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07. Juli 2015Christophe Catsaros
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Komfort unter der Tarnkappe

Um das dörfliche Ensemble erhalten zu können, wurden einige der Gebäude zu Gästeunterkünften umgebaut. Von außen sind die Eingriffe kaum wahrnehmbar, die...

Um das dörfliche Ensemble erhalten zu können, wurden einige der Gebäude zu Gästeunterkünften umgebaut. Von außen sind die Eingriffe kaum wahrnehmbar, die...

Um das dörfliche Ensemble erhalten zu können, wurden einige der Gebäude zu Gästeunterkünften umgebaut. Von außen sind die Eingriffe kaum wahrnehmbar, die Innenräume leben vom Kontrast zwischen den geradlinigen Holzeinbauten und den Unvollkommenheiten der historischen Bausubstanz. Das Hotelkonzept verdankt seinen Erfolg dem Gegensatz zwischen dörflicher Kleinteiligkeit und durchaus städtischem Luxus.

Das Bergdorf Commeire, das mit seinen 30 Alphäusern aus Lärchenholz hoch über der Straße zum Großen Sankt Bernhard liegt, hatte über viele Jahre den Zeitläuften getrotzt und sich dem allgemeinen Streben nach Komfort verweigert. Zu Beginn der nuller Jahre war Commeire im Großen und Ganzen von seinen früheren Einwohnern verlassen.

Als zwei belgische Unternehmer die Vision unterbreiteten, hier Gästehäuser einzurichten, erschien das allen als unglaubhaft. Sowohl den bisherigen Eigentümern, die die ersten der Scheunen für jeweils 25 000 CHF abtraten, als auch der Gemeinde Orsières, die in dem Weiler kein Entwicklungspotenzial sah. Auch die Banken zögerten, ein derart abwegiges Projekt zu finanzieren.

Der Hotelbetrieb »Montagne Alternative« (»Alternative Berge«) bietet hier mittlerweile um die 30 Betten an, wofür acht Scheunen umgebaut und drei weitere Gebäude hierher transloziert wurden. Nach den Worten des Architekten Patrick Devanthéry, der die Konversion planerisch begleitet, werden die letzten original erhaltenen Scheunen nun schon zu 250 000 CHF gehandelt.

Seit Beginn des Projekts gilt der Anspruch, den künftigen Gästen einen Vier-Sterne-Standard zu bieten, jedoch ohne den für derartige Etablissements sonst üblichen Baugrundverbrauch. Alle Funktionen eines großen Hotels sollten über den Weiler verteilt werden. Eines der wesentlichen Markenzeichen des Projekts ist es, die neuen Nutzungen in die vorhandenen Gebäudeumrisse einzupassen.

Die Baustelle musste auf einen langen Zeitraum hin geplant werden, da sie sich an den Rhythmus der örtlichen Handwerker anzupassen hatte – Bauarbeiten verrichten diese in Commeire nur in den Zeiten, da für sie keine anderweitigen Aufgaben anstehen. Dieser Zeitrhythmus der Bergbewohner bestimmte den Ablauf der Umgestaltung, und es hat schließlich nahezu zehn Jahre gebraucht, bis der heutige Stand erreicht war. Das ist nicht als Mangel zu werten, denn auf diese Art kam es zu einer schrittweisen Anreicherung, jeder neue Umbau profitierte von den gesammelten Erfahrungen des vorangehenden Baus, jede Etappe hatte vor ihrer Realisierung Zeit zum Reifen und Vervollkommnen. Zum heutigen Tag sind 90 % der Planziele erreicht. Einige wesentliche Elemente stehen noch aus, so z. B. ein Spa, der Gesamtkomplex ist aber in Betrieb.

Umgestaltung nach Mass

An die jeweiligen Raumverhältnisse der vormaligen Scheunen angepasst, sind die Gästezimmer allesamt individuell ausgeformt. Der scheinbaren Einfachheit der Ausbauten gingen komplexe Eingriffe voraus. Die Scheunen, in denen vormals Mensch und Tier eng beieinander lebten, waren schlecht gedämmt und hatten nur minimale Öffnungen. Dem Architekten stellte sich die Aufgabe, in die ursprünglichen Hüllen »bewohnbare Boxen« einzupassen. Dabei hatte er sich auferlegt, die notwendigen Durchbrüche in den Lärchenholzwänden auf ein Minimum zu beschränken. Die Konstruktion war zu verstärken und bei Schieflage aufzurichten. Vollständig neuanzulegen war der Hausunterbau. Das Ergebnis ist verblüffend: Auf den ersten Blick scheint es, als sei ein historischer Baukörper auf einen neuen Sockel gesetzt worden. Man möchte jedes einzelne Haus daraufhin untersuchen, mit welcher Finesse Patrick Devanthéry bei der Umrüstung vorgegangen ist.

Da sind zunächst die auf das unbedingt Notwendige beschränkten Wandöffnungen, wozu nach Möglichkeit auch die Lüftungsschlitze der Scheune genutzt wurden. In verschiedenen Räumen erblickt man das Bild der Landschaft durch eine eigenwillige Ansammlung von Schlitzen hindurch – einstige Schießscharten sind das, die beibehalten wurden. Die Landschaftsbetrachtung wird durch diese Strukturierung des Blicks zu einem ungewöhnlichen Erlebnis – eines der gelungensten Details des Projekts. Die großen Panoramafenster, mit denen jedes Zimmer ausgestattet wurde, beeinträchtigen die Gesamterscheinung der Berghütten kaum. Bei den im Unterteil der Gebäude gelegenen Gästezimmern ist die Mehrzahl der neuen Fenster im wiederhergestellten Sockel angeordnet. Für die Wandbekleidung im Innern kam ebenfalls Lärchenholz zum Einsatz, darunter viele wiederverwendete Bretter aus dem jeweiligen Gebäude. Die Unterschiedlichkeit der Bretter mag ein ornamentales Interesse nahelegen, der generelle Umgang mit den Materialien zeugt aber vielmehr von strukturellem Denken.

Die Gästehäuser sind nun perfekt gedämmt, ohne dass dabei die wundervolle Anmutung der Dachschalung hätte leiden müssen; geheizt wird hauptsächlich über Sonnenkollektoren und mit Hightech-Kaminen, bei denen sich die Wärmeabstrahlung optimieren lässt. Die Berghütten sind nunmehr zu luxuriösen Residenzen geworden, ohne dies nach außen hin zu offenbaren. In ihrer äußerlichen Verschwiegenheit ähneln sie den seltsamen ungenutzten Bauten am Dorfeingang – als Bauernhäuser getarnten Bunkern. Commeire hatte über viele Jahre davon profitiert, dass hier Artillerieeinheiten stationiert waren, die ihr Quartier am Ortseingang hatten und deren im Gebirge verborgene Kanonen auf den Großen Sankt Bernhard gerichtet waren. Mit dem Abzug der Militärs geriet der Weiler in den Niedergang, bis schließlich »Montagne Alternative« diese neue Tarnkappenoperation startete.
Die Diskretion, die alle Eingriffe in das Dorfensemble kennzeichnet, hat sich als das Markenzeichen des Projekts herauskristallisiert – eine bestechende Idee, ein gedanklicher Kontrapunkt zu den gewöhnlichen Berghotels, die in ihrer Neuheit allzu oft extrem aufdringlich daherkommen.

Mit der Regel, allein den Raum innerhalb der bestehenden Gebäudehüllen zu nutzen, war ein Gesetz gefunden worden, das weniger als Einschränkung empfunden wurde, sondern dem Projekt vielmehr Struktur, Sinn und Dynamik gab. Beim Einpassen der »Wohnbox« in die vorgegebene Hülle folgte man nicht mehr einfach nur einer aus einem Kompromiss geborenen Vorgabe, sondern einem sinngebenden Prinzip. Die Anpassung des Neuen an das vorhandene Alte und der Respekt vor der ursprünglichen Gestalt bilden die Grundlage der gesamten Ökologie des Projekts.

