Editorial

Der kulturell und politisch weitgehend eigenständige Landstrich zwischen Bergen und Seen, zwischen Chalets im Wallis und Uhrmacherwerkstätten in den Hügeln des Juras, zwischen Nestlé-Zentrale (Vevey), Völkerbundpalast (Genf) und Olympischem Komitee (Lausanne) macht seit einiger Zeit durch eine Fülle qualitätsvoller Bauten auf sich aufmerksam. Zum typisch schweizerischen Minimalismus und zur technischen Präzision gesellt sich in der Architektur dieser Region eine undogmatische Leichtigkeit im Umgang mit Formen und Materialien. Daraus ergibt sich eine Vielfalt, der sich nur schwer etwas Spezifisches zusprechen lässt.

Man spürt zwar den Einfluss der ETH in Zürich, aber auch den internationaler Strömungen. Am ehesten lässt sich das »Eigene« vielleicht im Zusammenklang von Tradition und Zeitgenossenschaft fassen, so wie auf unserem Titelbild, das in den Fenstern der »Urbanen Villa Beaumont« in Lausanne (2b architectes) die traditionelle Bauweise spiegelt. Ohnehin lässt sich die Romandie nur schlecht als ein einheitlicher Kulturraum fassen. Auch wenn die rund 1,75 Mio. Einwohner die gemeinsame Sprache eint und dort immer wieder zu hören ist, man orientiere sich in Sachen Medien, Literatur und Kunst eher nach Paris als nach Zürich, sind die historisch gewachsenen Eigenheiten und die politische Eigenständigkeit jedes Kantons und letztlich sogar jeder einzelnen Gemeinde doch zu stark.

Spätestens seit 2006 ist für die architektonischen Leistungen der Westschweiz jedoch mit der Distinction Romande d’Architecture eine Lanze gebrochen. Die Auszeichnung guter Bauten wird in der örtlichen Öffentlichkeit und auch über die Kantonsgrenzen hinweg wahrgenommen. Das Thema Architektur erhält in Gremien und in der Bevölkerung nach und nach einen ähnlich hohen Stellenwert wie in der Deutschschweiz. Eine Reise ins »Welschland« lohnt also nicht nur der schönen Landschaften wegen. Wer z. B. den Zug von Basel nach Genf nimmt, wird als Gesamteindruck in etwa ein Bild wie das der Aufnahme auf der linken Seite mitnehmen, dabei aber auch auf die eine oder andere Architekturperle stoßen. | Achim Geissinger

Zeichen und Funktion

(SUBTITLE) Logistikkomplex des IKRK in Satigny (Genf)

Eines der Aushängeschilder der Schweiz und ein Sinnbild der Neutralität ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Dessen neuer Logistikkomplex fasst Archiv-, Büro- und Lagerfunktionen unter einem Dach zusammen. Seine vielfach gefaltete Außenhülle besteht aus einer Membran, die Lkw-Planen ähnelt, und spielt damit auf den Transport von Hilfsgütern an, der von hier aus organisiert wird. Die expressive Form ist nicht allein aus der symbolischen Ebene abgeleitet, sondern erfüllt auch ganz praktische Funktionen.

Am Beispiel des Neubaus im Industriegebiet von Meyrin-Satigny hat das Genfer Architekturbüro group8 die Aufteilung zwischen Funktionalität und Erscheinungsbild gekonnt neu ausgehandelt. Obwohl es sich um ein sehr technisches Gebäude handelt, hat das Logistikzentrum die Industrielandschaft am Flughafen aufgewühlt und völlig verändert. Es verfügt über starke architektonische Ausdruckskraft, die sich jedoch keineswegs zulasten der Funktionalität entfaltet.

Als erstes fällt an dem Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) das geometrische Erscheinungsbild ins Auge. Die drei Hauptelemente des Raumprogramms – Lager, Verwaltung, Archiv – sind zwar rechtwinklig ausgeführt, darüber spannt sich jedoch eine Außenhaut, deren Faltung einer ganz anderen Logik folgt. Mit ihrem Prismenspiel zergliedert sie die regelmäßige Formgebung der Lagerhalle. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, wie überraschend gut Funktion und Form bei der Ausarbeitung des Entwurfs aufeinander abgestimmt wurden. Die den Logistikfunktionen geschuldeten Bauelemente müssen sich nicht verstecken, sondern dürfen am kontrastreichen Spiel, das dem äußeren Gesamtbild seine Struktur verleiht, mitwirken. Tonangebend sind dabei zunächst die LKW-Laderampen an der Fassade; sie fügen sich in den schwarzen unteren Teil des Bauwerks ein, der mit der weißen Hülle kontrastiert. Diese freimütige Darstellung der Zweckorientiertheit rückt die Funktion des Logistikzentrums in den Vordergrund, nämlich den Versand von Medikamenten, orthopädischen Hilfsmitteln und Geräten in Krisen- und Katastrophengebiete.

