Editorial
Olten, Apenzell, Lichtenstein, Graubünden «Wir sollten nach Olten» — das ist ein geflügeltes Wort auf der Redaktion. Und Marco Guetg löst in dieser Ausgabe das Postulat mit seiner Reportage ein. Er begleitete Alex Capus, Schriftsteller und Politiker in Olten, zu Baustellen der Stadt. Und wir staunen: Es wird an allen Ecken und Enden in dieser Stadt gebaut, als würde im nächsten Jahr der Beton verboten. Wird auch geplant? Antworten gibt es ab Seite 18. Mit der Stadtbaureportage zu Olten öffnet Hochparterre eine neue Plattform: den «Städtebaustammtisch». Wir laden jeweils in einem stimmigen Ort ein, bei Apéro und Bier an einem Vorabend über Stadtbau zu reden. Am Stammtisch sitzen Täterinnen und Täter, im Saal Zaungäste und Opfer. Sie fragen, sie greifen ein. Massgeblich unterstützt wird das Vorhaben von Dyson Airblade. Premiere ist in Olten: Am 24. November um 18 Uhr im Kaffee des Kunstmuseums. (Anmeldung unter idrizi@hochparterre.ch)
«Über das Eigentum» und «Das Dorf weiterbauen» — diese zwei Beiträge im vorliegenden Heft spinnen das Thema der Titelgeschichte weiter: Wie planen, wo nichts planbar scheint? Im Fürstentum Liechtenstein werden die Dorfentwicklungen von sehr viel Geld getrieben; in Appenzell Ausserrhoden versucht eine sorgsam aufgegleiste Kulturinitiative zu verhindern, dass die Dörfer nicht ausbluten. Olten, Ausserrhoden und Fürstentum Lichtenstein: Einmal mehr drei Geschichten, die Hochparterres unbeugsamen Glauben an die Vernunft belegen. Und sorgsame Planung von Landschaft und Gemeinwohl fordern. Trotz und wider allem, was im realen Leben an der Aare, in den grünen Hügeln und am Rhein geschieht.
Die Bündner Regierung hat mir mitgeteilt: «Köbi Gantenbein wird für sein kompetentes und erfolgreiches Wirken als Journalist, Ausstellungsmacher und Kulturvermittler insbesondere im Bereich der zeitgenössischen Architektur in Graubünden ausgezeichnet.» Ich war überrascht, bin erfreut und hänge diese Medaille «meines» Kantons gerührt und mit stolzgeschwellter Brust als Auszeichnung auch von Hochparterre über meinen Schreibtisch.
Köbi Gantenbein
Inhalt
06 Meinungen
07 Lautsprecher
08 Funde
11 Sitten und Bräuche
17 Massarbeit
Titelgeschichte
18 Olten: Aufbruch An der Aare …
Unterwegs mit dem Schriftsteller Alex Capus durch dunkle und lichte Orte in der Stadt Olten.
Design
28 Die Hand im Auge
Geburtstagsgruss an den Schreiner und Designer Heinz Baumann.
Architektur
32 Das Dorf weiterbauen
Sechs Studien zum Bauen im Dorf in Appenzell.
Architektur
36 Ursuppenküche
Diener & Diener bauen Sauriersaal im Berliner Naturkundemuseum.
Raumplanung
42 Über das Eigentum
Im Fürstentum Lichtenstein ists anders, findet der Stadtwanderer.
Planung
44 Leuchtende Städte
Roderick Hönig holt den Plan Lumière wieder ans Tageslicht.
Design
48 In Szene gesetzt
Was und wie arbeiten Szenografen und Ausstellungsgestalterinnen?
Wettbewerb
54 Statthalter des Emirs
Das Resortprojekt auf dem Bürgenstock.
Architektur
56 Hartholz wird Haus
Ein Haus aus Buchen- und Eichenholz in Büttenhardt.
60 Leute
64 Siebensachen
66 Bücher
70 Fin de chantier
76 Raumtraum
Ursuppenküche
(SUBTITLE) Berlin verdankt Diener & Diener einen aufregenden Museumsraum und eine Geisterfassade.
Wissenschaftler und Aussteller sind zwei verschiedene Spezies. Die einen forschen im stillen Kämmerlein, die anderen wollen diese Forschung unter die Leute bringen. An der Berliner Humboldt- Universität kam es 1869 zum Eklat, als ein präpariertes Walross den Studenten den Zugang zur Aula versperrte. Die üppige naturwissenschaftliche Sammlung der Universität drohte das Hauptgebäude Unter den Linden zu sprengen. Als man dieser Sammlung schliesslich ein eigenes Haus zugestand, träumte der Museumsdirektor von einer Einheit des Forschens und Ausstellens. Er liess den Architekten zwei opulente Treppenhäuser planen, die sämtliche Teile der Sammlung zugänglich machen sollten. Doch als die Tore des Hauses 1889 öffneten, war der Direktor tot, und sein Nachfolger hatte einen anderen Traum. Er liess den Zugang zu den oberen Etagen sperren und im Erdgeschoss eine reine Schausammlung einrichten. Das ist in den Naturkundemuseen der Welt üblich und bis heute so: Die Forscher arbeiten in ihrem Elfenbeinturm, die Besucher stehen zu Füssen der Prachtstufen vor roten Kordeln.
Grandezza und Zerstörung
Nicht, dass die Berliner Säle im Erdgeschoss weniger prächtig wären. Die fast sechs Meter hohen Schausäle zeigen feinsinnig und farbig die Bewunderung ihres Architekten August Tiede für Karl Friedrich Schinkel. Besonders der zentrale Lichthof, den man gleich nach dem Eingangsfoyer betritt, bringt einen ins Staunen, auch weil sich hier der Hals des weltweit grössten Dinosaurierskeletts bis zum Glasdach reckt. Der etwas schematische Flügelbau gruppiert sich, neben dem Sauriersaal, um weitere Lichthöfe und erinnert mit gusseisernen Säulen, Geländern und Lüftungsgittern an die vorangegangene Nutzung des Areals durch die Königliche Eisengiesserei. Da die Sammlung rasant wuchs, vor allem durch das «Ausräumen» der deutschen Kolonien, erweiterte der Architekt schon während des Ersten Weltkriegs sein Gebäude pragmatisch auf dem hinteren Restgrundstück. In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs traf dann eine Bombe den Ostflügel, bis vor wenigen Jahren noch die «letzte Kriegsruine Berlins». Der weiterhin benutzte Rest des Museums litt am mangelnden Unterhalt während der DDR-Zeit. Bei der Neuordnung des Hauses scheinen Wissenschaftler und Aussteller nun endlich an einem Strang zu ziehen. Den Wettbewerb zur Komplettsanierung gewannen Diener & Diener 1995 mit dem Ziel, auch die oberen Etagen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bis 2007 reparierten die Basler Architekten fünf Säle im Erdgeschoss, ergänzten kaputte Fliesen und Farbflächen, ertüchtigten Bauteile, darunter die alten Fenster, die sie an heutige Sicherheitsauflagen anpassten. Die neue Technik blieb dabei beinahe unsichtbar.
