Editorial

Das neue dérive-Büro ist wunderbar, aber klimatisch wird es erst so richtig angenehm, wenn es draußen für die meisten unangenehm wird, also so ab 32° C aufwärts. Kein Wunder, wir residieren im Erdgeschoß eines Altbaus. Die KollegInnen, die kürzlich nachmittags zur Besprechung kamen und deren Büro sich im obersten Geschoß eines 1970er-Jahre-Hauses befindet, waren über die Temperatur in unseren Räumlichkeiten aufs Angenehmste überrascht und würden während des Sommers wohl am liebsten ins dérive-Headquarter übersiedeln. Soviel zu unserer individuellen Klimawandelanpassungsstrategie. Dass an dieser Stelle vom Wetter die Rede ist, ist übrigens nicht einer editorialen Einfallslosigkeit geschuldet, sondern dem Schwerpunkt dieser Ausgabe – der trägt nämlich den Titel Stadt Klima Wandel.

Der von Erik Meinharter redaktionell betreute Schwerpunkt stellt Lösungen zur Bewältigung der Klimafolgen (Erik Meinharter und Maria Balas, ab S. 9) vor, weist auf den Handlungsbedarf zur Klimawandelanpassung in öffentlichen Parkanlagen hin und macht Vorschläge, wie die notwendigen Anpassungsprozesse optimiert werden können (Stephanie Drlik und Andreas Muhar, ab S. 15). Wolfgang Gepp, Matthias Ratheiser und Simon Tschannett gewähren in ihrem Text Einblicke in die Beratungstätigkeit und das Know-how von MeteorologInnen im Bereich klimagerechter Stadtplanung und weisen auf die Versäumnisse hin, die speziell in Österreich zu konstatieren sind. Sie fordern angesichts steigender Energiekosten, die rein technische Lösungen wie Klimaanlagen immens verteuern werden, eine vorausschauend klimabewusste Stadtplanung. Katrin Hagen zeigt, welche internationalen historischen Vorbilder für eine klima-sensitive Stadtgestaltung existieren und wie solche Ansätze ins Hier und Heute transferiert werden können. Im den Schwerpunkt abschließenden Beitrag von Nadine Kuhla von Bergmann geht es schließlich um bottom-up-Strategien und kleinteilige Projekte für eine klimagerechte Quartiersentwicklung in Berlin.

Der Magazinteil des Hefts bringt Beiträge zu Josef Frank, Barcelona und dem Stadtfilm. Dabei knüpft Albert Kirchengasts Artikel über Josef Frank und den Siedlergarten in einzelnen Aspekten an den Schwerpunkt an, stellt doch mehr Grün (Gärten) in der Stadt eine der Strategien dar, urbane Räume an den Klimawandel anzupassen. Begleitet wird der Artikel von Fotos der Siedlung Hoffingergasse (Josef Frank und Erich Faber 1921 – 24) von Klemen Breitfuss.

20 Jahre liegt die Austragung der Olympischen Spiele in Barcelona zurück und mit ihr eine gigantische Inszenierung von Architektur, die Barcelona zu einem der Favoriten im weltweiten Städtetourismus gemacht hat. Rafael Ayuso Siart nimmt dieses Jubiläum zum Anlass für einen kritischen Rückblick und eine Analyse der gegenwärtigen Situation im Zeichen der spanischen Banken- und Immobilienkrise.

Einen Ausblick auf das Filmprogramm des heurigen ur3anize!-Festivals gibt Siegfried Mattls Text Stadtfilm Wien und danach, der sich den Urban Cinematics verschrieben hat. Mattl skizziert die Entwicklung des Stadtfilms zum »Analyseinstrument der sozialräumlichen Beziehungen«, das verspricht, die »Stadtplanungsmethoden zu durchdringen«. Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität setzt nahtlos mit dem 3. Teil von Postmoderne – Stadt und Angst fort, der den wunderbaren Titel Californian Urban Dreams. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie trägt. Wir wandern mit Russo durch das Orange County, machen in John Portmans Bonaventura Hotel in L.A. Zwischenstation, um schließlich gemeinsam mit Superbarrio die Tupinicopolis zu treffen, die sich nach einer retrofuturistischen Sambatuppe benannten. Wegbegleiter auf dieser Reise sind u. a. Jean Baudrillard, Frederic Jameson und Edward Soja.

