Editorial
Ein Blick über die Grenzen bestätigt die Vermutung: Die Situation der Schweizer Architektinnen und Architekten ist beneidenswert. Während Architekturschaffende in vielen Ländern lediglich erste Skizzen zu einem Bauprojekt abliefern und die Ausführung spezialisierten Firmen überlassen, haben sie hierzulande die Möglichkeit, für die Realisierung eines Bauwerks verantwortlich zu zeichnen. Ähnlich ergeht es den Ingenieurinnen und Ingenieuren. Dieses Privileg, das zur international beachteten Qualität der Schweizer Baukunst beiträgt, verdanken beide Berufsgruppen nicht nur einem gut funktionierenden Bildungssystem, sondern auch ihren Berufsverbänden und insbesondere dem Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein SIA. Im interdisziplinären Verband erarbeiten Fachleute – meist ehrenamtlich – Normen und Ordnungen für das Bauwesen, wie sie anderswo von praxisfernen staatlichen Stellen erdacht werden.
Das Berufsbild, das sie auf diese Weise definieren, berücksichtigt die gesamte Erstellungsphase von Bauwerken im Hoch- und Tiefbau. Auch das Wettbewerbswesen, das sich regelmässig als eigentliches Forschungslabor für neue Entwurfs- und Konstruktionslösungen bewährt und jungen Büros den Einstieg in die Selbständigkeit ermöglicht, ist seit jeher ein Kernthema des SIA.
Dieses Heft erscheint zum 175-Jahre-Jubiläum des SIA und enthält ein Portrait des 1837 gegründeten Vereins sowie weiterer Organisationen von Baufachleuten in der Schweiz. Gleichzeitig suchen wir den Vergleich mit umliegenden europäischen Ländern: Wann wurden deren Berufsverbände gegründet? Was war ihre ursprüngliche Rolle, und inwiefern hat sich ihr gesellschaftlicher und politischer Stellenwert im Laufe der Zeit verändert? Wie hängt die Art und Weise, wie sich Baufachleute organisieren, mit ihrem Arbeitsalltag zusammen? Was sind die Folgen auf die Baukultur ihres Landes? Stichwortartig zusammengestellte Fakten und Zahlen erleichtern den Quervergleich zwischen den sehr unterschiedlichen Konstrukten.
Dieses Heft erhebt nicht den Anspruch, einen gesamteuropäischen Vergleich zu leisten oder die Organisationen der vorgestellten Länder vollzählig zu präsentieren. Es bleibt lückenhaft, sowohl geografisch als auch thematisch. Trotzdem zeigt es eines auf: Das vorerst etwas trocken anmutende Thema «Berufsorganisationen» ist erstaunlich anregend. Die Struktur jeder Berufsorganisation offenbart eine nationale Geschichte, eine spezifische Mentalität, ein eigenes Selbstverständnis – und manchmal auch ein ganz besonderes Drama. Die Beiträge in dieser Ausgabe entstanden in enger Zusammenarbeit mit unseren Schwesterzeitschriften «Tracés» und «archi», in denen einige davon auf Französisch bzw. Italienisch erscheinen werden. Allen drei Zeitschriften liegt das dreisprachige Dossier «175 Jahre SIA: 1837 – 2012» bei. Herzliche Gratulation!
Judit Solt
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Den städtischen Teppich weiter weben | Erweiterung Kunstmuseum, Chur
26 PERSÖNLICH
28 MAGAZIN
Zeitgenössische Architektur in Beirut | 100 Jahre usic | Deutsches Architekturjahrbuch | Zwei Seiten einer Medaille | Werbung einst und heute | Alpine Auslegeordnung | Umbauten – in Kürze | Durchmesserlinie Zürich – Südtrakt | Portal gegen Klimamythen
64 KONSENS IN DER VIELFALT
Christoph Wieser
Schweiz: Der SIA zeichnet sich im internationalen Vergleich durch seine Interdisziplinarität und durch die Erarbeitung der Normen für das Bauwesen aus.
70 KAMMERN UND BÜNDE
Ulrich Brinkmann
Deutschland: Die Architektenkammern haben sich vor allem der
Standespolitik verschrieben, der Bund Deutscher Architekten der Qualität.
74 ZAGHAFTE ANNÄHERUNG
Christine Desmoulins
Frankreich: Entscheidend ist, welche Uni man besucht hat. Fachleute
mit interdisziplinären Studiengängen an Eliteschulen haben gute Karrierechancen.
