Editorial

dérive 43 enthält Beiträge über: Murals, Banlieue, Dong Xuan Center, Post-Desaster-Stadtgenenese, Warenhaus, Warschau, Richard Nickel, New York, IRWIN.

Selten wurde in den letzten Jahren so nachdrücklich bewiesen, welch wichtige Funktion der öffentliche Raum für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung erfüllt wie in den letzten Wochen und Monaten in den arabischen Ländern. Wer hatte bisher schon eine Ahnung davon, wie zentrale Plätze in Manama/Bahrain oder Kairo heißen?

Mittlerweile ist der Tahrir-Platz, der bereits vor dem Umsturz „Platz der Befreiung“ hieß, in aller Munde. Fast täglich sehen wir Bilder von Demonstrationen auf den Straßen von Sanaa, Bengasi und immer öfter auch aus Städten in Syrien, Algerien, Saudi-Arabien und weiteren Staaten. Es zeigt sich auch, dass facebook, twitter, youtube und Co. den öffentlichen Raum nicht ersetzen, sondern ihn vielmehr zu ergänzen vermögen. Die Online-Kommunikationsmittel eignen sich gut, um Informationen zu verbreiten, Treffen zu koordinieren und über Ereignisse zu berichten. Ohne mächtige Demonstrationen und Kundgebungen auf Straßen und Plätzen, die der landeseigenen und der Weltbevölkerung die Berechtigung und Dringlichkeit der Forderungen vor Augen halten, hätte es in Tunesien und Ägypten jedoch sicherlich weder Rücktritt noch Umsturz gegeben. Bleibt zu hoffen, dass noch weitere Despoten den Flieger besteigen müssen und es in der Folge möglich wird, langfristig freie Gesellschaften zu etablieren, die den Menschen die Chance bieten, ihr Leben nach individuellen Vorstellungen zu gestalten. Nachdenklich sollten die Bilder der letzten Wochen auch die Zivilgesellschaften in den westlichen Ländern stimmen: Es wäre sicher nicht von Schaden, die beeindruckenden Revolten in der arabischen Welt zum Anlass zu nehmen, sich Gedanken über die Grundlagen, Einschränkungen und Fehl entwicklungen der eigenen Gesellschaften zu machen.

Die vorliegende Ausgabe, dérive 43, beginnt mit einem Artikel über Murals in Belfast des Grazer Historikers und Fotokünstlers Mario Liftenegger und setzt damit das Thema Kommunikation auf Hausmauern fort, das Peter Wendl in der letzten Ausgabe von dérive mit The Mythological City begonnen hat. Besonders interessant zeigen sich die Veränderungen, welche Murals im Laufe der Jahrzehnte parallel zu den politischen Verhältnissen erfahren haben. Lifteneggers Text beinhaltet daher auch einen Rückblick auf die jüngste Geschichte Nordirlands und ihre politischen Kämpfe.

Roland Tusch zeichnet in seiner Analyse der Städtebaulichen Strukturen in Warschau ein Bild der polnischen Hauptstadt am Beginn des 21. Jahrhunderts und schildert die vielen unterschiedlichen Stile und Epochen zwischen sozialistischem Realismus und Investorenstädtebau, Nachkriegs- und Antimoderne, Tabula Rasa und Rekonstruktion, die Warschau in den letzten Jahrzehnten geprägt haben.

Thomas Lenz betitelt seinen Beitrag mit dem Karl Kraus-Zitat „Walhalla ist ein Warenhaus“ und widmet sich den Debatten, die mit der Eröffnung der ersten Warenhäuser in deutschen Großstädten zwischen Kleinhandels-Proletariern und Warenhauskapitalisten geführt wurden und schließlich zur Erfindung des Mittelstands führten. Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung sind die Unterschiede in der Entwicklung und der Ausprägung der Moderne zwischen den angloamerikanischen Ländern und Deutschland.

Rund hundert Jahre später gibt es in Berlin wieder eine Debatte um ein Warenhaus, diesmal ist es nicht das Kaufhaus Wertheim, sondern das Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, das hauptsächlich von vietnamesischen Geschäftsleuten und KundInnen betrieben und frequentiert wird. Benjamin Kasten, Ricarda Pätzold und Nikolai Roskamm zeigen auf, welche unterschiedlichen Auffassungen zwischen Stadtpolitik und Stadtplanung im Spannungsfeld zwischen Zentrenschutz und städtebaulich unerwünschtem Wildwuchs sowie den speziellen Voraussetzungen, Notwendigkeiten und berechtigten Anliegen, die es für ein funktionierendes ethnisches Unternehmen wie das Dong Xuan Center gibt, bestehen.

Geplante Stadterneuerungsprojekte in Épinay-sur-Seine, einer nördlich von Paris gelegenen Stadt, sind Thema des Beitrags von Felicitas Wettstein ebenso wie die Frage was Architektur und Städtebau berücksichtigen müssen, damit räumliche Interventionen entwickelt werden können, welche die Bevölkerung mit einschließen, über Jahrzehnte eingeübte Vorgangsweise hinterfragen und neue Handlungsmöglichkeiten schaffen. Darüber hinaus bietet der Text auch einen kurzen Rückblick auf die unheilvolle Geschichte der Stadtentwicklungsprojekte in den Banlieues.

Mit einer Fragestellung, die nach der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan bittere Tagesaktualität gewonnen hat, beschäftigt sich der Geograph Andreas Haller in seinem Artikel Mensch Stadt Berg – Post-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru. Wie müssen geeignete Strategien zur langfristigen Minderung von sowohl sozioökonomischen als auch von Georisiken aussehen? Ein Erdbeben im Jahr 1970 zerstörte große Teile Nord­perus. Eine dadurch ausgelöste Eis- und Schlammlawine begrub damals die Stadt Yungay unter sich. Andreas Haller zeichnet die Entwicklung seither rund um Top-Down-Verordnungen, Hilfsprojekte und Bevölkerungsinitiativen nach.

Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität startet in diesem Heft die dreiteilige Abhandlung New York. Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960, mit Teil 1 Selbststeigerung. Horizontale und Vertikale Kinetik. Informiert werden wir darin unter anderem über Bauernhöfe im dritten Stock des Waldorf Astoria Hotels und Golfplätze im siebten Stock des Downtown Athletic Clubs. Und nur keine Sorge: Jane Jacobs und Robert Moses kommen selbstverständlich auch vor.