In den "ein wenig zu »geleckt« erscheinenden" Gassen des wiedererweckten Weilers tritt die Art und Weise zu Tage, mit der das Projekt nach einer Neudefinition des grundlegenden Wunschtraums der Gebirgshotellerie sucht: der Idee einer Insel der Urbanität mitten im Nirgendwo. Dieses Fantasiebild machte einen wesentlichen Zug des Grandhotels des 19. Jahrhunderts aus. Hier in Commeire geht es nicht allein um den städtischen Charakter der den Gästen angebotenen Dienstleistungen und auch nicht nur um die heute nicht unbedingt außergewöhnliche ökologische Energie- und Lebensmittelversorgung. Die Urbanität, die das Markenzeichen von »Montagne Alternative« darstellt, liegt in der Form des Dorfs, jener Form, in der sich der Ursprung der Stadt sehen lässt. Die Verknüpfung der dörflichen Dichte mit der städtischen Kultur des Hotelbetriebs war bestimmend für den Erfolg des Projekts.

db, Di., 2015.07.07



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db 2015|07 Auf Reisen

28. Dezember 2012Christophe Catsaros
TEC21

Häuslicher Playboy

Das Männermagazin Playboy setzte sich in der Nachkriegszeit kräftig für die Popularisierung der modernen Architektur ein. Wegen seiner ­erotischen ­Inhalte als Referenz unerwünscht, fehlt es jedoch meist in den Bibliografien zum Thema. Das ist schade, denn für die Architektur- und Designgeschichte ist das Studium des Playboy sehr aufschlussreich. Es zeigt, wie die Moderne – ursprünglich als Instrument der menschlichen Emanzipation gedacht – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als blosses Konsum­produkt vermarktet wurde. Das kürzlich erschienene Buch «Pornotopia» geht diesem Phänomen auf die Spur.

Das Männermagazin Playboy setzte sich in der Nachkriegszeit kräftig für die Popularisierung der modernen Architektur ein. Wegen seiner ­erotischen ­Inhalte als Referenz unerwünscht, fehlt es jedoch meist in den Bibliografien zum Thema. Das ist schade, denn für die Architektur- und Designgeschichte ist das Studium des Playboy sehr aufschlussreich. Es zeigt, wie die Moderne – ursprünglich als Instrument der menschlichen Emanzipation gedacht – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als blosses Konsum­produkt vermarktet wurde. Das kürzlich erschienene Buch «Pornotopia» geht diesem Phänomen auf die Spur.

Das 2012 auf Deutsch veröffentlichte Buch «Pornotopia»[1] der Philosophin Beatriz Preciado (vgl. S. 9) durchbricht die scharfe Grenze zwischen populärer und wissenschaftlicher ­Literatur. Die Untersuchung über die anthropologische und architektonische Bedeutung der Zeitschrift Playboy zeigt, dass die Vision ihres Herausgebers Hugh Hefner viel weiter reichte, als es die freizügigen Titelbilder vermuten lassen. Tatsächlich hat Playboy wie keine andere Massenzeitschrift die moderne Architektur propagiert. Grosse Namen und hoch­wertige Einrichtungsgegenstände tauchten darin auf; vor allem aber setzte sich das Magazin entschieden für das Leben in der Stadt ein. Die 1953 gegründete, in Chicago herausgegebene Zeitschrift entwickelte zwischen 1953 und 1963 einen kämpferischen Diskurs für eine neue männliche Identität – die des unverheirateten jungen Grossstädters. Sehr schnell trat Playboy auch als Inneneinrichtungsmagazin für Männer auf und versuchte, sich einen Platz zwischen Frauen- und Wohnzeitschriften zu sichern. Mit seiner geschickten Mischung an Themen – Sex, Literatur und Wohndesign – hatte Playboy von Anfang an aussergewöhnlichen Erfolg. Die kleine Revolution, die Hugh Hefner für sich beansprucht, war die Rückeroberung des häuslichen Raums für den Mann. Die Begriffe Revolution und Rückeroberung mögen aus heutiger Sicht übertrieben erscheinen, im Kontext der konservativen Grundhaltung in den USA der 1950er-Jahre betrachtet sind sie jedoch durchaus angemessen.[2]

Stadtflucht und konservative Geschlechterrollen nach 194

5Während des Kalten Kriegs, einer von Spionen und heimlichen Helden besessenen Zeit, ­gehörte das amerikanische Heim vor allem der Familie. Es befand sich – dank der noch jungen Automobilkultur gut erreichbar – draussen vor der Stadt. In dieser sehr schematischen Vorstellung, die das traute Zuhause vom Rest der Welt trennt, war der Mann gezwungen, sich ausserhalb zu betätigen; darum verfügte er über das einzige Fahrzeug der Familie. Der häusliche Bereich war die Domäne der Frau. Dieses Modell der Kernfamilie hat nicht nur die Wertvorstellungen mehrerer Generationen von Amerikanerinnen und Amerikanern geprägt, sondern auch die urbane Entwicklung nach 1945. Die Städte dehnten sich in endlosen ­Suburbs aus, das Leben verlagerte sich aus dem Zentrum in die Peripherie. Die geostrate­gischen Ängste vor einem totalen Krieg, der die Städte zerstören würde, trieben die Familien aus den Städten hinaus. Jene Zivilisation, die in ihrer jüngsten Geschichte weltweit die ­meisten Bombardierungen veranlasst hat, konnte sich für die Sicherung ihrer Zukunft nur für ein anti-urbanes Modell entscheiden; denn je weiter die Stadt sich ausbreitete, desto weniger verwundbar war sie. Die atomare Bedrohung, die Rassenkonflikte, die Drogen und die ­Kriminalität mochten im Stadtzentrum bleiben: Der Durchschnittsamerikaner wohnte nicht mehr dort. Dieses sogenannte «White-Flight-Phänomen» war mitverantwortlich für den ­Niedergang der Innenstädte in den 1960er- und 1970er-Jahren. Beatriz Preciado betont, dass diese Trennung der Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten auch ein effizientes Mittel war, die Frauen aus dem Arbeitsmarkt zu verdrängen, um wieder Platz für die nach 1945 demobilisierten Soldaten zu schaffen. Den aus dem Stadtzentrum verdrängten Frauen sei nichts anderes übrig geblieben, als sich um das Heim zu kümmern. Auf die emanzipierte, produktive Frau der 1940er-Jahre, die problemlos die in den Krieg ­gezogenen Männer ersetzen konnte, folgte in den 1950er-Jahren die abhängige, von der Aussenwelt abgeschnittene Ehefrau und Mutter.

Rückeroberung von Stadt und Wohnung

Auf dieses vorherrschende Modell des Einfamilienhauses in der Vorstadt antwortete der Playboy mit einem Plädoyer für das urbane Leben: «Der Mann verlangt nachdrücklich eine Wohnung für sich […], einen Raum nur für sich […], das ideale Penthouse für einen urbanen Junggesellen», heisst es in einem Leitartikel vom September 1956. Das Penthouse, von dem die Playboy-Leser träumten, verspricht die Wiederaneignung eines häuslichen Raums, der vom Einfluss der Frau befreit und wieder ins Stadtzentrum verlegt wurde. Die Stadt erhält dabei ihre begehrenswerte, spannende Dimension zurück. Der neue Mann – emanzipiert, unverheiratet oder geschieden – kann sich seinen Lieblingsbeschäftigungen hingeben: der Inneneinrichtung, elektronischem Spielzeug und leicht bekleideten Mädchen. Der neue Junggeselle behauptet sein Recht auf seinen eigenen Geschmack. Hugh Hefner verkörpert mit Vergnügen das von ihm propagierte Männermodell: Er lebt im Pyjama, ­um­­geben von etwa dreissig sogenannten «Bunnys», in einem geschlossenen Universum, wo alles gefilmt wird. Das Playboy Mansion, Lebens- und Arbeitsort zugleich, ist das erste mediale Kloster unserer Zeit.

Die Bemühungen des Playboy um Auflösung der altväterlichen Allianz zwischen häuslichem Raum und Weiblichkeit hatten eine gewisse Entsprechung in den analogen Bemühungen der Feministinnen. Manche von ihnen betrachteten das Magazin sogar als Vorkämpfer der sexuellen Befreiung, gleichrangig neben der feministischen Bewegung und der Friedensbewegung der 1960er-Jahre. Beatriz Preciado ist in diesem Punkt zurückhaltender: Tatsächlich ist der kommerzielle Charakter dieser ersten medialen und sexuellen Utopie kaum zu übersehen. Sein unbestrittener Beitrag zur Entstehung des libidinösen und pharmazeutischen Konsumismus schliesst Playboy definitiv aus der Reihe der Protagonisten der sexuellen Befreiung aus.