Das zweite Element – die Büro- und Konferenzräume für die Mitarbeiter, die den Versand organisieren – ist auf der Ebene der Fassadengestaltung ebenfalls wahrnehmbar. Es scheint durch die in drei Reihen verglaste Fläche hindurch. Die Verwendung unterschiedlich stark reflektierender Gläser defragmentiert hier die Einförmigkeit, die Glasfassaden so häufig anhaftet.

Auch das dritte Element, das Archiv des IKRK, hat in der Konzeption des Gebäudes einen bedeutenden Stellenwert, von außen ist es jedoch nicht zu erkennen. Es liegt neben der Tiefgarage eingegraben im UG.

Der unauffällige Gebäudeeingang ist über einen leicht abschüssigen Vorplatz zu erreichen. Auf dem Weg dorthin wird die Funktion der Außenhaut erkennbar. Die über das gesamte Gebäude gespannte Zeltwand, deren weiße Farbe für die Neutralität des IKRK steht, erfüllt einen doppelten Zweck, indem sie zum einen die Luft vor der Fassade zirkulieren lässt und vor direkter Sonneneinwirkung schützt und zum anderen mit ihrem flexiblen Material die geraden Wände der Lagerhalle formal bricht und Dachvorsprünge ausbildet. Das Prismenspiel ist nicht reine Willkür, sondern schafft geschützte Flächen für die Gebäudeöffnungen: Fenster, Laderampen und Eingang. Schwarze Linien, akzentuieren die Kanten der Prismenflächen; es handelt sich dabei um Regenwasserablaufrinnen. Die Außenhaut als maßgebliches Element der hier verwendeten Architektursprache erweist sich damit als ausgezeichnetes technisches Instrument. Sie stellt Wendigkeit, Modulierbarkeit, Anpassungsfähigkeit als Merkmale des Selbstverständnisses des IKRK heraus, ohne deshalb in reine Symbolhaftigkeit abzugleiten.

Im Innern wird in der Raumaufteilung des Verwaltungstrakts ein weiteres Mal eine geschickte Verknüpfung von Zeichen und Funktion erkennbar. Im OG gelangt man zunächst in eine Art Atrium, das auf zwei Ebenen von Büroräumen eingefasst ist. Durch das Glasdach über der gesamten Fläche fällt Tageslicht in diesen Innenhof. Von hier aus sind zwei Räume unter freiem Himmel zu erreichen: ein kleiner, quadratischer, abgeschlossener Garten mit dem Firmament als einzigem Horizont und ein lang gestreckter, als Sitzungssaal im Freien dienender Hof.

Als Ausgleich für die repetitiven Reihungen der Einzelbüros sind die gemeinsam genutzten Bereiche großzügig gestaltet. An der Sorgfalt, die die Architekten von group8 auf Gemeinschaftsbereiche verwenden, lässt sich ihre Überzeugung ablesen, dass Architektur das Potenzial hat, als sozialer Kondensator zu wirken. Der Gedanke, Gemeinschaftsräume in Wohn- und Bürogebäuden im Hinblick auf mehr Gemeinsamkeit zu gestalten, reicht zurück auf die Konstruktivisten der 20er Jahre und die Brutalisten der 60er Jahre. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhob eine neue Generation von Architekten unter dem Namen Team 10 die Vorstellung zum Prinzip, dass Gemeinschaftsräume als lebendige Orte zu verstehen sind, in denen Menschen einander begegnen und gemeinsam etwas tun. Die Gruppe Team 10, die immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, den CIAM aufgelöst zu haben, bemühte sich bereits in den 50er Jahren darum, dem Hygienismus und der Sterilität des vorherrschenden Funktionalismus etwas entgegenzusetzen. Man stand zwar zu den Maßstäben und Grundannahmen der Moderne, versuchte aber Elemente einzuführen, die ein gewisses Maß an Geselligkeit möglich machten.