Aus Platzgründen mussten wir einige der zahlreichen Besprechungen auf die Website www.derive.at transferieren. Welche das sind, können Sie im Inhaltsverzeichnis nachlesen. Das Kunstinsert in der Mitte des Heftes stammt diesmal von der slowenischen Künstlergruppe IRWIN, mehr dazu auf S. 32.

Christoph Laimer

Inhalt

Sampler:
Der Konflikt an der Hausmauer. Murals in Belfast
Mario Liftenegger

Städtebauliche Strukturen in Warschau. Ein Bild der polnischen Hauptstadt am Beginn des 21. Jahrhunderts
Roland Tusch

»Walhalla ist ein Warenhaus«. Der hochtechnisierte Romantizismus des deutschen Kaiserreichs
Thomas Lenz

Das Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg. Die räumliche Repräsentation einer ethnischen Ökonomie im Konflikt mit der administrativen Stadtplanung.
Benjamin Kasten, Ricarda Pätzold, Nikolai Roskamm

Zwischen imaginierter, gelebter und baulicher Wirklichkeit. Öffentliche Räume in der Peripherie von Paris
Felicitas Wettstein

Mensch Stadt Berg. Post-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru
Andreas Haller

You Gotta Fight For Your Right To Great Architecture. Louis H. Sullivan und Richard Nickels Chicago Revisited
Margareth Otti

KünstlerInnenseite:
IRWIN NSK State in Time, Berlin 2010
Paul Rajakovics, Barbara Holub

Serie | Geschichte der Urbanität:
New York: Die urbane Mobilmachung 1920—1960. Teil 1: Selbststeigerung. Horizontale und Vertikale Kinetik
Manfred Russo

Besprechungen:
Pro Futuro: Ein Plädoyer für die europäische Stadt
Oliver Frey, Florian Koch (Hg.) (2011): Die Zukunft der europäischen Stadt. Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel. Wiesbaden: VS Verlag.
Manfred Russo

The contemporary city: grey, flat and empty?
Alfredo Cramerotti (2010): Unmapping the City: Perspectives of Flatness. Bristol, Intellect.
Katrin Ecker

ExpertInnen vor!
Ausstellung: Fliegende Klassenzimmer. Wir machen Schule. 3.3.-30.5.2011, Az W, Museumsquartier, Wien

Buch | Antje Lehn, Renate Stuefer (Hgg.), 2011: räume bilden. Wie Schule und Architektur kommunizieren. Wien: Löcker, Reihe Arts & Culture & Education.
Elke Rauth

Bourdieu für Architekten
Anita Aigner

Städtische Herausforderungen
Marion Thuswald (Hg.) (2010): urbanes lernen. Bildung und Intervention im öffentlichen Raum. Wien: Löcker Verlag
Susanne Karr

NS-Architektur: gebaute Symbolpolitik
Harlander, Tilman; Pyta, Wolfram (Hg.)(2010): NS-Architektur: Macht und Symbolpolitik.Kultur und Technik. Berlin: LIT Verlag
Gerhard Rauscher

Die Entdeckung des Vernakulären als Zeichen der Politik
Anita Aigner (Hg.) (2010):Vernakulare Moderne. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Bielefeld: transcript
Manfred Russo

Zuwanderung produziert Stadt
Moritz Csáky (2010): Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen. Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien u. a.: Böhlau
Angela Heide, Elke Krasny (Hg.)(2010): Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße. Wien: Turia und Kant.
Christoph Laimer

Die Kunst der Erinnerung. Nach ein paar Tagen kam die Nachricht: Walter Benjamin ist tot. Sigrid Hauser (2010): Der Fortschritt des Erinnerns. Mit Walter Benjamin und Dani Karavan in Portbou. Tübingen/Berlin: Ernst Wasmuth Verlag,
Manfred Russo

Abkehr von der Wuchtigkeit. Kirsten Einfeldts Studie über moderne Kunst in Mexiko
Kirsten Einfeldt (2010): Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und nationale Identität. Bielefeld: transcript Verlag
Jens Kastner

Politische Kunst als Manifesta 8 Branding – Im Dialog mit Nordafrika
Ursula Probst

NUR ONLINE:
Historische Fotodokumentation des Ruhrgebiets
Michael Freerix

Dem Vergessen entreißen – Jüdische Architekten in Graz
Josef Schiffer

Neue Landschaftsarchitektur in Wien
Erik Meinharter

You Gotta Fight For Your Right To Great Architecture

(SUBTITLE) Louis H. Sullivan und Richard Nickels Chicago Revisited

Chicago, die birthtown of modern architecture, liest sich wie ein offenes Buch der Architekturgeschichte. In ihrer jungen Historie lebte die Stadt davon, wie in einem Palimpsest das Alte wegzuradieren und radikal Platz für Neues zu schaffen. Von dieser Dynamik zehrt Chicago bis heute, und durch diese Offenheit entstand in jeder Dekade bahnbrechende Architektur. In der Rasanz der gewinnorientierten Stadtentwicklung fielen jedoch auch frühe architektonische Meisterwerke, darunter die ersten Wolkenkratzer und Häuser des Architekten Louis Henry Sullivan. Louis Henry Sullivans Bürobauten und Theater der 1880er und 1890er Jahre behaupteten eine neue und moderne Architektursprache und brachen mit den zeitgleichen historistischen Tendenzen.

Angezogen von Sullivans ästhetischer und konstruktiver Kompromisslosigkeit und der präzisen Verbindung zart-verspielter Fassadenornamentik mit moderner Klarheit, lichtdurchfluteter Offenheit und urbanem Zeitgeist, dokumentierte der Fotograf Richard Nickel in den 1960er Jahren mit Passion viele der heute zerstörten Bauten. Nickel fand in den Bauwerken die künstlerische Inspiration, die sein Leben und Werk bestimmen sollte, und letztlich auch seinen Tod. Seine Aufnahmen zeigen mit der Distanz eines Künstlers und zugleich emotionaler Kraft die Schönheit, den Wert und zugleich die Zerbrechlichkeit dieser hervorragenden Architektur. Nicht zuletzt die Fotografien bewirkten einen neuen Impetus für die Erhaltung der Bauwerke von Louis Henry Sullivan: Richard Nickel organisierte im Alleingang Proteste, die die Aufmerksamkeit der Stadt und ihrer BewohnerInnen auf ihr architektonisches Erbe lenkten, und bewahrte so den Rest der erhaltenswerten frühen Bauten in Chicagos Downtown.