Käufliche Schönheit für käufliche Schönheiten

Inwiefern erhellt nun die erotische und architektonische Heldengeschichte des Playboy die Frage nach dem Sinn der Modernität? Auf den Seiten des Magazins kann man verfolgen, wie die Utopie der Modernität zur Ware wird. Es zeichnet sich ab, wie die funktionelle, ­idealistische Vorkriegsbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum luxuriösen, gestylten Modernismus verkommt. In den Netzen der Konsumkultur und der Massenmedien gefangen verliert die Moderne nach und nach ihre ethischen Imperative; sie wird zur blossen Stilübung, die sich den wechselnden Tendenzen und der Spekulation anpasst. Auf den ­Seiten des Playboy verkörpert ein Stuhl von Eero Saarinen auf einmal nicht mehr die Klarheit und Schnörkellosigkeit einer vollkommen angemessenen Geste, sondern wird, wozu ihn die Konsumgesellschaft verdammt: ein begehrtes und potenziell aneigenbares Objekt der Sinnlichkeit (Abb. 02). Die Architekturseiten des Playboy sind nur eines von vielen Symptomen der langsamen ­Verwandlung des modernen Stils. In den 1950er-Jahren tauchen zwei einander widersprechende Tendenzen auf: einerseits eine radikale, politisierte architektonische Gegenkultur, andererseits ein manierierter Modernismus, der jede Verbindung zu gesellschaftlichen ­Anliegen verloren hat. Zu einer Sache des Lifestyles – und nicht mehr des Lebens im vollen Sinn des Worts – gewandelt, wird die moderne Architektur zu etwas, was sie nach dem ­Willen ihrer Protagonisten nie hätte werden dürfen: zum Dekor. Diese Veränderung manifestiert sich in den rund um die Uhr gefilmten modernen Interieurs Hugh Hefners. Es ist kein Zufall, dass einer der eklektischsten Architekten unserer Zeit wiederholt im Playboy auftaucht: Frank O. Gehry entwarf schon vor fünfzig Jahren die Prinzipien des «bachelor pad», der Junggesellenwohnung als idealem Ökosystem für den neuen Mann.

Industrialisierung des erotischen Schauspiels

Das architektonische Interesse am Playboy beschränkt sich aber nicht auf das Zur-Ware-Werden eines Ideals. Neben dem genialen Einfall Hugh Hefners, das Verbotene mit dem ­Akzeptablen zu mischen, beruht sein Projekt auf der Schaffung eines erbaulichen Mythos: eines unerreichbaren, aber in der Vorstellung aller präsenten Orts. Das Playboy Mansion als Raum strikt hierarchisch gegliederter Freizeitbeschäftigungen ist die Verkörperung einer Utopie. Nach dem Vorbild dieses mythischen Raums entstehen eine ganze Reihe von Hotels und Clubs. Diese neue Art von Bordellen verhält sich zu den Orten der Ausschweifung im 19. Jahrhundert wie Hugh Hefners Magazin zu der verbotenen Pornografie jener Zeit: Beide haben zum Ziel, das einst als verboten und verurteilenswert Geltende akzeptabel und kommerziell nutzbar zu machen. So tritt die virtuelle – filmische, fotografische und bald ­darauf auch digitale – Softprostitution an die Stelle der herkömmlichen, handgreiflicheren Form in Nachtklubs und Freudenhäusern. Playboy ist das Symptom für die Industrialisierung des erotischen Schauspiels, die mit der Erfindung des Kinos begann und ihren bisherigen Höhepunkt mit der allgemeinen Verbreitung des Internets erreicht hat. «Der Bewohner des Playboy-Penthouse ist eine erotisierte, kommerzielle Version von McLuhans ‹hyperconnected man›», schreibt Beatriz Preciado. Das tausendmal abgelichtete runde Bett von Hugh Hefner, von allen elektronischen Geräten ­seiner Zeit umgeben, ist die vollkommene Verkörperung dieses kybernetischen Traums (Abb. 03). Wenn dies das Erbe von Playboy ist, wird klar, dass seine Rolle bei der Entstehung des Modernismus weit über erotische Aspekte oder die Frage des Stils hinausgeht. War der Mann, der im Pyjama arbeitete und niemals sein Schloss verliess, nicht das erste Opfer einer Krankheit, die uns alle mittlerweile unerbittlich erfasst hat – des Glaubens, die ganze Welt sei auf dem Bildschirm zugänglich? Die erotisch-mediale Utopie des Playboy erzählt nicht so sehr vom Verfall der Moderne, ­sondern viel eher vom Zerfall der Wirklichkeit. Bei Walt Disney und Hugh Hefner, in den Vergnügungsparks des einen und in den Clubs des anderen, zeichnen sich neue Arten der ­Unterwerfung ab, die auf der Kontrolle über das Begehren basieren. Denn Wünsche, die der Herrschaft des Bilds unterworfen sind, können nie erfüllt werden – und sind deshalb un­begrenzt kommerziell ausbeutbar.


Anmerkungen:
[01] Beatriz Preciado, Pornotopia. Architektur, Sexualität und Multimedia im «Playboy». Wagenbach, Berlin 2012.
[02] Vgl. Thomas Fechner-Smarsly, Ein Traumhaus für den Mann, in: NZZ vom 23. Mai 2012, S. 51.

TEC21, Fr., 2012.12.28



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TEC21 2013|01-02 Marktreife Moderne

09. Mai 2012Christophe Catsaros
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Zeichen und Funktion

Eines der Aushängeschilder der Schweiz und ein Sinnbild der Neutralität ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Dessen neuer Logistikkomplex fasst Archiv-, Büro- und Lagerfunktionen unter einem Dach zusammen. Seine vielfach gefaltete Außenhülle besteht aus einer Membran, die Lkw-Planen ähnelt, und spielt damit auf den Transport von Hilfsgütern an, der von hier aus organisiert wird. Die expressive Form ist nicht allein aus der symbolischen Ebene abgeleitet, sondern erfüllt auch ganz praktische Funktionen.

Eines der Aushängeschilder der Schweiz und ein Sinnbild der Neutralität ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Dessen neuer Logistikkomplex fasst Archiv-, Büro- und Lagerfunktionen unter einem Dach zusammen. Seine vielfach gefaltete Außenhülle besteht aus einer Membran, die Lkw-Planen ähnelt, und spielt damit auf den Transport von Hilfsgütern an, der von hier aus organisiert wird. Die expressive Form ist nicht allein aus der symbolischen Ebene abgeleitet, sondern erfüllt auch ganz praktische Funktionen.

Am Beispiel des Neubaus im Industriegebiet von Meyrin-Satigny hat das Genfer Architekturbüro group8 die Aufteilung zwischen Funktionalität und Erscheinungsbild gekonnt neu ausgehandelt. Obwohl es sich um ein sehr technisches Gebäude handelt, hat das Logistikzentrum die Industrielandschaft am Flughafen aufgewühlt und völlig verändert. Es verfügt über starke architektonische Ausdruckskraft, die sich jedoch keineswegs zulasten der Funktionalität entfaltet.

Als erstes fällt an dem Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) das geometrische Erscheinungsbild ins Auge. Die drei Hauptelemente des Raumprogramms – Lager, Verwaltung, Archiv – sind zwar rechtwinklig ausgeführt, darüber spannt sich jedoch eine Außenhaut, deren Faltung einer ganz anderen Logik folgt. Mit ihrem Prismenspiel zergliedert sie die regelmäßige Formgebung der Lagerhalle. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, wie überraschend gut Funktion und Form bei der Ausarbeitung des Entwurfs aufeinander abgestimmt wurden. Die den Logistikfunktionen geschuldeten Bauelemente müssen sich nicht verstecken, sondern dürfen am kontrastreichen Spiel, das dem äußeren Gesamtbild seine Struktur verleiht, mitwirken. Tonangebend sind dabei zunächst die LKW-Laderampen an der Fassade; sie fügen sich in den schwarzen unteren Teil des Bauwerks ein, der mit der weißen Hülle kontrastiert. Diese freimütige Darstellung der Zweckorientiertheit rückt die Funktion des Logistikzentrums in den Vordergrund, nämlich den Versand von Medikamenten, orthopädischen Hilfsmitteln und Geräten in Krisen- und Katastrophengebiete.

Das zweite Element – die Büro- und Konferenzräume für die Mitarbeiter, die den Versand organisieren – ist auf der Ebene der Fassadengestaltung ebenfalls wahrnehmbar. Es scheint durch die in drei Reihen verglaste Fläche hindurch. Die Verwendung unterschiedlich stark reflektierender Gläser defragmentiert hier die Einförmigkeit, die Glasfassaden so häufig anhaftet.