Die planerische Entscheidung, ins Zentrum der Lagerhalle des IKRK einen gemeinsam genutzten Raum zu stellen, kann durchaus als Erbe dieser Denkschule gelten. Adrien Besson von group8 verweist im Übrigen ohne Zögern auf Alison und Peter Smithson als mögliche Referenz für die Konzeption.

Zahlreiche Entwürfe von group8 sind von derartigen Überlegungen geleitet. Für denselben Auftraggeber wurde in anderem Zusammenhang ein zur Stadt hin ausgerichteter Platz vor dem Genfer Sitz des IKRK gestaltet. Die Anordnung konzentrischer Kreise unterstreicht dort die Funktion als öffentlicher Raum. Das quasi-szenografische Anliegen, gemeinschaftlich nutzbare Flächen in den Vordergrund zu stellen, liegt zahlreichen Bauten von group8 zugrunde.

Von der umlaufenden Galerie im Rot-Kreuz-Logistikkomplex fällt der Blick hinunter in den gemeinsamen Raum. An anderer Stelle – in den Räumen des Architekturbüros selbst – wurden 18 Container so gestellt, dass von dort aus der »open space« einzusehen ist, in dem die Mitarbeiter ihrer Arbeit nachgehen.

Signifikanter Minimalismus

Mag das Atrium auch in neutralen Tönen gehalten sein, sind dort doch einige dynamische Kontraste zu finden, beispielsweise das Knallrot der Eingangshalle oder des Treppenhauses. Das Glasdach besteht aus zueinander gegenläufig geneigten Elementen, die Streifen auf den Glasfüllungen brechen die Sonnenstrahlen. Im Laufe des Tages fällt wechselndes Licht ins Atrium und zeichnet strukturierte Kompositionen auf Boden und Wände. Der Innenhof reagiert auf das Wetter und wird so zu einer Art neuralgischem Zentrum, das einen in sich abgeschlossenen Raum mit der Außenwelt in Verbindung bringt. Die Lichtspiele und der reichlich bemessene Platz im Atrium bringen vor dem Hintergrund der Einfachheit und Neutralität des Gebäudes zum Ausdruck, was die Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz so wirkungsvoll macht, nämlich die Lebendigkeit der tragenden Kräfte. Dies ist Minimalismus im ursprünglichen Sinn des Wortes. Im Gegensatz zu jenen Minimalismen, die ins Luxuriöse ausarten, geht es group8 darum, sich von allem Überflüssigen zu befreien und nur das Wesentliche zu bewahren. Zwischen notwendigem Verzicht auf gestalterische Mittel in den Lager- und Archivbereichen und der zum Prinzip erhobenen klösterlichen Einfachheit der Büroräume ist es den Architekten gelungen, in dem Gebäude doch recht unterschiedliche Welten unter einer gemeinsamen Sprache zu versammeln.

Die Wabenpaneele innen an den Galerien und Wänden des Atriums haben wie die weiße Außenhaut eine gebäudetechnische Funktion, nämlich, hinter einer einheitlichen Fläche Beleuchtung, Rohrleitungen und Kabelführungen zu verhüllen.

Seine einleuchtende Fortsetzung findet der Innenhof im Garten, der ebenfalls ganz auf sich selbst bezogen und zum Himmel offen ist. Dies ist die wohl einzige Schwäche in der Gesamtkonzeption: Es fehlt auf der Gartenebene ein »Fenster« nach außen. Dem Atrium verleiht die Abgeschlossenheit Ruhe und klösterliche Abgeschiedenheit, dem Gärtchen bekommt sie nicht. Hier vermittelt sie keine Sicherheit, sondern wirkt eher beklemmend. Der Wille zur Abkapselung des Gebäudes stößt hier an seine Grenze.

Bautechnisch hat der Logistikkomplex wesentlich mehr zu bieten als die neutrale Fassade zunächst vermuten lässt. Das Tragwerk der Lagerhalle mit den großen Spannweiten ist aus Metall, der Rest ist eine Betonkonstruktion.

Insgesamt lastet das Gebäude auf rund 30 Pfählen, die zur geothermischen Energiegewinnung herangezogen werden. Die hohen Standards des IKRK gewährleisten die Verwendung von ausschließlich hochwertigem Material und Ausrüstungen beim Bau.

