Editorial

Die Großsiedlungen der 60er und 70er stehen im Zentrum dieser ARCH Ausgabe. Sie sind Zeitzeugen und zugleich die Problemkinder ihrer Zeit. Sie dokumentieren die Höhenflüge der Boomjahre und die unsanfte Landung in einer Wirklichkeit, die nach anderen und sich ändernden Vorgaben funktionierte, sie dokumentieren gleichermaßen die Leistungen des Sozialstaats und das Versagen der Gesellschaft gegenüber den neu erwachsenden Benachteiligungen, sie dokumentieren in gewisser Weise den oder vielleicht besser: einen Sieg und ein Scheitern der Moderne.

Woher diese Widersprüchlichkeit? Steigt sie auf aus der Kluft zwischen Planung und Realität, die so unvermeidlich ist wie im Brechtschen Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens „Ja mach nur einen Plan ...“, und die deswegen besonders groß zu sein scheint, weil es auch Planungen im großen Maßstab waren? Wenn diese Ausgabe den Titel „Planung und Realität“ trägt, so zielt das sehr wohl auf diese mangelnde Kongruenz zwischen beidem, aber es soll keinesfalls einem Planungsdefätismus das Wort geredet werden, der zu den beliebten Attituden der postmodernen Kritik an den Bauvorhaben der Zeit gehörte, im Gegenteil: Das Erkenntnisinteresse wird hier von der Frage geleitet, ob denn alles, was in der Nachkriegszeit geplant und gebaut wurde, so falsch gewesen sei. Gerade die Widersprüchlichkeit in der Bewertung dieser Phase, in die man sehr schnell auch heute noch verwickelt wird, suggeriert diese Frage.

Teil I: Zeitgeschichte geht mit mehreren Beiträgen zurück in die 60er/70er Jahre und versucht von der Gegenwart aus noch einmal in die Befindlichkeit der Zeit einzutauchen, soweit dies überhaupt möglich ist. Die Siedlungen aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus zu begreifen, ist Voraussetzung, wenn man aufspüren will, was auf dem Weg von der Intention bis zur Realisierung fehlgelaufen ist – womit nicht gesagt sein soll, dass es sich nur um ein Realisierungsproblem handelte und die Intention außen vor ist. Damit würde man es sich zu einfach machen. Diese spannende „Zeitreise“ erfolgt in Deutschland und in Frankreich vor dem Hintergrund der rasanten Modernisierung der Gesellschaft. Tilman Harlander und Martina Schretzenmayr skizzieren die Entwicklung in der BRD und DDR, Tom Avermaete und Anne Kockelkorn behandeln zwei aufeinanderfolgende Zeitabschnitte in Frankreich. Die Beschränkung auf die zwei Länder bzw. drei Staaten innerhalb Europas war aus Platzgründen notwendig, aber die Auswahl ist nicht beliebig, da Frankreich mit seinem ausgeprägten Staatsdirigismus gewissermaßen eine Position zwischen der BRD und der DDR einnimmt, die interessante Vergleiche erlaubt. Das zeigt sich auch in der quantitativen Dimension: Während in den 90er Jahren nur jeder 60. Bundesdeutsche in einer Siedlung der Nachkriegszeit wohnte, war in Frankreich jeder sechste Bürger Bewohner eines Grands ensembles und in der DDR war sogar jeder vierte Bürger in einer Plattenbausiedlung untergebracht. Die Planungseuphorie jener Zeit, nach der Mondlandung schien es keine Grenzen des Machbaren mehr zu geben, die nicht gesprengt werden könnten, wird von Klaus Jahn Philipp auch gerade vor dem Hintergrund der Konkurrenz der politischen Systeme diskutiert. Als Abschluss von Teil I versucht Sabine Kraft mit Blick auf das Raumkonzept der Siedlungen und die Faktoren, welche die internen Verhältnisse bestimmt haben, eine differenziertere Antwort auf die Frage nach dem Scheitern zu finden bzw. nach dem, was Bestand haben könnte.

Der Focus Wohnungsversorgung ist als Bindeglied zwischen den beiden Teilen des Heftes konzipiert. Er hat die Aufgabe, zur aktuellen Bedeutung der Siedlungen überzuleiten. In einem Gespräch mit Bernd Hunger, einem Vertreter der Wohnungswirtschaft, werden die Rolle des Mietwohnungsbaus und Probleme der Verwaltung des Bestands erörtert.

Teil II: Die Siedlungen beschäftigt sich in zehn Fallstudien mit der gegenwärtigen Situation. Wo möglich, wurde die Entstehungsgeschichte und das Originalkonzept anhand historischer Pläne und Fotografien dokumentiert Die Auswahl erfolgte in strategischer Absicht. So ähnlich in vielen Fällen die Siedlungen zu Beginn ihrer „Karriere“ erscheinen mögen, so unterschiedlich präsentieren sie sich heute. Sei es, dass ihr Ausgangspunkt doch recht divergent gewesen ist und sie sich in gegensätzliche Richtungen entwickelt haben, oder sei es, dass die Umgebungsfaktoren eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben. In sozialer Hinsicht, und das ist letztlich der einzig maßgebliche Aspekt, gibt es Siedlungen, die gut funktionieren und sich auch „funktionstüchtig“ gegenüber ihren Bewohnern verhalten, und es gibt Siedlungen, die sich zu sogenannten „Sozialen Brennpunkten“ entwickelt haben, die ein anderes Maß an Aufmerksamkeit und andere Strategien verlangen. Ausschlaggebend sowohl für die soziale Situation in den Siedlungen als auch für die Ebene des Eingriffs ist es, ob sie sich in einer schrumpfenden oder prosperierenden Region befinden. Auch die Qualität der räumlichen Situation und der Bausubstanz, sowohl in formaler wie bauphysikalischer Hinsicht, erfordert im Umgang mit den Siedlungen ein differenziertes Vorgehen und für ihre Anpassung an heutige Standards einen unterschiedlichen Investitionsaufwand.

Fallstudie 1 und 2 rücken die soziale Situation in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vorgestellt werden die Neue Vahr in Bremen als Siedlungsprojekt, das seit seinem Bestehen ein hohes Maß an Bewohnerzufriedenheit aufweist, sowie Darmstadt- Kranichstein und Bremen-Tenever, stellvertretend für die vielen Siedlungen, in denen durch nicht-investive Maßnahmen im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ eine Verbesserung der sozialen Situation der Bewohner erreicht werden soll. Fallstudie 3 und 4 setzen den Fokus auf den Einfluss, den Stadtentwicklungsprozesse auf das Schicksal der Siedlungen nehmen. Mit dem Stadtumbau Ost ist der Abriss und Rückbau von Siedlungen in schrumpfenden Regionen das Thema, während die Stadterneuerung in den Niederlanden vor dem Hintergrund wirtschaftlichen Wachstums geschieht und ebenfalls Abrissstrategien verfolgt, nicht aus dem Zwang der Abwanderung heraus, sondern als Politik der Aufwertung. In Stadtumbau Ost wird mit dem Oleanderweg in Halle-Neustadt ein Rückbau gezeigt, der mit geringem Aufwand eine Neuorganisation der Gebäude und beachtliche neue Qualitäten hervorbringt, mit den Stadthäusern in Amsterdam-Osdorpwird ein Low cost-Neubauprojekt in den Niederlanden vorgestellt. Fallstudie 5 und 6 zeigen die Erhaltung von Siedlungen, die unter Denkmalschutz gestellt wurden, auf eine bemerkenswert radikale Weise. Die Sanierung der Siedlung Park Hill in Sheffield, international berühmt wegen ihrer „streets in the sky“, basiert auf einer totalen Entkernung, bei der nur das Skelett stehenblieb, das Olympische Dorf in München, ein heiß begehrtes Studentenquartier, wurde zum Zwecke seiner Erhaltung sogar abgerissen und leicht modifiziert wieder aufgebaut – ein Strategie, die an den japanischen Umgang mit Tradition erinnert. Fallstudie 7, 8 und 9 sind dem aktuellen Thema der energetischen Sanierung im Hinblick auf den Klimaschutz gewidmet. Was im Rahmen dieser Ausgabe wenig interessierte, waren die üblichen, überall durchgeführten Dämmmaßnahmen. Dazu werden im BAUFOKUS zusätzlich sieben weitere Projekte vorgestellt. Für die Auswahl in den SCHWERPUNKT musste mindestens noch ein weiterer Aspekt hinzukommen. Die Cité du Lignon in Genf hatte mit den Schwierigkeiten der sogenannten „energetischen Ertüchtigung“ unter Vorgaben des Denkmalschutzes zu kämpfen, die Sanierung des Piusviertel in Ingolstadt bezog die Wohnungen und den Außenraum mit in die Erneuerung ein. Den Tour-Bois-Le-Prêtre in Paris nur unter energetischen Gesichtspunkten zu behandeln, würde dem Projekt nicht gerecht werden, obwohl es mit der Schaffung von innen nach außen gestufter Klimazonen ein sehr intelligenter Beitrag zu diesem Thema ist. Hier wird mit sehr einfachen und billigen Maßnahmen eine immense Steigerung des Gebrauchswerts erreicht. Fallstudie 10 schließlich zum Sozialen Wohnungsbau in Singapur soll nicht zuletzt darauf verweisen, dass die großen Bauvorhaben der 60er/70er Jahre, um deren Erhaltung es derzeit geht und die in Europa allein wegen des mangelnden Bevölkerungswachstums keine Renaissance finden werden, in unzähligen Neubauprojekten im asiatischen Raum und in anderen stark wachsenden Weltregionen ihre Fortsetzung finden.