Auch das dritte Element, das Archiv des IKRK, hat in der Konzeption des Gebäudes einen bedeutenden Stellenwert, von außen ist es jedoch nicht zu erkennen. Es liegt neben der Tiefgarage eingegraben im UG.

Der unauffällige Gebäudeeingang ist über einen leicht abschüssigen Vorplatz zu erreichen. Auf dem Weg dorthin wird die Funktion der Außenhaut erkennbar. Die über das gesamte Gebäude gespannte Zeltwand, deren weiße Farbe für die Neutralität des IKRK steht, erfüllt einen doppelten Zweck, indem sie zum einen die Luft vor der Fassade zirkulieren lässt und vor direkter Sonneneinwirkung schützt und zum anderen mit ihrem flexiblen Material die geraden Wände der Lagerhalle formal bricht und Dachvorsprünge ausbildet. Das Prismenspiel ist nicht reine Willkür, sondern schafft geschützte Flächen für die Gebäudeöffnungen: Fenster, Laderampen und Eingang. Schwarze Linien, akzentuieren die Kanten der Prismenflächen; es handelt sich dabei um Regenwasserablaufrinnen. Die Außenhaut als maßgebliches Element der hier verwendeten Architektursprache erweist sich damit als ausgezeichnetes technisches Instrument. Sie stellt Wendigkeit, Modulierbarkeit, Anpassungsfähigkeit als Merkmale des Selbstverständnisses des IKRK heraus, ohne deshalb in reine Symbolhaftigkeit abzugleiten.

Im Innern wird in der Raumaufteilung des Verwaltungstrakts ein weiteres Mal eine geschickte Verknüpfung von Zeichen und Funktion erkennbar. Im OG gelangt man zunächst in eine Art Atrium, das auf zwei Ebenen von Büroräumen eingefasst ist. Durch das Glasdach über der gesamten Fläche fällt Tageslicht in diesen Innenhof. Von hier aus sind zwei Räume unter freiem Himmel zu erreichen: ein kleiner, quadratischer, abgeschlossener Garten mit dem Firmament als einzigem Horizont und ein lang gestreckter, als Sitzungssaal im Freien dienender Hof.

Als Ausgleich für die repetitiven Reihungen der Einzelbüros sind die gemeinsam genutzten Bereiche großzügig gestaltet. An der Sorgfalt, die die Architekten von group8 auf Gemeinschaftsbereiche verwenden, lässt sich ihre Überzeugung ablesen, dass Architektur das Potenzial hat, als sozialer Kondensator zu wirken. Der Gedanke, Gemeinschaftsräume in Wohn- und Bürogebäuden im Hinblick auf mehr Gemeinsamkeit zu gestalten, reicht zurück auf die Konstruktivisten der 20er Jahre und die Brutalisten der 60er Jahre. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhob eine neue Generation von Architekten unter dem Namen Team 10 die Vorstellung zum Prinzip, dass Gemeinschaftsräume als lebendige Orte zu verstehen sind, in denen Menschen einander begegnen und gemeinsam etwas tun. Die Gruppe Team 10, die immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, den CIAM aufgelöst zu haben, bemühte sich bereits in den 50er Jahren darum, dem Hygienismus und der Sterilität des vorherrschenden Funktionalismus etwas entgegenzusetzen. Man stand zwar zu den Maßstäben und Grundannahmen der Moderne, versuchte aber Elemente einzuführen, die ein gewisses Maß an Geselligkeit möglich machten.

Die planerische Entscheidung, ins Zentrum der Lagerhalle des IKRK einen gemeinsam genutzten Raum zu stellen, kann durchaus als Erbe dieser Denkschule gelten. Adrien Besson von group8 verweist im Übrigen ohne Zögern auf Alison und Peter Smithson als mögliche Referenz für die Konzeption.

Zahlreiche Entwürfe von group8 sind von derartigen Überlegungen geleitet. Für denselben Auftraggeber wurde in anderem Zusammenhang ein zur Stadt hin ausgerichteter Platz vor dem Genfer Sitz des IKRK gestaltet. Die Anordnung konzentrischer Kreise unterstreicht dort die Funktion als öffentlicher Raum. Das quasi-szenografische Anliegen, gemeinschaftlich nutzbare Flächen in den Vordergrund zu stellen, liegt zahlreichen Bauten von group8 zugrunde.

Von der umlaufenden Galerie im Rot-Kreuz-Logistikkomplex fällt der Blick hinunter in den gemeinsamen Raum. An anderer Stelle – in den Räumen des Architekturbüros selbst – wurden 18 Container so gestellt, dass von dort aus der »open space« einzusehen ist, in dem die Mitarbeiter ihrer Arbeit nachgehen.

Signifikanter Minimalismus

Mag das Atrium auch in neutralen Tönen gehalten sein, sind dort doch einige dynamische Kontraste zu finden, beispielsweise das Knallrot der Eingangshalle oder des Treppenhauses. Das Glasdach besteht aus zueinander gegenläufig geneigten Elementen, die Streifen auf den Glasfüllungen brechen die Sonnenstrahlen. Im Laufe des Tages fällt wechselndes Licht ins Atrium und zeichnet strukturierte Kompositionen auf Boden und Wände. Der Innenhof reagiert auf das Wetter und wird so zu einer Art neuralgischem Zentrum, das einen in sich abgeschlossenen Raum mit der Außenwelt in Verbindung bringt. Die Lichtspiele und der reichlich bemessene Platz im Atrium bringen vor dem Hintergrund der Einfachheit und Neutralität des Gebäudes zum Ausdruck, was die Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz so wirkungsvoll macht, nämlich die Lebendigkeit der tragenden Kräfte. Dies ist Minimalismus im ursprünglichen Sinn des Wortes. Im Gegensatz zu jenen Minimalismen, die ins Luxuriöse ausarten, geht es group8 darum, sich von allem Überflüssigen zu befreien und nur das Wesentliche zu bewahren. Zwischen notwendigem Verzicht auf gestalterische Mittel in den Lager- und Archivbereichen und der zum Prinzip erhobenen klösterlichen Einfachheit der Büroräume ist es den Architekten gelungen, in dem Gebäude doch recht unterschiedliche Welten unter einer gemeinsamen Sprache zu versammeln.

Die Wabenpaneele innen an den Galerien und Wänden des Atriums haben wie die weiße Außenhaut eine gebäudetechnische Funktion, nämlich, hinter einer einheitlichen Fläche Beleuchtung, Rohrleitungen und Kabelführungen zu verhüllen.

Seine einleuchtende Fortsetzung findet der Innenhof im Garten, der ebenfalls ganz auf sich selbst bezogen und zum Himmel offen ist. Dies ist die wohl einzige Schwäche in der Gesamtkonzeption: Es fehlt auf der Gartenebene ein »Fenster« nach außen. Dem Atrium verleiht die Abgeschlossenheit Ruhe und klösterliche Abgeschiedenheit, dem Gärtchen bekommt sie nicht. Hier vermittelt sie keine Sicherheit, sondern wirkt eher beklemmend. Der Wille zur Abkapselung des Gebäudes stößt hier an seine Grenze.

Bautechnisch hat der Logistikkomplex wesentlich mehr zu bieten als die neutrale Fassade zunächst vermuten lässt. Das Tragwerk der Lagerhalle mit den großen Spannweiten ist aus Metall, der Rest ist eine Betonkonstruktion.

Insgesamt lastet das Gebäude auf rund 30 Pfählen, die zur geothermischen Energiegewinnung herangezogen werden. Die hohen Standards des IKRK gewährleisten die Verwendung von ausschließlich hochwertigem Material und Ausrüstungen beim Bau.

Nüchtern, zweckmäßig und ausdrucksstark ist das neue Logistikzentrum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, es legt die Latte hoch, man hätte es kaum besser machen können. In erster Linie ein Zweckbau und der Öffentlichkeit im Grunde nicht zugänglich ist das bauwerk von der Frage nach dem Stellenwert des gemeinsam genutzten Raums bestimmt. Mit diesem Merkmal bezieht es sich auf die beiden anderen Objekte, die group8 für das IKRK gebaut hat, den Platz und das Konferenzzentrum gegenüber dem Hauptquartier nahe dem Völkerbundpalast. group8 ist es gelungen, für alle drei Objekte eine gemeinsame Sprache zu finden, die von baulichen Besonderheiten getragen wird, sich aber auch planerisch niederschlägt als Ausdrucksweise, die diskret genug ist, um verständlich zu sein, und nüchtern genug, um vielerlei Formen der Aneignung zu ermöglichen.

[Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig]

db, Mi., 2012.05.09



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db 2012|05 Französische Schweiz

Presseschau 12

07. Juli 2015Christophe Catsaros
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Komfort unter der Tarnkappe

Um das dörfliche Ensemble erhalten zu können, wurden einige der Gebäude zu Gästeunterkünften umgebaut. Von außen sind die Eingriffe kaum wahrnehmbar, die...

Um das dörfliche Ensemble erhalten zu können, wurden einige der Gebäude zu Gästeunterkünften umgebaut. Von außen sind die Eingriffe kaum wahrnehmbar, die...

Um das dörfliche Ensemble erhalten zu können, wurden einige der Gebäude zu Gästeunterkünften umgebaut. Von außen sind die Eingriffe kaum wahrnehmbar, die Innenräume leben vom Kontrast zwischen den geradlinigen Holzeinbauten und den Unvollkommenheiten der historischen Bausubstanz. Das Hotelkonzept verdankt seinen Erfolg dem Gegensatz zwischen dörflicher Kleinteiligkeit und durchaus städtischem Luxus.

Das Bergdorf Commeire, das mit seinen 30 Alphäusern aus Lärchenholz hoch über der Straße zum Großen Sankt Bernhard liegt, hatte über viele Jahre den Zeitläuften getrotzt und sich dem allgemeinen Streben nach Komfort verweigert. Zu Beginn der nuller Jahre war Commeire im Großen und Ganzen von seinen früheren Einwohnern verlassen.

Als zwei belgische Unternehmer die Vision unterbreiteten, hier Gästehäuser einzurichten, erschien das allen als unglaubhaft. Sowohl den bisherigen Eigentümern, die die ersten der Scheunen für jeweils 25 000 CHF abtraten, als auch der Gemeinde Orsières, die in dem Weiler kein Entwicklungspotenzial sah. Auch die Banken zögerten, ein derart abwegiges Projekt zu finanzieren.

Der Hotelbetrieb »Montagne Alternative« (»Alternative Berge«) bietet hier mittlerweile um die 30 Betten an, wofür acht Scheunen umgebaut und drei weitere Gebäude hierher transloziert wurden. Nach den Worten des Architekten Patrick Devanthéry, der die Konversion planerisch begleitet, werden die letzten original erhaltenen Scheunen nun schon zu 250 000 CHF gehandelt.

Seit Beginn des Projekts gilt der Anspruch, den künftigen Gästen einen Vier-Sterne-Standard zu bieten, jedoch ohne den für derartige Etablissements sonst üblichen Baugrundverbrauch. Alle Funktionen eines großen Hotels sollten über den Weiler verteilt werden. Eines der wesentlichen Markenzeichen des Projekts ist es, die neuen Nutzungen in die vorhandenen Gebäudeumrisse einzupassen.

Die Baustelle musste auf einen langen Zeitraum hin geplant werden, da sie sich an den Rhythmus der örtlichen Handwerker anzupassen hatte – Bauarbeiten verrichten diese in Commeire nur in den Zeiten, da für sie keine anderweitigen Aufgaben anstehen. Dieser Zeitrhythmus der Bergbewohner bestimmte den Ablauf der Umgestaltung, und es hat schließlich nahezu zehn Jahre gebraucht, bis der heutige Stand erreicht war. Das ist nicht als Mangel zu werten, denn auf diese Art kam es zu einer schrittweisen Anreicherung, jeder neue Umbau profitierte von den gesammelten Erfahrungen des vorangehenden Baus, jede Etappe hatte vor ihrer Realisierung Zeit zum Reifen und Vervollkommnen. Zum heutigen Tag sind 90 % der Planziele erreicht. Einige wesentliche Elemente stehen noch aus, so z. B. ein Spa, der Gesamtkomplex ist aber in Betrieb.

Umgestaltung nach Mass

An die jeweiligen Raumverhältnisse der vormaligen Scheunen angepasst, sind die Gästezimmer allesamt individuell ausgeformt. Der scheinbaren Einfachheit der Ausbauten gingen komplexe Eingriffe voraus. Die Scheunen, in denen vormals Mensch und Tier eng beieinander lebten, waren schlecht gedämmt und hatten nur minimale Öffnungen. Dem Architekten stellte sich die Aufgabe, in die ursprünglichen Hüllen »bewohnbare Boxen« einzupassen. Dabei hatte er sich auferlegt, die notwendigen Durchbrüche in den Lärchenholzwänden auf ein Minimum zu beschränken. Die Konstruktion war zu verstärken und bei Schieflage aufzurichten. Vollständig neuanzulegen war der Hausunterbau. Das Ergebnis ist verblüffend: Auf den ersten Blick scheint es, als sei ein historischer Baukörper auf einen neuen Sockel gesetzt worden. Man möchte jedes einzelne Haus daraufhin untersuchen, mit welcher Finesse Patrick Devanthéry bei der Umrüstung vorgegangen ist.

Da sind zunächst die auf das unbedingt Notwendige beschränkten Wandöffnungen, wozu nach Möglichkeit auch die Lüftungsschlitze der Scheune genutzt wurden. In verschiedenen Räumen erblickt man das Bild der Landschaft durch eine eigenwillige Ansammlung von Schlitzen hindurch – einstige Schießscharten sind das, die beibehalten wurden. Die Landschaftsbetrachtung wird durch diese Strukturierung des Blicks zu einem ungewöhnlichen Erlebnis – eines der gelungensten Details des Projekts. Die großen Panoramafenster, mit denen jedes Zimmer ausgestattet wurde, beeinträchtigen die Gesamterscheinung der Berghütten kaum. Bei den im Unterteil der Gebäude gelegenen Gästezimmern ist die Mehrzahl der neuen Fenster im wiederhergestellten Sockel angeordnet. Für die Wandbekleidung im Innern kam ebenfalls Lärchenholz zum Einsatz, darunter viele wiederverwendete Bretter aus dem jeweiligen Gebäude. Die Unterschiedlichkeit der Bretter mag ein ornamentales Interesse nahelegen, der generelle Umgang mit den Materialien zeugt aber vielmehr von strukturellem Denken.

Die Gästehäuser sind nun perfekt gedämmt, ohne dass dabei die wundervolle Anmutung der Dachschalung hätte leiden müssen; geheizt wird hauptsächlich über Sonnenkollektoren und mit Hightech-Kaminen, bei denen sich die Wärmeabstrahlung optimieren lässt. Die Berghütten sind nunmehr zu luxuriösen Residenzen geworden, ohne dies nach außen hin zu offenbaren. In ihrer äußerlichen Verschwiegenheit ähneln sie den seltsamen ungenutzten Bauten am Dorfeingang – als Bauernhäuser getarnten Bunkern. Commeire hatte über viele Jahre davon profitiert, dass hier Artillerieeinheiten stationiert waren, die ihr Quartier am Ortseingang hatten und deren im Gebirge verborgene Kanonen auf den Großen Sankt Bernhard gerichtet waren. Mit dem Abzug der Militärs geriet der Weiler in den Niedergang, bis schließlich »Montagne Alternative« diese neue Tarnkappenoperation startete.
Die Diskretion, die alle Eingriffe in das Dorfensemble kennzeichnet, hat sich als das Markenzeichen des Projekts herauskristallisiert – eine bestechende Idee, ein gedanklicher Kontrapunkt zu den gewöhnlichen Berghotels, die in ihrer Neuheit allzu oft extrem aufdringlich daherkommen.

Mit der Regel, allein den Raum innerhalb der bestehenden Gebäudehüllen zu nutzen, war ein Gesetz gefunden worden, das weniger als Einschränkung empfunden wurde, sondern dem Projekt vielmehr Struktur, Sinn und Dynamik gab. Beim Einpassen der »Wohnbox« in die vorgegebene Hülle folgte man nicht mehr einfach nur einer aus einem Kompromiss geborenen Vorgabe, sondern einem sinngebenden Prinzip. Die Anpassung des Neuen an das vorhandene Alte und der Respekt vor der ursprünglichen Gestalt bilden die Grundlage der gesamten Ökologie des Projekts.