Nüchtern, zweckmäßig und ausdrucksstark ist das neue Logistikzentrum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, es legt die Latte hoch, man hätte es kaum besser machen können. In erster Linie ein Zweckbau und der Öffentlichkeit im Grunde nicht zugänglich ist das bauwerk von der Frage nach dem Stellenwert des gemeinsam genutzten Raums bestimmt. Mit diesem Merkmal bezieht es sich auf die beiden anderen Objekte, die group8 für das IKRK gebaut hat, den Platz und das Konferenzzentrum gegenüber dem Hauptquartier nahe dem Völkerbundpalast. group8 ist es gelungen, für alle drei Objekte eine gemeinsame Sprache zu finden, die von baulichen Besonderheiten getragen wird, sich aber auch planerisch niederschlägt als Ausdrucksweise, die diskret genug ist, um verständlich zu sein, und nüchtern genug, um vielerlei Formen der Aneignung zu ermöglichen.

[Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig]

db, Mi., 2012.05.09

09. Mai 2012 Christophe Catsaros

Learning from Monthey

(SUBTITLE) Mietwohnungen »les Dailles« in Monthey (Wallis)

Der »bunte Vogel« inmitten durchschnittlicher Geschosswohnungsbauten stellt durch seine räumliche Struktur und seine eher industriell wirkenden Oberflächen vielerlei Bezüge zur Umgebung her. Die Beschränkung auf preiswerte Materialien eröffnete Freiheiten im Umgang mit dem Raum. Es entstanden wohnliche und auch anregende Lebensräume, die luxuriös erschlossen sind und trotz großer Offenheit im Innern viel Privatheit bieten.

Eine Fahrt durch den Chemin des Dailles in Monthey eignet sich hervorragend als Einführung in die Charakteristik der Region. Die 400 m lange schnurgerade Straße verläuft parallel zur Rhône, die mit ihrem Tal als zentrale Ader den Kanton Wallis durchzieht. Am Fuß der links und rechts vom Fluss aufragenden Gebirgsausläufer setzt eine uneinheitliche Besiedelung ein, der kaum zu entkommen ist: Landwirtschaftsbetriebe, Industriegebiete, Einkaufszentren, Einfamilienhäuser und Wohnanlagen sind ohne erkennbare Ordnung durcheinandergewürfelt. Wie zum Beweis für die Versäumnisse der Stadtplanung endet der Chemin des Dailles abrupt an der Gemarkungsgrenze. Genau an dieser Stelle haben die Architekten bonnard woeffray im Jahr 2010 eine Wohnanlage mit 37 Wohneinheiten fertiggestellt. Sie wirkt so, als erschauere sie angesichts des sie umgebenden Durcheinanders.

»Vive Chappaz« ist noch in verblichenen Riesenlettern auf einem der Felsabhänge zu lesen, die hinter dem wenige Kilometer flussaufwärts gelegenen Ort Saint-Maurice aufragen. Der Schriftzug ehrt den Schriftsteller Maurice Chappaz, der unermüdlich – insbesondere in seinem 1976 erschienenen Buch »Die Zuhälter des ewigen Schnees« – die Gewissenlosigkeit und Kurzsichtigkeit anprangerte, mit der man im Wallis mit dem Aufschwung in Wintersport und Fremdenverkehr umgegangen ist. Eben dort, in Saint-Maurice, haben bonnard woeffray schon 1998 mit dem Betriebs- und Unterrichtsgebäude für die Schweizerische Armee die Kritiker auf sich aufmerksam gemacht. An ihm lassen sich einige der Merkmale ablesen, die für die gedanklichen Ansätze der beiden Architekten kennzeichnend sind. Schon allein aus der Tatsache, dass sie an der Ausschreibung teilgenommen haben, ist zu schließen, dass sie auch die weniger prestigeträchtigen Aufgabenstellungen und Konstellationen nicht geringschätzen und daran glauben, dass ein begrenztes Budget hochwertige Architektur nicht ausschließt. Die strenge Geometrie des Quaders verweist auf eine Sparsamkeit bei der räumlichen Aufteilung und bei den konstruktionstechnischen Entscheidungen. Dennoch mangelt es dem Entwurf nicht an Großzügigkeit. Das knallrote Holz der Fassaden macht den Bau zum Blickfang und eröffnet gleichzeitig den Dialog mit dem Grün der umliegenden Felder, zwischen Natur und Kultur. Dass die Fensterläden im geschlossenen Zustand keine Spur einer Gebäudeöffnung mehr erkennen lassen, ist ein Detail, das dem Objekt eine spielerische Dimension verleiht, denn die Aussage der Fassaden ändert sich je nach Nutzung.