Grossvitrine für Präparate
Die Architekten gingen aber noch weiter. Schon im Wettbewerb schlugen sie vor, im wiederaufgebauten Ostflügel einen der grössten Schätze der Sammlung zu präsentieren: die «Nasspräparate», rund 276 000 mit Alkohol gefüllte Gläser, in denen Fische, Reptilien oder Säugetiere unbeschadet die Zeit überstehen, zum Teil vor mehr als 200 Jahren von Humboldt selbst nach Berlin gebracht. Darunter finden sich viele «Typenexemplare», Tiere, die als Erste ihrer Art untersucht wurden und vielen internationalen Forschern noch immer als Vergleichsobjekte dienen. Roger Diener stiess mit seiner Idee einer saalgrossen Vitrine — wie sollte es anders sein — bei den Forschern zu Beginn auf Skepsis. Zu wertvoll der Schatz, zu kompliziert das Miteinander von musealer Einsehbarkeit, gesichertem Forscherzugriff und angemessener Lagerung, denn bei Temperaturen über 15 Grad verdunstet der Alkohol, legt die Präparate frei und droht sich zu entzünden. Schliesslich aber überzeugte die Idee und auch die Vorstellung, mit der Inszenierung der Präparate viel Volk anzulocken und ihm die wissenschaftliche Arbeit näher zu bringen.
Mehr Besucher
Der Neubau des Ostflügels bekam grünes Licht, und seine Eröffnung im September 2010 setzte den Schlussstein auf die erste Umbauetappe. Ein Teil der Nasssammlung ist nun im Erdgeschoss des Ostflügels zu bestaunen. Der Grossteil lagert in den Etagen darüber und ist weiterhin nicht öffentlich zugänglich. In den kommenden Jahren soll der Umbau weiterer Hauptsäle des Museums im Erdgeschoss und in den Obergeschossen folgen. Der neue Flügel wird wohl den Popularitätsschub weiter anfeuern, den die Eröffnung der aufgefrischten Säle vor drei Jahren auslöste. Allen voran die Neupräsentation des knochigen Brachiosaurus machte aus dem Museum den «grössten Kinderspielplatz Berlins», wie der Ausstellungsleiter sein Haus gerne nennt. Auf die neuen Displays hatten die Architekten keinen Einfluss. Die stammen vom spezialisierten Büro Art Com — mit Bertron & Schwarz — und setzen auf interaktive Technik und Einbauten, die sich für die architektonische Fassung nicht weiter interessieren. Auch Diener & Diener bewarben sich — gemeinsam mit dem Filmer Peter Greenaway — um die Ausstattung, scheiterten aber schon in der Präqualifi- kation am Einbezug des Künstlers. Anders beim Ostflügel.
Als Einheit von räumlicher Hülle und inszeniertem Inhalt entworfen fällt er nun spannungsvoll aus dem musealen Rahmen. Offenen Mundes umkreisen die Besucherinnen und Besucher den gläsernen Raum, auf dessen Regalen sich fast sechs Meter hoch die Exponate stapeln. Nach rein wissenschaftlichen Kriterien sortiert glotzen hier Fische auf das Publikum herab, liegen Schlangen in bernsteinfarbenen Flüssigkeiten aufgerollt. Die Säugetiere liess man im Depot, um den Kinderschrecken in Grenzen zu halten.
Leuchtstoffröhren im Inneren machen die Regale zum mystisch-strahlenden Schrein. Unbeschriftet zielen sie allein auf den visuellen Eindruck. Aus Sicherheitsgründen wird man allerdings keine Forscher mit den Schätzen hantieren sehen, der Zutritt ist ihnen nur ausserhalb der Öffnungszeiten gestattet.
Geflicktes Bombenloch
Weil die Exponate lichtempfindlich sind, hat der Raum keine Fenster. Flache Nischen in den mit dem kalten Rotpigment Caput mortuum gefärbten Wänden deuten die Lage der einstigen Fenster an. Zum westlichen Innenhof hin war die Fassade erhalten geblieben, zur anderen Seite hin gab es nur noch Mauerfragmente. Die flickten Diener & Diener nicht einfach, sondern ergänzten sie auf eine Art, die — besonders unter Architekten und Denkmalpflegern — für viel Aufmerksamkeit sorgt. Die erhalten gebliebenen Fensteröffnungen der gelben Ziegelfassade liessen sie zumauern, die Bombenlücke füllten sie mit Betonkopien erhalten gebliebener Fassadenteile. Wer nun durch den seitlichen Hof des Museums zu den hinteren Universitätsgebäuden geht, der erlebt ein irritierendes Schauspiel.
Jeder Ziegel, jede Fenstersprosse, jeder Pilasterkopf der zerstörten Fassade ist wiederauferstanden. Gespenstisch farblos, bleich wie die eingelegten Fische. Es ist, als stehe man vor einem jener Schwarz- Weiss-Fotos, mit denen man sich in Berlin so gern an die «gute alte Zeit» erinnert. Damals, als der Krieg noch nicht war und alle Häuser und auch das Schloss noch standen. Doch die Fassade ist aus kaltem Beton und wenig geeignet, nostalgische Seelen zu wärmen.
«Das Museum ist keine Rekonstruktion, aber es handelt von ihr.»
In München und Berlin stehen die grossen Vorbilder der von Diener & Diener wiederaufgebauten Museumsfassade. Roger Diener über Parallelen und Unterschiede.
Der Wiederaufbau eines kriegszerstörten Gebäudes ist eine aufgabe, die wir in der Schweiz nicht kennen. Sind Sie als aussenstehender unbefangener ans Werk gegangen? Mit unserer vor zehn Jahren fertiggestellten Schweizer Botschaft sind wir ja hier in Berlin mitten in die Diskussion über Rekonstruktion und Erhaltung hineingeraten. Spätestens seit dieser Zeit beschäftigen uns Fragen des Umgangs mit dem Baudenkmal, auch in der Schweiz und anderen Ländern. Als Mitglied des Berliner Landesdenkmalrates verfolgte ich später die grosse Rekonstruktionsdebatte. Die wird hier in Deutschland sehr emotional geführt.
Die ergänzte Fassade des Ostflügels hat etwas Geisterhaftes. Ist das Ihr Beitrag zu dieser Debatte? Die Verwendung von normalem Beton spielt eine wichtige Rolle. Es ist der Versuch eines ungeschönten Umgangs mit der Geschichte. So weit ist es an das grosse Beispiel von Hans Döllgast angelehnt, der Alten Pinakothek in München. Deren Wiederaufbau liesse sich allerdings jederzeit vollenden, die Fassade rekonstruieren. Der Berliner Ostflügel schliesst seine kommende Rekonstruktion aus. Ein weiterer Unterschied: Unsere Fassade ist ein Einzelfall, der nur bei der gegebenen Aufgabe Sinn macht. Döllgasts Vorgehen ist ein allgemeines Prinzip, das sich wiederholen lässt.