In den "ein wenig zu »geleckt« erscheinenden" Gassen des wiedererweckten Weilers tritt die Art und Weise zu Tage, mit der das Projekt nach einer Neudefinition des grundlegenden Wunschtraums der Gebirgshotellerie sucht: der Idee einer Insel der Urbanität mitten im Nirgendwo. Dieses Fantasiebild machte einen wesentlichen Zug des Grandhotels des 19. Jahrhunderts aus. Hier in Commeire geht es nicht allein um den städtischen Charakter der den Gästen angebotenen Dienstleistungen und auch nicht nur um die heute nicht unbedingt außergewöhnliche ökologische Energie- und Lebensmittelversorgung. Die Urbanität, die das Markenzeichen von »Montagne Alternative« darstellt, liegt in der Form des Dorfs, jener Form, in der sich der Ursprung der Stadt sehen lässt. Die Verknüpfung der dörflichen Dichte mit der städtischen Kultur des Hotelbetriebs war bestimmend für den Erfolg des Projekts.

db, Di., 2015.07.07



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28. Dezember 2012Christophe Catsaros
TEC21

Häuslicher Playboy

Das Männermagazin Playboy setzte sich in der Nachkriegszeit kräftig für die Popularisierung der modernen Architektur ein. Wegen seiner ­erotischen ­Inhalte als Referenz unerwünscht, fehlt es jedoch meist in den Bibliografien zum Thema. Das ist schade, denn für die Architektur- und Designgeschichte ist das Studium des Playboy sehr aufschlussreich. Es zeigt, wie die Moderne – ursprünglich als Instrument der menschlichen Emanzipation gedacht – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als blosses Konsum­produkt vermarktet wurde. Das kürzlich erschienene Buch «Pornotopia» geht diesem Phänomen auf die Spur.

Das Männermagazin Playboy setzte sich in der Nachkriegszeit kräftig für die Popularisierung der modernen Architektur ein. Wegen seiner ­erotischen ­Inhalte als Referenz unerwünscht, fehlt es jedoch meist in den Bibliografien zum Thema. Das ist schade, denn für die Architektur- und Designgeschichte ist das Studium des Playboy sehr aufschlussreich. Es zeigt, wie die Moderne – ursprünglich als Instrument der menschlichen Emanzipation gedacht – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als blosses Konsum­produkt vermarktet wurde. Das kürzlich erschienene Buch «Pornotopia» geht diesem Phänomen auf die Spur.

Das 2012 auf Deutsch veröffentlichte Buch «Pornotopia»[1] der Philosophin Beatriz Preciado (vgl. S. 9) durchbricht die scharfe Grenze zwischen populärer und wissenschaftlicher ­Literatur. Die Untersuchung über die anthropologische und architektonische Bedeutung der Zeitschrift Playboy zeigt, dass die Vision ihres Herausgebers Hugh Hefner viel weiter reichte, als es die freizügigen Titelbilder vermuten lassen. Tatsächlich hat Playboy wie keine andere Massenzeitschrift die moderne Architektur propagiert. Grosse Namen und hoch­wertige Einrichtungsgegenstände tauchten darin auf; vor allem aber setzte sich das Magazin entschieden für das Leben in der Stadt ein. Die 1953 gegründete, in Chicago herausgegebene Zeitschrift entwickelte zwischen 1953 und 1963 einen kämpferischen Diskurs für eine neue männliche Identität – die des unverheirateten jungen Grossstädters. Sehr schnell trat Playboy auch als Inneneinrichtungsmagazin für Männer auf und versuchte, sich einen Platz zwischen Frauen- und Wohnzeitschriften zu sichern. Mit seiner geschickten Mischung an Themen – Sex, Literatur und Wohndesign – hatte Playboy von Anfang an aussergewöhnlichen Erfolg. Die kleine Revolution, die Hugh Hefner für sich beansprucht, war die Rückeroberung des häuslichen Raums für den Mann. Die Begriffe Revolution und Rückeroberung mögen aus heutiger Sicht übertrieben erscheinen, im Kontext der konservativen Grundhaltung in den USA der 1950er-Jahre betrachtet sind sie jedoch durchaus angemessen.[2]

Stadtflucht und konservative Geschlechterrollen nach 194

5Während des Kalten Kriegs, einer von Spionen und heimlichen Helden besessenen Zeit, ­gehörte das amerikanische Heim vor allem der Familie. Es befand sich – dank der noch jungen Automobilkultur gut erreichbar – draussen vor der Stadt. In dieser sehr schematischen Vorstellung, die das traute Zuhause vom Rest der Welt trennt, war der Mann gezwungen, sich ausserhalb zu betätigen; darum verfügte er über das einzige Fahrzeug der Familie. Der häusliche Bereich war die Domäne der Frau. Dieses Modell der Kernfamilie hat nicht nur die Wertvorstellungen mehrerer Generationen von Amerikanerinnen und Amerikanern geprägt, sondern auch die urbane Entwicklung nach 1945. Die Städte dehnten sich in endlosen ­Suburbs aus, das Leben verlagerte sich aus dem Zentrum in die Peripherie. Die geostrate­gischen Ängste vor einem totalen Krieg, der die Städte zerstören würde, trieben die Familien aus den Städten hinaus. Jene Zivilisation, die in ihrer jüngsten Geschichte weltweit die ­meisten Bombardierungen veranlasst hat, konnte sich für die Sicherung ihrer Zukunft nur für ein anti-urbanes Modell entscheiden; denn je weiter die Stadt sich ausbreitete, desto weniger verwundbar war sie. Die atomare Bedrohung, die Rassenkonflikte, die Drogen und die ­Kriminalität mochten im Stadtzentrum bleiben: Der Durchschnittsamerikaner wohnte nicht mehr dort. Dieses sogenannte «White-Flight-Phänomen» war mitverantwortlich für den ­Niedergang der Innenstädte in den 1960er- und 1970er-Jahren. Beatriz Preciado betont, dass diese Trennung der Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten auch ein effizientes Mittel war, die Frauen aus dem Arbeitsmarkt zu verdrängen, um wieder Platz für die nach 1945 demobilisierten Soldaten zu schaffen. Den aus dem Stadtzentrum verdrängten Frauen sei nichts anderes übrig geblieben, als sich um das Heim zu kümmern. Auf die emanzipierte, produktive Frau der 1940er-Jahre, die problemlos die in den Krieg ­gezogenen Männer ersetzen konnte, folgte in den 1950er-Jahren die abhängige, von der Aussenwelt abgeschnittene Ehefrau und Mutter.

Rückeroberung von Stadt und Wohnung

Auf dieses vorherrschende Modell des Einfamilienhauses in der Vorstadt antwortete der Playboy mit einem Plädoyer für das urbane Leben: «Der Mann verlangt nachdrücklich eine Wohnung für sich […], einen Raum nur für sich […], das ideale Penthouse für einen urbanen Junggesellen», heisst es in einem Leitartikel vom September 1956. Das Penthouse, von dem die Playboy-Leser träumten, verspricht die Wiederaneignung eines häuslichen Raums, der vom Einfluss der Frau befreit und wieder ins Stadtzentrum verlegt wurde. Die Stadt erhält dabei ihre begehrenswerte, spannende Dimension zurück. Der neue Mann – emanzipiert, unverheiratet oder geschieden – kann sich seinen Lieblingsbeschäftigungen hingeben: der Inneneinrichtung, elektronischem Spielzeug und leicht bekleideten Mädchen. Der neue Junggeselle behauptet sein Recht auf seinen eigenen Geschmack. Hugh Hefner verkörpert mit Vergnügen das von ihm propagierte Männermodell: Er lebt im Pyjama, ­um­­geben von etwa dreissig sogenannten «Bunnys», in einem geschlossenen Universum, wo alles gefilmt wird. Das Playboy Mansion, Lebens- und Arbeitsort zugleich, ist das erste mediale Kloster unserer Zeit.

Die Bemühungen des Playboy um Auflösung der altväterlichen Allianz zwischen häuslichem Raum und Weiblichkeit hatten eine gewisse Entsprechung in den analogen Bemühungen der Feministinnen. Manche von ihnen betrachteten das Magazin sogar als Vorkämpfer der sexuellen Befreiung, gleichrangig neben der feministischen Bewegung und der Friedensbewegung der 1960er-Jahre. Beatriz Preciado ist in diesem Punkt zurückhaltender: Tatsächlich ist der kommerzielle Charakter dieser ersten medialen und sexuellen Utopie kaum zu übersehen. Sein unbestrittener Beitrag zur Entstehung des libidinösen und pharmazeutischen Konsumismus schliesst Playboy definitiv aus der Reihe der Protagonisten der sexuellen Befreiung aus.

