Editorial

Schreiben und reden

Wie kommt es heraus, wenn junge, gefragte Architekturbüros in der eigenen Stadt Städtebau betreiben? Axel Simon fuhr nach Basel, sah sich die Neubauten von Christ & Gantenbein und Buchner Bründler beim Bahnhof St. Johann an und berichtet von einem «expressiven Betonberg», einem «ganz normalen Blockrand» und von «Wohnungen, wie man sie lange suchen muss».

Das Heft, seine Analysen und Kommentare sind Hochparterres Hauptarbeit als journalistisches Blatt für Architektur und Design. Immer häufiger und vielfältiger aber bringen wir Leute zusammen, sorgen dafür, dass die schlauen Stimmen und packenden Newcomer unserer Disziplinen aufeinandertreffen zu Debatten, Aktionen und zu Mussestunden. Indem wir Anlässe an Artikel knüpfen, tragen wir unsere Themen weiter. In diesem Monat sind es viele.

Die Neuauflage des Architekturführers Zürich feiert Vernissage. Drei Nationalrätinnen und -räte diskutieren mit Hochparterre über die Zukunft des Flugplatzes Dübendorf siehe HP 4 / 10. An der «Landscapevideo Conference» der ETH Zürich tritt Hochparterre als Medienpartner auf. Zum Zürcher Hauptbahnhof zeigt Filmemacher Samir sein Porträt und Werner Huber diskutiert danach mit Stadtbaumeister Patrick Gmür und Ulrich Weidmann, dem brillanten Kopf der Transportwissenschaften. Und im Juni laden wir mit dem Liftbauer Emch zur Besichtigung des restaurierten Schlosses Laufen am Rheinfall. Immer sind Sie herzlich eingeladen, liebe Abonnentin, lieber Leser. Zeiten und Orte stehen in diesem Heft und auf unserer Website.

Jeden Tag 3300 Leserinnen und Leser, das meldet übrigens die Statistik für www.hochparterre-schweiz.ch. Unsere Internetzeitung wächst, gedeiht und zeigt uns, wie gefragt qualifizierter Journalismus im Netz ist. Das freut und spornt uns an: Internetredaktor Urs Honegger beschäftigt inzwischen einen Volontär und schreitet auf das nächste Ziel zu: ein prickelndes Redesign.
Rahel Marti

Inhalt

06 Meinungen
07 Lautsprecher
08 Funde
11 Sitten und Bräuche
17 Massarbeit

Titelgeschichte
18 The Good, the Bad and the Ugly. Im Basler St. Johann-Quartier lassen drei markante Wohnbauten das Loch über der Nordtangente zusammenwachsen.

30 Wettbewerb: Die Utopie stirbt nie. Die Genossenschaft ist bereit für die «KraftWerke 2, 3 und 4».
32 Design: Mobil fürs Fixie. Matthias Zäh konstruierte für Fixievelos einen fahrbaren Untersatz.
36 Signaletik: Gut angeschrieben. Bringolf Irion Vögeli suchen die Handschrift der Architektur.
42 Architektur: Umbau am «Chnopf». Der Verkehrsprofessor zum Wachstum des Zürcher Hauptbahnhofs.
46 Architektur: Gleiten zum Brausen. Axel Simon berichtet über die neue Gestaltung am Rheinfall.
50 Architektur: Lage, Lage, Lage. Wie nachhaltig bauen die grossen Anleger?
54 Design vom Schrumpfen: Meret Ernst war im Vitra Museum. Ein Bericht übers Vereinfachen.
56 Landschaft: Film im grünen Bereich. Bei den Landschaftsarchitekten wird die Kamera immer wichtiger.

62 Leute
64 Siebensachen
66 Bücher
70 Fin de Chantier
76 Raumtraum

Gleiten zum Brausen

(SUBTITLE) Das Schloss Laufen, der Rheinfall und ein Lift: Ein sonderliches Trio in der Wunderlandschaft.

Schokolade, Kühe, Taschenmesser — im Souvenirshop wird schnell klar, dass man sich an einem der Hot-Spots des Schweizer Tourismus befindet: Schloss Laufen am Rheinfall. Das neue Besucherzentrum, in dem sich der Shop befindet, bemüht sich auch aussen eifrig um Swissness: Leicht verfremdete Schweizerkreuze perforieren seine rostige Schale, machen aus dem Haus mit altem Ziegeldach eine zeitgenössische «Box». Sie zeugt vom letzten Akt einer langen Geschichte. Schon im 16. Jahrhundert zog es die ersten Reisenden an den Rheinfall. Mitte des 19. Jahrhunderts kaufte ein Landschaftsmaler das Schloss, zu dessen Füssen die Wassermassen brausen. Er machte das Naturschauspiel fürs zahlende Publikum zugänglich und begründete damit den Massentourismus. Seitdem hat sich wenig verändert: Anreise per Reisebus, Hinabstiefeln in die Gischt, wieder hinauf, Souvenir, Reisebus, Tschüss.