Und ist das Geisterhafte der Fassade ein Kommentar, beispielsweise zum geplanten Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses? Die in Beton gegossene Hülle mit dem Abguss der Holzfenster in Kunststein hat eine surrealistische Qualität, und von ihr geht tatsächlich eine besondere Wirkung aus. Es ist eine Fassade, aber es ist nicht die Fassade, die sie abbildet. Es ist keine Rekonstruktion der früheren Fassade, aber es handelt von ihr. Von einem Kommentar würde ich aber nicht sprechen. Mit dem leidigen Wiederaufbau des Stadtschlosses hat die Neufas- sung des Ostflügels nichts zu tun.
Obwohl unsere Hülle eine immer wieder geforderte Rekonstruktion ausschliesst, sind die Reaktionen andere als bei der Schweizer Botschaft. So empört sich ein Vertreter der sehr konservativen Berliner Denkmalfraktion bis heute über unsere Botschaftserweiterung, doch das hier sei ein guter Weg.
Das letztes Jahr wiederaufgebaute Neue Museum ist ein viel gepriesenes Paradebeispiel und hat das Denken beim Umgang mit Baudenkmälern in Berlin verändert. Spielte es beim Museum für Naturkunde eine Rolle? Es spielte insofern keine Rolle, als dass David Chipperfield und wir parallel entworfen haben. Die Projekte sind auch ganz verschieden angelegt. Für das Neue Museum hat Chipperfield alle Spuren sorgfältig gesichert und mit grosser ästhetischer Energie herausgearbeitet. Es ist die subtile Inszenierung eines ruinösen Gebäudebestands. Das ist sehr überzeugend vorgetragen und in einer engen Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege entstanden. Bei uns war das anders. Wir haben einen ganzen Flügel des Museums neu gebaut, und weil wir im diesem Neubau für die Nasssammlung die höchsten Anforderungen an Klima und Sicherheit erfüllt haben, konnten wir in den übrigen Sälen auf aufwendige Eingriffe verzichten. Es kann nicht nur eine Formel geben.
Die Präparatoren des Museums gehen ganz ähnlich vor wie ihr bei der Fassade: Sie ergänzen Fehlstellen, zum Beispiel von Saurierskeletten, sichtbar mit nachgeformten Gipsteilen. (lacht) Anscheinend ist es sogar die gleiche Firma, die die Silikonabgüsse gemacht hat. Ich wusste das nicht. Aber ich finde es schön.hochparterre, Mo., 2010.11.08
08. November 2010 Axel Simon
verknüpfte Bauwerke
Museum für Naturkunde
Leuchtende Städte
In den Neunzigerjahren hielt der Plan Lumière Einzug in die Schweiz. Die Aufregung hat sich gelegt. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Blick nach Zürich, Luzern, Winterthur und Burgdorf.
In den Neunzigerjahren grassierte in der Schweiz erstmals ein unbekanntes Fieber, das Lichtfieber: Zuerst erfasste es die Städte Basel, Zürich und Lausanne, später auch kleinere Orte und Gemeinden wie Frauenfeld oder Gruyère. Allen Infizierten gemeinsam war, dass sie um ihr Bild in der Nacht besorgt waren oder nach einer übergeordneten Handhabe für private Beleuchtungsprojekte suchten. Die meisten schielten damals nach Frankreich oder Deutschland, wo Plans Lumières, Lichtpläne, schon seit geraumer Zeit versuchten, den allgemeinen und unkoordinierten Lichterwildwuchs gesamtstädtisch zu regeln und aktiv zu gestalten.
2010 scheint das Lichtfieber mehr oder weniger geheilt. «Grundsätzlich gibt es zwei Auslöser für einen Plan Lumière: Bei den grösseren Städten geht es ums Standortmarketing. Hier wirkt die nationale und internationale Städtekonkurrenz», erklärt Christian Blum, der beim Büro Feddersen & Klostermann das Dossier Plan Lumière betreut. Zürich, Basel oder auch Winterthur gehören dazu.
Bei kleineren Gemeinden geht es in erster Linie darum, für die immer häufiger werdenden privaten Beleuchtungsprojekte eine allgemeine Bewilligungsgrundlage herzustellen. Die Basis liefert der Plan, das gesamtstädtische Lichtkonzept gibts gratis mit dazu. Als Beispiel dient Burgdorf, das im Rahmen einer Aufwertung der Altstadt auch seine Lichtsituation untersucht hat. In der Folge beauftragte es Feddersen & Klostermann zusammen mit Wiederkehr und Partner, ein kleines Konzept inklusive Pilotprojekt auszuarbeiten. Auch St. Moritz braucht eine planerische Handhabe im Umgang mit öffentlichen und privaten Lichtinstallationen, vor allem in der Weihnachtszeit. Ein wichtiges Ziel des Kurorts ist deshalb, den teilweise bis in den März hinein leuchtenden privaten Rentierschlitten- Blinkstern-und Lichterbaum-Wildwuchs einzudämmen.
Top-down und Bottom-up
Kleine Gemeinden und grosse Städte unterscheiden sich im Vorgehen: Zürich und Basel haben zuerst umfangreiche und detaillierte Lichtpläne fürs ganze Stadtgebiet ausgearbeitet, dann sind sie an die Umsetzung einzelner Projekte gegangen. Nennen wir es das «Top-down»-Modell. Bei kleineren Gemeinden hingegen macht die Unterteilung in Planung und Ausführung wenig Sinn, meint Lichtplaner Blum: «In Burgdorf haben wir zuerst eine kleine Lichtskizze nur für die Oberstadt erstellt und dann am konkreten Fall Kronenplatz eine Diskussion lanciert. Mittels einer Bemusterung haben wir vor Ort Behörden, das Elektrizitätswerk, Hausbesitzer, Nachbarn und Anrainer involviert und informiert.» Dieser pragmatische Weg zeigt direkt und einfach Chancen und Probleme auf. Weitere Projekte werden fortlaufend bei Bau- und Sanierungsarbeiten umgesetzt — Voraussetzung dafür ist, dass in der Verwaltung alle das Anliegen verinnerlicht haben, was durchaus seine Zeit braucht. Eine Bemusterung hat aber noch andere Vorteile: Sie weckt bei Laien Verständnis für die doch eher komplexe Materie.
«Wichtig ist aber bei einem solchen -Verfahren, dass im Anschluss die weiteren Lichtprojekte von den Behörden beharrlich verfolgt und koordiniert werden. Sonst bleibt es beim reinen Aha-Effekt», meint Blum.
In Winterthur ging man einen anderen Weg: Das Konzept «Stadtlicht Winterthur » des deutschen Lichtplaners Uwe Knappschneider setzt die Leitplanken und definiert die Gestaltungsbereiche und -objekte innerhalb des Stadtgebiets. Das Konzept ist aber kein Realisierungsprogramm. In einer ersten Phase wurden offene Wettbewerbe zu vier Pilotprojekten durchgeführt. Bewährt sich das Vorgehen, werden weitere Wettbewerbspakete geschnürt, so Lorenz Schmid, Projektleiter der Stadt Winterthur.