Form follows function – Louis Sullivan, der Pionier der Architektur der amerikanischen Städte, hat etwas anderes gemeint, als die Neuinterpretation seiner Worte als Diktion der Moderne vermittelt. In der etwas poetisch-pathetischen Ausdrucksweise des späten 19. Jahrhunderts statuierte er nicht, dass ausschließlich die Funktion maßgeblich die Formfindung definieren soll und auch nicht die Ablehnung des Ornaments. Sullivan gebrauchte die Worte lediglich als Argumentationshilfe für den heute anachronistisch wirkenden dreiteiligen Aufbau der damals so genannten tall office buildings, der skyscraper, Wolkenkratzer (Sullivan 1896).

Durch den großen Brand in Chicago 1871, der das gesamte Stadtzentrum vernichtete, war die Nachfrage nach begabten Architekten in der rasant wachsenden Stadt hoch. William Le Baron Jenney war der Architekt des ersten Wolkenkratzers in revolutionärer Stahlskelettbauweise ohne tragende Funktion der Fassade, des Home Insurance Building von 1883 (1931 zerstört). »It was the major progenitor of the true skyscraper, the first adequate solution to the problem of large-scale urban construction.« (Condit 1964, S. 83). Die frühen Hochhäuser waren bis dahin aus massivem Mauerwerk wie das Monadnock Building (1889, Burnham & Root), das als der höchste Ziegelbau-Wolkenkratzer gilt. Als Adolf Loos 1893 die Columbian Exposition in Chicago besuchte, muss er beide Bauten gesehen haben, die aus der damals noch recht lückenhaften downtown von Chicago herausragten. Louis Sullivan erreichte Chicago 1873 mit siebzehn Jahren und studierte 1874 ein Jahr an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Die meisten Architekten der Chicago School of Architecture (ca. 1875–1925) besaßen allenfalls eine ein- bis zweijährige Ausbildung, meist als Ingenieure, oder hatten gar keinen Schulabschluss wie Frank Lloyd Wright.

Louis Sullivan und sein Partner Dankmar Adler entwarfen ab 1879 etliche prägende Wolkenkratzer für Chicago, die noch heute durch ihre Sicherheit in Gestaltung und Ausführung, Eleganz und Konstruktion beeindrucken, wie den Schlesinger and Mayer Store 1899, heute bekannt als Carson Pirie Scott. Im Turm des Auditorium Building von 1887, des ersten Mischnutzungsbaues mit Hotel, Büros, Restaurant und einem Theater für über 4.000 Personen, befand sich das Büro Adler & Sullivan, wo unter anderen Frank Lloyd Wright von 1888 bis 1893 arbeitete, bis er wegen moonlightings, Nebenbeschäftigungen in die eigene Tasche, gekündigt wurde.

Nach dem ersten großen Bau-Boom der Chicago School der frühen Jahre wurden in der Zeit seit der Great Depression von 1930 bis 1956 kaum neue Gebäude in Downtown Chicago errichtet.[2] Neue Konstruktionsweisen und Materialien ermöglichten in den folgenden Jahrzehnten weitaus höhere Bauten als die maximal zwanzigstöckigen ersten Wolkenkratzer, und da erneut viel Geld in die Baubranche floss, mussten die frühen Gebäude auf den wertvoller werdenden Grundstücken den vier- bis fünfmal höheren Giganten weichen.

Richard Nickel, 1928 geboren, wuchs in Chicago auf und schrieb sich 1948 am Institute of Design im Fach Fotografie ein.[3] In den fünfziger Jahren plante er gemeinsam mit seinem Lehrer Aaron Siskind eine vollständige fotografische Dokumentation sämtlicher Bauwerke von Louis Sullivan in Chicago, eine Monografie mit dem Titel The Complete Architecture of Adler & Sullivan. Dass die Kraft, Ästhetik und Erhaltung von Sullivans Bauten sein Leben zukünftig bestimmen würden, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht vorausahnen. Richard Nickel nahm seine Aufgabe sehr ernst und unterließ es seitdem, Menschen im Stadtraum abzulichten. Sein Motiv wurde ausschließlich die Architektur. Er erkämpfte sich die besten Perspektiven auf die Häuser bei NachbarInnen und AnrainerInnen, unternahm Landpartien zu entlegenen Bauten und recherchierte unbekannte realisierte Aufträge Sullivans.[4]

Louis Sullivan war ein Meister in der Ausgestaltung feinster Ornamente der Fassaden und Innenräume. Weit entfernt davon, nur applizierte Dekoration zu sein, bildeten die pflanzlich-geometrischen flächigen Reliefs den integralen Charakter der Bauwerke und verwoben sich eindrücklich mit den regelmäßigen Glasfassaden der großen dreiteiligen Chicago Windows. Betrachtet man seine Entwurfszeichnungen, erkennt man sein großes zeichnerisches Talent: Er zieht kaum Striche, sondern punktiert seine Vorstellung von Ornament auf das Papier – ähnlich wie zarte Spitze vernetzt wird. Er ist ein impressionistischer Zeichner und ein impressionistischer Architekt, umso mehr, da der Impressionismus Teil der frühen Moderne ist. Umgesetzt wurden die Entwürfe in Einzelteilen aus glasierter Terrakotta, Gips oder Gusseisen, die man recht pragmatisch ohne Zwischenmaterialien direkt auf den Stahlträgern der Gebäudefassaden festschraubte. Sullivan arbeitete immer mit demselben Handwerker, einem norwegischen Modellgießer, der aus den zarten Entwurfszeichnungen den gewünschten Charakter der Ornamentik intuitiv herauslesen und umsetzen konnte.

