Editorial
»Der Städter, der Straße und Platz aufsucht, um in ein Publikum einzutauchen als Beobachter, Zuschauer, Flaneur, aber auch als Akteur oder Informant, erwartet nicht Zweckmäßigkeit, sondern Atmosphäre oder sogar Emotion.« – Der Beobachtung des Architekten und Stadtplaners Andreas Feldtkeller folgend, haben wir innerstädtische Plätze und Freiräume europäischer Städte ausgewählt, die einen prägnanten Akzent setzen, mehr oder weniger konkrete Nutzungsangebote machen und dabei flexibel bespielbar bleiben oder einfach »nur« Raum zur Verfügung stellen.
Außenräume, die – wie der abgebildete »Platz der schiefen Bäume« in Antwerpen vom Büro West 8 urban design & landscape architecture – keinen Namen brauchen, um jedem im Gedächtnis zu bleiben; städtische Plätze, die (zumeist) eine gelungene Neuinterpretation erfahren haben und sich nun im Alltag bewähren müssen. | uk
Rahmen-Werk
(SUBTITLE) Stadtpodium Grotekerkplein in Rotterdam (NL)
Bühne, Stadtmöbel, Pavillon, gebaute Platzkante, monumentales Fenster, Lichtinstallation – das »stadspodium« des Rotterdamer Atelier Kempe Thill bietet als raumschließende Großform viele Funktionen. Eine Bürgerstiftung ermöglichte den Bau, der seit 2009 intensiv genutzt wird und erfolgreich zur Reaktivierung eines vernachlässigten Stadtplatzes beigetragen hat.
»Hoor hier bonkt het nieuwe hart van Rotterdam.« Der komplett eingerüstete Kirchturm der Sint Laurenskerk ist mit einem Megaposter verkleidet: »Hör' hin, hier schlägt das neue Herz von Rotterdam.« Die spätgotische Hallenkirche ist einer der wenigen historischen Bauten der Stadt, der, schwer beschädigt, den verheerenden deutschen Luftangriff vom Mai 1940 und den späteren Wiederaufbau überstanden hat. Auf den freigeräumten Flächen rund um die Kirche entstand in der Nachkriegszeit eine vollkommen neue Stadtstruktur, die mit niedrigen Ladenzeilen und Fußgängerzonen den damaligen städtebaulichen Leitbildern folgte. Der jetzige Grotekerkplein war einst ein dicht bebautes mittelalterliches Viertel. Heute rahmt eine heterogene Randbebauung mit vier- bis elfgeschossigen Häusern den in der Wiederaufbauperiode neu geschaffenen Platz. Die Westseite wird vom Delfsevaart-Kanal begrenzt, an dem die Schornsteine eines angrenzenden Industriebetriebs weiße Dampfwolken in den Himmel blasen.
Ein Geschenk für die Stadt
2004 ergriff der Rotterdamer Rotary-Club, der damals ein Jubiläum feierte, die Initiative zur Reaktivierung des vernachlässigten Stadtplatzes. Die erste Idee bestand darin, einen Musikpavillon zu stiften, der die wenig genutzte Fläche zwischen zwei Einkaufsstraßen beleben sollte. Aus einem kurzfristig organisierten Wettbewerb, der sich bewusst an junge Rotterdamer Architekturbüros wandte, ging das Atelier Kempe Thill als Sieger hervor.
»Einen Platz mittels Veranstaltungen zu beleben, funktioniert immer«, erklärt Büropartner Oliver Thill die realisierte Entwurfsidee. »Uns ging es darüber hinaus darum, durch das zusätzliche Volumen einen stadträumlichen Abschluss zu schaffen.« Wo der Grotekerkplein an den Kanal grenzt, rahmt das »stadspodium« heute den Blick auf die gegenüberliegende Seite, ohne den Ausblick auf die nüchterne Rückfront einer sechsgeschossigen Zeilenbebauung auf der anderen Seite zu verstellen. Das offene Bauwerk funktioniert von beiden Seiten wie ein überdimensionales Fenster oder ein Filter, der zwischen Platz und Wasser gekonnt vermittelt und die Grenze zwischen den unterschiedlichen Räumen akzentuiert.
Das Podium besteht aus einer 40 m langen, 50 cm hohen Sichtbetonplattform. Auf den beiden Enden dieses 5 m breiten Sockels »sitzen« zwei mit Metallgeflecht verkleidete Würfel, die alle Funktionen aufnehmen, die zum Bespielen des Bauwerks notwendig sind. Das zwischen diesen Kuben über 30 m frei tragende Dach hat genau die gleiche Dicke wie die Plattform. Es besteht aus einer vorgespannten, leicht gewölbten Betonschale. Die Stichhöhe beträgt nur 15 cm.
Da das Bauwerk auch von den Fenstern der hohen Gebäude am Rande des Platzes aus makellos erscheinen sollte, wurde sein Dach zu einer fünften Fassade. Der Beton wurde geschliffen, poliert und so geformt, dass im Zusammenwirken mit der flachen Krümmung die Entwässerung über die beiden Eck-Kuben erfolgen kann. Die polierte Oberfläche benötigt keine zusätzliche Folie als wasserführende Schicht.