Redaktionsgruppe dieser Ausgabe: Juliane Greb, Sabine Kraft, Philipp Schneider Mitarbeit: Friederike Obst

Inhalt

02 „Bitte vielseitig bleiben“ – ARCH Abonnentenbefragung
Sabine Kraft

03 Bad Berlin – Nachbemerkungen zu ARCH 201/202
Stephan Trüby

04 Diskussion: Postfossile Mobilität – die Wege sind langsam und steinig
Axel Schubert

06 Den postfossilen Wandel als Chance nutzen!
Florian Böhm

06 NS-Architektur: Macht- und Symbolpolitik
Dirk Schubert

08 Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes.
Angelika Schnell

09 Von Ekstasen, Atmosphären und Prozessen
Christian Grothaus


Editorial

11 Planung und Realität
Sabine Kraft


Teil I: Zeitgeschichte

14 Die „Modernität“ der Boomjahre 1960 – 1973. Flächensanierung und Großsiedlungsbau
Tilman Harlander

25 Wohnungsbau in der ehemaligen DDR
Martina Schretzenmayr

30 Komplizen einer modernen Gesellschaft. Architektur und Politik in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg
Tom Avermaete

37 Wuchernde Wohnarchitektur. Die französischen „Proliférants“ der
frühen 70er Jahre als staatliches Experiment
Anne Kockelkorn

42 Die große Euphorie. Machbarkeitswahn und Freiheitsversprechungen im Städtebau der 1960er und 1970er Jahre
Klaus Jan Philipp

48 Die Großsiedlungen - Ein gescheitertes Erbe der Moderne?
Sabine Kraft


Fokus Wohnungsversorgung

54 Großsiedlungen ab 1945 in Ost und West – Karte © ARCH
ARCH

55 „Gut und sicher zur Miete Wohnen, ist keine Selbstverständlichkeit“
Bernd Hunger, Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, im Gespräch mit Sabine Kraft und Philipp Schneider


Teil II: Die Siedlungen

Fallstudie 1
60 Die Neue Vahr in Bremen
Florian Heilmeyer

63 Vom Ein- und Auszug der Vahraonen. 50 Jahre Wohnzufriedenheit?
Florian Heilmeyer

Fallstudie 2
66 Das Programm „Soziale Stadt“. Empowerment und Quartiersmanagement
Juliane Greb / Sabine Kraft

68 Bremen-Osterholz-Tenever
Juliane Greb

70 Darmstadt-Kranichstein
Juliane Greb

Fallstudie 3
72 Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen. Das Beispiel „Stadtumbau Ost“
Matthias Bernt / Ulrike Hagemeister

76 Platte Vielfalt – Bildgeschichte
ARCH

78 Oleanderweg Halle-Neustadt. Rückbau von Plattenwohnungen
Stefan Forster Architekten

Fallstudie 4
82 Bijlmermeer und die „Westlichen Gartenstädte“ in Amsterdam
Frank Wassenberg

85 Stadterneuerung in den Niederlanden am Beispiel Bijlmermeer und „Westliche Gartenstädte“
Frank Wassenberg

88 23 Stadthäuser in Amsterdam-Osdorp
Atelier Kempe Thill

Fallstudie 5
92 Die Siedlung Park Hill in Sheffield
Friederike Obst / Philipp Schneider

95 Totalsanierung der Siedlung Park Hill
HawkinsBrown, Studio Egret West

Fallstudie 6
98 Olympisches Dorf München. Erhaltung durch Abriss
arge werner wirsing bogevichs büro / Text: Christian Bodenbach

Fallstudie 7
102 Die Cité du Lignon in Genf
Philipp Schneider

105 Denkmalschutz und energetische Sanierung der Cité du Lignon
Franz Graf / Giulia Marino – EPFL-ENAC-TSAM

Fallstudie 8
108 Piusviertel Ingolstadt. Energetische Sanierung von sieben Mehrfamilienhäusern
Adam Architekten

Fallstudie 9
110 Der Tour Bois-le Prêtre in Paris. Sanierung durch Weiterbauen
Anne Lacatan / Jean-Philippe Vassal / Text: Doris Kleilein

Fallstudie 10
116 Singapurs „Sozialer Wohnungsbau“
Regina Bittner / Wilfried Hackenbroich / Stefan Rettich

121 Autorenverzeichnis

Baufokus
122 Energetische Sanierung
126 Material
128 Design

Die große Euphorie

(SUBTITLE) Machbarkeitswahn und Freiheitsversprechungen im Städtebau der 1960er und 1970er Jahre

In der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik Deutschland wird die Zeit von 1959/60 bis 1973 als die zweite formative Phase bezeichnet und mit den Schlagworten „Dynamik“ und „Liberalisierung“ charakterisiert.[1] Im Städtebau ist diese Phase durch die Abkehr von der „funktionellen Stadt“ der Charta von Athen und dem Konzept der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ gekennzeichnet. Als neues städtebauliches Leitbild setzte sich die „verdichtete Stadt“ unter dem Motto „Urbanismus durch Dichte“ durch. Dieses Leitbild wurde noch während der 1960er Jahre von dem Konzept der „Komplexbebauung“ und der Wiederentdeckung von Hof, Block und Straße abgelöst, die Großwohnsiedlungen bildeten jedoch weiterhin den Bezugsrahmen für die städtebauliche Diskussion. Das Zauberwort der 1960er Jahre hieß „Planung“, und zwar sowohl in Hinsicht auf den Neubau von Städten als auch in Hinsicht auf die Kritik an diesen Städten und Projekten. Technokratische Konzeptionen von Machbarkeit und Planung erstreckten sich sowohl auf städtebauliche Utopien und Realisierungen als auch auf Gegenmodelle, die im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche um 1968 massiert auftraten und schließlich um 1975 zu einem vollständigen Wandel führten.

Im Folgenden soll diese Phase bundesrepublikanischen Städtebaus unter fünf Aspekten betrachtet werden, die zwar die noch fehlende Gesamtübersicht einer kritischen Städtebaugeschichte nicht ersetzen kann, jedoch Hinweise geben soll, wie eine solche Geschichte aufgebaut sein könnte.[2] Zunächst soll gezeigt werden, wie das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 unseren Blick auf die 1960er und frühen 1970er Jahre konditioniert hat. Zweitens soll am Beispiel von Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte und anderen Schriften zur modernen Großstadt aufgezeigt werden, welche städtebaulichen Modelle von soziologischer Seite her in die Diskussion eingebracht und wie sie bewertet wurden. Drittens soll Planung als postideologische Praxis der 1960er Jahre untersucht werden. Viertens soll auf den bis in die frühen 1970er Jahre ungebrochenen Machbarkeitswahn und die Technikeuphorie eingegangen werden. Fünftens und letztens soll die sich immer schärfer abzeichnende Dichotomie zwischen Stadtplaner und Städtebauer/Architekt angesprochen werden.

Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975“

Dies Buch ist ein Bekenntnis zur historischen Stadt.” Mit diesem Satz beginnt Sybil Moholy-Nagy ihr 1970 erschienenes Buch Die Stadt als Schicksal. Geschichte der urbanen Welt. Der amerikanische Originaltitel lautete Matrix of Man und zeigte vielleicht noch deutlicher als der deutsche Titel, dass es Moholy-Nagy um mehr ging, als um eine Stadtbaugeschichte. Stadt wird hier begriffen als eine Gussform, in der die Menschheit sich bildet und ausformt, in der sich ihr Schicksal entscheidet. Dennoch ist das Buch zunächst tatsächlich eine Stadtbaugeschichte, die verschiedene Stadtformen und Siedlungstypen historisch untersucht: geomorphische, konzentrische, orthogonal-bindende, orthogonal-modulare, lineare und gehäufte. Das wäre alles nicht weiter erwähnenswert und in diesem Rahmen auch ohne Bedeutung, wenn es nicht die letzten zwanzig Seiten des Buches gäbe. Moholy-Nagy begnügt sich nämlich nicht mit dem historischen Abriss, und erst recht nicht endet das Buch mit einem „Bekenntnis zur historischen Stadt“, wie man das erwarten könnte: Das „Bekenntnis zur historischen Stadt“ entpuppt sich als ein Plädoyer, die historischen Siedlungstypen in modernen Formen und Materialien weiterzuentwickeln. So präsentiert Moholy-Nagy unter der Überschrift „Geomorphische Alternativen“ das Stadterweiterungsprojekt für Neuchâtel, P. Waltenspühl und die Ferienstadt Gozo auf Malta von Julio Lafuente. „Konzentrische Alternativen“ in der jüngeren Stadtplanung belegt sie mit Ludovico Quaronis San-Giuliano-Viertel in Mestre und mit den spektakulären Planungen von Hans Konwiarz zum Alsterzentrum im Hamburger Stadtteil Sankt Georg. Das zentrale Beispiel für „modulare Alternativen“ ist Moshe Safdies anlässlich der Weltausstellung 1969 in Montreal gebautes Habitat. Unter dem Stichwort „Siedlungsgruppen“ präsentiert Moholy-Nagy unter anderem die Pyramidenwohnberge für Sibirien von A. Schipkov und E. Schipkova.

Diese Beispiele aus den späten 1960er Jahren sind für Moholy-Nagy Belege dafür, dass sich die traditionellen städtebaulichen Typen weiterentwickeln ließen. Somit tut sich, zumindest für den heutigen Leser, ein Widerspruch auf: Der Titel des Buches und besonders das Plädoyer für die „historische Stadt“ entspricht nicht dem, was man eigentlich erwarten würde. Denn seit 1975 und dem durchschlagenden Erfolg des Europäischen Denkmalschutzjahres in Deutschland hat gewissermaßen eine Umpolung stattgefunden. Über Architektur und Städtebau vor 1975 wurde von nun an nur noch moralisierend, besserwisserisch und selbstgerecht gesprochen. Für Moholy-Nagy meinte das Erinnern der historischen Stadttypologien einen formalen Rückgriff auf historische Typologien, aber keineswegs einen Rückgriff auf die „alten Häuser“ und Bautraditionen. Sie ist und bleibt entschieden modern und fortschrittsgläubig. Der Fortschritt müsse sich am historischen Modell orientieren, dürfe jedoch nicht zurück in die Vergangenheit führen.