Käufliche Schönheit für käufliche Schönheiten

Inwiefern erhellt nun die erotische und architektonische Heldengeschichte des Playboy die Frage nach dem Sinn der Modernität? Auf den Seiten des Magazins kann man verfolgen, wie die Utopie der Modernität zur Ware wird. Es zeichnet sich ab, wie die funktionelle, ­idealistische Vorkriegsbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum luxuriösen, gestylten Modernismus verkommt. In den Netzen der Konsumkultur und der Massenmedien gefangen verliert die Moderne nach und nach ihre ethischen Imperative; sie wird zur blossen Stilübung, die sich den wechselnden Tendenzen und der Spekulation anpasst. Auf den ­Seiten des Playboy verkörpert ein Stuhl von Eero Saarinen auf einmal nicht mehr die Klarheit und Schnörkellosigkeit einer vollkommen angemessenen Geste, sondern wird, wozu ihn die Konsumgesellschaft verdammt: ein begehrtes und potenziell aneigenbares Objekt der Sinnlichkeit (Abb. 02). Die Architekturseiten des Playboy sind nur eines von vielen Symptomen der langsamen ­Verwandlung des modernen Stils. In den 1950er-Jahren tauchen zwei einander widersprechende Tendenzen auf: einerseits eine radikale, politisierte architektonische Gegenkultur, andererseits ein manierierter Modernismus, der jede Verbindung zu gesellschaftlichen ­Anliegen verloren hat. Zu einer Sache des Lifestyles – und nicht mehr des Lebens im vollen Sinn des Worts – gewandelt, wird die moderne Architektur zu etwas, was sie nach dem ­Willen ihrer Protagonisten nie hätte werden dürfen: zum Dekor. Diese Veränderung manifestiert sich in den rund um die Uhr gefilmten modernen Interieurs Hugh Hefners. Es ist kein Zufall, dass einer der eklektischsten Architekten unserer Zeit wiederholt im Playboy auftaucht: Frank O. Gehry entwarf schon vor fünfzig Jahren die Prinzipien des «bachelor pad», der Junggesellenwohnung als idealem Ökosystem für den neuen Mann.

Industrialisierung des erotischen Schauspiels

Das architektonische Interesse am Playboy beschränkt sich aber nicht auf das Zur-Ware-Werden eines Ideals. Neben dem genialen Einfall Hugh Hefners, das Verbotene mit dem ­Akzeptablen zu mischen, beruht sein Projekt auf der Schaffung eines erbaulichen Mythos: eines unerreichbaren, aber in der Vorstellung aller präsenten Orts. Das Playboy Mansion als Raum strikt hierarchisch gegliederter Freizeitbeschäftigungen ist die Verkörperung einer Utopie. Nach dem Vorbild dieses mythischen Raums entstehen eine ganze Reihe von Hotels und Clubs. Diese neue Art von Bordellen verhält sich zu den Orten der Ausschweifung im 19. Jahrhundert wie Hugh Hefners Magazin zu der verbotenen Pornografie jener Zeit: Beide haben zum Ziel, das einst als verboten und verurteilenswert Geltende akzeptabel und kommerziell nutzbar zu machen. So tritt die virtuelle – filmische, fotografische und bald ­darauf auch digitale – Softprostitution an die Stelle der herkömmlichen, handgreiflicheren Form in Nachtklubs und Freudenhäusern. Playboy ist das Symptom für die Industrialisierung des erotischen Schauspiels, die mit der Erfindung des Kinos begann und ihren bisherigen Höhepunkt mit der allgemeinen Verbreitung des Internets erreicht hat. «Der Bewohner des Playboy-Penthouse ist eine erotisierte, kommerzielle Version von McLuhans ‹hyperconnected man›», schreibt Beatriz Preciado. Das tausendmal abgelichtete runde Bett von Hugh Hefner, von allen elektronischen Geräten ­seiner Zeit umgeben, ist die vollkommene Verkörperung dieses kybernetischen Traums (Abb. 03). Wenn dies das Erbe von Playboy ist, wird klar, dass seine Rolle bei der Entstehung des Modernismus weit über erotische Aspekte oder die Frage des Stils hinausgeht. War der Mann, der im Pyjama arbeitete und niemals sein Schloss verliess, nicht das erste Opfer einer Krankheit, die uns alle mittlerweile unerbittlich erfasst hat – des Glaubens, die ganze Welt sei auf dem Bildschirm zugänglich? Die erotisch-mediale Utopie des Playboy erzählt nicht so sehr vom Verfall der Moderne, ­sondern viel eher vom Zerfall der Wirklichkeit. Bei Walt Disney und Hugh Hefner, in den Vergnügungsparks des einen und in den Clubs des anderen, zeichnen sich neue Arten der ­Unterwerfung ab, die auf der Kontrolle über das Begehren basieren. Denn Wünsche, die der Herrschaft des Bilds unterworfen sind, können nie erfüllt werden – und sind deshalb un­begrenzt kommerziell ausbeutbar.


Anmerkungen:
[01] Beatriz Preciado, Pornotopia. Architektur, Sexualität und Multimedia im «Playboy». Wagenbach, Berlin 2012.
[02] Vgl. Thomas Fechner-Smarsly, Ein Traumhaus für den Mann, in: NZZ vom 23. Mai 2012, S. 51.

TEC21, Fr., 2012.12.28



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09. Mai 2012Christophe Catsaros
db

Zeichen und Funktion

Eines der Aushängeschilder der Schweiz und ein Sinnbild der Neutralität ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Dessen neuer Logistikkomplex fasst Archiv-, Büro- und Lagerfunktionen unter einem Dach zusammen. Seine vielfach gefaltete Außenhülle besteht aus einer Membran, die Lkw-Planen ähnelt, und spielt damit auf den Transport von Hilfsgütern an, der von hier aus organisiert wird. Die expressive Form ist nicht allein aus der symbolischen Ebene abgeleitet, sondern erfüllt auch ganz praktische Funktionen.

Eines der Aushängeschilder der Schweiz und ein Sinnbild der Neutralität ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Dessen neuer Logistikkomplex fasst Archiv-, Büro- und Lagerfunktionen unter einem Dach zusammen. Seine vielfach gefaltete Außenhülle besteht aus einer Membran, die Lkw-Planen ähnelt, und spielt damit auf den Transport von Hilfsgütern an, der von hier aus organisiert wird. Die expressive Form ist nicht allein aus der symbolischen Ebene abgeleitet, sondern erfüllt auch ganz praktische Funktionen.

Am Beispiel des Neubaus im Industriegebiet von Meyrin-Satigny hat das Genfer Architekturbüro group8 die Aufteilung zwischen Funktionalität und Erscheinungsbild gekonnt neu ausgehandelt. Obwohl es sich um ein sehr technisches Gebäude handelt, hat das Logistikzentrum die Industrielandschaft am Flughafen aufgewühlt und völlig verändert. Es verfügt über starke architektonische Ausdruckskraft, die sich jedoch keineswegs zulasten der Funktionalität entfaltet.

Als erstes fällt an dem Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) das geometrische Erscheinungsbild ins Auge. Die drei Hauptelemente des Raumprogramms – Lager, Verwaltung, Archiv – sind zwar rechtwinklig ausgeführt, darüber spannt sich jedoch eine Außenhaut, deren Faltung einer ganz anderen Logik folgt. Mit ihrem Prismenspiel zergliedert sie die regelmäßige Formgebung der Lagerhalle. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, wie überraschend gut Funktion und Form bei der Ausarbeitung des Entwurfs aufeinander abgestimmt wurden. Die den Logistikfunktionen geschuldeten Bauelemente müssen sich nicht verstecken, sondern dürfen am kontrastreichen Spiel, das dem äußeren Gesamtbild seine Struktur verleiht, mitwirken. Tonangebend sind dabei zunächst die LKW-Laderampen an der Fassade; sie fügen sich in den schwarzen unteren Teil des Bauwerks ein, der mit der weißen Hülle kontrastiert. Diese freimütige Darstellung der Zweckorientiertheit rückt die Funktion des Logistikzentrums in den Vordergrund, nämlich den Versand von Medikamenten, orthopädischen Hilfsmitteln und Geräten in Krisen- und Katastrophengebiete.

Das zweite Element – die Büro- und Konferenzräume für die Mitarbeiter, die den Versand organisieren – ist auf der Ebene der Fassadengestaltung ebenfalls wahrnehmbar. Es scheint durch die in drei Reihen verglaste Fläche hindurch. Die Verwendung unterschiedlich stark reflektierender Gläser defragmentiert hier die Einförmigkeit, die Glasfassaden so häufig anhaftet.