Diese Fassadenteile stapelten sich um 1960 im Innenhof von Richard Nickels Elternhaus und in seinem Schlafzimmer. Nickel lieferte sich über Jahre hinweg Wettrennen mit den Abrisstrupps der Sullivan-Bauten. Er riskierte in den einsturzgefährdeten Abbruchhäusern sein Leben für eine perfekte Aufnahme im richtigen Licht. Die für die Fotografien nötigen Genehmigungen erforderten einige Vorlaufzeit; manchmal kam er zu spät und musste zusehen, wie die Abrissbirne nichts als Schutt hinterließ. 1957 begann er, in Eile vor den anstürmenden Baggern Teile von Fassaden abzutransportieren. Der Fotograf gerät zum Konservator und Kustos einer Bauteilsammlung. »As the collection grew, I envisioned a private Sullivan ornament museum.«(Cahan 1994, S. 78). Das Ziel war weiterhin eine vollständige Werkaufnahme der Bauten Sullivans, die Arbeit am Buch verzögerte sich jedoch durch die aufwändigen Demontagen und Transporte. Das Sammeln der Schätze – oder des Bauschutts, je nach Sichtweise – wurde durch die hastig voranschreitenden Schleifungen zu einer Manie, wie ein Plünderer stemmte Nickel neben den Abrissbirnen die Ornamente aus den Fassaden und transportierte sie mit Freunden und Kollegen ab. Seine Aktionen stießen auf Unverständnis – welches Interesse sollte jemand an diesen alten Trümmern haben?

Richard Nickel dokumentierte und konservierte, soviel er konnte. Eines seiner bekanntesten Fotos zeigt das Robie House (1908) von Frank Lloyd Wright, das 1957 beinahe demoliert worden wäre. Nickels Fotografien sind frei von Nostalgie, sie verklären oder beschönigen nichts, sondern sind klar und distanziert – trotz seiner emotionalen Bindung zur Architektur. Die Bilder sehen unaufwändig aus, kosteten ihm jedoch viele Mühen. Er besuchte, wie gebannt von der Zerstörung, nahezu täglich die Abbruchbaustellen, oft auch ohne Kamera. »Marvelous being in a work of art under rape. How often do you experience the bones, veins, skin of a work of art, even if it be in dissection?«(Cahan 1994, S. 13).
Eine frappierende ikonografische Verwandtschaft zeigt sich zu den Arbeiten eines Künstlers, der zeitgleich in New York seine Faszination für Abbruchhäuser entdeckte: dem ausgebildeten Architekten und Künstler Gordon Matta-Clark. Beide, Matta-Clark und Nickel, verewigten die ephemere Kraft und Fragilität von vermeintlich massiver Bausubstanz und waren fasziniert von den wuchernden, bröckelnden und hängenden Innereien eines Hauses, die erst hervortreten, wenn man eine Wunde hineinreißt.

Mit dem Garrick Theatre (1892), einem siebzehngeschossigen Bau von Adler & Sullivan, stand einem weiteren frühen Gebäude die Demolierung bevor. Das war für Richard Nickel zuviel an politischer Arroganz und gesellschaftlicher Ignoranz gegenüber der Baukunst: Er sammelte innerhalb von vier Tagen auf der Straße 3.300 Unterschriften gegen die Zerstörung des Theaters und marschierte mit immer mehr UnterstützerInnen vor dem Theater auf, unterstützt von prominenten Stimmen wie Ludwig Mies van der Rohe, Philip Johnson, Le Corbusier, Josep Lluís Sert und Lewis Mumford. »Someone came up to me, and said ›What the hell do you think you are doing?‹ All I could say was that I didn´t want the building wrecked.«(Cahan 2006 S. 11). Nickel protestierte allein wegen der architektonischen Bedeutung der Bauten gegen deren Schleifung. Er erkannte als Nicht-Architekt den Mehrwert dieser frühen Bauten der Großstadt und tat mit außergewöhnlicher Tatkraft alles dafür, sie zu erhalten. Sein öffentliches Engagement führte zur Gründung eines Gremiums zur Rettung des Theaters, das sich nach zähen Verhandlungen nicht gegen die finanzielle Argumentationsmacht des neuen Investors durchsetzen konnte: Das Garrick Theatre musste einer Parkgarage weichen.

Der Verlust des Garrick Theatre hat Nickel erschöpft, aber als er erfuhr, dass auch das Stock Exchange Building (1894) gefährdet sei, warf er sich noch einmal in die Schlacht. Er konservierte große Mengen an Gebäudeteilen, sogar einen vollständigen Raum. Der Trading Room samt bunter Glasdecke wurde fotografisch so dokumentiert und demontiert, dass er im Chicago Art Institute 1977 wieder aufgebaut wurde und bis heute besichtigt werden kann. Richard Nickel kletterte am 13. April 1972 ohne Kamera, ohne Begleitung und ohne ersichtlichen Grund erneut in das desolate und halbzerstörte Gebäude. Erst nach 28 Tagen wurde sein Körper unter Schutt und Baustellenstaub gefunden, den eine einstürzende Decke unter sich begraben hatte.

Louis Sullivan und Richard Nickel sind heute Ikonen der amerikanischen Architektur. Beide wurden im Herbst 2010 in Chicago mit zwei Ausstellungen, einem Symposium und einer Publikation bedacht; ehemalige Mitstreiter haben das seit 1954 geplante Buch The Complete Architecture of Adler & Sullivan vervollständigt und, mit mehr als 800 Fotos versehen, herausgegeben. Von den 250 Gebäuden, die darin Sullivan zugeschrieben sind, hat sich weniger als die Hälfte erhalten. Nach 38 Jahren wurde auch Nickels Nachlass an das Chicago Art Institute übergeben, von einem Sullivan-Museum, wie es sich Nickel erträumte, ist man jedoch weit entfernt: Fast jede Institution in Chicago hat Fragmente von Sullivans Bauten in ihren Sitzungszimmern hängen. Viele sind anscheinend unhinterfragt in Privatbesitz übergegangen: Fragmente des Stock Exchange Building wurden im Dezember 2010 für bis zu $ 122.500 in Auktionshäusern angeboten.