Noch einmal zurück zu ur3banize! – Internationales Festival für urbane Erkundungen (gleich notieren: 5. bis 14. Oktober). Das anlässlich des 10-Jahres-Jubiläums von dérive 2010 gegründete Festival geht in die 3. Runde und widmet sich heuer dem Generalthema Stadt selber machen. Eine Idee, die in den letzten Jahren mit der Recht auf Stadt-Bewegung heftigen Aufschwung erfahren hat und sich heuer in zahlreichen Ausstellungen und Kongressen niederschlägt. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Ausstellungen Besetzt – Kampf um Freiräume seit den 70ern im Wien Museum (siehe Besprechung S. 60) und Hands-On Urbanism im Architekturzentrum Wien, Making City als Thema der Rotterdam Biennale und Active Urbanism als Motto des INURA-Kongresses.

Grund genug für dérive, die Sache im Rahmen des 10-tägigen Festivalprogramms nachdrücklich zu erforschen: ur3banize! 2012 versammelt Vorträge, Diskussionen, Workshops, Führungen, Filme, Installationen sowie Aktionen im öffentlichen Raum und will sich gemeinsam mit den TeilnehmerInnen schlau machen auf dem Weg zu einer aktiven Stadtgesellschaft. Das komplette Programm gibt es ab August auf www.urbanize.at.

Aber auch die Radio-Crew von dérive gibt sich mitnichten der Sommerpause hin: Radio dérive bringt im Juli eine Sendung zum Thema Baugruppen, im August folgt eine Diskussion zum Schwerpunkt dieser Ausgabe, und im September steht die Passage im Mittelpunkt der Sendung. dérive – Radio für Stadtforschung wird wie immer am 1. Dienstag des Monats um 17:30 Uhr auf Radio Orange erstausgestrahlt und ist in Folge bei etlichen anderen freien Radios zu hören. Alle Sendungen sind zudem als Podcast abonnierbar und auch im Online-Archiv jederzeit verfügbar. Links dazu gibt’s auf www.derive.at.

Eine spannende Lektüre und einen entspannenden Sommer wünscht
Christoph Laimer

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt | Stadt KLIMA Wandel
Erik Meinharter

Cape Farewell
Nicole Theresa Raab

Der Klimawandel in der Stadt aus meteorologischer Sicht
Wolfgang Gepp, Matthias Ratheiser, Simon Tschanett

Der urbane Freiraum im Klimawandel
Erik Meinharter, Maria Balas

Handlungsbedarf zur Klimawandelanpassung öffentlicher Parkanlagen
Stephanie Drlik, Andreas Muhar

Klima Kieze
Nadine Kuhla von Bergmann

Mit Sinnen und Verstand
Katrin Hagen

KünstlerInnenseite:
Ernst Logar: Erinnerungen an die Zukunft
Barbara Holub, Paul Rajakovics, Ernst Logar

Magazin:
Josef Frank und der Siedlergarten
Albert Kirchgast

Stadtfilm Wien
Siegfried Mattl

1992–2012: 20 Jahre Architekturinszenierung in Barcelona
Rafael Ayuso Siart

Serie | Geschichte der Urbanität:
Postmoderne Stadt und Angst III
Manfred Russo

Besprechungen:
Grundlagen für eine kulturwissenschaftliche Architekturforschung
Elke Krasny

Ideologische Implikationen urbaner Visionen
Susanne Jakob

Urbane Psychologien
Su Tiqqun

Die Revolte landet (vorerst) im Museum
Christoph Laimer

Lobby für Lobbylose
Iris Meder

Back to the Future – Die Wohnmaschinen kehren zurück!?
Christina Schraml

Stadt Klima Wandel

Besonders viel Aufmerksamkeit wird der Diskussion über den Klimawandel in der Öffentlichkeit zumeist dann geschenkt, wenn in der Fachwelt weitgehend unbestrittene Positionen in Frage gestellt werden. Das aktuellste Beispiel betrifft Fritz Vahrenholt, den ehemaligen Umweltsenator der Stadt Hamburg (1991 – 1997), der derzeit Vorstandsvorsitzender von RWE Innogy, einem Tochterunternehmen des deutschen Energieversorgungskonzerns RWE, ist. Mit seinem gemeinsam mit Sebastian Lüning verfassten, jüngst erschienen Buch Die kalte Sonne sorgt er für Aufregung im deutschen Blätterwald. Die Bild-Zeitung widmet dem Aufreger eine eigene Serie: »Die CO2-Lüge«.

Der einzige Effekt solcher Debatten ist eine verminderte Akzeptanz der Ziele des Klimaschutzes oder von Maßnahmen der Klimawandelanpassung. Ergebnisse jahrelanger seriöser Forschung und Prognosen, wie sie vom Intergovernmental Panel on Climate Change (www.ipcc.ch) errechnet werden, für die zumeist der Mittelweg des möglichen Temperaturanstiegs gewählt wird, werden dadurch aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt.