Grosses portemonnaie, ppp und Contracting
Für Lichtpläne gibt es drei Finanzierungsmodelle, die frei miteinander kombiniert werden. Etabliert hat sich vor allem eines: Eine Stadt spricht einen Gesamtkredit für Planung und Ausführung. In Zürich beispielsweise bewilligten Parlament und Regierung in mehreren Schritten rund zehn Millionen Franken. Damit werden bis 2013 rund 35 Projekte realisiert. Basel hat acht Millionen für Konzept und Umsetzung von «B-leuchtet» gesprochen, ebenso viel haben die Luzerner zur Verfügung gestellt. Zürich kombiniert das Gesamtkredit- mit dem Public-Private-Partnership-Modell. Denn, weil der Plan Lumière» in erster Linie Stadträume sichtbar machen will, müssen teilweise auch private Gebäudefassaden angeleuchtet werden. «Die Beteiligung von Privaten ist sehr wichtig. Doch die Partnerschaften laufen zuweilen etwas harzig und sind für uns nicht immer wie gewünscht steuerbar, nicht zuletzt, weil in umfangreichen Verträgen Rechte und Pflichten bis ins Detail festgelegt werden müssen», resümiert Stephan Bleuel, Verantwortlicher des Plan Lumière im Amt für Städtebau. 295 000 Franken haben die Zürcher Behörden für das Konzept und die Beratung, aber auch für Muster und einen Teil der Installation und Projektoren, beispielsweise am Utoquai, ausgegeben. Die Stadt zahlt auch den Strom und stellt den öffentlichen Raum den Privaten kostenlos zur Verfügung. Sechs von sieben Eigentümern haben im Gegenzug zusammen 230 000 Franken für die Beleuchtung von rund 300 Metern Fassadenabwicklung bezahlt.
«Auslöser für unser Engagement war die Kongresshaus-Pleite: Nachdem das tolle Projekt bachab geschickt wurde, wollten wir als halböffentliche Institution ein Zeichen der Solidarität setzen. Überzeugt hat uns zudem die technisch ausgefeilte und energetisch effiziente Lösung, die die Zimmer unserer Gäste im Dunkeln lässt, das Haus aber erleuchtet», sagt dazu Beat Sigg, Direktor des Hotels «Eden au Lac» am Utoquai. Das Projekt zeigt aber auch gut die Grenzen des PPP-Modells: Weil ein Hausbesitzer noch zuwarten wollte, leuchten nur sechs von sieben Häusern. Diese «Zahnlücke» beeinträchtigt das Gesamtkonzept deutlich. Von bis anhin sechs PPP-Projekten wurden in Zürich fünf abgeschlossen. Mit einer Contracting-Lösung, einer Art Leasing inklusive Betrieb und Unterhalt, wird das Beleuchtungskonzept in Luzern realisiert. Der Luzerner Energiedienstleister «ewl» finanziert die gesamte Anlage vor und ist verantwortlich für Betrieb und Unterhalt in den nächsten 25 Jahren. Die Stadt Luzern bezahlt unter dem Strich zwar etwas mehr für diese Lösung, dafür muss sie nicht einmalig tief in die Tasche greifen, sondern kann die Gesamtkosten von rund acht Millionen in jährlichen Raten abzahlen.
Rechtliche Grundlagen
Die Umsetzung jedes Plan Lumière erschwert, dass er eine unverbindliche Empfehlung ist. Regulieren können die Behörden durch die Bewilligungspflicht einer Anlage. Meistens erlaubt der Plan Lumière aber gar keine Lichtinstallationen mehr ausserhalb des von ihm bezeichneten Gebiets. Eingebürgert hat sich der aufwendige Weg des direkten Verhandelns. Das heisst, das Plan-Lumière-Team versucht, Laden- und Hausbesitzer für eine gemeinsame Lösung zu gewinnen. «Viele Hausbesitzer erlauben die Installation von Leuchten an der eigenen Fassade problemlos, geht es aber ums Geld, winken die meisten ab. Beleuchtung ist für sie Aufgabe der Stadt», meint Christian Blum.
Vorreiter Luzern
Einzigartig in der Schweiz ist die Schaufenster- Lösung in Luzern. «Weil die Altstadt Kernelement unseres Konzepts und auch ein wichtiges Wohnquartier ist, basiert unser Plan darauf, dass sie auch einmal schlafen geht», erklärt Mario Rechsteiner, dessen Firma art light die Projektleitung innehatte. Er unterscheidet in Luzern zwischen szenografischem Abend- und funktionalem Nachtprogramm. Wer aber Gassen und Plätze bis 23 Uhr inszenieren und danach wieder ins Fast-Dunkel zurückfallen lassen will, kommt um die Schaufensterbeleuchtung nicht herum. «Bei einigen Uhren- und Bijouterieläden haben wir bis zu 40 000 Lux gemessen. Damit kann man ganze Gassen erhellen», schmunzelt Ueli Habegger, ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt. Er hat sich zusammen mit Rechsteiner für eine Reduktion der Intensität der Schaufensterbeleuchtung in der Altstadt stark gemacht. Das Engagement führte zu einer Verordnung, die der Grosse Gemeinderat 2008 verabschiedet hat. Neu dürfen in einem Abstand von 1,5 Metern vom Schaufenster nur noch maximal 80 Lux sowie eine maximale mittlere Beleuchtungsstärke von 110 Candela gemessen werden. Bestehende Schaufenster müssen nicht angepasst werden. Doch weil kommerzielles Licht neu bewilligungspflichtig ist und weil Schaufensterbeleuchtungen soweiso im Schnitt alle sechs bis sieben Jahre erneuert werden, löst sich das Problem von selbst: Nach einer Schaufenster-Generation sind alle an den Plan Lumière angepasst, also dunkler. Der Luzerner Plan Lumière hat im September den internationalen «City People Light Award» 2010 verliehen bekommen.
Energie sparen?
Eines der wichtigen politischen Verkaufsargumente eines Plan Lumière ist, dass er beim Energiesparen hilft. Mit modernen Lampen und Reflektoren könne man das Licht dorthin lenken, wo es gebraucht wird, steht im Konzept Stadtlicht Winterthur. Damit könnten auch Wartungszyklen verlängert, Leuchtenstandorte verringert und die Energieeffizienz erhöht werden, so die Winterthurer. Um 20 Prozent versprach der ehemalige Luzerner Finanzdirektor Franz Müller den Energieverbrauch mit dem Plan zu senken. Auch Genf rechnet vor, dass, wenn man alle veralteten Leuchten im öffentlichen Raum durch effizientere ersetzen würde, man den städtischen Energieverbrauch um 20 Prozent und damit das Globalbudget der Stadt um 16 Prozent senken könnte. Das klingt gut, doch sind diese Zahlen kritisch zu hinterfragen, denn szenografische Beleuchtung macht nur einen Bruchteil der Grundbeleuchtung aus. In Zürich betrug der jährliche Energieverbrauch gesamthaft rund 3,1 Millionen Megawattstunden (MWh), davon entfallen 22 000 MWh auf die öffentliche Beleuchtung.