V. a. über die Bearbeitung von Wettbewerben hat das Architektenpaar nach und nach eine originelle Sprache entwickelt und sich bei der Umsetzung der Herausforderung gestellt, hochwertige Architektur in eine oftmals mittelmäßige bauliche Umgebung zu integrieren. In der Art wie Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour Las Vegas unter die Lupe genommen haben, nahmen bonnard woeffray in ihr Vokabular die Formen, Materialien und Farben der Industrie- und Gewerbegebiete auf, die sich in einem Großteil des Rhônetals ausgebreitet haben, unterwarfen diese Referenzen dann allerdings einem disziplinierten Umgang mit Zuordnungen, Kosten und Effekten. Hieraus ist eine liebevoll ironische Architektur entstanden, die ihren Anspruch auf Qualität zum Ausdruck bringt, ohne die Nachbarschaft von oben herab zu behandeln. Die Wohnanlage am Chemin des Dailles ist hierfür ein gutes Beispiel.

Wege zur Verdichtung

Mit Lage und Größe nimmt das Gebäude Bezug auf die gegenüberliegenden Berge. Auch der unmittelbare Kontext wird dabei nicht negiert. So wird eine Kanalisationsleitung, die über einen Schacht zugänglich bleiben muss, für einen Durchgang zwischen Straße und Garten genutzt. Südlich davon liegt der Eingang zu einem Gemeinschaftsraum für die Nachbarschaft. Die halb unterirdische Garage, die ansonsten dafür sorgt, dass das EG ein halbes Stockwerk über Straßenniveau liegt, ist an dieser Stelle weggefallen; der Gemeinschaftsraum erreicht dadurch eine Höhe, die seiner Bestimmung gerecht wird.

Straßenseitig sorgt eine gebrochene Linienführung für eine lebendige Fassade. Durch die Fragmentierung wird der Bezug zur geringeren Größe der Gebäude in der Umgebung hergestellt. Vor den dunklen Hintergrund der Verglasungen sind horizontal Bänder aus perforiertem Weißblech gezogen. So können einige ausgewählte Fenster bis zum Boden reichen, ohne dass ihr unterer Teil von außen einzusehen wäre. Die straßenseitige Fassade ist im Norden um die Ecke herum gezogen. Auf der Gartenseite werden die perforierten Weißblechbänder zu Balkongeländern. Auch hier ist die lineare Fassadenführung mehrfach gebrochen. Von der Mitte her öffnet sich der Bau, als wolle er die Berglandschaft in die Arme schließen. Die beiden äußeren Gebäudeecken springen jedoch ein Stück weit vor und schirmen in einer Gegenbewegung den Garten von dem Durcheinander in der Ebene ab.

Die gesamte Länge der Fassade wird von Balkonen eingenommen. Die einzelnen Segmente sind jeweils in einem von vier vorgegebenen Grüntönen gehalten. Dieses Mosaik macht den Eindruck, als nähme es das Verschwinden der Natur ringsum vorweg und legte dagegen einen Chlorophyllvorrat an. Anliegen des Entwurfs ist es jedoch nicht, sich Veränderungen entgegenzustellen. Er spricht sich vielmehr klar und deutlich für den Geschosswohnungsbau aus, obwohl im französischsprachigen Teil der Schweiz – auch in Genf und Lausanne – immer noch stark am Einfamilienhaus als ideale Wohnform festgehalten wird. In der Nacht wird die Fassade gartenseitig durch Beleuchtung und die Aktivitäten der Menschen in ihren Wohnungen so lebendig, als lebte man in der Stadt. Diskret wird hier eine Aussage gemacht, nämlich dass Bebauungsdichte und Lebensqualität keine Gegensätze sind. Wenn die Bemühungen nicht auf die Verdichtung ausgerichtet werden, gehen dem Rhônetal auch noch die letzten Flächen verloren, die seine Schönheit ausmachen.