Die zentrale Frage ist jedoch, wie mit der Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung des Klimas und damit der Veränderung der Lebensumstände in den Städten umzugehen ist. Nicht zuletzt durch die stetig steigende Bevölkerungszahl der Städte haben die Auswirkungen des Klimawandels eine besondere Bedeutung für diese Siedlungsform. Gleichzeitig sind Maßnahmen des Klimaschutzes oder der Anpassung an den Klimawandel in der Stadt nur langsam umzusetzen, da ihre baulichen, infrastrukturellen und organisatorischen Strukturen sehr unflexibel sind. Es sollte nicht darum gehen, mit Katastrophenszenarien Denkprozesse anzustoßen, die dann im Falle einer langsameren Entwicklung oder des Ausbleibens der Untergangsszenarien die durch Umdenken in Gang gekommenen Veränderungen wieder einschlafen lassen.

Wichtig ist ein ruhiger, voraus denkender Umbauprozess des urbanen Lebens, welcher sich auf die zukünftigen Unsicherheiten vorbereitet, diese mitdenkt und Maßnahmen setzt, damit die städtischen Strukturen weiterhin als gemeinschaftliche Lebensumwelt funktionieren können.

Veränderungen sind am direktesten in den Freiräumen umsetzbar. Gleichzeitig geraten diese jedoch in budgetären Belangen unter Druck, wie Stephanie Drlik und Andreas Muhar in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt schreiben. Dafür verantwortlich ist ein erhöhter Pflegeaufwand aufgrund trockenerer Vegetationsphasen bei gleichzeitiger Aufnahme sanfter infrastruktureller Anpassungsmaßnahmen, wie z.B. der Versickerungsleistung für benachbarte versiegelte Verkehrsflächen. Wohl wurde erkannt, dass auch auf privaten Grundstücken mit geringerer Versiegelung, Dach- oder Fassadenbegrünung Maßnahmen gesetzt werden können, die einen Beitrag zur Eindämmung der steigenden Temperaturen leisten.

Doch es kann nicht nur um lokal begrenzte Räume gehen, die die gesamtstädtische Struktur erfassende Temperaturregelung muss im Auge behalten werden. Entscheidend ist hier, wie Wolfgang Gepp, Simon Tschannett und Matthias Ratheiser in ihrem Artikel schreiben, wie mit den heißen Nächten verfahren wird, da diese auf die Gesundheit der StadtbewohnerInnen den größten negativen Einfluss ausüben. In der Neuplanung von Straßen-, Park- und Platzanlagen muss auf klimatische Bedingungen wieder mehr Rücksicht genom-men werden, wobei Vorbilder aus dem südeuropäischen Raum helfen können, wie Katrin Hagen in ihrem auf Beispiele aus Granada und Sevilla eingehenden Beitrag darlegt.

Es stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, das regionale Klima für das thermische Empfinden der StadtbewohnerInnen durch derartige Maßnahmen innerhalb des derzeitigen Schwankungsbereiches zu halten: Ein Hitzetag in Nordeuropa beginnt in viel niedrigeren Temperaturbereichen für die Bevölkerung wahrnehmbar und beschreibbar zu sein als in Mittel- und dann weiter in Südeuropa. Es gibt jedoch größere Herausforderungen als die mitteleuropäische Problematik der steigenden urbanen Temperatur. Meeresnahe urbane Siedlungen oder Infrastrukturen sind Risiken ausgesetzt, die nicht mehr so leicht kalkulierbar sind.

Auch wenn Einzelereignisse, die gar nicht ursächlich mit dem Klimawandel in Zusammenhang stehen müssen, verheerende Auswirkungen auf gesamte Landstriche haben, wie Fukushima gezeigt hat, sollen diese Schreckens- und Katastrophenszenarien nicht dazu dienen, um Infrastrukturmaßnahmen gegen den steigenden Meeresspiegel oder häufigeren Starkregenereignissen zu legitimieren. Alleine die Kombination aus Urbanisierung und Kanalisierung lässt bereits sichtbar werden, dass alternative Strategien des Umganges mit dem Gut Wasser notwendig sein werden, um in Zukunft die gewachsenen Städte noch mit den Basisleistungen einer Agglomeration versorgen zu können. Es ist leicht einzusehen, dass ein bestehendes Kanalnetz einer Stadt nicht innerhalb kürzester Zeit für eine höhere Durchflussleistung umgebaut werden kann.

Parallel zu diesen Entwicklungen erleben bottom up-Strategien, begleitet von einer Renaissance der urbanen Gärten, eine Wiederbelebung. Waren Gärten in der Zwischenkriegszeit der Not geschuldet, ist Ihre Anlage heutzutage eine trendige Freizeitbeschäftigung. Das ändert nichts daran, dass die urbane gärtnerische Arbeit und die positive Resonanz, die sie erhält, einen Beitrag für nachhaltige Freizeitnutzung innerhalb der Stadt leistet.