Reine Plan-Lumière-Beleuchtungen verbrauchten aber rund 70 MWh, also nur 0,03 Prozent des Gesamtverbrauchs. Wer also den Hebel nur bei der szenografischen Beleuchtung ansetzt, kann den Gesamtverbrauch nicht senken. «Doch die Grundbeleuchtung, bei der Sparen einschenken würde, ist eines der letzten Tabus», sagt Christian Blum. Allerdings spürt der Lichtplaner ein Umdenken bei den städtischen Werken und der Polizei. Denn einerseits adaptiert sich das Auge automatisch an die Lichtverhältnisse, wenn das Gesamtniveau gesenkt wird. Andererseits hat die Lichtausbeute neuerer Autoscheinwerfer deutlich zugenommen. St. Gallen will deshalb die Betriebsdauer der Strassenbeleuchtung anpassen. Die Stadt will sie künftig bereits ab 22 statt erst ab 24 Uhr reduzieren.
Grosse Bedeutung für die Energieeinsparung haben Sendeprogramme, also Steuerungen, die bestimmen, wann eine Lampe wie hell leuchtet. Auch in Zürich werden die Strassenlampen künftig zwischen 1 und 5 Uhr in der Helligkeit zurückgenommen. Das sind begrüssenswerte Engagements. Doch solange Verkehrspolizei, städtische Werke und grosse Teile der Bevölkerung die Quantität des Lichts in direkter Relation zur Sicherheit setzen, ist der Hebel zum Energiesparen begrenzt.
Weniger Licht ist oft mehr
Und nun? Der Plan Lumière ist in der Schweiz als Planungsinstrument etabliert. Grosse Unterschiede im gestalterischen Ansatz gibt es nicht: Die Lichtplaner zeichnen in erster Linie Ortsbilder nach, die sich nachts in die Erinnerung brennen sollen. Dazu akzentuieren sie Verkehrsachsen, reagieren auf topografische Eigenheiten und verteilen die einzelnen Lichtprojekte dezentral über den Stadtraum.
Im Ausland finden sich mehr auch künstlerische Ansätze, etwa Lichtpläne, die nur die Stadteingänge markieren, oder solche, die sich am Biorhythmus orientieren. Hierzulande hat sich für die Szenografie warmweisses Licht eingebürgert. Es gibt die Materialien des beleuchteten Objekts am besten wieder. Farbiges Licht gilt als Festlicht, zumindest in der Deutschschweiz. Eine grosse Rolle spielt die technische Entwicklung, allen voran der LED. Doch beim Heilsbringer LED braucht es oft mehr Leuchten, was — wenn man genau rechnet — nicht weniger Energie braucht. Zweitens ist der Austausch eines LED-Moduls in gleicher Qualität noch nicht gewährleistet — was bei einer Fassadenbeleuchtung auffällt.
Allgemein ist auch eine Tendenz zu weniger Licht festzustellen. Grund dafür ist, dass das Grundlicht oft sehr hoch, ja zu hoch ist.
«Bei einzelnen Projekten in Zürich haben wir die geplante Beleuchtung reduziert oder gar weggelassen, obwohl sie Teil des Plan Lumière war», erklärt Stephan Bleuel. «Die Beleuchtungsnormen verlangen eigentlich immer zu viel Licht, doch nicht nur helle Orte definieren eine Stadt, sondern auch dunkle», doppelt Christian Blum nach. Von der «Gnade der Verschattung» spricht der Denkmalpfleger Ueli Habegger und meint damit nicht nur, dass schlechte Architektur nachts nicht inszeniert werden muss, sondern auch, dass weniger oft mehr ist. In diesem Sinne verstehen die Spezialisten auch Weihnachtsbeleuchtungen oder Lichtfestivals. Sie ergänzen die Lichtpläne. Solche Veranstaltungen sensibilisieren und zeigen die Unterschiede zwischen Alltags- und Festbeleuchtung auf. Sie lassen Tests zu, die dann vielleicht wieder im Gesamtkonzept wirksam werden.hochparterre, Mo., 2010.11.08
08. November 2010 Roderick Hönig
In Szene gesetzt
Ein Blick in die kleine, aber aktive Welt der Szenografen und Ausstellungsgestalterinnen. Was sie tun, wie sie es tun und für wen sie am Medium Ausstellung weiterdenken.
Ausstellungen und Messeauftritte werden seit der Weltausstellung Hannover 2000 und der Expo.02 immer häufiger als Szenografien bezeichnet. Nicht alle sind glücklich darüber. Xavier Bellprat nennt sich zwar selbst Szenograf, hält den Begriff Szenografie aber für problematisch. Zu oft werde er mit dem Theater gleichgesetzt.
«Dabei sind wir keine Bühnenbildner, wir erzählen Geschichten im Raum.» Die Szene der Ausstellungsgestalter ist klein und überschaubar. Man kenne sich, sagt Xavier Bellprat, der sich mit seinem Unternehmen in Zürich etabliert hat. Es gebe um die 25 Büros mit kaum mehr als hundert Beschäftigten, die sich längerfristig und erfolgreich in diesem Bereich positioniert hätten. Es sind kleinere und grössere Unternehmen, die sich mit Ausstellungen und Anlässen in Besucherzentren, Museen oder Themenparks durchgesetzt haben, die aber auch Firmenjubiläen, Messestände oder Besuchstage organisieren. Also überall da ihre Erfahrung einbringen, wo Institutionen und Firmen sich öffentlich selbst präsentieren oder einen Inhalt vermitteln wollen. Die Zahl klingt nach wenig, gehört doch die Schweiz neben Holland zu den Ländern mit einer der höchsten Museumsdichte pro Einwohner: Über tausend Institutionen führt der Verband Schweizer Museen in seinen Statistiken auf. Doch kulturelle Einrichtungen allein könnten das Überleben der Szenografen kaum garantieren, bilanziert Xavier Bellprat seine Berufserfahrung der vergangenen zwanzig Jahre.
Bitte berühren
«Die Besucher müssen die Schuhe, die Schnürsenkel und die Absätze anfassen können», fasst Jürg Brühlmann sein Rezept zusammen. Er hat Ende September das «Ballyana» in Schönenwerd eröffnet: In der Shedhalle der ehemaligen Bally-Fabrik präsentiert er Schuhe, Maschinen und Textilien aus 200 Jahren Unternehmensgeschichte und weckt damit Schaulust. Doch anfassen, um sich des Originals zu versichern und eine direkte sinnliche Erfahrung zu machen, das geht nicht immer. Manchmal sind Vitrinen unverzichtbar, und selbst wenn sie fehlen, gilt im Museum die Konvention, die man schon kleinen Kindern beibringt: «Nicht mit den Händen! Nur mit den Augen schauen.»