Die Unwirtlichkeit unserer Städte

Kritik am modernen Städtebau war schon in den frühen 1960er Jahren laut geworden. Jane Jacobs Tod und Leben großer amerikanischer Städte von 1961 (deutsch 1963) ist hier ebenso zu nennen wie Wolf Jobst Siedlers 1964 erschienenes Pamphlet Die gemordete Stadt. Größten Erfolg über seine unmittelbare Entstehungszeit hinaus hatte aber vor allem Alexander Mitscherlichs Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte von 1965. Seit 1975 wird Mitscherlich immer wieder als einer der Ersten angesprochen, der sich gegen die Stadtzerstörung durch modernen Städtebau ausgesprochen habe, ja, er wird 1975 zum Kronzeugen für die neue Bewegung. Letztlich ist es aber nur der Titel des Buches, mit dem sich eine solche Kronzeugenschaft begründen lässt. Mitscherlich spricht nämlich gar nicht über die alten Städte! Er wendet sich zwar auch von der Stadtzerstörung durch Zersiedelung ab, aber sein Gegenbild bleibt diffus.[3] Mitscherlich scheint es unmöglich, „daß wir alte Städte, Gebilde, von denen wir wie von einer Vorwelt weit getrennt sind, neu schaffen, wiederbeleben, uns als Richtmaß vorhalten können. Unsere Aufgabe liegt bei einer neuen Selbstdarstellung.“[4] Diese neue Selbstdarstellung könne durch einen Städtebau verwirklicht werden, der kühn in die Höhe konstruiert und melodisch komponiert ist.[5] Mitscherlich ist auf der Suche nach etwas Neuem, das vor allem dem flächeverzehrenden Wildwuchs der Aufbaujahre eine andere Position entgegensetzt. Die vertikale, melodisch komponierte Stadt ist für ihn die „verdichtete Stadt“, was in seiner Forderung mündet, „Stadt auf dem kleinstmöglichen Raum zusammenzuziehen, um auf diese Weise der großen Zahl der Lebenden die chance einer Verbesserung ihrer innerstädtischen Kommunikationswege, aber auch einer Erleichterung der Kommunikation von Stadt in die Landschaft zu schaffen.“[6]

Offensichtlich hat Mitscherlich, der später an der Planung der Trabantenstadt Heidelberg-Emmertsgrund als Soziologe beteiligt war, hier die Beispiele vor Augen, die ich oben mit den von Moholy -Nagy vorgestellten Planungen genannt habe. Noch näher an Mitscherlichs Vorstellungen kommt Jos Weber mit seinen Planungen für eine „Städtische Agglomeration innerhalb eines Zeit-Raum-Wahlbereichs mit einer Dimension von 10 Minuten“ heran, die er seit 1964 betrieb. Wie bei Jos Weber, so steht auch bei Mitscherlich die Freiheit des Menschen im Vordergrund des Entwurfs und der Planung. Dabei muss berücksichtigt werden, dass, wenn Mitscherlich, Weber oder andere von Freiheit sprechen, sie nicht irgendeine Freiheit meinen, sondern dass sich der Freiheitsbegriff ganz konkret an der weltpolitischen Situation des Kalten Krieges orientierte. Mitscherlich warnt vor Kräften, „die nichts anderes im Sinn haben, als die zerbrechliche Spielbreite der menschlichen Freiheit einzuschränken, wenn nicht zu vernichten.“[7] Der Ost-West-Konflikt, der Wettkampf der Systeme spielt hier unmittelbar in die Überlegungen zum Städtebau ein, und je mehr man erkennen konnte, dass die Stadtplanung im Ostblock zu Ergebnissen führte, die mit den im Westen gewünschten nicht übereinstimmten, desto stärker schien es notwendig, durch eine andere Art von Planung zu einem besserem Ergebnis als im Osten zu gelangen.

Planung als postideologische Praxis

Das Dilemma, Planung zu wollen, aber diese Planung von der Planung im Sozialismus zu unterscheiden, durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche. Die 1960er Jahre, vor allem die Zeit der Großen Koalition, war von einer „nachgerade euphorisch zu nennenden Planungsbegeisterung gekennzeichnet.“ Eine zeitgenössische Stimme aus dem politischen Bereich zeigt die herrschende Begeisterung: “Planung ist der große Zug unserer Zeit. Planung ist ein gegenwärtig ins allgemeine Bewußtsein aufsteigender Schlüsselbegriff unserer Zukunft […] Planung ist der systematische Entwurf einer rationalen Ordnung auf Grundlage alles verfügbaren Wissens.”[8] In allen westlichen Industriegesellschaften der 1960er Jahre galt Planung, Steuerung und Programmierung als postideologische Praxis, „befreit von allen negativen älteren Deutungen, wonach sie dem Repressionsarsenal totalitärer Diktaturen entsprangen.“[9] So konnte sich auch die Stadtplanung frei fühlen von allen Rückbezügen zu linken oder rechten Diktaturen. Lebendig hat dies Max Frisch geschildert: “Planung […] ein Angstwort für viele. Es erinnert an Sowjetisierung, bestenfalls an Amerikanisierung. Wer Planung sagt, bekommt die Antwort: Haben wir nicht schon genug Verbote, genug Bürokratie? In der Tat kennen wir ja kaum noch eine andere Art von Planung, ich meine die produktive Planung, die nicht verbietet, sondern verlockt, Anreize in die Welt setzt und zu Taten führt. Die produktive Planung, die wir meinen, personifiziert sich nicht mit einem Polizisten, der sagt: Hier darfst Du! Und sie sagt es nicht nur, sie schafft auch die Voraussetzungen dafür; sie schafft den Rahmen für die Freiheit, soweit sie noch möglich ist. Freiheit durch Planung, ist das nicht ein Paradoxon? Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert. Unsere Freiheit beginnt knapp zu werden. Die Zunahme der Bevölkerung drängt uns mehr und mehr zusammen. Der Spielraum für das Individuum wird kleiner. Was tun? Wir sehen uns gezwungen, die Freiheit zu bewirtschaften. Es braucht kein Russe zu kommen; die Freiheit ist gefährdet durch unsre eigene Geschichte – und ohne Planung nicht zu retten, meine ich.”[10]

Zwar wird in allen Städtebaudiskussionen seit dem Ende des Krieges immer wieder die Forderung nach einer Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden laut, aber je mehr sich die Systeme verfestigten, desto mehr musste man auch nach Abgrenzung zum Osten suchen. Macht man sich dieses Faktum bewusst, so lesen sich auch die einschlägigen Passagen bei Mitscherlich in einem ganz anderem Licht: Planung dürfe sich nicht anmaßen, „ein gebrauchfertiges Muster herzustellen“, sonst sterbe der „Genius loci ab, noch ehe er sich einnisten konnte.“ Planung – so Mitscherlich – müsse hingegen eine „Bewußtseinsebene“ vorbereiten, „auf der sich Baugesinnung bilden und vor allem reflektieren kann, dann schafft sie den Boden, in dem Erfindung wirklich gedeiht.“[11] Also ein Ja zur Planung an sich, aber eine Planung, die auf Flexibilität und Partizipation setzt und die Betroffenen mit einschließt.

In Bauen ein Prozeß von 1968 haben sich Lucius Burckhardt und Walter Förderer diesem Aspekt gewidmet, um allerdings dann zu völlig anderen Ergebnissen zu kommen – dazu unten mehr. Getragen wird die ganze Debatte noch immer von einem Zukunftsoptimismus. Zwar gibt es durchaus kritische Stimmen gegen die Utopien der Städte unter dem oder auf dem Wasser, der Trichterstädte, der Städte auf Stahlgerüsten, der Megastrukturen etc. Ja, Sigfried Giedion wirft diesen Projekten vor, dass sie die „komplexen Formen des Stadtorganismus stärker schematisieren würden als das zweidimensionale Schachbrettsystem“[12], aber das Gegenmodell ist keineswegs die Stadt des 19. Jahrhunderts mit Block, Hof und Straße, sondern die Forderung nach einer anderen Planung: Giedion erkennt 1964 eine neue Tendenz in der „Offenen Planung“,[13] womit ein Begriff gefunden war, mit dem man sich von der Planwirtschaft im Ostblock absetzen konnte und gleichzeitig ein Instrument gegen den kapitalistischen Wildwuchs, gegen Partikularinteressen und Profitmaximierung in der Hand behielt. Bereits 1960 plädierte der Augsburger Stadtbaurat Walther Schmidt für ein differenziertes Vorgehen: „In jeder Planung bleibe ein Rest des Ungeplanten, ein Spielraum für das Leben. Besser einige Ungereimtheiten, die Leben sind, als die Öde des restlos Durchgeplanten.“[14] Alle Teilnehmer der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, der 1960 in Augsburg tagte, wussten, was Schmidt hiermit meinte. Was damals unausgesprochen blieb, konkretisierte Josef Lehmbrock 1971 im Katalog der Wanderausstellung PROFITOPOLI$.

Lehmbrock fordert die „totale Öffentlichkeit aller Planungsvorgänge“; nur so ließe sich ein kapitalistischer, auf bloßen Mehrwert hin orientierter Missbrauch ausschließen. Diesen Vorschlag grenzt er ab von der Planung im „anderen Deutschland“, in der DDR: In der DDR könne man sehen, dass Planung nicht zur Verbesserung der Städte beitrage, „[...] dort gibt es die Schwierigkeiten in der Bodenfrage, im Steuerrecht und im Gemeindewesen nicht, aber der Osten hat mit all diesen Vorteilen nichts anderes hervorgebracht als zum Beispiel die StalinAllee oder die stereotypen Fertigbauzeilen im starren Rhythmus der Fünfjahrespläne. Städtebaulich gibt es dort nichts zu lernen.“[15]

Dennoch setzt auch noch PROFITOPOLI$ auf Planung, die das von Soziologen und Stadtplanern aufgestellte Ideal der urbanen Vielfalt gegen die Funktionstrennung ausspielt: „Nur in der gesellschaftlichen Vielfalt entsteht lebendiges urbanes Leben. Statt isolierender Gettos brauchen wir die komplette gesellschaftliche Situation. Die komplexe Lösung einer Wohngegend schließt Isolierung aus und bewirkt durch den Zusammenhang aller Bezüge eine hohe Lebensqualität. Durch die gegenseitige Abstimmung wird ein Funktionssystem hergestellt, das auch in wirtschaftlicher Hinsicht ungleich besser ist, als das übliche System isolierter Funktionserfüllung.“[16] Verräterisch ist hier vor allem der Begriff „Funktionssystem“, denn keineswegs will man einer Entwicklung freien Lauf lassen, sondern man denkt immer noch in den Begriffen des funktionalen und totalitären Städtebaus und man will planen. So enthält Lehmbrocks Planung „alle Wohnformen in den benötigten, statistisch voraussehbaren Mengen.“[17]