Hier sind lokale Initiativen Vorreiter für eine an den Klimawandel angepasste Lebensform. Im Beitrag von Nadine Kuhla wird sichtbar, wie sich private Initiativen ganz konkret zu Aktivitäten innerhalb der Stadt zusammenschließen, die sowohl einen Gemeinwesensaspekt als auch einen Effekt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung nach sich ziehen. Die zentrale Frage ist nicht, ob Klimaschutz oder Klimawandelanpassung oder Nachhaltigkeit ein Vorrang in der Stadtentwicklung und Stadterneuerung einzuräumen ist, sondern wie die Ziele dieser Strategien vereinbart werden können, um eine zukünftig tragfähige urbane Lebensumwelt zu sichern.

dérive, Mo., 2012.08.13

13. August 2012 Erik Meinharter

Cape Farewell

»The arts are a core part of the Cape Farewell project: one salient image, a novel or song can speak louder than volumes of scientific data and engage the public's imagination in an immediate way.« Cape Farewell


Der Schwerpunkt Stadt Klima Wandel wird durch Fotografien von Kunstwerken und Installationen erweitert, die durch die Beteiligung von Künstlern und Künstlerinnen an verschiedenen Cape-Farewell-Projekten entstanden sind. Cape Farewell ist eine im Jahr 2001 von David Buckland im Science Museum London gegründete Non-Profit-Organisation, die den Klimawandel als kulturelles, soziales und ökonomisches Problem anerkennt und es sich zur Aufgabe gemacht hat, darauf mit künstlerischen Mitteln zu reagieren. Die Möglichkeit durch Kunst die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, für das Thema zu wecken, motivierte die KünstlerInnen gemeinsam mit Wissenschafter-Innen, Expeditionen zu vom Klimawandel gefährdeten (Extrem-)Standorten durchzuführen und wissenschaftliche Forschung als Ausgangspunkt für ihre Arbeiten zu verwenden.

Darüber hinaus gibt es im Rahmen des so genannten Shortcourse-UK-Programmes eine Zusammenarbeit mit einigen der angesehensten britischen Kunsthochschulen (University College Falmouth, Liverpool School of Art and Design, Liverpool John Moores University, sowie University of Arts London Colleges Chelsea Camberwell and Wimbledon (CCW)). Hier wird im Rahmen urbaner Erforschungen der Frage nachgegangen, welche Rolle die Künste und deren Universitäten im Zeitalter der Umweltkrise spielen können.

Einige der Fotos im Schwerpunkt sind speziellen Projekten zuzuordnen: Die Fotos auf den Seiten 9 bis 14 entstanden bei einer Exkursion zu den Liverpooler Docklands mit Studenten und StudentInnen verschiedener Disziplinen (Architektur, Kunst, Kunstgeschichte, Grafik) der John Moore’s Universität.

Die Abbildungen auf den Seiten 15 und 19 sind Teil der Ausstellung u-n-f-o-l-d. Sie zeigt die Arbeit von 25 Künstlerinnen und Künstlern aus, die an den Expeditionen in die Hocharktis (2007, 2008) und in die Anden (2009) teilnahmen. Alle Beteiligten erfuhren dieses dramatische und fragile Umfeld am Kipppunkt des Klimawandels am eigenen Leib, wodurch innovative eigenständige und gemeinschaftliche Antworten auf die physischen, emotionalen und politischen Dimensionen einer komplexen, im Wandel befindlichen Welt gefunden wurden. Diese sollen tiefergehende Debatten und Auseinandersetzungen im Klimadiskurs stimulieren. Weitere Informationen: www.capefarewell.com/art/unfold.html und
www.shortcourseuk.org

dérive, Mo., 2012.08.13

13. August 2012 Nicole Theresa Raab

Stadtfilm Wien und danach

Das Forschungsprojekt Film.Stadt.Wien, eine Kooperation des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, des Österreichischen Filmmuseums und der Künstler Gustav Deutsch und Hanna Schimek (D&S), widmete sich der Untersuchung des Erkenntnispotenzials sogenannter ephemerer Filme für urbanistische und filmkünstlerische Vorhaben. FilmemacherInnen, HistorikerInnen, MedienwissenschafterInnen und ArchivarInnen erarbeiteten in einem transdisziplinären Prozess Methoden und Begriffe, die zur Aufwertung dieser in der Forschung, der Archivpraxis und der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigten filmischen Dokumente (Amateurfilme, Werbefilme, Auftragsfilme, Wochenschauberichte) führen sollen. Dafür wurden aus den umfangreichen Archivbeständen des Österreichischen Filmmuseums und des Wiener Stadt- und Landesarchivs / Filmsammlung media wien rund 200 für die Untersuchungsmethode repräsentative Filme ausgewählt, stadthistorisch und filmstilistisch analysiert, systematisch erschlossen und um Kontextmaterial ergänzt.