Auf runden Täfelchen stecken Piktogramme einer durchgestrichenen Hand. Nicht anfassen! Das fällt in einer Ausstellung über das Design von Oberflächen besonders schwer, sind sie doch nicht nur visuelles Ereignis. An Gebrauchsobjekten bieten sie sich stets auch zum Ertasten an. Kuratorin Renate Menzi hat das Phänomen an rund 200 Exponaten aus der Designsammlung des Museums für Gestaltung Zürich untersucht. Trotzdem hat der Industrial Designer Moritz Schmid, der die Ausstellung «Make Up!» gestaltet hat, auf Vitrinen verzichtet. Denn: «Auch Schminke im Gesicht fasst niemand an.»
Das setzt Selbstdisziplin der Besucher voraus und es zeigt, wie ernst Schmid das Thema nimmt: Der direkte visuelle Zugang ist entscheidend, will man zeigen, wie Reflexe, Glanz, Transparenz oder Haptik wirken und was sie designhistorisch bedeuten. Auf Präsentationstischen, deren weiss gelochte Resopaloberfläche an Tischtücher erinnern, versammelt er die Exponate. Er gliedert den Raum mit runden Spiegeln, die Blicke lenken und worin sich die Gesichter der Besucherinnen mit aufgehängten Plakaten überlagern, die das Thema der Schminke aufnehmen. Mit einfachen Mitteln baut Moritz Schmid so den Exponaten eine Bühne, auf der sie ihre Wirkung entfalten können. Auch wenn er selbst Produkte entwerfe, erlebe er solche szenografischen Momente, denn auch da gilt: Ein Stuhl, ein Tisch, eine Espressotasse werden, einmal gekauft, in einem bestimmten Raum eingesetzt, neben und mit anderen Dingen.
Darin muss sich ein Entwurf behaupten können.
Sobald ein Original aus seinem ursprünglichen historischen, sozialen oder kulturellen Kontext gerissen oder durch eine Reproduktion ersetzt wird, verliert es gemäss Walter Benjamin seine Aura. Und damit seine Einzigartigkeit, deretwegen wir weite Wege auf uns nehmen und Zeit investieren. Weil die Aura auch eine Frage der Wahrnehmung ist, müssen in einer Ausstellung die Bedingungen der Wahrnehmung kontrolliert sein. Deshalb reicht es in thematischen Ausstellungen selten aus, das Original einfach auf einen Sockel zu stellen. Dazu gehört es auch, die Bedeutung des Originals innerhalb der Ausstellungsdramaturgie zu erklären — sei es textlich oder besser mit gestalterischen Mitteln. Liegt ein Gesteinsbrocken vom Mond unkommentiert in einer Vitrine, bleibt er — ausser vielleicht für Mineralogen — ein gewöhnlicher Stein. Was er innerhalb der Ausstellung bedeutet, muss geklärt sein und mit gestalterischen Mitteln verdeutlicht werden. Damit nicht nur die Elite versteht, was in der Vitrine liegt.
Im Raum erzählen
Objekte werden glaubhafter und spannender vermittelt, wenn die Ausstellungsgestalter den jeweiligen Raum mit einbeziehen, meint der Architekt und bildende Künstler Alain Rappaport: «Ausstellungsarchitektur ist immer spezifisch, ich versuche, aus der jeweiligen Thematik und den bestehenden räumlichen Gegebenheiten etwas Einmaliges zu extrahieren.» Damit gestalte er den Raum so, dass er Inhalte vermittle. Entsprechend verfolge er keinen Stil, den er auf seine Projekte anwende, sondern lese erst den Raum, in dem die Ausstellung stattfinde. So auch bei der Ausstellung «Kontur Pur» im Zürcher Museum Bellerive, die Scherenschnitte vorstellte: Wie ein Scherenschnitt von den zwei Komponenten Schwarz und Weiss lebt, teilte er das Museum in zwei Seiten auf. Wer nach Nordwesten blickte, sah ein Museum mit schwarzen Wänden und den Arbeiten der Schweizer Scherenschnittvereine, wer nach Südosten blickte, eines mit weissen Wänden und Arbeiten von international agierenden Künstlern. Wichtig ist Alain Rappaport aber vor allem, dass die Ausstellungsgestaltung sich nicht in den Vordergrund schiebt: «Objekt und Inszenierung glänzen nur zusammen.»
Der Raum als Exponat
Der Raum, in dem eine Ausstellung stattfindet, spielt für Tristan Kobler von Holzer Kobler Architekturen eine zentrale Rolle. Jeder Raum hat eine eigene Geschichte. Diese Erkenntnis drängt sich vor allem bei Wanderausstellungen auf. Gerade eben haben Tristan Kobler und sein Team die Ausstellung «Gerüchte», deren Inhalte und Szenografie sie zusammen mit dem Museum für Kommunikation in Bern entwickelten, für das Museum für Kommunikation Berlin neu aufgebaut und angepasst. Ein schmaler Gang führt die Gäste ins bunte Reich der Fama, der antiken Gerüchtegöttin. Sie wohnt im Flüsterwald, einem verwobenen Holznetzwerk. Berliner Besucher erleben die Ausstellung anders als die Berner: «Wenn eine Ausstellung in zwei unterschiedlichen Räumen stattfindet, verändert sie sich», sagt Tristan Kobler. «Der Raum ist das grösste Exponat.» Das wird auch im Projekt «Realstadt. Wünsche als Wirklichkeit» deutlich. Bis Ende November bespielt eine fiktive Stadt 8000 Quadratmeter der Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerks in Berlin Mitte. Es ist die erste Ausstellung in der Industriebrache, bis vor Kurzem dröhnte am Wochenende Techno durch die Halle. Jetzt bilden auf zwei Etagen rund 250 aneinandergereihte Architekturmodelle, gemeinsam mit frei in den Seitenschiffen schwebenden Videoscreens, ein urbanes Gefüge auf Zeit. Von Einfamilienhäusern oder ganzen Städten bis hin zu düsteren Visionen des inszenierten Stadtzerfalls ist hier alles im Modell zu betrachten.
Die Architektur der Halle ist Teil der Inszenierung: Durch die groben Betonträger und offenen Wände wirkt der Raum wie ein zu gross geratenes Modell, durch das der Besucher zu schreiten meint. Die Schau profitiert von der engen Verbindung zwischen Raum und Exponaten, und das wiederum spiegelt die enge Zusammenarbeit der Kuratoren Martin Heller und Angelika Fitz mit dem Ausstellungsgestalter Tristan Kobler.