Im EG umfasst der Grundriss fünf Wohnungen in identischer Aufteilung wie in den Stockwerken darüber – dort allerdings mit Balkon statt Terrasse – und den Gemeinschaftsraum. In den oberen vier Stockwerken liegen jeweils acht durchgesteckte Wohnungen. Zunächst entsteht der Eindruck, dass angesichts der komplexen Geometrie der Fassaden, die ihre Fortsetzung in den Wohnungstrennwänden findet, eine systematische Raumaufteilung kaum möglich sein dürfte, ohne dass dies zulasten von mindestens einem Zimmer geht. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch erkennbar, dass die verschiedenen Wohnungsgrößen um ein sich wiederholendes Motiv angeordnet sind und zur Eingliederung der unterschiedlichen Ausrichtung der Trennwände nur wenige Winkel eingesetzt werden. In den vier größeren Wohnungen ist der zur Straße hin gelegene Essbereich ebenso rechteckig wie die Zimmer. In den dazwischen liegenden kleineren Wohnungen weicht nur ein Zimmer von dieser Regel ab. Gartenseitig liegen Wohnzimmer und Schlafzimmer rechtwinklig beieinander. Die Wand zwischen den beiden Räumen steht im Wechselspiel mit den auf den Balkon führenden Glastüren, um die drei Elemente so miteinander zu verbinden, dass sie jeder Situation gerecht werden. In der Mitte sind über einen Eingangs- und Flurbereich die Sanitärräume erreichbar. Die bajonettartige Anordnung der Gemeinschaftsräume zieht sich als diagonale Bewegung durch die Wohnungen, der Effekt wird durch die nicht parallel verlaufenden Wände verstärkt. Die Balkone und das perforierte Blech vor dem Fenster im Essbereich wirken als Filter zwischen innen und außen und umgekehrt. Durch das getönte Glas über der Arbeitsfläche in der Küche und im oberen Teil der Sanitärräume gelangt Tageslicht bis in die Kernbereiche der Wohnung und nimmt Einfluss auf die Farbgebung. Dieses effektvolle Instrument, das gleichzeitig eine kostengünstige Lösung darstellt, ist kennzeichnend für die gesamte Umsetzung des Projekts. Die Treppenhäuser sind wie die Decken in den Wohnungen aus Sichtbeton, die Wirkung der farblich gefassten Geländer wird dadurch verstärkt. Luxuriös sind v. a. die räumliche Qualität und die Großzügigkeit. Die aus der Einhaltung des Minergie-Standards resultierenden Ersparnisse sind im Voraus auf die Größe der Wohnungen eingezahlt. Für die Beheizung ist die Firma SATOM zuständig, ein von den Kommunen der Region zu dem Zweck gegründetes Unternehmen, die Abwärme aus der Hausmüllverbrennung zu verwerten.

Mit dieser Wohnanlage haben bonnard woeffray einmal mehr ihre erstaunliche Fähigkeit unter Beweis gestellt, Gegensätze miteinander in Dialog zu bringen und einen Ausgleich für Extreme zu finden. Ökonomie der Mittel und Großzügigkeit, Bezugnahme auf die Industrie und Achtung vor der Natur, Zuneigung zu den Vorlieben der breiten Masse und intellektuelle Ansprüche sind Beispiele für Themenstellungen, die sie erfolgreich bearbeiten konnten, indem sie sich aus den gegensätzlichen Bereichen jeweils das Beste zu eigen gemacht haben. So mag die Aussage stimmen, dass bonnard woeffray am Schnittpunkt zwischen der Gründlichkeit der Deutschschweiz und dem Einfallsreichtum der Romandie die wohl schweizerischsten aller Architekten sind.

[Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig]

db, Mi., 2012.05.09

09. Mai 2012 Mathieu Jaccard

Schweres Haus, leichte Weine

(SUBTITLE) »Lavaux Vinorama« in Rivaz (Waadt)

Das Steilufer des Genfer Sees östlich von Lausanne ist von den Weinbergterrassen des Anbaugebiets Lavaux geprägt. Die Weine werden in einem Degustations- und Verkaufsraum beworben, dessen einzelne Betonkörper sich zurückhaltend in die reizvolle Landschaft einfügen. Als Aushängeschild leistet sich der Bau ausschließlich eine große Glasfront mit einem Weinblatt-Ornament. Die verwendeten Formen und die sauber gefügten Materialien stellen auf subtile Weise zahlreiche Bezüge zur Umgebung her.

Einen schöneren Flecken kann man sich kaum vorstellen: malerisch an die steilen Hänge geschmiegte Dörfer, umgeben von Reben auf schmalen Terrassen, als Panorama die hoch aufragenden Savoyer Alpen, darunter der glitzernde Genfer See. Die UNESCO hat den Wert von Natur- und Kulturlandschaft erkannt und die Gegend 2007 in die Welterbe-Liste eingetragen. Hier gedeiht im milden Klima vorwiegend roter und weißer Chasselas (Gutedel), der zumeist im Land selbst getrunken und kaum exportiert wird – zu internationaler Anerkennung brachten es die leichten Weine des Lavaux bislang nicht.