Erster Wettbewerb

Der Hot-Spot kühlte in den letzten Jahren etwas ab. Die Besucherzahl schwand von rund 700 000 im Jahr 1966 auf unter 450 000. Und diejenigen, die kamen, liessen sich kaum mehr dazu bewegen, im Schloss zu speisen. Woher also sollte der Kanton Zürich, seit 1941 wieder Besitzer des Bauwerks, das Geld nehmen, um die dringenden Erneuerungen an Wegen und Bauten zu finanzieren? Der Ort musste attraktiver werden, sollte wieder mehr Menschen anlocken und sie vor allem dort länger verweilen lassen. Einen ersten Wettbewerb gewannen 2005 die Zürcher Architekten Leuppi  &  Schafroth: Die Erweiterung eines kleinen Personalhauses von 1960 zum Besucherzentrum mit Kasse, Imbiss, Shop, Toiletten und einem Saal.

Die Architekten verlängerten wie im Wettbewerb vorgeschlagen das Volumen des biederen Altbaus und umhüllten Alt wie Neu mit rostiger Stahlhaut. Vordächer am Kopf und zum seitlichen Vorplatz erscheinen wie hochgeklappt, lediglich ahnen lässt sich, was hinter den perforierten Blechen im Obergeschoss liegt: die aufgefrischte Fassade des Altbaus mit Lochfenstern und Klappläden sowie das verglaste Gesicht des «Rheinfallsaales». Der öffnet sich, schön und licht, bis unters Dach und wird von einem Strahlenkranz aus Schweizerkreuzen belichtet. Darüber raunt ein Filzbaldachin noch einmal: Swissness.

Zweiter Wettbewerb

Etwas mehr als ein Jahr nach dem ersten Studienauftrag folgte ein zweiter. Diesmal lud die kantonale Baudirektion vier Büros aus dem Bereich Ausstellung, Messedesign und Event ein, um ein «touristisches Inszenierungskonzept» für das Umfeld des Schlosses vorzuschlagen: Die Innen- und Aussenräume galt es zu bespielen, die Besucherströme zu lenken. Bellprat Associates gewannen mit farbig-lustvollen Bildern eines Abenteuerwegs vom Parkplatz zum Rheinfall: Vorbei am vor Ideen sprühenden Spielplatz «Sinnesgarten» und über den «Jahreszeitengarten» im Burggraben hinweg in den Schlosshof, durch ein neues Museum im Nordtrakt, über altem Weg und neuem Steg übers grausam wogende Wasser, wieder hinauf durch einen «Sinneswald» und durch einen Rolltreppentunnel zurück zum Schlosshof. Die Jury lobte die Dramaturgie dieser «Erweiterung des Live-Erlebnisses des Rheinfalls», räumte jedoch ein, das phantasievolle Konzept sei «vielerorts noch überinstrumentiert».

Die ausgeführte Schnittmenge

Dreieinhalb Jahr später lässt sich nun begutachten, was vom Konzept übrig blieb: Das «Historama» im Nordtrakt des Schlosses erzählt Geschichte und Geschichten: Wie in einer grossen Spieluhr erfährt der Besucher hier beispielsweise etwas zum Streit zwischen Industrievertretern, die den Rheinfall beseitigen wollten, und Naturbewunderern. Neu gesicherte Wege führen hinunter zu den traditionellen Aussichtspunkten «Belvedere» und «Känzeli». Über einen Holzsteg, der sich zackig um den Burgfelsen legt, gelangt man schliesslich zu einem frei stehenden Liftturm, schon im Wettbewerb als Alternative zu den Rolltreppen vorgeschlagen, der mit spektakulärer Aussicht zum Burghof hochsaust. Der Weg zum Rheinfall wurde so behindertengängig und zu einem Rundgang geschlossen.

Von einer grossartigen Inszenierung des «Live-Erlebnisses» ist heute — glücklicherweise — wenig zu spüren. Die Mittel sind klassischer, also räumlicher Art: Geht man entlang des geflickten Bruchsteinwegs, steuert der neu gepflanzte Hangbewuchs die Wahrnehmung des wogenden Naturschauspiels. Geäst legt sich dem Blick in den Weg oder gibt ihn an ausgewählten Punkten frei — ein vertikaler Landschaftsgarten, dessen Qualitäten nun wieder erkennbar sind.

Eichengeländer und Maschendraht geben neuen Halt auf diesem Gang in die brodelnde Tiefe. Tafeln mit Infos und alten Veduten begleiten ihn und lediglich ein paar Stahlgeräte, angetreten, «die Hörgewohnheiten zu verfremden», wirken reichlich hilflos gegenüber den brüllenden Wassermassen ein paar Meter tiefer. Die Exponate zeugen vom szenografischen Anspruch, der dem Naturschutz, vor allem aber dem knappen Budget zum Opfer gefallen ist — unerwartet teuer war die Sicherung des Felsens.