Mit und nicht gegen den Raum inszenieren auch Remo Derungs und Carmen Gasser ihre Projekte. Doch nicht immer ist das der abgrenzbare Bereich eines Museums, wie im Gelben Haus Flims, einem ihrer Auftraggeber. Mit der Inszenierung für die Rhätische Bahn (RhB) sprengten die beiden Innenarchitekten den Rahmen. Im Juli 2008 wurde die Albula- und die Bernina-Bahn in die Liste des Unesco-Welterbes aufgenommen, und die RhB wollte dazu eine Ausstellung. Schnell war klar, dass das Exponat die Bahnlinie selbst sein muss. Weil sie als Original in kein Museum passt, ging es darum, sie in der Landschaft zu inszenieren und zugleich den Blick der Besucherinnen und Besucher auf etwas zu lenken, was im Alltag nicht als Exponat wahrgenommen wird. Sie konzipierten eine Ausstellung in der Hauptwerkstätte Samedan und sieben Thementürme entlang der Strecke. Als Hauptelement verwendeten Gasser Derungs ein rotes Band, mit dem sie ein aus Baugerüsten entwickeltes System einkleideten. So entstanden temporäre, begehbare Strukturen — einmal ragten sie in die Landschaft, dann standen sie auf dem Perron. Die Installationen involvierten den Touristen aus England genauso wie die einheimische Bevölkerung oder den Reisenden aus dem Unterland.
Der fiktive Raum
«Der Ausstellung ist es egal, wo sie steht», sagt demgegenüber Xavier Bellprat. Sie müsse unabhängig von ihrem lokalen Kontext funktionieren. Und das tue sie, wenn sie auf hohem Niveau unterhalte und bleibende Erinnerungen verschaffe. Sein bevorzugtes Modell sind denn auch Ausstellungen, die das Publikum vollständig in neue, unbekannte Welten eintauchen lässt, die es mit allen fünf Sinnen erfährt. Eine Ästhetik der Überwältigung ist die Folge. Die Machart der Ausstellung muss dabei den Besucherinnen und Besuchern aber verborgen bleiben. Das kann ins Geld gehen: Nestlé investiert sieben Millionen Franken, damit die Besucherinnen und Besucher Schokolade «mit allen fünf Sinnen erleben ». Vergangenen April eröffnete die «Maison Cailler» in Broc. Das Unternehmen Steiner Sarnen hat das Besucherzentrum inklusive «Erlebnis- Welt» auf 2400 Quadratmetern inszeniert. Entstanden ist ein Spektakel, das die Geschichte der Schokolade und der Marke Cailler in neun begehbaren Räumen erzählt — in grossen Schritten geht es von den Azteken über die französische Revolution bis zu Cailler heute. Die Besucher erfahren, wie Schokolade hergestellt wird und können das Endprodukt gleich vor Ort kosten. «Wichtig sind der Start und der Schluss: Der Besucher muss abgeholt werden. Und nach dem Staunen muss er seine Beine vertreten können», erklärt Otto Steiner. Im «Atelier du Chocolat» formen sie eigene Pralinen oder trinken Schokolade.
Noch stärker sind Szenografen bei Themen gefordert, die nicht greifbar sind, weiss Valentin Spiess, der mit seinem Unternehmen i-Art Projektionen, Licht, Klanginstallationen, interaktive Medien und mixed realities konzipiert. Er muss zuweilen Objekte kreieren, die es in der realen Welt nicht gibt, um ein Thema zu erklären — wie etwa das des Teilchenbeschleunigers am Cern siehe HP 8 / 2010. Immersive Räume, in die man vollständig eintaucht, sollen den Besuchern einen emotionalen, aber auch intellektuellen Zugang zum Thema ermöglichen, ist er überzeugt. Dabei kommt es drauf an, die dazu nötigen Medien zielgerichtet zu verwenden. «Multitouchscreen um ihrer selbst willen einzusetzen, bringt nichts.»
Und die Besucherinnen und Besucher?
Noch heute glauben die Museumsleute an «Knopfdruck-Exponate». Doch wenn daraus keine Erkenntnis entstehe, soll man es lieber gleich lassen, meint Xavier Bellprat, Knöpfchen könne man auch anderswo drücken. Auch hier gilt: Das Mittel ist nur so gut, wie es seinen Zweck erreicht. Welche Absicht damit verfolgt wird, das entscheidet die Haltung des Szenografen. Sie bestimmt über den Typus der Ausstellung. Docere, delectare, movere — lehren, unterhalten, bewegen: Die drei Säulen der Rhetorik tauchen in Gesprächen mit Ausstellungsgestaltern immer wieder auf. Gut aufbereitete Information und Unterhaltung seien gleichermassen wichtig, sagt Tristan Kobler. «Eine Ausstellung muss unterhalten, belehren lieber nicht.» Ums eigene Erleben geht es im Stapferhaus in Lenzburg. «Eine Ausstellung muss versuchen, den Besucher dort abzuholen, wo er Fragen und Ängste hat», sagt Philipp Clemenz, der gemeinsam mit den Kuratoren Sibylle Lichtensteiger und Beat Hächler die Ausstellung «Non Stop» gestaltet hat. Darin zeigten sie, wie wir mit der Zeit umgehen. Am Eingang bremsten sie die Besucher erst einmal aus: Bevor diese durch eine Klanginstallation eintreten durften, mussten sie Uhr und Handy einschliessen. Einmal im Raum erfuhren die Gäste unter anderem, was sie statistisch gesehen in ihrer verbleibenden Lebenszeit noch alles tun würden. «Das ist die Aufgabe einer Ausstellung: betroffen machen, ohne das Schmunzeln zu vergessen.» Denn eine Ausstellung sollte den Besucher zum Nachdenken führen und ihn nach dem Besuch weiterhin beschäftigen, sagt Philipp Clemenz.
Autorin oder Dienstleister?
Wie aber nehmen sich die Gestalterinnen und Gestalter selbst wahr? Tristan Kobler sieht sich an der Schnittstelle zwischen Inhalt und Umsetzung. «Ich sehe mich nicht als Dienstleister, auch wenn das die Auftraggeber nicht gerne hören.» Er versteht sich als Ko-Autor, der zuweilen damit kämpft, alle an einem Projekt Beteiligten auf dieselbe inhaltliche und gestalterische Linie zu bringen. Doch bis vom Filmemacher bis zum Grafiker alle die gleiche Sichtweise auf das Thema entwickeln, sei oft ein langwieriger, komplizierter Weg zu gehen. Viele Beteiligte, das ergibt eine lange Lohnliste. Doch die meisten Budgets für thematische Ausstellungen in kulturellen Institutionen sind knapp ausgestattet. «Die meisten Projekte haben viel zu kleine Reserven. Dennoch stellt das Publikum hohe Ansprüche», resümiert Tristan Kobler. Als Architekt könne man von Ausstellungen leben, es komme freilich drauf an, wie gut und wie schnell man ein Projekt entwickeln könne. Wie kommt er zu seinen Aufträgen? Holzer Kobler haben sich längst einen Namen gemacht, in der Schweiz und in Deutschland gehören sie zum kleinen Kreis der gefragten Szenografen. Und was sagt er zur Tatsache, dass im Kulturbereich für finanziell unterdotierte Ausstellungen immer öfter Wettbewerbe für Szenografien ausgeschrieben werden? «Sie beleben zwar eine Szene, sind die Budgets jedoch ohnehin klein, würde das Geld besser in die Ausstellung fliessen», sagt Tristan Kobler.
