmärkten hat sich ein System organisierter Verantwortungslosigkeit verbreitet, das bestehende soziale Unterschiede nicht nur verschärft, sondern bewusst für private Vorteile ausnutzt.

23. Juli 2012

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Historie: Französische Zustände

(SUBTITLE) Heinrich Heine über die Cholera in Paris (1832) für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“

Paris, 19. April 1832

[...] Man hatte jener Pestilenz um so sorgloser entgegengesehn, da aus London die Nachricht angelangt war, daß sie verhältnismäßig nur wenige hingerafft. Es schien anfänglich sogar darauf abgesehen zu sein, sie zu verhöhnen, und man meinte, die Cholera werde ebensowenig wie jede andere große Reputation sich hier in Ansehn erhalten können. Da war es nun der guten Cholera nicht zu verdenken, daß sie aus Furcht vor dem Ridikül zu einem Mittel griff, welches schon Robespierre und Napoleon als probat befunden, daß sie nämlich, um sich in Respekt zu setzen, das Volk dezimiert. Bei dem großen Elende, das hier herrscht, bei der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bei den ärmern Klassen zu finden ist, bei der Reizbarkeit des Volks überhaupt, bei seinem grenzenlosen Leichtsinne, bei dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaßregeln, mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen. Ihre Ankunft war den 29. März offiziell bekanntgemacht worden, und da dieses der Tag des Demi-carême und das Wetter sonnig und lieblich war, so tummelten sich die Pariser um so lustiger auf den Boulevards, wo man sogar Masken erblickte, die in karikierter Mißfarbigkeit und Ungestalt die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst verspotteten. Desselben Abends waren die Redouten besuchter als jemals; übermütiges Gelächter überjauchzte fast die lauteste Musik, man erhitzte sich beim Chahût, einem nicht sehr zweideutigen Tanze, man schluckte dabei allerlei Eis und sonstig kaltes Getrinke: als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte und die Maske abnahm und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorschein kam. Man merkte bald, daß solches kein Spaß sei, und das Gelächter verstummte, und mehrere Wagen voll Menschen fuhr man von der Redoute gleich nach dem Hôtel-Dieu, dem Zentralhospitale, wo sie, in ihren abenteuerlichen Maskenkleidern anlangend, gleich verschieden. Da man in der ersten Bestürzung an Ansteckung glaubte und die ältern Gäste des Hôtel-Dieu ein gräßliches Angstgeschrei erhoben, so sind jene Toten, wie man sagt, so schnell beerdigt worden, daß man ihnen nicht einmal die buntscheckigen Narrenkleider auszog, und lustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grabe.

23. Juli 2012 Heinrich Heine

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Wanderarbeiter in den Golfstaaten

(SUBTITLE) Workers City

Dubai wurde einmal als ein einziges großes Transit-Hotel beschrieben – wer immer sich dort aufhält, hat ein Abreisedatum im Kopf. Ähnlich wie Banker aus England oder Ingenieure aus den Niederlanden kommen die Bauarbeiter aus Südasien meist mit einem (erneuerbaren) Zweijahresvertrags in den Golfstaat.

In Al Quoz, wo viele der Bauarbeiter leben, findet man eine sorgfältig gepflegte Umgebung. Saubere Küchen, eine fast schon militärische Ordnung in den Mehrbettzimmern, penibel geschrubbtes und aufgeräumtes Kollektivgerät. Hier gibt es eine Gemeinschaft. Für gewöhnlich von kleinen, unauffindbaren Vertragsunternehmen finanziert, leben die Gastarbeiter in firmeneigenen „labor camps“, so der offizielle Name der barackenartigen, auf offener Strecke gelegen Behausungen, nur wenige Minuten von den Wolkenkratzern längs der Sheikh Zayed Road entfernt. Hier gehen die Menschen die Straßen entlang, grüßen einander und plaudern in den engen Gängen der Lebensmittelgeschäfte. Solche Verhaltensweisen mögen alltäglich erscheinen, aber in der Neuheit Dubais fehlen sie in sehr befremdlicher Weise. Gerade diese soziale Komponente wird in den Medien gern übersehen. Die Reportagen mögen die Interessen der über 500.000 dort tätigen Gastarbeiter im Sinn haben, doch mangelt es ihnen an einer über unanschauliche demografische Daten hinausgehenden persönlichen Sicht und an der Wahrnehmung, dass diese Männer trotz ihrer instabilen Existenz und der Undurchsichtigkeit von Regierung und Unternehmen eine Solidargemeinschaft bilden. Selbstverständlich treten auch in Al Quoz und anderen Camps, wie in jeder größeren Gruppe, Extreme und Pannen auf. Was aber bei einem Besuch dieser Lager hervorsticht, ist, dass die beengten, teilweise schlimmen räumlichen Verhältnisse nicht die Oberhand über Menschlichkeit und freundliche Umgangsformen gewonnen haben.

23. Juli 2012 Todd Reisz

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