Die Erschließung erfolgte nach Gesichtspunkten einer filmischen Topografie, die den Blick in Richtung der städtischen Strukturen und in Richtung der Verhältnisse zwischen dem gebauten Raum der Architektur, dem gelebten Raum der sozialen AkteurInnen sowie den räumlichen Repräsentationsformen lenkte. In der Verknüpfung von Sequenzen dieser ephemeren Filme entfaltet sich jener Wiener Stadtfilm, der gegen die Tradition des fiktionalen Wien-Filmes als die große Leerstelle empfunden wird. Die Hauptergebnisse dieser Arbeit sind in den Aufbau einer Datenbank eingeflossen und unter stadtfilm-wien.at online abrufbar. Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden im Rahmen von ur3anize 2012 – Internationales Festival für urbane Erkundungen (5. – 14. Oktober 2012) zu sehen sein. Details dazu gibt es ab August auf www.urbanize.at.

Die Cinematic City liegt hinter uns. Wir steuern die Urban Cinematics an. Gemeint ist, wenn wir François Penz und Andong Lu folgen, den beiden Herausgebern eines gleichnamigen Sammelbandes, ein Wechsel – oder eine entschiedene Erweiterung – in den Erwartungen, die dem Film als städtischem Medium par excellence gelten. Der Film verspricht zum Analyseinstrument der sozial-räumlichen Beziehungen zu werden und die Stadtplanungsmethoden zu durchdringen. Nimmt man einen Stadtraum mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, verschiedenen Kamerawinkeln und zu unterschiedlichen Zeiten auf, so erhält man dichte Informationen über die Verstreuung und Diversität menschlicher Tätigkeiten, über Bewegungsmuster und zeitabhängige Rhythmen. Und man nähert sich damit auch den möglichen Wahrnehmungsformen der StadtbenutzerInnen an, die seit langem das Interesse am mental mapping stimuliert haben und doch, weil zu aufwändig für Routineerhebungen, wenig beobachtet werden.

Gegenüber den Diagrammen wie den perspektivischen Szenografien, die in der Urbanistik und Architektur zum Einsatz kommen, erweitert der Film als research tool das Wissen um Aspekte der sozialen Produktion von Raum. Das ist die Ausgangshypothese von Wowo Ding in Urban Cinematics (Ding 2011). Sie läuft allerdings auf die Verknüpfung von Film und Computer hinaus, die nötig ist, um aus den Bildern Daten und Muster zu generieren. Der technologische Bruch, der damit angesprochen wird, verdeckt aber nicht, dass wir mit dem vorgeschlagenen Aufnahmedispositiv zunächst beinahe zwingend zu den Sternstunden des frühen Films zurückkehren, und zu Stadtfilmen, noch ehe es einen Begriff davon gab. A Trip down Market Street ist das vielleicht bekannteste Beispiel dafür.[1] Der Miles Brothers Motion Picture Company reichte es im April 1906 hin, für einen mehr als 10 Minuten langen Promotion-Film über San Francisco die Kamera auf die Plattform eines Cable Car zu stellen, das von der 8. Straße zur Fährenstation fuhr.

Der in einer einzigen starren Einstellung verlaufende, der Linearität der Straße folgende Phantom Ride[2] lieferte Bilder, die gegenüber den etablierten Signifikaten der Stadt San Francisco vollständig gleichgültig blieben. Der reine Zufall entschied darüber, welche Personen, Situationen, Handlungen und Gegenstände zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort zu sehen waren: Jugendliche, die ihr eigenes Spiel erfinden, indem sie auf fahrende Autos aufspringen oder mit dem Cable Car um die Wette laufen; Spaziergänger; vollgepackte Pferdekarren, die riskante Überholmanöver versuchen; ein gemächlich schreitender polizeilicher Ordnungswächter, der um seinen imposanten uniformierten Körper eine Zone des Respekts und der Distanz hervor zu bringen scheint; Trolley-Busse mit Werbeaufschriften, die inmitten des ungeregelten Verkehrs die Straße queren; Eckensteher; Fußgänger, die wie Toreros heranpreschenden Wägen ausweichen; gestikulierende Gassenjungen als Zeitungsverkäufer; Frauen mit ihren Einkäufen; Lastenträger; Männer mit Arbeitsschürzen, in Anzug und weißem Hemd, in Uniformen; Frauen mit eleganten hellen Hüten oder von schweren schwarzen Kleidern umhüllt ...