78 KAMPF UMS ÜBERLEBEN
Alberto Caruso
Italien: Eine Überzahl an Architekturbüros, sinkende Honorare und
juristisches Chaos bedrohen die Jahrtausende alte kulturelle Tradition des Landes.
81 «NIEDERLÄNDER SIND EBEN ETWAS FREIZÜGIGER»
Cedric van der Poel
Niederlande: Der Architekt Kees Christiaanse hat ein Büro in Rotterdam und in Zürich. Im Gespräch vergleicht er die zwei Berufs- und Baukulturen.
87 SIA
Eindrücke vom 5. WFES | Der SIA und die Werbung | Benchmarking der Planerverbände
104 PRODUKTE | FIRMEN
121 IMPRESSUM
122 VERANSTALTUNGEN
Konsens in der Vielfalt
Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA ist 175 Jahre alt. Im internationalen Vergleich sind seine Interdisziplinarität hervorzuheben sowie die Tatsache, dass der SIA als privater Verein die Normen und Ordnungen des Bauwesens in der Schweiz erarbeitet. Heute konzentriert sich der Verband auf die Weiterentwicklung seiner Dienstleistungen und auf T hemen wie Raumplanung, Energie, Ausbildung, Marktzugang und auf die Förderung der Baukultur.
Der SIA ist der führende Schweizer Fachverband in den Bereichen Bau, Technik und Umwelt und zählt derzeit rund 15 000 Mitglieder. Er ist älter als der schweizerische Bundesstaat und ähnlich kompliziert aufgebaut. Das Motto des Künstlers Ben Vautier, «La Suisse n’existe pas», mit dem 1992 der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla auf die Vielfältigkeit der Schweiz aufmerksam machte und dabei viele irritierte, gilt in analoger Weise für den SIA: Es gibt nicht einen, sondern viele SIA. Das Organigramm zeigt eine vielfach verflochtene Matrix-Struktur, die regional verankert und über das Generalsekretariat in Zürich zusammengehalten wird.
Umso erstaunlicher, dass die komplexe Organisation des Vereins auf der Webseite in einem Satz zusammengefasst werden kann: «Er ist föderalistisch aufgebaut und besteht aus dem Zentralverein SIA Schweiz, regional tätigen Sektionen sowie vier Berufsgruppen und den Fachvereinen, die den Austausch auf fachlicher Ebene fördern.» Während in den 18 Sektionen vornehmlich das Vereinsleben und Kontakte zu den lokalen Behörden gepflegt werden, sind die Berufsgruppen schweizweit tätig und stehen für die charakteristische Interdisziplinarität des SIA. Jedes Mitglied tritt sowohl einer Sektion als auch der passenden Berufsgruppe Architektur, Ingenieurbau, Technik / Industrie oder Boden / Wasser / Luft bei.
Die verschiedenen Disziplinen in einem gemeinsamen Verband zu vereinigen, ist ein ebenso wesentliches wie konfliktträchtiges Merkmal, an dem der Verein in den 1990er-Jahren beinahe zerbrochen wäre. Sie entspringt dem Wunsch der Gründerväter, Architekten und Ingenieure aller Richtungen in einem nationalen Verein zusammenzuschliessen mit dem einzigen Zweck, «die Beförderung von Kenntnissen in den Fächern der Architektur und Ingenieurwissenschaft durch Mitteilung gesammelter Erfahrungen und Beurteilung vorgelegter, in das Gebiet einschlagender Fragen»[1] voranzutreiben. Der fachliche Austausch war 1837, als der Verein in Aarau gegründet wurde, viel schwieriger als heute: Die ETH gab es noch nicht und kaum Fachzeitschriften; das Reisen mit Kutschen auf den schlecht ausgebauten Strassen und ohne Eisenbahn war beschwerlich. Weiterbildung ist bis heute ein wichtiges Anliegen des SIA geblieben.
Interdisziplinarität und Kooperation
Das Zusammengehen von Ingenieuren und Architekten führte die Tradition des Baumeisters als «Macher» weiter – im Gegensatz zum Typus des schöngeistigen Künstlerarchitekten, wie er in den damaligen französischen Beaux-Arts ausgebildet wurde. Das sich rasant entwickelnde Industriezeitalter brachte jedoch neue Rollenbilder mit sich. So waren in den 1860er-Jahren die Ingenieure viel dynamischer und einflussreicher als die Architekten, angetrieben vom Eisenbahnfieber, das die Schweiz etwas verspätet erreichte. Die interdisziplinäre und paritätische, nach Ausgleich und Einbezug aller Interessen suchende Haltung zeichnet den SIA bis heute aus. Sie erschwert zwar die Profilbildung ebenso wie die Führung des Vereins, entspricht aber dem hoch komplexen, vielerlei Einflüssen und Interessen ausgesetzten Bauwesen. Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums betonte der damalige Präsident, Paul G. Vischer, die Wichtigkeit des kooperativen Aspektes: «Die vielen technischen Einrichtungen in allen Bauwerken verlangen eine Zusammenwirkung aller daran Beteiligten.