Die Reise in der dreiseitig verglasten Liftkabine macht aus der letzten Etappe des Wegs ein Erlebnis — sofern man auf der dem Rhein zugewandten Seite fährt und nicht mit Blick auf den Hang. Kein stolzes Ingenieurbauwerk haben sich die Gestalter vorgestellt, was auch die Denkmalpflege nicht erfreut hätte. An der Aussenseite eines massiven, aber zurückhaltenden Turms gleiten die beiden gläsernen Kabinen auf und ab — ein schmaler Betonsporn, der mit seiner graubraunen Schichtung das benachbarte Bruchsteinmauerwerk nachahmt. Auch ihn werden schon bald Moose und Flechten überwachsen.

Fragliche Zusammenhänge

Die Neuerungen rund um das Schloss Laufen rücken den Rheinfall wieder glücklich in den Fokus. Den Betrachter beschleicht jedoch ein mulmiges Gefühl. Was hat der Vorbereich des Besucherzentrums mit dem schön-schlichten Spielplatz am Schlossgraben zu tun? Was die Terrasse der neuen Erlebnisgastronomie mit dem sorgfältig rekonstruierten Schlosshof? Das «touristische Gesamtkonzept», wie der Kanton die zusammengewürfelten Ergebnisse beider Wettbewerbe nennt, verteilte die Zuständigkeiten: Die Architekten bauten das Besucherzentrum und fügten im Nordtrakt ein weiteres Treppenhaus ein, um ihn als «Historama» nutzbar zu machen.
Die Arbeit der Szenografen beschränkte sich nicht nur auf die Einrichtung des «Historamas», auf Exponate und Signaletik am Weg.

Sie entwarfen auch Lift und Steg und erneuerten die Wege. Für den abgespeckten Spielplatz, den Burghof und die Bepflanzung des Nordhangs zogen sie den Landschaftsarchitekten André Schmid bei.

Warum war ein solcher Spezialist bei den Wettbewerben nicht vorgeschrieben, obwohl der Ort ein Naturdenkmal von nationaler Bedeutung ist? Der Kanton begründet dies mit der intensiven Begleitung durch Denkmalpflege und Eidgenössischer Natur- und Heimatschutzkommission nach dem Wettbewerb. Fazit: Viele Hände waren hier am Werk. Eine gestalterisch steuernde Hand fehlte.

hochparterre, Mo., 2010.05.10

10. Mai 2010 Axel Simon

Fesselnde Fassade

Vor dieser Fassade bleibt die Betrachterin rätselnd stehen: Was ist so faszinierend? Nicht nur die Farben, sondern die Verkleidungselemente. Alle sind gleichen Ausmasses, eingespannt zwischen zwei Deckenstirnen, aber die einen lassen sich vor die Fenster schieben. Nur welche und wo verbergen sich Fenster? Ganz gleich in welcher Position die Läden stehen, das Gesamtbild stimmt immer. Es ist von grosser Raffinesse, wie die Architektin den Solitär verkleidete. Das siebengeschossige Gebäude liegt hinter dem Bahnhof Winterthur im Neuwiesenquartier. Es bildet zusammen mit dem U-förmigen Nachbarneubau einen Blockrand mit Innenhof. Die 41 Mietwohnungen gruppieren sich um einen Betonkern aus zwei Treppenhäusern und den Nassräumen. Andere Raumteilungen sind auf den Bodenbelag montiert. Jede Wohnung hat mindestens einen Balkon und alle haben Zutritt auf die Dachterrasse. Dort schufen die Planer mit wenig Einrichtung eine Idylle mit Sicht über die Stadt. Das Haus weist das von der Bauherrschaft geforderte Minergie-Eco-Zertifikat auf.

hochparterre, Mo., 2010.05.10

10. Mai 2010 Sue Lüthi

Markant rationell

Das Areal liegt in der Nähe der Place des Nations in Genf. Ein Quartierplan gab vor, was darauf zu bauen ist: drei Wohnhäuser. Auf dem obersten Grundstück baute eine Stiftung für günstigen Wohnraum ein Mehrfamilienhaus mit dreissig Wohnungen à 2 bis 4 Zimmern. Mit Ausnahme der übereck orientierten Wohnungen am Südwestkopf durchstossen die Wohneinheiten das ganze Gebäude.

Die Grundrisse sind rationell organisiert, rationell ist auch die Fassade gestaltet: Es gibt zwei Fenstertypen und — mit Ausnahme der Ecken — ein Fassadenelement. Helle Betonstreifen markieren die Deckenstirnen, darauf stehen die braun eingefärbten, tragenden Betonelemente. Eine Schutzschicht verleiht ihnen einen seidenen Glanz und holt die Unregelmässigkeiten der Oberfläche hervor. Jede Wohnung hat einen grossen Balkon, deren gelbe und grüne Glasbrüstungen ein farbliches Spiel erzeugen. Das von den Architekten angedachte Wegnetz über das ganze Quartierplanareal liess sich leider nicht realisieren.

hochparterre, Mo., 2010.05.10

10. Mai 2010 Werner Huber

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