Die örtlichen Winzer bekommen auf Vermarktungsebene neuerdings Unterstützung von der Stiftung »Les Moulins de Rivaz«. Sie wurde 2001 gegründet, ursprünglich, um ein fabrikartiges Mühlengebäude am Bach Forestay kulturell umzunutzen. Die Pläne schlugen fehl, der Komplex musste abgerissen und das Stiftungsziel neu auf die Renaturierung des Wasserlaufs ausgerichtet werden. V. a. aber kümmerte sie sich um die Bündelung der Kräfte, als die Winzer mit der Idee auf die Stiftung zukamen, die Region und ihre Produkte stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und dazu einen Ort zu schaffen, an dem die Weine vorgestellt und verkostet werden können.

Aus dem eingeladenem Wettbewerb ging 2006 das Konzept des Büros Fournier-Maccagnan als Sieger hervor. Es stellt in vielerlei Hinsicht Bezüge zum Ort her, von denen manche sogar aus den engen baurechtlichen Beschränkungen hervorgingen.

Viel Platz ist auf dem Grundstück nicht, und die Kubatur des Gebäudes durfte jene der Vorgängerbauten – zweier Schuppen mit einer Pergola obenauf – nicht überschreiten. Die Architekten definierten für die Baukörper das abstrahierte Bild von herabgefallenen Felsbrocken, wie sie im Bachbett unterhalb des kleinen Wasserfalls und auch andernorts vielfach zu sehen sind. Die in der Horizontalen klar gegliederten, im Grundriss bisweilen unregelmäßig abknickenden Linien korrespondieren aber auch mit den Stützmauern der Weinbergterrassen. Dazu passt der monolithisch erscheinende Sichtbeton, dessen Zuschlagstoffe aus dem See gebaggert wurden. Noch vor dem Aushärten kratzte man den Beton mit dem Rechen auf, was die Kiesel hervortreten ließ und ein Oberflächenbild erzeugt, das dem des ringsum anstehenden Konglomeratgesteins gleicht. Von Lausanne her kommend ist das »Lavaux Vinorama« überhaupt nicht auszumachen – die straßenseitige Außenwand des Nebentrakts ist nicht von den übrigen Weinbergmauern zu unterscheiden, das Dach mit Reben bewachsen. Der Bau wendet sich allein dem Besucher zu, der vom Ort Rivaz her bzw. von der Autobahnausfahrt herab kommt. Als Hinweise darauf, dass es hier etwas zu entdecken gibt, dienen nur die beiden Parkplätze links und rechts der Straße und der mit dunklen Stahlblechen bekleidete Eingangsbereich, der sich im Gesamtbild fremd ausnimmt und die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Auf die Bleche gedruckte Bilder und Texte geben Auskunft über die Geschichte und die Bedeutung des Orts. Subtil führen rostrote Rohstahlplatten im Boden – analog zu den rostigen Hilfskonstruktionen und Rebenpfosten in den Weinbergen ringsum – entlang des Brückengeländers zum Eingang hin. In diesem Zusammenhang weiß auch ein kleines Detail zu gefallen: Der leicht ansteigende, straßenwärts über die Krone einer Stützmauer gestrichene Asphaltbelag mit einzeln eingestreuten Kieseln läuft gegen ein U-förmiges Stahlprofil, das die Kante sauber inszeniert.

In verwinkelten Kellern

Hinter dem schleusenartigen Eingang empfängt den Besucher der weite Präsentationsbereich auf unregelmäßigem Grundriss, wo nahezu 200 Weine von rund 100 Winzern der Region auf ihre Entdeckung warten. Das gleichmäßige Raster der Regalfächer entlang aller Wände hebt keines der Produkte hervor – Pech nur für den, dem ein Fach unter oder über Augen- und Griffhöhe zugewiesen wurde. Die tiefen Eichenholzregale sind bündig in die Wand eingelassen; wenn man so will, macht der Arm, der hineingreift, einen Gang in den Keller zum Wein, der im Eichenfass lagert. Der gestockte Beton der Wandflächen und die gedämpfte Lichtstimmung vermitteln dazu eine trockene Kelleratmosphäre. Der Wein steht ganz im Vordergrund, nichts lenkt ab, eine Verbindung nach draußen besteht allenfalls über das Oberlicht, das gerahmte Blicke in den Weinberg und den Himmel darüber freigibt. Die schöne Idee vom Felsenkeller geht allerdings nicht ganz auf: Es sind Schalldämmplatten an der Decke nötig, um eine ausreichend intime Raumakustik zu gewähren. Pragmatisch entschied man sich auch für eine Kunstharzversiegelung des Betonbodens, um ihn besser reinigen zu können.