Die Aufgabe des S.I.A. muss deshalb unbedingt bestehen bleiben, das gegenseitige Verständnis zwischen den Vertretern der Technik und der Baukunst aufrecht zu erhalten.»[2] Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg führte indes zu einer immer stärkeren Spezialisierung. Neue Modelle des Zusammenwirkens von Planern, Unternehmern und Auftraggebern – Stichwort Generalunternehmer – brachten das traditionelle Berufsbild erneut ins Wanken und veränderten das Selbstverständnis der einzelnen Akteure. Die angestammte Kontrolle über die Ausführung, die für die Qualität von Bauwerken entscheidend ist, drohte den Architekten zu entgleiten – eine Tendenz, die heute aktueller ist denn je. Die Überarbeitung der Honorarordnungen Mitte der 1980er-Jahre, die unter anderem eine modulartige Vergabe und eine von den Baukosten unabhängige Bestimmung des Honorars vorsah, führte innerhalb des SIA zu grossen Spannungen. Eine Abspaltung der Architekten konnte nur durch die Etablierung der Berufsgruppen verhindert werden, verankert im Jahr 2000 mittels Statutenrevision.
Standesfragen und Berufspolitik
Die Vertretung der Standesinteressen gegen aussen und die Berufspolitik spielen seit den 1870er-Jahren eine immer wichtigere Rolle. Gemäss § 1 der Statuten von 1877 bezweckte der Verein neu «die gegenseitigen Beziehungen unter Fachgenossen zu heben, das Studium der Baukunst nach ihrer wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Seite zu fördern, zur Wahrung und Hebung des Einflusses und der Achtung, welche technischen Berufszweigen gebühren, beizutragen und das Organ zu bilden, welches letztere bei Behörden und Privaten zu vertreten hat.»[3] Im Gegenzug mussten die Mitglieder bestimmte Pflichten einhalten und für qualitativ und ethisch hochstehende Standards eintreten. Dies ist der Grundgedanke der Standesordnung, die 1937 nach dreissigjähriger Vorarbeit eingeführt wurde.
Die Gründe, weshalb immer wieder an die Einhaltung der Regeln erinnert werden muss, sind vielfältig. Wiederkehrend ist der Hinweis auf den mangelnden Titelschutz, der auch «beruflich und moralisch unqualifizierten Technikern»[4] die Berufsausübung ermögliche. Solche Kollegen sollten vom SIA ferngehalten werden. Ein Mittel dazu ist bis heute die BeDien schränkung der Mitglieder auf die «höhere Technikerschaft», sprich akademisch gebildete Ingenieure und Architekten. Mit der Einführung des Registers REG wurde 1966 eine Möglichkeit geschaffen, qualifizierte Berufsleute ohne entsprechenden Abschluss aufzunehmen. Die stetige Ökonomisierung und die Verschärfung der Konkurrenz führen mitunter ebenfalls dazu, dass Standesregeln verletzt werden. Deshalb fordert der SIA von seinen Mitgliedern eine beispielhafte Berufsausübung und appelliert an die Eigenverantwortung; Verstösse können geahndet werden. Er hat auch schon früh damit begonnen, Normen und Ordnungen als Grundlagen für die Berufsausübung und Berufsethik festzulegen.
Normenwerk und Milizsystem
Die erste «Honorar-Ordnung für architektonische Arbeiten» erschien 1877 zusammen mit den «Grundsätzen für das Verfahren bei architektonischen Wettbewerben»[5], zwei Ordnungen, die – mehrfach überarbeit und jeweils auf den aktuellen Stand gebracht – bis heute von herausragender Bedeutung sind. 1883 wurde das «Normalformat für künstliche Bausteine (Backsteine)»[6] festgelegt. Die technischen Normen des SIA sind in der Schweiz zentrale Berufsinstrumente: Sie stehen als Garanten für Qualität und vereinfachen die Planung und Herstellung von Bauwerken. Die Festlegung von Grenzwerten erhöhte unter anderem auch die Sicherheit und Gebrauchstauglichkeit von Gebäuden, was für Planer wie Auftraggeber von grossem Nutzen ist. Der Vertrieb der Normen, Ordnungen, Empfehlungen und Richtlinien bildet heute nach den Mitgliederbeiträgen die wichtigste Einnahmequelle des Vereins. Bei Gerichtsfällen werden sie als Abbild der aktuellen Regeln der Baukunde herangezogen. Das Normenwerk ist wohl der entscheidendste Beitrag des SIA und trägt bis heute wesentlich zu dessen Bekanntheitsgrad bei.[7] Die Normen und Ordnungen des SIA werden nach wie vor in zahlreichen Kommissionen erarbeitet, mehrheitlich im Milizsystem und unterstützt vom Generalsekretariat.