Statistiken, die in der „Umfragedemokratie“ der 1960er Jahre immer wichtiger für alle politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wurden, hatte Lehmbrock schon zehn Jahre zuvor propagiert. So stellt er die „Lebensphasen“ eines Familienhaushalts – es handelt sich um die idealtypische Kleinfamilie der 1950er Jahre – als spiralförmig verlaufendes kontinuierliches Band dar. Der Rowohlt Verlag nutzte 1961 dieses Schema zusammen mit einer Modellansicht einer von Lehmbrock gestalteten Siedlung als Titelbild von Hans Paul Bahrdts soziologischen Überlegungen zum Städtebau. Bahrdt stellt zwar fest, dass aus der Soziologie kein Städtebau deduziert werden könne,[18] gleichwohl verrät er nicht nur durch die Titelgestaltung sein Ideal der neuen Stadt: Die im Großen und Ganzen einmal sinnvoll gewesenen überlieferten städtebaulichen Formen seien wegen eines geänderten Gebrauchs obsolet geworden. Man brauche für Familien möglichst einen privaten Garten oder einen Wohnhof, andere Bevölkerungsgruppen könnten auch in Hochhäusern wohnen. Die Frage laute nicht „Flachbau oder Hochhaus. Vielmehr sollte man da, wo eine gewisse Verdichtung geboten ist, Hochhäuser mit Flachbauten kombinieren.„[19] Innerhalb dieses Wohnungsgemenges müsste eine Trennung der Verkehre und eine Konzentration auf die Mitte stattfinden: “[…] in der Mitte die nunmehr öffentlichen Plätze, Wege und Passagen für Fußgänger, von innen nach außen greifend die Straßen und Parkplätze für den Autoverkehr.”[20] Natürlich wird auch laut Bahrdt die Planung alles zum Guten wenden.

Machbarkeitswahn und Technikeuphorie

Es ist auffallend, dass sich in den zehn Jahren zwischen 1960 und 1970 in Hinsicht auf die Einschätzung, dass sich durch Planung eine bessere, freiere Gesellschaft herstellen ließe, fast kein Wandel feststellen lässt. Bei Lehmbrock ändert sich beinahe gar nichts, trotz der Kritik, die allenthalben an großen, verdichteten Siedlungsprojekten gerade in den späten 1960er Jahren geäußert worden war.[21]

Dieser Optimismus der technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten blieb konstant während des ganzen Jahrzehnts und wird auch von gleichsam offizieller Seite keineswegs als bloße Phantasterei abgetan. Selbst in dem vom damaligen Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau, Lauritz Lauritzen, 1969 herausgegebenen Band Städtebau der Zukunft finden all die Gehör, die sich nicht nur auf dem Gebiet der Gesetzgebung, sondern auch in Hinsicht auf den Städtebau der Zukunft mit utopischen Vorstellungen darstellen wollen. So Robert Jungk, der in der Raumkapsel das einzig gültige „Orientierungsmodell“ für eine neue Architektur sieht oder Nicolaus Sombart, der sich eine 1:1-Realisation einer schwebenden Stadt à la Eckhard Schulze-Fielitz wünscht und die „Unausweichlichkeit der Totalurbanisierung“[22] kommen sieht oder natürlich auch Frei Otto, der hier seine Ideen zu Bauen und Wohnen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ausbreiten darf.

Nach der Mondlandung am 20. Juli 1969 schien schließlich alles möglich: „Ein Zeitalter, das den Menschen sicher auf den Mond und wieder zurückgebracht hat, kann auch die Entwicklung unserer Städte meistern, wenn es dieser Aufgabe nur die gebotene Priorität einräumt und die Voraussetzungen dafür schafft, daß in den Städten sinnvoll geplant und gearbeitet werden kann.“[23] So, wie die USA nach dem Sputnik-Schock von 1957 ungeheuer große finanzielle Anstrengungen unternommen hatte, um im Wettlauf der Systeme den Sieg durch die Mondlandung davonzutragen, so könne auch durch große und von der demokratischen Gesellschaft getragene Anstrengungen der Städtebau auf den höchsten Stand der Produktivkräfte gebracht werden. Gemeint ist hier allerdings nicht mehr ein weiteres Produzieren von städtebaulichen Utopien, sondern gleichsam ein Stück städtebaulicher Realpolitik. Denn das Zitat stammt nicht aus dem Munde eines technikeuphorischen Städtebauers oder Architekten, sondern ist Teil des Münchner Appells des Deutschen Städtetages mit dem Titel Rettet unsere Städte jetzt!

Unter diesem Motto stand 1971 die in München tagende 16. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages. Man fürchtete nichts weniger als eine Entwicklung, die in die Katastrophe führen würde und appellierte an alle, die Verantwortung trügen: „Die Zukunft der Menschheit liegt nicht im Weltraum, nicht in den Meeren und Wüsten! Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten, und es wird nur in gesunden Städten eine hoffnungsvolle Zukunft sein. Deshalb: RETTET UNSERE STÄDTE JETZT!“[24] Dies war einerseits eine Absage an die Utopien, andererseits darf man das Motto aber auch nicht als einen Vorboten des innerstädtischen Denkmal- und Ensembleschutzes werten. Die Revitalisierung der Altstädte stand noch nicht auf der Agenda, sondern immer noch das Vertrauen, durch neue Stadtbausysteme einen Weg in die Zukunft zu finden.

Kritisiert wurde nach wie vor – fast wie 1960 – die Überbürokratisierung der Stadtplanung, die nur kapitalistischen Zielen folge, dann die nur schleppend vorankommende Gesetzgebung hinsichtlich einer Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden sowie die fehlende Unterstützung eines umfassenden wissenschaftlichen Engagements für alle Fragen der Stadtgestaltung und Stadtentwicklung. Äußerst kontrovers und ohne eindeutige Aussage verlief die Diskussion über Städtebaukonzepte: Hermann Funke, promovierter Architekt und Journalist, übernahm die Rolle des Anklägers und schüttete seine Polemik gegen den verdichteten Städtebau aus, wie er seit Mitte der 1960er Jahre von den großen Wohnungsbaugesellschaften – genauer der Neuen Heimat unter Albert Vietor – ausgeführt wurde, und auch die Architekten und Städtebauer werden nicht verschont: „Man baut nun dichter, höher, massiver, formt längere zusammenhängende Gebilde, geknickt, gebogen und gestaffelt, rauf und runter. Man ist härter geworden, nicht mehr so romantisch, man knallt den Leuten den Beton um die Ohren. Die großen Wohnsiedlungen, diese potemkinschen Dörfer, sind die Experimentierfelder der Stadtplaner und Architekten. In keinem anderen Bereich der Stadt können sie so frei mit Bauklötzen spielen.“[25] Neben der üblichen Politik- und Kapitalismuskritik – „Der herrschende Städtebau ist der Städtebau der Herrschenden“ – prangert Funke noch die Planer an, ja selbst deren Utopien seien technokratisch.[26]

Vertrat Funke die Anklage, so übernahm Rudolf Hillebrecht die Verteidigung. Hillebrecht wird der Rolle des Verteidigers des herrschenden Städtebaus vollauf gerecht.[27] Einer ästhetischen Beurteilung entzieht er sich, Ziel seines städtebaulichen Konzepts seien „Wohnsiedlungs- und Stadtbauformen einer offenen Gesellschaft, die sich nur in egalitären Ausdrucksformen darstellen kann, während sie zugleich individuelle Entfaltung und Wunscherfüllung ermöglicht.“[28] Diesem so allgemein formulierten Ideal, gepaart mit dem Ideal der gesellschaftlichen Durchmischung, war freilich kaum ein Argument entgegenzusetzen. Den Vorwurf Funkes, dass sich die wirtschaftlich starke Oberschicht einer Integrierung in eine offene, pluralistische und egalitäre Stadtform entziehen würde, kann Hillebrecht freilich nicht entkräften.[29]

Ideen für einen zukünftigen Städtebau lieferten letztlich weder Funke noch Hillebrecht. Hingegen war es der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, der einen neuen, einen dritten Weg forderte, „der die Selbstzerstörung der Städte durch die Mechanismen des übermächtig gewordenen Industriesystems ebenso vermeidet wie die Allabhängigkeit des Menschen im System eines doktrinären Zentralismus.“[30] Wieder also wird der Konflikt der Systeme aufgerufen, den Vogel in städtebaulich-architektonischer Hinsicht durch eine grundlegende Modernisierung des Bauwesens beheben will. Stadtforschung ist für ihn eng verbunden mit modernen flexiblen Bausystemen anstelle der herrschenden „geradezu noch archaischen Bauverfahren und -techniken.“[31] Seine Technikbegeisterung, die sich ja auch im damals im Bau befindlichen Olympiagelände Münchens ausdrückte, lässt ihn über Vakuumröhrenzüge und Luftkissenbahnen für schnelle, lautlose und ressourcenschonende Verkehre nachdenken und er stellt die Frage, ob nicht der Bandstadt die Zukunft gehöre. Der irritierende Rückgriff Vogels auf das städtebauliche System der Bandstadt aus den 1920er Jahren ist auf einen langen Artikel im Spiegel zurückzuführen, der vier Wochen vor der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages erschien und auf den sich Vogel in seiner Einführung bezieht.

Unter der Überschrift Oh Babylon, oh Calcutta hatte der Journalist Hermann Schreiber ein „Requiem bei Lebzeiten“ über New York geschrieben. Garniert mit Bildern des Verfalls, der Verelendung und der sozialen Segregation wird hier die Endzeit der Stadt drastisch vor Augen geführt: „Noch ist New York City eine Stadt, nein: die Stadt, die Stadt an sich, Metropolis des zwanzigsten Jahrhunderts, Kapitale des Kapitalismus, Symbol der westlichen Zivilisation. Das wird sich ändern, bald. New York geht zugrunde, langsam aber stetig. New York geht zugrunde an sich selber. Das Symbol wird zum Menetekel.“[32] So, wie man die Schwächen der modernen, hochverdichteten und äußerst empfindlichen Stadt sah und New York hierfür das Exempel war, an dem man die „Krankheit“ der Stadt bei lebendigem Leibe beobachten konnte, so sah man die Chancen für eine Genesung in städtebaulichen Megastrukturen, die ordnend eingreifen.