Entscheidend ist der Vorhang
Dass die Komposition aus geometrischen Grundformen auch etwas Monumentales ausstrahlt, erfährt, wer vor den 5 m hohen, metallverkleideten Türen der Eck-Würfel steht, die auch einem Kirchenportal zur Ehre gereichen würden. Der nördliche Kubus beherbergt Umkleideräume, eine Toilette und Lagerräume. Der südliche Kubus nimmt einen 70 m langen textilen Vorhang auf, der über Schienen im Dach um die ganze Spielfläche herumgeführt werden kann. Durch dieses Element lässt sich das Bauwerk zu verschiedenen Seiten hin öffnen oder schließen, die Breite der Bühne regulieren oder die Spielfläche in einen introvertierten Raum verwandeln.
Genutzt wird das Podium seit seiner Einweihung im April 2009 von einer Bürgerstiftung, die von Mai bis September teilweise mehrfach wöchentlich Konzerte, Schauspiel oder Tanzveranstaltungen organisiert. In der ersten Spielzeit haben die Künstler – Laiengruppen wie Profis – die Möglichkeiten des Vorhangs intensiv genutzt. Das textile Material strahlt nicht nur durch seine Assoziation zur Theaterbühne eine faszinierende Wirkung aus. Im Spiel von Sonne, Schatten und Wind verwandelt sich die Open-Air-Bühne in ein bewegtes Kunstwerk. Da Vandalismus in Rotterdam wie in allen Großstädten ein Problem darstellt, wird der Vorhang allerdings nur während der Aufführungszeiten hervorgeholt. Auch bei der Planung der übrigen Bauteile mussten die besonderen Beanspruchungen einer Nutzung im öffentlichen Raum bedacht werden. Das robuste Edelstahlgeflecht, das die Würfel umkleidet, bietet wenig Anreiz zum Anbringen von Graffiti. Der Sichtbeton wurde mit einer speziellen Beschichtung vor Verschmutzungen geschützt. Die Spuren von Skateboards und BMX-Rädern auf der Bühne zeigen trotz dieser Vorkehrungen, dass das Podium auch außerhalb der organisierten Vorführungen intensiv in Anspruch genommen wird.
Mit der Errichtung des Pavillons wurde auch der öffentliche Raum um die Sint Laurenskerk neu gestaltet. Entwurf und Ausführung übernahm die Gemeinde Rotterdam, während Kempe Thill als Berater fungierten. Die städtischen Planer verwendeten als Pflasterung den gleichen Backstein und die gleichen Stadtmöbel, die überall in Rotterdam Verwendung finden, so dass der Platzgestaltung eine unauffällige Selbstverständlichkeit eigen ist. Ein wesentliches Anliegen war, die Platzmitte und das Umfeld der Bühne von Straßenlaternen und Installationen frei zu halten. Um den Platz trotzdem ausreichend ausleuchten zu können, wurde ein 15 m hoher Mast installiert, der die Platzmitte mit Scheinwerfern beleuchtet. Auf der Westseite am Kanal fungiert das stadspodium selbst als Straßenbeleuchtung. Strahler sind in die Decke des Podiums integriert und hinter dem Metallgewebe der beiden Eckwürfel Neonleuchten angebracht, die für ausreichendes Licht sorgen und das Gebäude in den Abendstunden in eine Lichtskulptur verwandeln.
Dem Bühnenpavillon gelingt es erfolgreich, in einem extrem heterogenen Umfeld als gestalterische Klammer zu wirken. Dies hat entscheidend mit Dimensionen und Materialität des Bauwerks zu tun. Die zurückgenommene Farbigkeit – der Beton ist mit einem Titanoxid-Zuschlag versehen, der über die Jahre immer weißer wird – korrespondiert mit einem Umfeld, als deren einziges gemeinsames Merkmal eine karge, moderne Nüchternheit auszumachen ist. Auch die große Dimension ist Vorbedingung, um überhaupt Wirkung in einem Umfeld ausüben zu können, das durch das Nebeneinander großer Volumen bestimmt ist. Als Veranstaltungsplattform bietet das Podium weit mehr Raum als erforderlich.
Die Mehrdeutigkeit und »Neutralität« der Großform lädt zur Aneignung durch unterschiedliche Nutzungen ein. Sie bietet einen Rahmen, der auch den alltäglichen Besucher erheben und in eine aktive Position bringen möchte. Die Büropartner Andre Kempe und Oliver Thill, die über Dresden und Tokio ihren Weg nach Rotterdam fanden, fühlen sich als »Schinkel-Fans« in diesem Umgang mit großen Proportionen einer langen Tradition verpflichtet: »Öffnung, Vorhang und Rahmen sind letztlich klassische Themen der Architektur.«db, Mi., 2010.03.03
03. März 2010 Karl R. Kegler
verknüpfte Bauwerke
Theaterpodium Grotekerkplein
Zimmer mit Zeichen
(SUBTITLE) »Lesezeichen und Stadtregal Salbke« in Magdeburg
»Wie ein Spielzeug, von dem man noch nicht weiß, was man alles damit machen kann« – äußern sich die Bürger im Magdeburger Stadtteil Salbke über ihre erfrischend pfiffige Außenraumgestaltung inklusive einer Freiluftbibliothek als Dependance zur »Festbibliothek«. Die Aussage passt zu der experimentellen Stadtmöblierung, die viele Funktionen aufzunehmen vermag und bei deren Gestaltung die Bürger in hohem Maße mit einbezogen wurden. Ein vielversprechendes, wegweisendes Projekt mit ungewöhnlichen Materialien und Kontrasten.