Dass man sich den Film wieder und wieder ansehen kann, hat nicht nur mit der tröstenden Wirkung der geschichtlichen Erinnerung zu tun. Das Staunen kommt wahrscheinlich mehr daher, dass uns die frühe Phantom Ride auf eine Verhärtung unserer Gewohnheiten aufmerksam macht: auf die diskrete Prägung unseres Denkens der Stadt im Umweg über den erzählten Raum des Spielfilms. Nichts weniger als die Irritation dieser Gewohnheit macht den Schritt von der Cinematic City zu den Urban Cinematics aus, also nicht die Verdrängung jener bewährten Konzepte, die den Film als Wahrnehmungslabor städtischer Moderne oder als sinnliche Erfahrung von Utopie und Dystopie (James Donald) behandeln, sondern deren Integration als spezifische, doch nicht hegemoniale Werke in die Definition des Stadt-Films.

A Trip down Market Street war kein singuläres Ereignis. Aus einer ganzen Serie von Phantom Rides in anderen Städten und Straßen ragt er deshalb hervor, weil ihn die Zerstörung San Franciscos durch das große Feuer und Erdbeben von 1906 fast unmittelbar in ein Monument verwandelte. Oder sogar in ein Menetekel für sektennahe Großstadtfeinde. Glücklicherweise blieb das dem Pathé-Frères-Film Vienne en Tramway[3] vom selben Jahr erspart. Wie in A Trip down Market Street genügt die fixe Verbindung von selbsttätiger Kamera und Fahrzeug, um einen Stadtfilm hervorzubringen. Konstante Einstellungsgröße, fixierter Kamerastandort und gleichbleibende Geschwindigkeit schaffen eine genuine Art von Beobachter/in einer städtischen Positivität, der/die die Bilder weniger konsumieren denn interpretieren muss. Keinem Objekt wird seitens der Kamera ein Privileg zugestanden. Auf der Fahrt über den Ring bleibt die Oper ein Gebäude wie jedes andere, nämlich ein den Straßenraum strukturierendes Volumen, wie überhaupt der Ring in diesem Film konträr zu seiner diskursiven Beschreibung als symbolischer Raum des bürgerlich-liberalen Machtanspruchs vielmehr als heterogenes Phänomen behandelt wird. (Die interne Logik der Transversale lädt eher dazu ein, das Tegetthoff-Denkmal am Praterstern und den dahinter sichtbar werdenden Circus Busch als signifikante Architekturen Wiens wahrzunehmen.) Wie schon in den anderen Fällen tritt die Multifunktionalität und Schichtung des Raumes hervor, die Überlagerungen von Arbeiten, Dienstleistungen, Geschwindigkeiten, wobei in diesem Beispiel die proletarische Präsenz durch Straßenbauarbeiter noch nachhaltiger zum Vorschein kommt; allerdings gemeinsam mit deren sinnfälliger Bindung an ihren Arbeitsort.

Das Verhältnis von Film und Stadt ist lange Zeit vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation verhandelt worden. Nicht zuletzt trug dazu bei, dass mit Film der fiktionale Spielfilm gemeint war, ergänzt durch Ausnahmeerscheinungen dokumentarischer Stadtporträts wie Berlin, die Sinfonie der Großstadt von Walther Ruttmann. Michel de Certeau hat – offensichtlich mit Blick auf diesen Film-Korpus – kritisch eingewandt, dass das meiste, was an Stadtdarstellung für den Film reklamiert worden ist, schon von den traditionellen Künsten erfunden worden war, z. B. das panoptische Regime: »Die Maler erfanden gleichzeitig das Überfliegen der Stadt und den Panoramablick, der dadurch möglich wurde. (…) Hat sich daran etwas geändert, seitdem technische Prozeduren eine ›alles sehende Macht‹ organisiert haben?« Oder anders gesagt: Der Film fügt sich ein in die Bemühungen der Künste, die Stadt in einen transparenten Text zu verwandeln und lesbar zu machen.