Richard Nickels Engagement veränderte die Sichtweise der Politik und Gesellschaft auf den Wert des architektonischen Erbes Chicagos. Als um den Erhalt des Auditorium Building gerungen wurde, entschloss man sich zur Restaurierung: »A brilliant example of the possibilities where there is a little love and faith and truth.« (Cahan 2006, S. 165). Die Bauten der frühen Stadtgeschichte sind gegenwärtig Chicagos kulturelles, touristisches und dadurch auch finanzielles Kapital sowie der Stolz der Chicagoans. Kaum eine andere Stadt kann auf eine derart intensive Identifikation ihrer BewohnerInnen mit der sie umgebenden Architektur verweisen, auf eine so hohe Wertschätzung und auf ein so umfangreiches Wissen über die Architekturgeschichte der Stadt. Die in Folge von Richard Nickels Aktionen 1966 gegründete Chicago Architecture Foundation beschäftigt mehr als vierhundert freiwillige Laien-StadtführerInnen, die ehrenamtlich TouristInnen und Einheimische bei Stadtwanderungen zu verschiedenen Themen die Geschichte ihres laufend erneuerten Architekturmuseums Chicago erzählen.


Anmerkungen:
[01] 4.470 EinwohnerInnen im Jahr 1840; 1.698.575 um 1900; 3.620.962 im Jahr 1950.
[02] Das Inland Steel Building (1956, Skidmore, Owings und Merrill) stand am Beginn des zweiten Bau-Booms. SOM ist heute ein globaler Architektur-Konzern.
[03] Nach der Schließung des Bauhauses in Deutschland und seiner Emigration übernahm László Moholy-Nagy am Institute of Design, das kurz The New Bauhaus hieß, 1939 die leitende Position, ebenso wie Ludwig Mies van der Rohe 1938 am IIT, dem Illinois Institute of Technology in Chicago.
]04] Nickel entdeckte 38 bis dahin unbekannte Projekte Sullivans. Er fotografierte auch Bauten von Burnham & Root, Holabird & Roche und neuere Architektur, z.B. von Mies van der Rohe.

Literaturverzeichnis:
Cahan, Richard (1994): They All Fall Down. Richard Nickel’s Struggle to Save America’s Architecture. New York: John Wiley & Sons, Inc.
Cahan, Richard und Williams, Michael (2006): Richard Nickel’s Chicago. Photographs of a Lost City. Chicago: Cityfiles Press.
Condit, Carl W. (1964): The Chicago School of Architecture. A History of Commercial and Public Building in the Chicago Area, 1875 -1925. 3. Auflage 1966. Chicago & London: University of Chicago Press.
Lowe, David (1978): Lost Chicago. Boston: Houghton Mifflin Company.
Nickel, Richard und Siskind, Aaron (2010): The Complete Architecture of Adler & Sullivan. Chicago: University of Chicago Press.
Sullivan, Louis H. (1896): The Tall Office Building Artis-tically Considered. In: Lippincott’s Magazine, 57,
März 1896, S. 403 — 409.

Ausstellungen:
http://www.chicagoculturalcenter.org/ Louis Sullivan’s
Idea 26.6.2010-2.5.2011
Chicago Cultural Center

Looking after Louis Sullivan: Photographs, Drawings, and Fragments 19.6.2010-12.12.2010
The Art Institute of Chicago
http://www.artic.edu/aic/collections/exhibitions/LouisSullivan/indexwebsite

dérive, Mi., 2011.05.11

11. Mai 2011 Margareth Otti

Bourdieu für Architekten

Helena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende in das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) einführen soll. So erfreulich es ist, dass die Schriften Bourdieus nun im Feld der Architektur eine verstärkte Rezeption erfahren, so schwierig und problematisch ist dieses Unternehmen jedoch auch. Den Umfang, die inhaltliche Breite und Komplexität seiner Schriften vor Augen hat Loïc Wacquant einmal angemerkt, dass es wahrscheinlich unmöglich ist, in das Denken Bourdieus einzuführen.1 Helena Webster hat sich dieser „unmöglichen“ Aufgabe gestellt und ihre Sache gut gemacht. Wenngleich ihre Einführung (was nicht zuletzt auch an der Text-Gattung selbst liegt) schnell an die Grenzen einer „echten“ Übersetzung stößt.

Zunächst jedoch ein kurzer Blick auf den „Rahmen“, die Einbettung der Bourdieu-Einführung in die vom englischen Routledge-Verlag herausgegebene Buchreihe. Wie bereits unschwer auf dem Umschlag zu erkennen, hat man es mit der Nummer 5 der Reihe „Thinkers for Architects“ tun. Damit ist bereits vor jeder Lektüre klar: Bourdieu wird uns hier als „Meisterdenker“ vorgeführt. Zusammen mit Martin Heidegger, Walter Benjamin, Maurice Merlau-Ponty, Homi K. Bhabha, Jaques Derrida, Gilles Deleuze und Felix Guattari. Lediglich eine weibliche Autorin, die feministische Psychoanalytikerin und Kulturtheoretikerin Luce Irigary, hat es in die Riege der männlichen Meisterdenker „geschafft“. Herr im Haus der Meisterdenker für Architekten ist – vielleicht doch nicht ganz zufällig – ein Mann: Adam Sharr, Lehrer an der Welsh School of Architecture der britischen Cardiff University und auch ausübender Architekt, der mit „Heidegger for Architects“ im Jahr 2007 gleich selbst den Grundstein für seine, wie er (auf seiner Website) selbst sagt, „best-selling book series“ geliefert hat. Erstaunlich wie problematisch dabei nun ist, dass Sharr ganz unbefangen, ja unschuldig-naiv einen Kanon architekturrelevanter Geistesgrößen konstruiert, also mit keinem Wort sein eigenes Ordnungsdenken reflektiert (was als Indiz dafür zu nehmen ist, dass die Lektüre manch vorgestellter Schlüsselautoren kaum Spuren hinterlassen hat).

„Architekten haben“, so der Herausgeber in seinem Vorwort, „immer schon nach Philosophen und Theoretikern zur Inspiration für ihre gestalterische Arbeit oder Suche nach einem kritischen Bezugsrahmen für die Praxis Ausschau gehalten.“ Weshalb es für ihn nur naheliegend ist, jene feldexternen „key thinkers”, „die über Architektur geschrieben“ oder „deren Schriften Architekten, Kritiker und Kommentatoren maßgeblich beeinflusst haben“, einmal in einer Serie von akkuraten, also knapp wie klar formulierten Einführungen zu präsentieren.