Angst vor Größe hatte man dabei augenscheinlich nicht, wie sich an Entwürfen aus einem Seminar an der Technischen Universität Berlin bei Oswald Mathias Ungers zeigen lässt.[33] Im Vergleich dazu und zu weiteren Megastrukturplanungen der 1960er Jahre erscheinen die Großsiedlungen und Megaprojekte der 1920er Jahre von Le Corbusier, Hilberseimer und anderen sowie der Planungen im Nationalsozialismus als geradezu kleinformatig. Die durch das Wirtschaftswunder getragene große Euphorie der 1960er Jahre kannte schlichtweg keine Grenzen – nicht nur in dem, was geplant und entworfen, sondern auch in dem, was ausgeführt wurde.

Städteplaner und Städtebauer

Die zeitgleich mit ihrer Realisierung einsetzende massive Kritik an diesen Großprojekten führte in städtebaulicher Hinsicht zu einer Wiederentdeckung von Hof, Block und Straße, etwa in den Projekten Walter Förderers, die er zusammen mit Lucius Burckhardt 1968 in Bauen ein Prozeß präsentierte. Zu Beginn der 1970er Jahre heißt das Schlagwort dann „Komplexbebauung“, in der Arbeiten, Wohnen und Einkaufen in hochverdichteter Bauweise zusammengebracht und die Probleme monofunktionaler Einheiten gelöst werden sollten. Noch immer glaubte man an den Fortschritt, noch immer hielt man fast alles für machbar und dies trotz des 1972 mit großer Resonanz aufgenommenen Buchs des Club of Rome Grenzen des Wachstums (Limits of Grow).

1973/74 war Kritik am Städtebau der Gegenwart auch vor dem Hintergrund der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und der zunehmenden Umweltzerstörung zum Allgemeingut geworden, „und zwar mit Grund und erfreulicherweise“, wie Wolfgang Pehnt proklamierte.[34] Man wandte sich den Altstädten zu und definierte den Charakter der historischen Stadt neu, indem man erkannte, dass „der alten Stadt Werte innewohnen, die auch einem modernen Menschen des 20. Jahrhunderts willkommen sein müssen.“[35] Zugleich aber war es noch 1974 möglich, diese aufkeimende Bewegung als „modisch“ abzutun und zusammen mit der ebenso als modisch qualifizierten „Umweltwelle“ als „undifferenzierte Wachstumsfeindlichkeit“ zu bezeichnen. Wachstum bedeutete zudem, wie Gerd Albers in seinem Aufsatz in Pehnts Sammelband zur Stadt in der Bundesrepublik schrieb, einen „Gewinn an Produktivität, der ja auch zur Verbesserung und Sicherung der Umwelt anstatt ihrer weiteren Belastung verwandt werden könnte.“[36]

Aber auch andere Qualitäten kommen nun ins Spiel: So das „Bedürfnis nach Individualität des Ortes und Sichtbarmachung seiner geschichtlichen Kontinuität“. Man erkannte, dass Wachstum und Fortschritt mehr ist als die „Erfüllung materieller Erfordernisse“. Und man sprach wieder über Ästhetik, über die man bislang geschwiegen hatte, die aber immer eine Rolle spielte. Ein neues Nachdenken über die Ziele, die mit der Steuerung der Entwicklung – also letztlich Planung – erreicht werden sollen, setzte ebenfalls ein. Lucius Burckhardt konstatiert 1974, dass “die Verschlechterung unserer Umwelt […] nichts anders [sei] als die Summe dessen, was bei der Planung als unwesentlich unter den Tisch fiel.” Die Architekturstudenten der Jahre 1967 bis 1970 hätten dies erkannt und zu Recht „die Einführung des planerischen Kontextes“ in ihre Ausbildung und die „Beschäftigung mit jenen Informationen, die der richtige Architekt eigentlich zu vernachlässigen hat“, gefordert.[37] Die Bestrebungen zu einer Reform des Architekturstudiums reichen bis in die frühen 1960er Jahre zurück,[38] gewinnen aber um 1968 einen neuen Auftrieb durch die nun vermehrt geforderte sozialwissenschaftliche Fundierung der Tätigkeit des Architekten und Städtebauers. Es verwundert nicht, dass der Sozialwissenschaftler Burckhardt, der seit 1962 (bis 1973) Lehrbeauftragter für Soziologie an der Architekturabteilung der ETH Zürich war, diese Entwicklung begrüßt. Jedoch muss er 1974 feststellen, dass die Architekturausbildung auf diesen „Angriff“ negativ reagiert habe: „Sie schwelgt im Kult des Handwerklichen, des Irrationalen, des Architekten als eines Bringers von überirdischem Heil.“[39]

So, wie das 19. Jahrhundert durch die Differenz von Architekt und Ingenieur gekennzeichnet war, so klafft in den 1960er Jahren die Differenz zwischen den Architekten und den Planern auf. Sah Hans Paul Bahrdt 1961 noch die Chance des Ausgleichs von „reformwilligen Architekten“ und Soziologen durch „längere Teamarbeit an einer einzelnen konkreten Aufgabe, bei der jeder die Kommunikationsformen des andern so weit erlernt, daß er ihm etwas mitteilen kann“[40], so spalteten sich zu Beginn der 1970er Jahre Planer und Architekten voneinander ab.[41] Nirgends wird dies deutlicher als in dem im November 1973 verfassten, hauptsächlich von südwestdeutschen Architekten unterzeichneten Manifest für architektur: Angeklagt wird die hässliche gebaute Umwelt, die Monotonie und Unpersönlichkeit der neuen Städte sowie die Gleichgültigkeit von Politik und Gesellschaft diesen Zuständen gegenüber. Zwar gebe es genügend Fachleute, die diese Missstände ebenfalls kritisierten, aber: „Dennoch schießen täglich geistlose Ortserweiterungen aus dem Boden, zerschlagen Maßstäbe gewachsener Strukturen und zerstören unwiederbringliche Landschaften, entstehen täglich Verwaltungsbauten, Eigentumswohnungen und sogar Sozialwohnungen in unsinnigen Dimensionen: ohne spürbaren gestalterischen Anspruch – Neubauten ohne Architektur.“[42] Architekten müssten sich wieder auf ihre „ganzheitliche Aufgabe“ besinnen und sich in der Ausbildung gegen die praxisferne Spezialisierung und einseitige Verwissenschaftlichung stellen. Letztlich geht es den Autoren um Ar- chitektur als Kunst: „Architektur kann nicht einseitig an ökonomischen Maßstäben technischer Perfektion oder pseudo-sozialem Bezug gemessen werden. Weil sie der kulturell entscheidende Bestandteil unserer Umwelt ist, muß sie auch als künstlerische Aufgabe gesehen werden und kann nicht beliebig oft, beliebig groß und beliebig billig hergestellt werden.“

Nach einem Jahrzehnt der Planungs- und Technikeuphorie nun also endlich wieder Architektur – Baukunst – als Heilsbringer und zur Beglückung des Menschen! Noch war auch diese Wende getragen von großer Euphorie, die jedoch nicht mehr lange währte. Die Ölkrise 1973, die Wirtschaftskrise 1974 und erstmals Arbeitslosigkeit unter Architekten schufen neue Bedingungen und führten seit 1975 zu einem Umdenken in Architektur und Städtebau.