Dokumente wie Market Street und Vienne en Tramway zeigen, dass es auch eine rohe Form gibt, in der sich die Eigenschaften der Stadt nicht abbilden, sondern verdoppeln. Die Tiefenschärfe der frühen Kameratechnik zeichnete mit dafür verantwortlich, dass keines der erfassten Objekte den Fokus auf sich ziehen kann, sondern sich den Raum mit der Präsenz vieler anderer teilen muss, zu denen es in verschiedenen Momenten unterschiedliche Beziehungen – oder gar keine – unterhält (vgl. Büttner & Dewald 2002, S. 88ff.). Hier gibt es nicht den einen Text der Stadt, sondern es regiert die hartnäckige Opposition der gegeneinander oftmals indifferenten Tätigkeiten und Bewegungen, denen man jeweils wieder ihren Eigensinn zu entlocken versucht ist und die dazu stimulieren, die pure Koinzidenz als urbane Kraft zu entdecken. Ähnliche Phänomene, wenn auch auf anderer als technischer Basis, drängen aus den Massen von Amateuraufnahmen, Werbefilmen und filmischen Hybriden hervor, die sich einer Genre-Bezeichnung verweigern.

Im Anschluss an Wowo Ding ist es verlockend, sich vorzustellen, solche Dokumente einer computergenerierten Variation von Tempo, Kamerawinkel, Aufnahmezeit zu unterwerfen und darauf eine neue Abteilung des urbanen Archivs zu begründen. Dies scheint für absehbare Zeit leider ein entropisches Unter-nehmen zu bleiben. In der Zwischenzeit können wir uns aber anschicken, die filmischen Dokumente zur Stadt neu zu gruppieren und bewusst das (gemessen am Modell des Spielfilms) Unfertige, das Missratene, Sequenzen ohne filmdramaturgischen Sinn (oder außerhalb davon) aufzusuchen und daraus hunderte, tausende imaginäre Stadtfilme entstehen zu sehen.


Anmerkungen:
[01] Verfügbar unter http://www.youtube.com/watch?v=KJsAdXb4MQc&feature=related (Stand 15. 5. 2012)
[02] Als Phantom Ride wird ein Genre der frühen Filmgeschichte bezeichnet, das um 1900 besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten populär war. Zur Erstellung der Phantom Rides wurde eine Filmkamera an die Spitze einer Lokomotive montiert, welche die Fahrt als Point-of-View-Shot aufzeichnete.
Die dynamischen Präsentationen von Landschaften in den Phantom Rides waren die ersten Beispiele für Kamerafahrten in der Filmgeschichte. Als Vorläufer der Reisefilme stellen sie eine Vorform der Dokumentarfilme dar. (Quelle: Wikipedia)
[03] Verfügbar unter http://www.stadtfilm-wien.at (Stand 15. 5. 2012)

dérive, Mo., 2012.08.13

13. August 2012 Siegfried Mattl

Ideologische Implikationen urbaner Visionen

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt seit Mitte Mai in gelber Schreibschrift auf der Fassade der 1961 erbauten Ausstellungshalle des Württembergischen Kunstvereins (siehe Abbildung). Die Neonarbeit des Düsseldorfer Künstlers Ludger Gerdes, die seit den 1990er Jahren das Rathaus der nordrhein-westfälischen Stadt Marl ziert, wurde für die Dauer der Ausstellung Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt von den beiden Direk­torInnen Iris Dressler und Hans Christ nach Stuttgart dissoziiert.

Die Kontextverschiebung der Marler Neonarbeit eröffnet neue Kommen­tar­ebenen und schafft räumliche Bezieh­ungen, beispielsweise zum Innenhof des Württembergischen Kunstvereins, in dem seit den 1980er Jahren die heftig umstrittene »Bewusstseins-Skulptur« Stammheim (1984) von Olaf Metzel installiert ist, sowie zum Hauptbahnhof und Schlossgarten, die inzwischen zum dystopischen Monument neoliberaler Raumplanung geworden sind. Eine Referenz zur lokalen Situation bietet ebenfalls die Ausstellung, die als begehbares Stadtmodell funktioniert. Der Parcours führt vorbei an utopischen und realisierten Stadtprojekten, an Theorie­displays und Bildarchiven, in denen Reprä­sen­­ta­tions­formen, Umwertungen und Krisen der Stadt von den 1930er Jahren bis heute thematisiert werden. Dazu werden künstlerische Beiträge, die sich mit städtebaulichen, sozialen, politischen und ökonomischen Konfliktfeldern der Stadt be­­fassen, sowie Material aus der Pop-, Protest- und Subkultur und Rekonstruktio­nen von Ausstellungen der 1970er Jahre in Beziehung gesetzt.

Im Eingangsbereich enthüllt der Berliner Fotograf Martin Eberle mit der fotogra­fischen Abhandlung Pyongyangstudies II (2007 – 2012) die Quellen, aus denen sich die Stadtplanung der nordkoreanischen Metropole Pjöngjang speist. Der Aufbau der nordkoreanischen Hauptstadt beruht im Wesentlichen auf 25 Schautafeln zur Weltarchitektur, die in der staatlichen Akademie der Architektur seit der Regierungszeit von Kim Jong Il (1994 – 2011) ausgestellt sind. In der nach dem post­modernen Copy-Cut-Paste-Verfahren gestalteten Hauptstadt wurden die Ikonen der Weltarchitektur nicht wegen ihrer architektonischen Qualität, sondern allein aufgrund ihrer Ikonizität ausgesucht.