Man mag nun an der Konzeption der Reihe bemängeln, dass hier von großen Namen, vornehmlich „großen Männern“ ausgehend gedacht worden ist – was, nebenbei bemerkt, ganz der Logik im architektonischen Feld entspricht, wo werk- und autorbasierte Besprechungen vorherrschend sind. Auch könnte dem Herausgeber vorgeworfen werden, dass sich ihm die Frage, wie „Theorie“ für ArchitekInnen „praktisch“ werden, ja womöglich sogar emanzipativ wirksam werden kann, erst gar nicht stellt. Doch weder der schale Beigeschmack, dass man es hier mit einem auf Absatz schielenden Produkt des Buchmarktes zu tun hat (man darf auf weitere Reihen, etwa „Denker für Mediziner“ oder „Denker für Politiker“ gespannt sein, oder auf einen „Bourdieu für Künstler“, Ingenieure oder Juristen), noch die Befürchtung, dass hier „große Theorie“ auf ein leicht konsumierbares (Halb-)Wissen für ArchitektInnen zusammengestutzt wird, sollten dazu führen, das Einführungs-Unternehmen als solches zu diskreditieren.

Im Gegenteil: Einführungen zu verfassen, ob nun in bestimmte Themen oder das Œuvre von „Riesen der Wissenschaft“, stellt eine gleichermaßen verdienst- wie verantwortungsvolle Aufgabe dar. Verdienstvoll, weil sich hier (im günstigen Fall) beschlagene Spezialisten die Mühe machen, Personen, die nicht eingeweiht, nicht mit einschlägiger Fachkenntnis (dafür aber mit Neugierde) ausgestattet sind, eine Sache verständlich zu machen. Verantwortungsvoll, weil die Neugierde nicht erstickt, die Interessierten nicht durch akademische Gelehrsamkeit eingeschüchtert, sondern zu reflexiven Einsichten und eigenständigem Weiterarbeiten mit „Theorie“ angeregt werden sollen.

Im Vergleich zu den mittlerweile zahlreich vorliegenden Bourdieu-Einführungen, die mal besser ausfallen, wenn sie die innere Logik und Offenheit seiner theoretischen Konzepte aufzeigen, mal schlechter, wenn sie schulbuchmäßig vermeintlich abgeschlossene Grundbegriffe von Bourdieus Kulturtheorie (Habitus, Feld, Kapital etc.) aneinanderreihen,2 handelt es sich hier nun um eine Einführung, die einen besonderen Zuschnitt verspricht. Mit Helena Webster, die selbst dem architektonischen Feld entstammt und sich in ihrer eigenen Forschung auch selbstreflexiv mit dem eigenen Umfeld auseinandersetzt – sie hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit Lehr- und Lernkultur an Architekturschulen beschäftigt3 –, ist dem Vorhaben bereits eine einschlägige Brauchbarkeitsperspektive eingeschrieben. Sie hat nicht nur eine konkrete Vorstellung davon, warum Bourdieu von Architekten gelesen werden soll – ihrer Meinung nach könnte Bourdieu ArchitektInnen, die aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Sozialisation die Welt durch eine „architektonische Linse“ sehen und infolgedessen zu Intoleranz gegenüber Laien und Menschen mit anderen Geschmacksvorstellungen neigen, dabei helfen, die eigenen Wert- und Handlungsmuster wie auch die eigene Rolle als ArchitektIn (innerhalb der Community wie der Gesellschaft) zu reflektieren. Sie hat auch eine klare Vorstellung davon, welche der zahlreichen und thematisch breit gestreuten Schriften Bourdieus (er hat über 40 Bücher und mehr als zweihundert Aufsätze geschrieben) für ArchitektInnen von Relevanz sind.

Verkürzt gesprochen erfolgt der Zugang zum Kultursoziologen Bourdieu. Es sind seine Kultur- und Gesellschaftsanalysen, seine Theorien und Befunde zu Kultur und sozialer Ungleichheit, die Webster als Anknüpfungspunkt dienen. Der Bildungssoziologe Bourdieu wird gestreift, seine Untersuchungen zu Staat, Politik, Recht, Sport und Sprache, seine wissenschaftssoziologischen Beiträge wie auch seine Soziologie der Intellektuellen bleiben ausgeklammert. Es ist Webster zu danken, dass sie von einer Gliederung nach „zentralen Begriffen“ absieht und Bourdieus wissenschaftliches Begriffsinstrumentarium, das bereits vielfach zum Gegenstand scholastischer Exerzitien geworden ist, in seiner forschungspraktischen Genese erläutert. Die verschiedenen um Kultur, Ästhetik und Klassenfragen kreisenden Forschungsarbeiten werden dabei in ihren theoretischen wie empirischen Zusammenhängen dargestellt. Die Kapitel gestalten sich weitgehend chronologisch.

Nach einem kurzen biografischen Überblick, der die persönliche und wissenschaftliche Laufbahn und die Entwicklung von Bourdieus Forschungen und Theorien im wissenschaftlichen Kontext aufzeigt, werden zunächst im zweiten Kapitel (The Social Construction of Space) die frühen Forschungen in Algerien (1956-1961) vorgestellt, wo Bourdieu während seines Militärdienstes zum Zeugen einer durch die Eingriffe französischer Kolonisatoren erodierenden indigenen Kultur geworden war. Seine Untersuchungen zur algerischen Übergangsgesellschaft, zu denen auch einige der raren Texte Bourdieus gehören, in denen Architektur explizit behandelt wird, werden von Webster als Arbeiten zu Macht und Raum gelesen. Sie skizziert aber auch die Konversion des frischgebackenen Philosophen zum verstehenden Ethnologen und Soziologen, dessen Sichtweise damals stark von Max Weber und Karl Marx, aber auch vom Strukturalismus Levi-Strauss’ (am stärksten spürbar in seiner berühmten Analyse zum kabylischen Haus, „Das Haus oder die verkehrte Welt“ 1960, 1970) geprägt war.