Im Unterschied zu vielen Ländern, etwa jenen der Europäischen Union, werden die Normen und Ordnungen des Bauwesens in der Schweiz seit jeher massgebend vom SIA und damit von privater Seite erarbeitet. Der SIA hat sich den Auftrag dazu selbst gegeben, und Behörden aller Stufen profitieren von dieser historisch gewachsenen Situation.
Die Volontariatsarbeit und die paritätisch zusammengesetzten Kommissionen des SIA haben den Vorteil, dass die Anliegen verschiedenster Fachrichtungen und Interessengruppen direkt und von Beginn an einfliessen können. Im Unterschied zu gesetzlichen Bestimmungen lassen sich Normen leichter ändern; die Flexibilität ist damit höher, was Innovation und eine stetige Weiterentwicklung begünstigt. Doch die Freiwilligenarbeit stösst zusehends an ihre Grenzen, die Themen werden komplexer, europäische Einflüsse sind zu integrieren, die Bearbeitungszeit nimmt zu. Zudem sind die Wege innerhalb des Vereins lang und die Entscheidungsfindung häufig träge.
175 Jahre und die Zukunft
Eine Optimierung steht zurzeit im Bereich der Organisationsstruktur des Vereins an. Während die Direktion des SIA in Zukunft noch mehr die strategische Führung wahrnehmen soll, obliegt dem Generalsekretariat unter Leitung des Generalsekretärs oder der Generalsekretärin die Besorgung der laufenden Geschäfte, eine Arbeit, die stetig zunimmt und anspruchsvoller wird.
Heute stehen neben der Weiterentwicklung und Pflege des Normenwesens und weiterer Dienstleistungen des SIA vor allem Energie- und Ausbildungsfragen, die Raumplanung, der Marktzugang und die Förderung einer hochstehenden Baukultur im Vordergrund. Letzteres umso mehr, als der Bundesrat in seiner Kulturbotschaft für die kommenden Jahre das Bauen nur aus denkmalpflegerischer Warte betrachtet, zeitgenössische Architektur und Ingenieurbaukunst aber weiterhin ausklammert. Hier bringt sich der SIA verstärkt ein. So etwa über den von ihm initiierten Runden Tisch für Baukultur[8], die Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi»[9], mit der Werke prämiert werden, die als Vorreiter einer zukunftsfähigen Entwicklung angesehen werden können, oder über die «Woche der zeitgenössischen Architektur und Ingenieurbaukunst 15n», während der SIA-Fachleute ihre Bauwerke dem interessierten Publikum öffnen. Die Aufgaben des SIA bleiben auch nach 175 Jahren bestehen; sein Engagement für seine Mitglieder und das «Bauwerk Schweiz» geht weiter.
Anmerkungen:
[01] Hans Nef: «Vereinsgeschichte» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «100 Jahre SIA 1837–1937». Orell Füssli, Zürich, 1937, S. 145
[02] Paul G. Vischer: «Aufgaben vom Tage» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «100 Jahre SIA 1837–1937». Orell Füssli, Zürich, 1937, S. 204
[03] Wie Anm. 1, S. 156
[04] Wie Anm. 1, S. 162
[05] Alfred Hässig: «Vorschriften und Normalien» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «100 Jahre SIA 1837–1937». Orell Füssli, Zürich, 1937, S. 179
[06] Wie Anm. 1, S. 158
[07] Max Portmann: «Das technische Normenwerk des SIA» in: Schweizerischer Ingenieur- und Architekten-Verein (Hrsg.): «1837–1987 SIA». SIA, Zürich, 1987, S. 55
[08] www.sia.ch/de/aktuelles/detailansicht/article/manifest-zur-baukultur/
[09] TEC21-Dossiers Januar 2007 und März 2011TEC21, Fr., 2012.05.04
04. Mai 2012 Christoph Wieser