Ein verwinkelter, abgedunkelter Durchgang führt in einen schlauchartigen Bereich, der gleichzeitig die Nebenräume (Büro, Technik, edel in Rot gestaltete Toiletten) erschließt und als intimer Degustationsraum dient. Wer sich an der Raumbeduftung nicht stört und es bevorzugt, den Wein der Wahl statt am Tresen aus einem Schankautomaten zu verkosten, ist hier richtig.

Die Betonwände sind schwarz gestrichen, die meisten erdberührten Wände mit schwarzen Holzwolleplatten bekleidet, was mitnichten billig, sondern im Gegenteil sehr edel wirkt. Beim weiteren Abstieg, ein Stück tiefer in die Erde hinein, wird es noch dunkler, es gibt nur noch indirekte Beleuchtung. Im UG ist ein stimmungsvoller Film zu sehen, der die Arbeit der Winzer in den Weinbergen und Kellern des Lavaux über die Jahreszeiten hinweg fast hautnah erlebbar macht. Die Lichtquellen unter Bänken und hinter Wandpaneelen sind mit den Farbwechseln des Films synchronisiert.

Richtig fordernd ist dagegen der Aufgang ins OG: Der Treppenlauf ist so sparsam in die beengte Geometrie des Grundstücks eingepasst, dass er den Besucher unwillkürlich an die schmalen Weinbergtreppen erinnert und großgewachsene Menschen beim Begehen dazu zwingt, gut auf ihren Kopf achtzugeben. Der lichte Konferenzraum, der für alle Arten von Veranstaltungen genutzt wird, entschädigt aber durch sauber gefügte Details und haptisch ansprechende Materialien: Holz für die Einbauten, Metallplatten als Boden, gestockter Beton. Ungewohnt, aber konstruktiv ehrlich wirkt der stählerne Fachwerkträger, an dem die Geschossdecken hängen. Da er in das EG hinabreicht, wurden die Gefachfugen zwischenzeitlich mit Glas geschlossen, damit bei Firmenveranstaltungen auch Interna ohne Angst vor ungebetenen Zuhörern verhandelt werden können. Das Highlight des Raums ist freilich der Ausblick, der eben nicht direkt auf den See hinausführt – er wäre sonst von Straße und Bahntrasse beeinträchtigt –, sondern den gegenüberliegenden Hang und den Bachlauf in Szene setzt. In einigem Abstand vor den Glasscheiben ist als Filterschicht gegen zu viel Sonneneinstrahlung ein Metallgewebe mit goldfarbenen Metallplättchen gespannt. Mit der Handhabung solcher Konstruktionen kennt sich der Lausanner Künstler Daniel Schlaepfer aus, weshalb man ihn bat, dieses Element künstlerisch zu gestalten. Sein Pixelornament aus 6 000 Metallplatten ergibt in der Fernansicht ein sehr ansprechendes Weinlaubmotiv, das die Erscheinung des ganzen Gebäudes maßgeblich prägt und auf einer bildlichen Ebene Raumprogramm und Landschaft miteinander verbindet.

Auch energetisch wollte man auf der sicheren Seite sein: Zur Warmwasserbereitung über eine Wärmepumpe mit angeschlossener Fußbodenheizung und Wärmerückgewinnung aus der Raumluft tritt die energetische Trägheit der Wände mit der enormen Dicke von 68 cm – Minergie-Standard erfüllt.

So klein das Gebäude letztlich auch ist, so viel Spaß macht das Entdecken der verwinkelten Räume über drei Etagen mit ihren handwerklich und bemerkenswert ordentlich ausgeführten Oberflächen und der stimmungsvollen Lichtführung. Auch wer den Außenraum begeht, etwa über den externen – und sehr schmalen – Zugang zum Konferenzraum, erlebt, dass die Gestaltung das Thema Weinberg nie verlässt, sich dadurch perfekt in die Landschaft einfügt, dabei aber die Eigenständigkeit nicht verleugnet.

db, Mi., 2012.05.09

09. Mai 2012 Achim Geissinger

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