Anmerkungen:
[01] Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn 2007
[02] Vorarbeiten: Kähler, Gerd (Hrsg.), Geschichte des Wohnens / [Wüstenrot-Stiftung, Deutscher Eigenheimverein e.V., Ludwigsburg], Teil 4. 1918-1945, Reform, Reaktion, Zerstörung, Stuttgart 2000; Lange, Ralf: Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Planen und Bauen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1960 bis 1975. Bonn 2003 (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz 65); Buttlar, Adrian von; Reuter, christoph (Hg.): Denkmalmoderne. Architektur der 60er Jahre, Wiederentdeckung einer Epoche. Berlin 2007
[03] In seinem epochalen Buch Die moderne Großstadt von 1961 gab der Soziologe Hans Paul Bahrdt einem Kapitel gar den Titel: „Historische Bauformen verlieren ihren Sinn“ (S. 98-100). Mit Bezug auf den Individualverkehr und die durch ihn neu geschaffenen Probleme konstatiert er: „Die überlieferten städtebaulichen Formen waren im großen und ganzen einmal sinnvoll. In ihnen wurde das Lebensgesetz der Stadt sichtbar. Sie sind aber sinnlos geworden, weil wir heute von ihnen einen ganz anderen Gebrauch machen.“ (S. 98)
[04] Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main 1965, S. 18
[05] Ebd., S. 11: „Die Unwirtlichkeit unserer wiedererbauten, unentwegt in die Breite verfließenden statt kühn in die Höhe konstruierten, monoton statt melodisch komponierten Städte drückt sich in deren Zentrum ebenso aus wie an der Peripherie; dort wo sich der Horizont der Städte immer weiter hinausschiebt und die Landschaft in der Ferne gar nicht mehr erkennen läßt, wo Sicht und Zukunft des Städters gleichermaßen verbaut scheinen.“
[06] Ebd., S. 60
[07] Ebd., S. 27
[08] Joseph H. Kaiser, zitiert nach Wolfrum 2007 (wie Anm. 1), S. 230
[09] Ebd., S. 230.
[10] Zitiert nach Jaspert, Fritz: Vom Städtebau der Welt. Berlin 1961, S. 335
[11] Mitscherlich 1965 (s. Anm. 4), S. 34
[12] Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition. Ravensburg 1965, S. 508
[13] Ebd., S. 508: “Die Labilität unserer Lebensform hat den Aspekt des Wechsels in den Vordergrund gerückt. Dadurch entsteht eine ganz neue Haltung dem Stadtorganismus gegenüber. Man ist sich völlig bewußt, daß gleichzeitig äußerst heterogenen Bedürfnissen entsprochen und daraus ein „dynamisches Feld“ von zueinander in Beziehung stehenden Kräften geschaffen werden muß. / Statt eines festgelegten Meisterplans – wie zu Beginn dieses Jahrhunderts – wird für eine Stadtentwicklung ein flexibles „Meisterprogramm“ gefordert, das dem Wechsel in der Zeit Rechnung tragen kann, das heißt, Möglichkeiten für den Zufall offenläßt.”
[14] Schmidt, Walther: Stadterneuerung, in: Erneuerung unserer Städte. Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, Augsburg, 1.-3. Juni 1960, Stuttgart 1960, S. 3549, hier S. 43 (Hervorhebung im Original)
[15] Lehmbrock, Josef: Städtebau, eine politische Aufgabe. Anmerkung eines Architekten, in: PROFITOPOLI$ oder Der Mensch braucht eine andere Stadt. Eine Ausstellung über den miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann, Ausstellung München 1971/72, München 1971, S. 137-163, hier S. 146
[16] Ebd. Taf. 37
[17] Ebd., Taf. 38
[18] Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek bei Hamburg 1961 (Grassi, Ernesto (Hg.): rowohlts deutsche enzyklopädie 127), S. 11
[19] Ebd., S. 116. Weiter heißt es, man müsse „das vierstöckige Mietshaus ohne Fahrstuhl jedoch verbieten, weil es die Gesundheit lastentragender Hausfrauen bedroht.“
[20] Ebd., S. 118
[21] Eisen, Markus: PROFITOPOLI$ – Zwei Ausstellungen in München 1971 und 1972, in: Nerdinger, Winfried (Hg.): 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907-2007, München 2007, S. 299-300, hier S. 300. Auch die von Lehmbrock 1971 präsentierten Vorstellugen zum Städtebau werden etwa von den maßgeblichen Vertretern des Deutschen Werkbundes dahingehend kritisiert, dass sie die ästhetischen Modelle der 1960er Jahre perpetuierten . Der sich hier äußernde Unmut hatte seine Quellen in der seit der Mitte der 1960er Jahre geführten Debatte um die hochverdichteten Großsiedlungen wie das Märkische Viertel in Berlin, Steilshoop in Hamburg, Emmertsgrund in Heidelberg oder Neu-Perlach in München. Gleichzeitig wurden weiterhin utopische Modelle konzipiert und propagiert.
[22] Sombart, Nicolaus: Stadtstrukturen von morgen, in: Lauritzen, Lauritz (Hg.): Städtebau der Zukunft. Tendenzen, Prognosen, Utopien, Düsseldorf 1969, S. 317
[23] Rettet unsere Städte jetzt! 16. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages in München (25.-27. Mai 1971). Stuttgart 1971, S. 245
[24] Ebd., S. 247
[25] Ebd., S. 107
[26] Ebd., S. 110
[27] Hillebrecht war Schüler von Gropius und beteiligt an Gutschows Hamburger Hochhausplanungen. In den Wiederaufbaustab Albert Speers berufen, hatte er in der Nachkriegszeit in Hannover das Konzept der autogerechten Stadt konzipiert und durchgesetzt. Der heute stark umstrittene Wiederaufbau Hannovers galt jedoch in den 1950er und 60er Jahren vorbildlich als das Wunder von Hannover (in: Der Spiegel, 3. Juni 1959, S. 56-69). Auch deshalb war Hillebrecht 1971 nach München eingeladen worden.
[28] Rettet unsere Städte ... (s. Anm. 14), S. 118
[29] Hillebrecht war kein Verteidiger des städtebaulichen Leitbildes der 1960er Jahre „Urbanismus durch Dichte“. Er gehörte einer anderen Generation an und brauchte nicht die Konzepte der Jüngeren zu verteidigen, die Funke hauptsächlich und mit letztlich überzeugenden Argumenten angriff.
[30] Rettet unsere Städte ... (s. Anm.14), S. 10
[31] Ebd., S. 68
[32] Oh Babylon, oh Calcutta, in: Der Spiegel, 26. April 1971, S. 114
[33] Als Menetekel schwebte New York auch über der bundesdeutschen städtebaulichen Diskussion. Als 1969 Oswald Mathias Ungers an der TU Berlin mit seinen Studierenden eine städtebauliche Übung unter dem Titel „Berlin 1995“ ausgab und „Planungsmodelle für eine Fünfmillionenstadt im Übergang zu den siebziger Jahren“ erarbeiten ließ, verweist auch er auf die Krise der Großstadt am Beispiel New Yorks: Hier herrsche sowohl eine wirtschaftliche, eine politische als auch eine sanitäre Krise: “Katastrophe über Katastrophe. […] New York ist ein Muster für die Zukunft anderer großer Städte und ein typisches Beispiel dafür, was passiert, wenn die Faktoren Mensch, Natur und Technik außer Kontrolle geraten und die Steuerungsmechanismen versagen.” (S. 7) Für Berlin könne man noch Alternativen diskutieren und zu dem wünschenswerten Ausgleich von urbanen und ruralen Lebenswelten, die beide nicht mehr ohne hochgradig entwickelte technische Systeme lebensfähig seien, gelangen. Die Ergebnisse des Seminars sehen Megastrukturen vor, die bandartig über die bestehende Stadt gelegt sind und die verschiedensten Funktionen und Verkehre übernehmen.
[34] Pehnt, Wolfgang: Die Stadt in der Bundesrepublik. Lebensbedingungen, Aufgaben, Planung. Stuttgart 1974, S. 7
[35] Mielke, Friedrich; Brügelmann, Klaus: Denkmalpflege, in: ebd., S. 305
[36] Albers, Gerd: Ideologie und Utopie im Städtebau, in: ebd., S. 453-476, hier S. 475
[37] Burckhardt, Lucius: Wer plant die Planung?, in: ebd., S. 477-486, hier S. 479
[38] Vgl. zum Beispiel Ragon, Michel: Wo leben wir morgen? Mensch und Umwelt – Die Stadt der Zukunft. München 1970, S. 31-35
[39] Burckhardt, in: Pehnt 1974 (s. Anm. 34), S. 479
[40] Bahrdt 1961 (s. Anm. 18), S. 10
[41] Allerdings setzten sich die Planer letzlich durch, wie sich an einigen Zahlen belegen lässt: 1969 wurde im Rahmen der Neuorganisation der TU Berlin die Architektur auf drei Fachbereiche aufgeteilt: 22 % gingen in den Fachbereich „Gesellschafts- und Planungswissenschaften“, 14 % in „Umwelttechnik“ und 64 % in „Bauplanung und Baufertigung“. Architektur und Städtebau gab es dem Namen nach gar nicht mehr! Andere Neugründungen folgten: So 1969 die Fakultät für Raumplanung an der Universität Dortmund, 1970 der Bereich Raumplanung an der Universität Kaiserslautern. 1971 wurde vom Land Hessen und der Stadt Darmstadt das Institut für Wohnen und Umwelt (IWU) gegründet und sollte „durch Grundlagenforschung [...] die gegenwärtigen Formen des Wohnens [...] kritisch untersuchen und insbesondere auf die Verbesserung der Wohnverhältnisse der sozial schwächeren Schichten hinwirken.“ 1973 erfolgte durch den Bund die Gründung des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU) und 1978 die Fakultät Stadtplanung an der TU Hamburg-Harburg. 1973 wurde Lucius Burckhardt als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung an der Gesamthochschule in Kassel berufen, und auch an anderen Architekturschulen wurden die Planungswissenschaften oft zu Lasten der Entwurfsprofessuren und der Baugeschichte und Bauforschung gestärkt – oft mit dem Anspruch, den Wissenschaftlichkeitsanspruch der Architekturfakultäten zu vertiefen.
[42] Ackermann, Kurt, Bächer, Max, Belz, Walther u.a., für architektur, in: Bauwelt (1974), H. 1, S. 15, dort auch folgendes Zitat

ARCH+, Mi., 2011.07.13

13. Juli 2011 Klaus Jan Philipp

Vom Ein- und Auszug der Vahraonen

(SUBTITLE) 50 Jahre Wohnzufriedenheit?

Niemals ist in Bremen so schnell so viel gebaut worden: In gerade einmal sieben Jahren entstehen zwischen östlichem Stadtrand und Autobahn 11.000 Wohnungen und 800 Eigenheime. Der Bau der modernen Musterstadt verlief so schnell, dass sich zwischen den Wohnblöcken noch Pferdekoppeln und Kuhweiden befanden. Auch die restliche Tierwelt zeigte sich von der rasenden Geschwindigkeit nachhaltig verwirrt: Fasane und Rebhühner kehrten noch einige Jahre in die Siedlung zurück, um unter den neuen Balkonen nach ihren angestammten Revieren zu suchen.

Die moderne Stadt, ein erregendes Abenteuer

Die Menschen arrangieren sich schneller mit ihrer neuen Umgebung, diesem betonten Gegenentwurf zur engen, dunklen Altstadt. Die „größte Baustelle der Bundesrepublik“ hatte die Bremer durch ihre Größe, ihre durchgrünte Offenheit und ihren optimistischen Fortschrittsglauben fasziniert. „Eine Fahrt an Bremens östlichen Stadtrand ist ein erregendes Abenteuer“, schreibt der Weser Kurier 1958. „Wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt kann man etwas erleben, was sich in früheren Zeiten über Jahrhunderte erstreckt hat; eine neue Stadt wächst aus der Erde.“ Eka von Merveldt hat es insbesondere das autofreundliche Konzept angetan, wie sie 1961 in der „Zeit“ schreibt: “In unserer Zeit dominiert das Auto, folgerichtig ist die Neue Vahr zwischen der Autobahn und der Franz-Schütte-Allee, einer großen Zufahrtsstraße, entstanden. Das schafft Kontur. Der neue Stadtteil [...] ist eine der ersten „autogerechten“ Wohnstädte. Man hat alle vordergründig materiellen Klagen der Großstadtkritik gehört und die Ursachen einer Art von Stadtflucht in den letzten Jahren auszumerzen versucht: Den Mangel an Ruhe, die räumliche Enge, die Armut an frischer Luft. Die Häuser stehen weit auseinander.“
Es muss ja wirklich erregend gewesen sein, wenn man sich die Distanz zwischen der neuen und der alten Stadt vor Augen führt: In 15 Minuten konnte man mit dem öffentlichen Bus aus der Vergangenheit in die Zukunft fahren. Wie muss das gewesen sein für eine Bremer Bevölkerung, die sich damals gerade notgedrungen an die instandgesetzten Gartenhäuser und Behelfsunterkünfte gewöhnt hatte? Der innen- und außenpolitische Druck war die Grundlage für die Entschlossenheit des Bremer Senats. Als erstes und größtes Projekt des ehrgeizigen Wohnungsbauprogramms musste die Neue Vahr doppelt erfolgreich sein: Den Bremer Bürgern sollte bewiesen werden, dass man der Wohnungsnot nun entschlossen begegnete. Gleichzeitig widersprach dieser soziale Wohnungsbau den Leitlinien der CDU-geführten Bundesregierung, sodass der SPD-Senat auch dieser gegenüber zu finanziellem, sozialem und politischem Erfolg verdammt war. So wurde aus dem Projekt ein bundesweites Pilotprojekt, was unter anderem dazu führte, dass Willy Brandt und Heinrich Lübke vor der Baustellenkulisse ihre Wahlkampfauftritte absolvierten und dass das neue Einkaufszentrum im Jahr des Mauerbaus „Berliner Freiheit“ getauft wurde.