Die kuriose Akkumulation von Architektur­ikonen, die von Monumenten der Megalithkultur bis zum Präsidentenpalast von Oscar Niemeyer in Brasilia (1959) reichen, steht exemplarisch für den Versuch, Architektur als subtiles Instrument der Erziehung und Disziplinierung einzusetzen und hegemoniale Machtan­sprüche durch Stadtplanung zu ze­mentieren. Historische Kontinuitäten der Verbindung von Stadtplanung, Politik und Ökonomie lassen sich von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart verfolgen. Als Beispiel für die gescheiterte Allianz dieser Interessen steht das ambitionierte Sanierungsprojekt Pruitt-Igoe im Norden von St. Louis (USA). Dieses Wohnquartier, das in den 1950er Jahren mit Geldern
des National Housing Act finanziert und vom japanischen Architekten Minoru Yamasaki (1912–1986) als getrennte Baukomplexe geplant wurde, ist ein Bei­spiel für die US-amerikanische Siedlungs- und Rassentrennungspolitik, die in St. Louis mit der spektakulären Sprengung der Siedlung 1972 endete.

Einen weiteren Bereich nehmen die visionären und urbanismuskritischen Debatten der 1970er Jahre ein, die mit Lucius Burckhardts Fragestellung »Wer plant die Planung« (1974) einsetzten. Einen Rückgriff auf die Architektur-, Gender- und Kunstdiskurse der 1970er Jahre bringt Yvonne P. Doderers und Ute Meta Bauers mehrfarbiges Bildstecksystem Raumstruktur (1994 — 1995) zur Geltung.

Während die Manifeste und Planungen der Moderne noch die Funktionsprobleme der Städte zu lösen versuchten, werden die Planungsvorhaben in der spätkapita­listischen Stadt überwiegend von öko­nomischen und privatwirtschaftlichen Inter­essen bestimmt. Zum Sinnbild der nach marktwirtschaftlichen Kriterien operieren­den Stadt wurde in den 1990er Jahren das Iconic Building, das der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks als »enigmatic signifier« charakterisierte. Dem Ausverkauf und Verschwinden des differenziellen urbanen Raums setzt die Ausstellung andere Formen der Raum­aneignung entgegen, die sich in künstle­rischen Praktiken und gegenhegemonialen Strategien äußern. Der Slogan »Demo­craticemos La Democracia« (Demokratisie­ren wir die Demokratie), den Daniel Garcia Andujar 2011 auf einem Werbebanner im Luftraum Barcelonas vor dem emblema­tischen Torre Agbar platzierte, kann als deutliches Plädoyer für mehr gesell­schaftliche Partizipation und Solidarität gelesen werden. Ein eindrucksvolles Beispiel für den Widerstand gegen das Cleaning-up kompletter Stadtviertel liefert John Smiths’ Videofilm Blight (1994 — 1996), in dem er den aussichtslosen Kampf der BewohnerInnen gegen den Abriss einer Wohnsiedlung in East London begleitete. Die Montage aus Bildern, Originaltönen und musikalischen Elementen wird zur Metapher für Trauer und Verlust eines historisch gewachsenen Lebensumfeldes.

Subversiver agiert hingegen der Stuttgarter Künstler Pablo Wendel, der im Außenbereich des Württembergischen Kunstvereins mit einem Stelzenbau und dem Kunststrom erzeugenden Firmenlabel Performance Electrics das Machtmonopol der Energie­konzerne zu unterlaufen versucht. Wendels künstlerisches Selbstversorgungs­system beruht auf einer Kunststrom-Sammelstelle, einer Gruppe von Strom-Phreakern (Varta Bande) und einem Verteilungs­system, an dem man sich über Energie­partnerschaften beteiligen kann.

Mit der Videoperformance New Town Ghost (2005), in der eine Sängerin und ein Schlagzeuger auf einem Pickup durch die Straßen von Seoul fahren, klagt die Koreanerin Minouk Lim den Verlust von Tradition und städtischen Mikrostrukturen an, die durch die Bautätigkeit der New Economy verloren gingen. Der (Hilfe)schrei »Oh, My Complex! New Town Ghost!« verhallt als letzte Instanz der Selbstbehauptung in den Straßen­schluchten der koreanischen Megacity.

dérive, Mo., 2012.08.13

13. August 2012 Susanne Jakob

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