Im dritten Kapitel (The Anatomy of Taste) stellt Webster Bourdieus Analysen zur französischen Gegenwartsgesellschaft vor, in denen er Klassenlage und Lebensführung verknüpft: empirische Studien zum Kulturkonsum (etwa zum Museumsbesuch oder zum sozialen Gebrauch der Fotografie) und theoretische Überlegungen zur Wahrnehmung und Aneignung von Kunst münden 1979 in sein berühmtes Buch La Distinction (dt. Die feinen Unterschiede 1982), mit dem Bourdieu auf den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse verweist und aufzeigt, wie sehr sich Kunst und Kunstkonsum zur Erfüllung der (verschleierten) gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung und Stabilisierung sozialer Unterschiede eignen. Da die von Bourdieu entwickelte relationale Klassentheorie im Zuge der in den 1990er Jahren auftauchenden These vom Verschwinden traditioneller Klassen und Schichten in Zweifel gezogen wurde, wäre hier eine klärende Stellungnahme zu der bis heute kontrovers geführten soziologischen Debatte wünschenswert gewesen.

Im vierten Kapitel (Towards a Theory of Cultural Pratice) führt Webster vor, wie Bourdieu seine methodologischen Werkzeuge im Zuge seiner empirischen wie sozialgeschichtlichen Studien, die Bildungswesen, Wissenschaft, Recht und Religion genauso umfassen wie Literatur, bildende Kunst, Musik, Fotografie, Mode, Sport und Journalismus, zu einer Theorie der kulturellen Praxis ausbaut. Sie macht deutlich, wie und warum er sein Feld- und Habituskonzept gerade im Zusammenhang mit der Analyse jener Bereiche der sozialen Welt entwickelt hat, die der Produktion „besonderer“ kultureller Güter dienen. Drei Fallstudien – Webster greift neben dem Feld der Mode und der Literatur das Feld der Eigenhausproduktion heraus – sollen im fünften Abschnitt (Fields of cultural production) dann auch veranschaulichen, wie Bourdieus strukturale Feldanalyse funktioniert.

Die in den 1980er Jahren von Bourdieu und seinen MitarbeiterInnen durchgeführten Untersuchungen über den französischen Häusermarkt (zusammengefasst in dem zunächst auf Deutsch erschienenen Band Der Einzige und sein Eigenheim 1998) sind dabei von besonderer Bedeutung. Stellen doch die Beiträge (v. a. „Das Einfamilienhaus: Produktspezifik und Logik des Produktionsfeldes“, „Ein Vertrag unter Zwang“, „Der Eigentumssinn: Die soziale Genese von Präferenzsystemen“), in denen mithilfe von Interviews, Mitschnitten von Verkaufsgesprächen, der Analyse betrieblicher Daten und Werbematerialien das Phänomen der „Vereigenheimung“ (Margaretha Steinrücke/Franz Schultheis) unter ökonomischen, sozial(psychologisch)en, politischen und rechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird, ein hohes Anregungspotential für die Reflexion gegenwärtiger Alltagsarchitektur und der Rolle von in Eigenheimproduktion verwickelter ArchitektInnen dar.

Webster hat alles in allem das Material für die angepeilte Leserschaft gut gewählt. Sie hat als Nicht-Soziologin mit der dafür nötigen Geduld und Aufmerksamkeit ein wahrlich dickes soziologisches Brett gebohrt und Bourdieus Fragestellungen wie theoretische Konzepte auf knappe wie verständliche Weise dargestellt, und zwar ohne dabei an Komplexität einzubüßen. Sie hätte den Herrschaftssoziologen, den Theoretiker „symbolischer Macht“, den Intellektuellen, dem es um jene Art von Reflexivität geht, die es einem ermöglicht, sich das eigene (feldspezifische) Denken etwas durchsichtiger zu machen, vielleicht stärker herausstreichen können. Jedenfalls wird in Websters Bourdieu-Einführung nur unzureichend fühlbar, was es für PraktikerInnen, Lehrende und WissenschafterInnen im Feld der Architektur bedeuten könnte, die (eigene Fach-)Welt (und darin sich selbst) mit Bourdieus Augen zu sehen. Zu ihrer Verteidigung muss jedoch gesagt werden, dass Bourdieu ohnedies nur durch die Lektüre seiner Schriften und nicht durch Vermittlung zum eye opener werden kann.

Anzumerken ist auch, dass die (architektur)feldinterne Bourdieu-Rezeption, mag diese auch im Vergleich zu anderen Feldern erst schleppend in Gang gekommen sein, in Websters Einführung weitgehend im Dunkeln bleibt. Von einem profunden Überblick über die ziemlich verstreuten Untersuchungen, die bislang Bourdieus Theorie im Feld der Architektur haben produktiv werden lassen, kann bei der etwas eilig hingeworfenen Seite mit Hinweisen auf drei AutorInnen nicht gesprochen werden, jedenfalls wird sie dem Bedürfnis versierter LeserInnen nicht gerecht. Als weiterer Mangel muss angeführt werden, dass Webster es verabsäumt hat, und dies darf bei einer fachlich so zugespitzten Einführung durchaus erwartet werden, Perspektiven für eine von Bourdieu angeregte Architekturforschung zu entwickeln. Was es heißen könnte, das große Anregungspotential der Bourdieuschen Modelle und Befunde zu Kultur für eine architektursoziolgische Forschung nutzbar zu machen, muss also Gegenstand zukünftiger Anstrengungen bleiben. Was zu hoffen bleibt: dass in Zukunft weniger über Bourdieus Theorie gesprochen und mehr mit ihr gearbeitet wird.


Helena Webster
Bourdieu for Architects. Thinkers for Architects 05
Abingdon, New York: Routledge, 2010
144 S., 19,99 Euro


Anmerkungen:
[01] Wacquant zeichnet selbst für eine unkonventionelle Einführung in das Denken von Pierre Bourdieu verantwortlich. Hervorgegangen aus einem Forschungsseminar wurden in An Invitation to Reflexive Sociology (1992) die Grundanliegen Bourdieuscher Forschung im Dialog mit Bourdieu entwickelt. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp 1996.
[02] Zu empfehlen ist neben der mittlerweile in 6. Auflage erschienen Einführung von Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg: Junius, 2009 (1995), das Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (ersterer betreut zusammen mit seinem Linzer Kollegen Ingo Mörth die umfassendste, kontextorientierte und referentielle Online-Bibliografie und Mediendokumentation aller Werke und Stellungnahmen von Bourdieu unter http://hyperbourdieu.jku.at/), das auf über mehr als 400 Seiten einen Leitfaden durch Bourdieus Begrifflichkeiten und Themenfelder sowie einen Einblick in rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge bietet. Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2009.
[03] Vgl. etwa Webster, Helena: „The Analytics of Power – Re-presenting the design jury”, in: Journal of Architectural Education, Vol. 60, 2007/3, S. 21-27 (als zweithäufigst gelesener JAE-Artikel auf der Herausgeber-Homepage gelistet); dies.: „Architectural education after Schön: Cracks, blurs, boundaries and beyond”, in: Journal for Education in the Built Environment, Vol. 3, 2008/2, S. 63-74; dies.: „The Architectural Review: ritual, acculturation and reproduction in architectural education”, in: Arts and Humanities in Higher Education, 2005/4, S. 265-282; dies.: „The Design Diary: Promoting Reflective Practice in the Design Studio”, in: EAAE Transactions on Architectural Education, Vol. 24: Monitoring Architectural Design Education in European Schools of Architecture, 2004, S. 343-356; dies.: „Facilitating Reflective Learning- excavating the role of the design tutor”, in: Journal of Art, Design and Communication in Higher Education, Vol. 2, 2004/3, S. 101-111."