Aber trotz ihrer raschen Realisierung wird die Neue Vahr doch erst zu einem Zeitpunkt fertig, als das strahlende Leitbild einer modern aufgelockerten Stadtlandschaft bereits Risse bekam; so kann etwa Wolf Jobst Siedler die Neue Vahr 1962 kein „erregendes Abenteuer“ finden. Er schreibt in der „Zeit“: “Möglicherweise kann man heute keine anderen Städte als Bremens „Neue Vahr“ bauen — nur muß man wissen, daß sich in diese Kunstgebilde kein städtisches Leben mehr begibt.“ Im selben Artikel schreibt er dann allgemeiner über den Nachkriegsstädtebau, die „neuen Wohnstädte“ würden den Eindruck „gespenstischer Menschenleere“ erzeugen, als sei ein „Atomkrieg“ über sie hinweggegangen.

Dabei trifft diese Pauschalkritik auf die Neue Vahr kaum zu. Schon 1957 ziehen die ersten Bewohner ein und manche erzählen heute lächelnd, dass sie damals extra eine Familie gründeten, um auf den städtischen Verteilungslisten weiter nach vorne zu kommen. 1960 werden in der Neuen Vahr bereits 15.000 Menschen gezählt – ein Jahr vor ihrer offiziellen Eröffnung! Wer in den Genuss einer der begehrten Wohnungen kam – im Grünen, meist mit Aussicht und Balkon, immer mit Frankfurter Küche und Wannenbad –, der nahm die suburbane Lage der neuen Stadt in Kauf. Die Ladenzeilen und die Waschsalons werden zu sozialen Treffpunkten der Nachbarschaften. Die Freiflächen und Spielplätze, so lässt sich den Fotos und den Berichten aus den Anfangstagen entnehmen, werden von den vielen Kindern rasch in Beschlag genommen, man spielt Minigolf und Bockspringen. Auch das Einkaufszentrum und der Wochenmarkt werden gut angenommen, die Pläne für ein Kino und eine Veranstaltungshalle werden zwar gestrichen, stattdessen stiftet die GEWOBA ein Hallenbad, das sie auch gleich nach ihrem Geschäftsführer Herbert Ritze benennt. Alle Umfragen zeugen von einer großen Zufriedenheit in den ersten Jahren. Und was den Eindruck eines Atomkriegs angeht, so ist Siedler einfach noch etwas zu früh in die Siedlung gekommen. Denn für die umfangreiche Grünflächenplanung von Karl-August Orf war ja gerade alles umgebuddelt worden, mit dem Aushub aus den Baugruben gestaltete er Wälle, Böschungen und kleine Hügel auf dem flachen Ackergelände, zusätzlich wurden kleine Wasserläufe und ein großer See am Aalto-Hochhaus ausgehoben. Die Pflanzen, hinter denen die eher spartanisch gestalteten, niedrigeren Zeilenbauten verschwinden sollten, brauchten aber noch einige Jahre zum Anwachsen.

Einzug der Vahraonen

Über die städtischen Verteilungslisten kommt in der Neuen Vahr eine sehr homogene Bevölkerung zusammen. Denn so sehr sich die Planer um eine Vielfalt der öffentlichen und halb-öffentlichen Freiräume kümmerten, so homogen waren die Grundrisse. Selbst Ernst May beklagt sich 1963 in einem Interview mit dem „Spiegel“: „Die Neue Vahr ist so offen, so locker, und vor allem das Volksleben funktioniert dort so wunderschön, daß ich sie absolut bejahe. Daß die Grundrisse viel fach nicht so sind, wie wir sie gerne gesehen hätten, das liegt daran, daß wir immer wieder an diese konformen Vorschriften [des sozialen Wohnungsbaus] gebunden sind.“ Die Neue Vahr besteht zum überwiegenden Teil aus 3-Zimmer- Wohnungen: Eltern-, Kinder- und Wohnzimmer. So sind es überwiegend junge Familien, die einziehen, und für einige Jahre wird die Neue Vahr zu Bremens kinderreichstem Viertel. Über die städtischen Listen kommen überproportional viele SPD-Mitglieder in die Siedlung, die eine SPD-Hochburg im ohnehin stark SPD-lastigen Bremen wird. Diese politische Nähe ist auch in den Stadtplan der Neuen Vahr eingeschrieben worden, deren Straßen entweder nach SPD-Politikern oder nach Widerstandskämpfern im Dritten Reich benannt werden.

So erscheint es folgerichtig, dass aus dieser sozialen und politischen Homogenität erst eine nachbarschaftliche Solidarität und dann eine gemeinsame Identität entsteht. Es kursiert der Begriff des „Vahraonen“, der sich rasch durchsetzt und fortpflanzt. Die Stadtteilzeitung der GEWOBA heißt „Vahrplan“, der „Vahraonenkeller“ wird die legendärste Kneipe des Viertels und wer wegzieht, begeht „Vahrerflucht“. Die Vahraonen sind engagiert und wissen, wie man sich politisch organisiert. Sie fordern Nachbesserungen, vor allem hapert es an kulturellen Angeboten und Infrastruktur: Wer ins Kino will, muss in die Innenstadt fahren. Aber wie? Während die Planer bis 1965 zuerst von einer U-Bahn und dann sogar von einer Magnetschwebebahn träumen, wird die erste Tramverbindung zur Innenstadt erst im Sommer 1967 eröffnet. Private PKW sind in der jungen, autogerechten Anlage ein seltener Anblick. Größere Betriebe organisieren eigene Busse, die ihre Arbeiter und Angestellten zur Arbeitsstelle bringen.

Ein „Bürgerausschuss für die Umgestaltung der Vahr“ erarbeitet 1972 Verbesserungsvorschläge – sie fordern ein Bürgerzentrum, bessere Verkehrsanbindungen, mehr Freizeit- und bessere Kindereinrichtungen sowie neue Wohnungsbauten, „in denen Wohngemeinschaften und andere Wohnformen ermöglicht werden.“ Darunter sind einige Dinge, die in den ursprünglichen Planungen zwar vorhanden, deren Umsetzung aber auf unbestimmte Zeit verschoben worden waren. Trotz der geforderten Neubauten sollen die beliebten Parkflächen erhalten bleiben – statt einer Nachverdichtung soll auf den Geländen der Pferderennbahn oder des Golfplatzes gebaut werden. Offenbar war die langsam anwachsende Parklandschaft da bereits zum populärsten Element der Planungen geworden. Außer dem Bürgerzentrum wird aber praktisch keiner der Vorschläge umgesetzt.

Äußere Starre, innere Transformation

Ihre Planer hatten die Neue Vahr als universelle Antwort formuliert. Allerdings waren die Siedlungsstrukturen in Wahrheit eine sehr spezielle Antwort auf die dringendsten Bedürfnisse der Nachkriegsgesellschaft in Bremen. Die Neue Vahr ist kein universell einsetzbares Stadtmodell, sondern ein sehr spezifisches Produkt der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umstände ihrer Entstehung. Die Planer hatten ja noch an die einheitliche und rationale Optimierbarkeit eines städtischen Alltags von 40.000 Menschen geglaubt. So ging beispielsweise von den Frankfurter Küchen stets ein Fenster hinaus zum Spielplatz vor dem Haus, die Hausfrau sollte ihre 2,4 Kinder jederzeit im Auge behalten und zum Essen rufen können. Für Flexibilität und Adaption war die Neue Vahr nicht ausgelegt, denn die Planer wussten ja, wie ein „gutes Leben“ für jeden auszusehen hatte. In den Plänen und Skizzen der Vahr stehen weibliche Silhouetten in der Küche, die Männer lesen am Esstisch sitzend Zeitung und die Kinder spielen still in ihrer Ecke.

Aber die Gesellschaft verändert sich ebenso rasch, wie die Vahr zuvor gebaut worden war. Schon sind die jungen Familien älter geworden und ihre Kinder ziehen aus. Nur die wenigsten bleiben in der Siedlung, die für Jugendliche wenig zu bieten hat. So ist zwar heute noch der Großteil der Wohnungen belegt, die Einwohnerzahl aber seit Anfang 1970 kontinuierlich gesunken. Von einst 25.000 Menschen leben heute noch knapp 20.000 hier, sie sind 45,4 Jahre alt und wohnen auf mehr Wohnfläche pro Kopf. Es sind viele Zuwanderer darunter, aber das waren die Vahraonen eigentlich schon immer: Erst Kriegs- und Stadtflüchtlinge, dann kamen die sogenannten Gastarbeiter aus Italien und der Türkei hinzu und seit 1990 sind Spätaussiedler aus Russland die größte Gruppe der Zuwanderer. Statistisch zählt man heute 44 % Vahraonen mit Migrationshintergrund, davon sind über die Hälfte Aussiedler. Das bringt der Schlafstadt ein gewisses Maß an multikultureller Urbanität, Veränderungen und neue Qualitäten. Im Einkaufszentrum wird heute neben deutsch auch russisch und arabisch gesprochen und der „Schach- Club Vahr“ ist durch neue, spielstarke Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion in die Verbandsliga Nord aufgestiegen. Allerdings sinkt der Bildungsstand kontinuierlich und 3200 Vahraonen empfangen Arbeitslosengeld. Damit entspricht die Großsiedlung am Stadtrand ziemlich genau dem Bremer Durchschnitt und zeigt genau dieselben demographischen Veränderungen wie die gesamte deutsche Gesellschaft. Daraus lässt sich wohl vor allem schließen, dass die Neue Vahr ein lebendiger Bestandteil der Gesellschaft ist, kein autarker Mikrokosmos.