Auch das dritte Element, das Archiv des IKRK, hat in der Konzeption des Gebäudes einen bedeutenden Stellenwert, von außen ist es jedoch nicht zu erkennen. Es liegt neben der Tiefgarage eingegraben im UG.

Der unauffällige Gebäudeeingang ist über einen leicht abschüssigen Vorplatz zu erreichen. Auf dem Weg dorthin wird die Funktion der Außenhaut erkennbar. Die über das gesamte Gebäude gespannte Zeltwand, deren weiße Farbe für die Neutralität des IKRK steht, erfüllt einen doppelten Zweck, indem sie zum einen die Luft vor der Fassade zirkulieren lässt und vor direkter Sonneneinwirkung schützt und zum anderen mit ihrem flexiblen Material die geraden Wände der Lagerhalle formal bricht und Dachvorsprünge ausbildet. Das Prismenspiel ist nicht reine Willkür, sondern schafft geschützte Flächen für die Gebäudeöffnungen: Fenster, Laderampen und Eingang. Schwarze Linien, akzentuieren die Kanten der Prismenflächen; es handelt sich dabei um Regenwasserablaufrinnen. Die Außenhaut als maßgebliches Element der hier verwendeten Architektursprache erweist sich damit als ausgezeichnetes technisches Instrument. Sie stellt Wendigkeit, Modulierbarkeit, Anpassungsfähigkeit als Merkmale des Selbstverständnisses des IKRK heraus, ohne deshalb in reine Symbolhaftigkeit abzugleiten.

Im Innern wird in der Raumaufteilung des Verwaltungstrakts ein weiteres Mal eine geschickte Verknüpfung von Zeichen und Funktion erkennbar. Im OG gelangt man zunächst in eine Art Atrium, das auf zwei Ebenen von Büroräumen eingefasst ist. Durch das Glasdach über der gesamten Fläche fällt Tageslicht in diesen Innenhof. Von hier aus sind zwei Räume unter freiem Himmel zu erreichen: ein kleiner, quadratischer, abgeschlossener Garten mit dem Firmament als einzigem Horizont und ein lang gestreckter, als Sitzungssaal im Freien dienender Hof.

Als Ausgleich für die repetitiven Reihungen der Einzelbüros sind die gemeinsam genutzten Bereiche großzügig gestaltet. An der Sorgfalt, die die Architekten von group8 auf Gemeinschaftsbereiche verwenden, lässt sich ihre Überzeugung ablesen, dass Architektur das Potenzial hat, als sozialer Kondensator zu wirken. Der Gedanke, Gemeinschaftsräume in Wohn- und Bürogebäuden im Hinblick auf mehr Gemeinsamkeit zu gestalten, reicht zurück auf die Konstruktivisten der 20er Jahre und die Brutalisten der 60er Jahre. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhob eine neue Generation von Architekten unter dem Namen Team 10 die Vorstellung zum Prinzip, dass Gemeinschaftsräume als lebendige Orte zu verstehen sind, in denen Menschen einander begegnen und gemeinsam etwas tun. Die Gruppe Team 10, die immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, den CIAM aufgelöst zu haben, bemühte sich bereits in den 50er Jahren darum, dem Hygienismus und der Sterilität des vorherrschenden Funktionalismus etwas entgegenzusetzen. Man stand zwar zu den Maßstäben und Grundannahmen der Moderne, versuchte aber Elemente einzuführen, die ein gewisses Maß an Geselligkeit möglich machten.

Die planerische Entscheidung, ins Zentrum der Lagerhalle des IKRK einen gemeinsam genutzten Raum zu stellen, kann durchaus als Erbe dieser Denkschule gelten. Adrien Besson von group8 verweist im Übrigen ohne Zögern auf Alison und Peter Smithson als mögliche Referenz für die Konzeption.

Zahlreiche Entwürfe von group8 sind von derartigen Überlegungen geleitet. Für denselben Auftraggeber wurde in anderem Zusammenhang ein zur Stadt hin ausgerichteter Platz vor dem Genfer Sitz des IKRK gestaltet. Die Anordnung konzentrischer Kreise unterstreicht dort die Funktion als öffentlicher Raum. Das quasi-szenografische Anliegen, gemeinschaftlich nutzbare Flächen in den Vordergrund zu stellen, liegt zahlreichen Bauten von group8 zugrunde.

Von der umlaufenden Galerie im Rot-Kreuz-Logistikkomplex fällt der Blick hinunter in den gemeinsamen Raum. An anderer Stelle – in den Räumen des Architekturbüros selbst – wurden 18 Container so gestellt, dass von dort aus der »open space« einzusehen ist, in dem die Mitarbeiter ihrer Arbeit nachgehen.

Signifikanter Minimalismus

Mag das Atrium auch in neutralen Tönen gehalten sein, sind dort doch einige dynamische Kontraste zu finden, beispielsweise das Knallrot der Eingangshalle oder des Treppenhauses. Das Glasdach besteht aus zueinander gegenläufig geneigten Elementen, die Streifen auf den Glasfüllungen brechen die Sonnenstrahlen. Im Laufe des Tages fällt wechselndes Licht ins Atrium und zeichnet strukturierte Kompositionen auf Boden und Wände. Der Innenhof reagiert auf das Wetter und wird so zu einer Art neuralgischem Zentrum, das einen in sich abgeschlossenen Raum mit der Außenwelt in Verbindung bringt. Die Lichtspiele und der reichlich bemessene Platz im Atrium bringen vor dem Hintergrund der Einfachheit und Neutralität des Gebäudes zum Ausdruck, was die Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz so wirkungsvoll macht, nämlich die Lebendigkeit der tragenden Kräfte. Dies ist Minimalismus im ursprünglichen Sinn des Wortes. Im Gegensatz zu jenen Minimalismen, die ins Luxuriöse ausarten, geht es group8 darum, sich von allem Überflüssigen zu befreien und nur das Wesentliche zu bewahren. Zwischen notwendigem Verzicht auf gestalterische Mittel in den Lager- und Archivbereichen und der zum Prinzip erhobenen klösterlichen Einfachheit der Büroräume ist es den Architekten gelungen, in dem Gebäude doch recht unterschiedliche Welten unter einer gemeinsamen Sprache zu versammeln.

Die Wabenpaneele innen an den Galerien und Wänden des Atriums haben wie die weiße Außenhaut eine gebäudetechnische Funktion, nämlich, hinter einer einheitlichen Fläche Beleuchtung, Rohrleitungen und Kabelführungen zu verhüllen.

Seine einleuchtende Fortsetzung findet der Innenhof im Garten, der ebenfalls ganz auf sich selbst bezogen und zum Himmel offen ist. Dies ist die wohl einzige Schwäche in der Gesamtkonzeption: Es fehlt auf der Gartenebene ein »Fenster« nach außen. Dem Atrium verleiht die Abgeschlossenheit Ruhe und klösterliche Abgeschiedenheit, dem Gärtchen bekommt sie nicht. Hier vermittelt sie keine Sicherheit, sondern wirkt eher beklemmend. Der Wille zur Abkapselung des Gebäudes stößt hier an seine Grenze.

Bautechnisch hat der Logistikkomplex wesentlich mehr zu bieten als die neutrale Fassade zunächst vermuten lässt. Das Tragwerk der Lagerhalle mit den großen Spannweiten ist aus Metall, der Rest ist eine Betonkonstruktion.

Insgesamt lastet das Gebäude auf rund 30 Pfählen, die zur geothermischen Energiegewinnung herangezogen werden. Die hohen Standards des IKRK gewährleisten die Verwendung von ausschließlich hochwertigem Material und Ausrüstungen beim Bau.

Nüchtern, zweckmäßig und ausdrucksstark ist das neue Logistikzentrum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, es legt die Latte hoch, man hätte es kaum besser machen können. In erster Linie ein Zweckbau und der Öffentlichkeit im Grunde nicht zugänglich ist das bauwerk von der Frage nach dem Stellenwert des gemeinsam genutzten Raums bestimmt. Mit diesem Merkmal bezieht es sich auf die beiden anderen Objekte, die group8 für das IKRK gebaut hat, den Platz und das Konferenzzentrum gegenüber dem Hauptquartier nahe dem Völkerbundpalast. group8 ist es gelungen, für alle drei Objekte eine gemeinsame Sprache zu finden, die von baulichen Besonderheiten getragen wird, sich aber auch planerisch niederschlägt als Ausdrucksweise, die diskret genug ist, um verständlich zu sein, und nüchtern genug, um vielerlei Formen der Aneignung zu ermöglichen.

[Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig]

db, Mi., 2012.05.09



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