dérive, Mi., 2011.05.11

11. Mai 2011 Anita Aigner

Dem Vergessen entreißen – Jüdische Architekten in Graz

Das Buch Architektur. Vergessen. ist das überaus beachtenswerte Endprodukt eines Forschungsprojekts der Universität Graz, das von Antje Senarclens de Grancy und Heidrun Zettelbauer durchgeführt wurde. Das Projekt widmete sich einem interdisziplinär fast gänzlich aus dem breiten Bewusstsein verschwundenen Stück Architekturgeschichte – dem Beitrag jüdischer Architekten im Graz vor dem Zweiten Weltkrieg. Aus den Texten der 15 Beiträger aus den Fächern Zeitgeschichte, Kunstgeschichte, Kulturanthropologie und Architektur entsteht eine plastische und multiperspektivische Sicht auf Gesellschaft und Städtebau im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Die Autorinnen betonen jedoch dezidiert, nicht bestrebt zu sein, den jüdischen Anteil an der Architekturgeschichte im Sinne eines „jüdischen Heritage“ wiederzuentdecken, sondern, dass sie das Vergessen als Phänomen thematisieren wollten.

Den Ausgangspunkt für den Blick auf das „Vergessen als kulturelle Praxis im Feld der Architektur“ bilden fünf wichtige Grazer Bauten aus der Zeit von 1910 bis 1934, denen gemeinsam ist, dass sie durch Kriegsschäden, Wiederaufbaueuphorie und Modernisierungswellen physisch und visuell entweder ganz abhanden gekommen sind oder nur mehr in stark veränderter Form weiterbestehen. Diese Gebäude sind das erste Grazer Arbeitsamt - ein für die dreißiger Jähre repräsentativer funktionaler Flachdachbau; das aus den zwanziger Jahren stammende Margarethenbad; die Zeremonienhalle für den Israelitischen Friedhof; das Kinderheim Lend und schließlich die genossenschaftlich errichtete Stadtrandsiedlung Amselgasse. Die Architekten und Baumeister – Alexander Zerkowitz und sein Sohn Bruno, Eugen Székely und Franz Schacherl – repräsentieren in ihrer unterschiedlichen Herkunft und ihren fragmentierten Lebensläufen das Spektrum an individuellen und kollektiven Kontexten der Zeit. Selbst gewählte oder zugeschriebene jüdische Identität(en) bilden eine wesentliche Dimension rund um ihr Vergessen und (Wieder-)Erinnern.

Die AutorInnen beschreiben ein reiches Spannungsfeld zwischen Prozessen der Überbauung, Funktionsänderung und Neukonzeption sowie radikalen Eingriffen durch politische Neukodierung oder Zerstörung. Die dazu verwendeten kurzen, salopp „Splittertexte“ genannten Aufsätze erheben – teils wissenschaftlich, teil essayistisch angelegt – keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung. Im Gegenteil verweisen sie bewusst darauf, dass es sich beim Prozess des Erinnerns zwangsläufig immer um selektive und subjektive Auswahl von relevant erscheinenden Elementen handeln muss. Nach Ansicht der Autorinnen spricht „Architektur weder für sich selbst noch erzählt sie Geschichte“, sondern erhält ihre Aussagekraft und ihre Botschaften jeweils erst durch den spezifischen Blick des/r Betrachters/in, der bestimmte Bedeutungsschichten freilegt.

Der Einleitungsteil des Buches bietet unter dem Titel „Blickachsen“ wichtige Informationen zu Theorie der Biografieforschung sowie jüdischer Identität in der Zwischenkriegszeit und Erinnerung daran. Jeweils fünf bis sechs Texte sind im Hauptteil den einzelnen Bauwerken, die im Blickpunkt des Bandes stehen, gewidmet: von der Planung, der Bauausführung über Nutzung und Neukodierung bis hin zu Überlagerung und materiellen Spuren. Das reiche und vielseitige Bildmaterial dokumentiert ergänzend dazu anschaulich in und Fotografien und Skizzen die damalige Genese der Gebäude ebenso wie die heutige topografische Situation.

Im dritten und abschließenden Teil geben biografische Abrisse einen Einblick in die Lebenssituation und das weitere Schicksal der vier jüdischen Architekten, die vom Widerstreit zwischen Assimilation und Antisemitismus überschattet waren: Alexander Zerkowitz (Warenhaus Kastner & Öhler, sezessionistisch geprägte Wohnhäuser Humboldtstraße/Körblergasse) blieb durch seinen Tod im Jahre 1927 das Schicksal seines Sohnes Bruno (Margarethenbad) erspart, der 1942 in Kroatien in einem NS-Lager ermordet wurde. Eugen Székely (Arbeitsamt, Siedlung Amselgasse) emigrierte bereits 1935 nach Haifa und wirkte in Israel bis zu seinem Ableben 1962 als Architekt. Franz Schacherl (Kinderheim Lend) flüchtet nach dem Anschluss im März 1938 überstürzt über Frankreich nach Angola, wo er 1943 in Luanda an den Folgen der Operation eines Magengeschwürs stirbt.


Antje Senarclens de Grancy, Heidrun Zettelbauer (Hg.)
Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz
Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2011
300 S., 29,90 Euro

dérive, Mi., 2011.05.11

11. Mai 2011 Josef Schiffer

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