Der Begriff des Vahraonen ist mittlerweile fast ganz verschwunden. Wer von den Jüngeren ihn heute noch kennt, der glaubt, es sei eine Bezeichnung für die älteren Bewohner. Der Vahraonenkeller schloss 2002, den verbliebenen Jugendlichen bleiben nur die Grünflächen und die Sportplätze zum Herumhängen – oder das neue Einkaufszentrum. Das heißt zwar noch „Berliner Freiheit“, aber das alte Gebäude wurde 2002 vollständig abgerissen. Seine Ausstattung genügte den globalisierten Anforderungen der internationalen Handelsketten nicht mehr. Das neue hat zwar nicht viel mehr Verkaufsfläche, ist aber vollständig überdacht und überwacht. Gegen den Abriss hatte sich übrigens keinerlei Protest im benachbarten Bürgerzentrum gerührt. So sehr sich die Vahraonen ihren Grünflächen verbunden fühlen, so gleichgültig stehen sie der Architektur gegenüber.

Die Pflege der Moderne

Zum größten Teil ist die Neue Vahr noch im Besitz der GEWOBA. Diese Kontinuität hat sich in der kontinuierlichen Pflege bezahlt gemacht. Dabei ist der Umgang mit den Gebäuden recht pragmatisch. Von Konservierung oder gar Denkmalschutz ist höchstens beim Aalto-Hochhaus die Rede. Die GEWOBA hat aber in den 90er Jahren bei der Sanierung der Siedlung mit einem Wärmedämmputz den alten Hans-Albrecht Schilling hinzugezogen, dessen Farbgestaltung einst als „Farbwunder“ bezeichnet worden war. Sein Konzept hatte die Architektur der Häuser und die Gliederung der Siedlung farbig unterstrichen. Die Eintönigkeit vieler Gebäude lockerte er mit kräftigen Tönen aus mineralischer Keimfarbe auf. Das Tiefenspiel von Simsen oder Loggien wurde so ersetzt oder verstärkt, der stete Wechsel von „kalten“ und „warmen“ Farbgruppen unterstützte die Orientierung in der Siedlung. Bei der Sanierung wurde dieses Konzept aktualisiert: Die kräftigen Töne hat Schil ling durch mildere ersetzt. Die Bauten seien jetzt ja hinter den Bäumen und Büschen zurückgetreten, sodass die kräftigen Töne nicht mehr nötig wären, so Schilling.

Die aufs Minimum optimierten Nachkriegsgrundrisse, die den Bewohnern schon zehn Jahre nach der Fertigstellung nicht mehr genügten, sind hingegen viel schwieriger zu verändern. Es fehlen immer noch größere Wohnungen für die Jüngeren und Fahrstühle für die Älteren, die kleinen Waschsalon-Pavillons sind hingegen obsolet. Letztere werden von der GEWOBA als kulturelle Veranstaltungsräume oder Nachbarschaftstreffs umgenutzt, das erfordert keine großen Eingriffe und verursacht wenig Kosten. Wie aufwändig hingegen Grundrissveränderungen der bestehenden Gebäude sind, hat sich bei einem ersten Pilotprojekt gezeigt. 2006 wurde ein viergeschossiger Zeilenbau an der Kurt-Schumacher-Allee, schräg gegenüber vom Einkaufszentrum, nach „ganz neuen Maßstäben umgebaut“ (GEWOBA- Broschüre). Aus 24 wurden 18 Wohnungen, sechs davon speziell für ältere Mieter in den unteren Etagen, darüber 12 L-förmige Maisonetten für „anspruchsvolle, jüngere Familien“. Das Mehrgenerationenhaus ist das einzige seiner Art im Viertel. Zwar wurde es vom BDA Bremen als „herausragendes und nachahmungswürdiges Beispiel“ ausgezeichnet, es wird jedoch vorerst keine „Nachahmer“ geben. Die GEWOBA sagt, die Umbauten rentieren sich einfach nicht. Noch immer bekommt die GEWOBA über die städtischen Verteilungslisten genügend Mieter für die 3-Zimmer-Wohnungen zugeteilt und mal ehrlich: Welche junge, anspruchsvolle Familie möchte denn an der Kurt-Schumacher-Allee direkt gegenüber dem potthässlichen neuen Einkaufszentrum wohnen?

Spaß macht sie nicht?

Das „erregende Abenteuer“ von 1958 ist Alltag geworden und Schlagzeilen macht die Neue Vahr nur noch zu ihren runden Geburtstagen. Zum Dreißigsten bezeichnete Eberhard Kulenkampff sie wenig schmeichelhaft als „Denkmal edler Einfalt, gut gemeint, aber keine Stadt. Sie ist auf gute Weise nützlich, aber Spaß macht sie nicht.“ Manfred Sack zeigt sich 1993 in der „Zeit“ wesentlich versöhnlicher: „Nun aber [...] begegnet man ihr [der Neuen Vahr] mild wie einer betagten Dame von matter Nettigkeit. Jawohl, sie ist so beliebt wie je. Ein Drittel ihrer Bewohner sind immer noch die ersten.“

Die Vahr, die nicht mehr „Neue“ heißt, ist eine eher stille Sensation. Fährt man heute mit der Straßenbahnlinie 24 aus Bremen hinaus in den „Stadtteil Vahr“, dann fällt einem der Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft fast gar nicht mehr auf. Die Gebäude der Vahr sind weit von der Straße zurückgesetzt und insbesondere die Zeilenbauten sind inzwischen beinahe vollständig hinter den dichten Grünanlagen verschwunden, aus denen ab und zu in der Ferne ein Hochhaus ragt. Die Fahrradwege und die Grünanlagen scheinen gut genutzt, die Mieter klagen über den Müll, die Preissteigerungen im Allgemeinen und den verschwundenen Fischbrötchenstand auf dem Wochenmarkt (stattdessen steht dort nun eine Dönerbude). Normale Klagen, nichts Aufregendes, kein Unsicherheitsgefühl, keine bemerkenswerte Kriminalität. Gleichzeitig loben alle das Grün und die gesunde Umgebung. Noch immer wohnen knapp 700 Erstmieter in der Vahr, seit über 50 Jahren also. Vielleicht macht die Vahr keinen Spaß, aber diese Treue relativ vieler Menschen ist, ebenso wie die Abwesenheit negativer Schlagzeilen, sicher als Zeichen einer nicht geringen Zufriedenheit zu verstehen.

Die Vahr profitiert bis heute von der hohen Qualität ihrer Konzeption als Gesamtkunstwerk des organischen Städtebaus – vor allem von ihren Grünzügen, ihren architektonischen Akzenten und wohl auch von dem Pragmatismus, mit dem sie gepflegt wird. Die GEWOBA besitzt noch 8000 Wohnungen, davon stehen leer. Das ist ein sensationeller Wert. Die Vahr ist – trotz all ihrer Schwächen – vielen Menschen zur Heimat geworden. Allzu oft wird das dem modernen Städtebau ja nicht zugetraut.

ARCH+, Mi., 2011.07.13

13. Juli 2011 Florian Heilmeyer

Fallstudie 7: Die Cité du Lignon in Genf

„Eine russische Delegation, die Le Lignon kaum nach dessen Fertigstellung besuchte, war begeistert. Sie sah in einem kleinen kapitalistischen Land wie der Schweiz das Wohnmodell für die große Masse verwirklicht, das die sowjetische Bürokratie schon lange für ihre Städte erträumte.“[1]

Genfer Stadtentwickung

Genf wird ab Mitte der 1950er Jahre mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Die Explosion der Stadtbevölkerung infolge des Wirtschaftsaufschwungs und der beginnenden Tertiarisierung erfordern den massenhaften Bau neuer Wohnungen. Zwischen 1950 und 1960 verzeichnet Genf einen Bevölkerungszuwachs von 16,2 %, die Vorortgemeinden von 51,9 %. Die Ausweitung der Stadt an der Peripherie durch den Bau einzelner Satellitenstädte erfolgte zunächst unkoordiniert. Ab 1962 wird von einer städtischen Kommission ein Entwicklungsplan für den Großraum Genf erarbeitet, der maßgeblich zurückgeht auf die „Groupe de Cinq“, einem Zusammenschluss von Architekten, die alle Mitglieder der Genfer CIAM waren. Die Trennung der Funktionen entsprechend der Charta von Athen bildet die Grundlage des neuen städtebaulichen Modells. Es ist eine großmaßstäbliche Vision der Raumentwicklung entlang der Verkehrsachsen, wobei das Genfer Territorium mit einem Raster überzogen und in mehrere Bezirke aufgeteilt wird. Diese wiederum untergliedern sich in Quartierseinheiten, die von zu Nachbarschaften zusammengefassten Wohnkomplexen mitsamt einer kleineren Gewerbezone gebildet werden. Die Cité du Lignon ist mit 10.000 Einwohnern auf der Ebene zwischen einer Nachbarschafts- und einer Quartierseinheit angesiedelt.

Bauindustrialisierung

Erstmalig in der Schweiz wurde in Lignon das Verfahren der Tunnelschalung für den Hochbau eingesetzt. Es handelt sich um eine Technik, die sich im Tiefbau bewährt hatte. Decken und Wände einer Wohneinheit werden unter Verwendung von Metallschalungen in Form eines umgekehrten U’s gleichzeitig gegossen. Nach dem durch Heizelemente beschleunigten Abbinden wird die Schalung entfernt und für die nächste Einheit wiederverwendet. Der gesamte Rohbau wird so fortlaufend in Ortbeton hergestellt. Die Fassade ist eine leichte Curtain-Wall-Konstruktion, deren vorfabrizierte Paneele mit Hilfe eines Krans und eines hängenden mobilen Gerüsts vor das Stahlbetonskelett gesetzt und befestigt werden.
 

Anmerkung:
[01] Zitat aus Carloni, Tita: „Cum grano salis“ et ce qui s´ensuit, in: Werk, Bauen Wohnen (1989), Nr. 7/8, S. 67

ARCH+, Mi., 2011.07.13

13. Juli 2011 Philipp Schneider

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