«Einmal so, einmal anders», antwortet Xavier Bellprat auf die Frage nach seinem Selbstverständnis. Entscheidender ist ihm, dass die Ideenfindung immer ähnlich abläuft, egal ob der Auftraggeber aus dem Kommerz oder der Kultur stamme. Vor allem Aufträge aus dem kulturellen Bereich müssen oft querfinanziert werden. Bellprat Associates verdanken ihren Erfolg den kommerziellen Aufträgen, und die reichen von Ausstellungen über Messeauftritte und Veranstaltungen bis hin zum Kostümdesign. Oder, wie es Xavier Bellprat in seiner unverblümt direkten Art sagt: «Wir sind seit zwanzig Jahren erfolgreich, weil wir uns nicht gescheut haben, für die bösen Buben aus dem Kommerz zu arbeiten.»
Doch die meisten Ausstellungsgestalter mit kleineren Büros müssen ihr Tun querfinanzieren. Philipp Clemenz vom Stapferhaus arbeitet nebenher als Dozent an der Hochschule Luzern, Jürg Brühlmann kombiniert die Arbeit an Ausstellungen mit Grafik und Produktgestaltung. Und selbst Gasser Derungs, die neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen, leben nur zur Hälfte von szenografischen Aufträgen. Vor allem Aufträge aus dem kulturellen Bereich müssen oft querfinanziert werden.
Drittes Szenografie Festival in Basel Von der Street Art über Kunstausstellungen bis zum Guerilla Store: Überall wird ausgestellt. Nachdem sich das Festival «IN3» vor zwei Jahren den darstellenden Künsten widmete, geht es dieses Jahr um das Inszenieren im und ums Museum: «Exhibit! — Scenography in Exhibition Design» lautet der Titel der dritten Ausgabe. Das Festival findet vom 2.–5. Dezember 2010 in der Kaserne Basel statt. Museumsdirektoren, Kuratorinnen sowie Gestalter und Architektinnen von Museumsbauten sprechen über inszenierte Chanel-Höschen, sie diskutieren schmale Budgets und besprechen, was das Museum des 21. Jahrhunderts jenseits der Selbst- Darstellung können muss. Es sprechen Beat Hächler, Kurator des Alpinen Museums Bern, Architekt Jacques Herzog, Atelier Oï mit Aurel Aebi, Armand Louis und Patrick Reymond, Valentin Spiess vom Mediendienstleister i-Art und Andreas Spillmann, Direktor Schweizerisches Nationalmuseum. Neben den Vorträgen und Podiumsdiskussionen zeigt die «IN3 Challenge» zum ersten Mal hoffnungsvolle Nachwuchstalente. > www.in3.ch Mehr im Netz
So einfallslos präsentieren sich die Museen im Web: Der Markt ist zwar klein, doch die Nachfrage nach Szenografinnen ist da. Darauf bauen auch die Lehrgänge an den Fachhochschulen, die längst nicht mehr nur Bühnenbildner ausbilden, sondern auch szenische Gestalter, die für unterschiedlichste Auftraggeber aus dem kommerziellen und kulturellen Bereich tätig werden. Sie tun das mit unterschiedlichen Methoden und unterschiedlicher Haltung. In einem Punkt sind sich die befragten Architektinnen und Gestalter allerdings einig. Das Medium Ausstellung sei zeitgemässer denn je. Von der Virtualisierung bedroht fühlt sich niemand: Alle glauben sie fest an das reale Erlebnis, das eine Ausstellung vermittelt und sich so von medial vermittelten Erlebnissen unterscheidet. Längst schon sind digitale Medien für Ausstellungsgestalter ein Mittel zum Zweck, ein Erlebnis zu verstärken, zu verlängern, zu vergrössern. Für einen temporären Messeauftritt oder eine Blockbuster-Ausstellung mehrere Millionen Franken auszugeben, Tonnen von Material zu transportieren und Tausende von Menschen ungezählte Flugkilometer abspulen zu lassen, ist ein Irrsinn. Nur vernünftig, diesen Aufwand mit digitalen Medien zu entschärfen — mit Informationen im Vorfeld einer Messe, indem Besucher eingebunden werden oder Information nachgeliefert bekommen. Ohne die reale Anknüpfung in Zeit und Raum gehe es nicht. Doch wie die virtuelle mit der realen Welt einer Ausstellung sinnvoll zusammengebracht wird, daran üben die Szenografen noch immer.
Kommentar
Artenvielfalt und Experimentierlust
Ausstellungen sind ein Medium. Eines unter vielen, und es besteht aus den unterschiedlichsten Formaten. Was verbindet die Expo in Shanghai mit der Wanderausstellung über Verdingkinder? Beide erzählen Geschichten in einem Raum und suchen ihr Publikum — mehr ist da nicht an Gemeinsamkeit. Also entzieht sich dieses Medium jeder generellen Wertung. Zu diskutieren sind Einzelfälle. In einer Breite allerdings, die als solche bereits für die Relevanz von Ausstellungen steht. Artenvielfalt ist wesentlich eine Folge guter Lebensbedingungen. Was in der Kulturgesellschaft bedeutet: Geld und Aufmerksamkeit sind vorhanden. Ebenso künstlerisch als auch wirtschaftlich denkende Köpfe, die die Potenziale des Ausstellens zu nutzen wissen. Aus dieser Konstellation erklärt sich vieles: die Fülle von Veranstaltungen, das hohe Niveau von Inhalt und Form samt offenkundiger Lust, damit zu experimentieren. Solche Experimente finden sich sowohl in kulturellen Nischen als auch da, wo — etwa bei den faksimilierten Grabschätzen des Tutanchamun — die schau- und bildungshungrige Masse für Erlebnisse des Besonderen gewonnen werden soll. Zwar erreichen diese Veranstaltungen nicht mehr jene unglaublichen Zahlen der Nachkriegszeit, als «The Family of Man» 1958 in knapp fünf Wochen über 50 000 Besucher ins Kunstgewerbemuseum Zürich lockte. Denn die heutige Medienkonkurrenz zerstreut das Publikum; zugleich eröffnet sie medial hybride Möglichkeiten. Darum ist die Glaubensfrage, ob Ausstellungen eher analog oder digital arbeiten sollen, ebenso dumm wie das beliebte Postulat, sie müssten «sinnlich» sein. Was ist eine unsinnliche Ausstellung? Eben. Ausstellungen sind danach zu beurteilen, wie schlüssig sie Inhalt und Form verschmelzen. Egal, ob sie mittels Bildschirmzauberei oder — wie «Realstadt. Wünsche als Wirklichkeit » in Berlin — mit konsequenter Gegenständlichkeit verführen. Schlüssigkeit und Qualität braucht es, um die dichte Tradition des Mediums fortzusetzen. In Form einer Autorenschaft, die sich von blosser Umsetzung und Gestaltung emanzipiert und stolz ist, auch einige Sprachen des Populären zu beherrschen.
[Martin Heller]hochparterre, Mo., 2010.11.08
08. November 2010 Meret Ernst