Zugegeben: Von einer Freiluftbibliothek zu sprechen, scheint übertrieben. Zumindest weckt der Begriff Assoziationen, die sich sowohl im Magdeburger Stadtteil Salbke als auch aufgrund des (qualitativen) Bücherangebots wohl kaum halten lassen. Geisterstadtartig wirkt die Umgebung um das als »Lesezeichen für Salbke« bezeichnete Projekt, das aber tatsächlich ein Signet ist. Zeichenhaft ist die Außenraumgestaltung allein schon aufgrund der großen Raumstruktur, die zum Blickfang wird: ungewöhnlich, irritierend, neugierig machend, wohltuend unkonventionell und radikal – gerade an diesem Ort, der Zeiten jahrelangen Einwohnerrückgangs hinter sich hat. Das Projekt ist also auch ein Zeichen der Hoffnung, ein Versuch des Zusammenhalts, ein Symbol für Vertrauen in das Engagement der Bürger und für sinnstiftende und gelungene Bürgerbeteiligungen. Als neues »Village Icon«, so die Architekten, soll es den Aufbruch des Stadtteils nach Jahren starker demografischer Schrumpfung signalisieren. Um die hohe Symbolkraft zu verstehen, lohnt ein Blick in die Entstehungsgeschichte.
Zeiten des Umschwungs – Zeichen des Aufschwungs?
Salbke bis Mitte der 70er Jahre: Eine Stadtteil-Bibliothek von Magdeburg steht auf dem Grundstück zwischen der Straße Alt Salbke und Blumen-berger Straße, sie brennt um 1980 aus, fünf Jahre später wird der Bau ab-gerissen. Salbke bis Anfang der 90er Jahre: Noch reihen sich viele kleine Geschäfte wie etwa eine Bäckerei und Fleischerei, ein Café, Foto- und Lebensmittelladen entlang der Straße. Salbke zehn Jahre später: Leerstand ringsum, gespenstische Öde, Bretterverschläge, leere Schaufenster. Parallel zum Einwohnerrückgang haben auch die Geschäfte dicht gemacht. Doch dann beschäftigen sich die Büros »Architektur+Netzwerk« aus Magdeburg und KARO (Kommunikation, Architektur, Raumordnung) im Rahmen eines ursprünglich geplanten IBA-Projekts, das die Neugestaltung diverser Brachflächen vorsah, mit dem Grundstück und dem Ort. KARO, ein vor elf Jahren in Leipzig aus zwei Architekten und einem Maschinenbauer/Innenarchitekten entstandenes Team, ist gleichzeitig Gründungsmitglied von »L21« – einer Gruppe von (Leipziger) Architekten, die sich mit urbanen Transformationsprozessen befasst. Man ahnt also schon: Frischer Wind kam auf. Zur Elbe hin war ein »Wasserzeichen« erdacht, in der Ortsmitte von Salbke ein »Lesezeichen«. Aus dem IBA-Projekt wurde nichts, wohl aber aus der Idee, das Lesezeichen an die Stelle der abgebrannten Bibliothek zu setzen.
Geglücktes Brainstorming
Eine Ausschreibung des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung zur Suche nach Modellvorhaben führte dazu, dass die Abteilung Experimenteller Städte- und Wohnungsbau das Projekt mit seiner finanziellen Unterstützung überhaupt erst möglich machte. Und um, so Stefan Rettich von KARO, von Anfang an bei den Einwohnern Signale zu setzen, dass wirklich die ernsthafte Absicht bestand, etwas zu bewegen, wurde ein Workshop ins Leben gerufen. Die Vorschläge bei der Ideensammlung gingen bis hin zu übereinandergestapelten Telefonzellen, in denen man bei Regen sitzen und lesen könne. Und führten zu einem »grünen Wohnzimmer«, das geschützt vor Straßenlärm eine Ruhezone im Stadtteil bieten soll. Ein aus dem Workshop hervorgegangenes Team – u. a. mit Mitgliedern des Bürgervereins, Musikern aus einem Jugendclub, der Grundschul-Direktorin und dem Pfarrer – war schließlich erheblich in den Planungsprozess integriert. Zunächst entstand 2005 eine eintägige Installation mit gestapelten Bierkästen, die das spätere Volumen bereits andeutete.
Hortenkacheln mit Zulassung im Einzelfall
Erst vier Jahre danach, im Juni 2009, war Einweihung des neuen Stadtmöbels mit einer zur Hauptstraße hin eigentümlichen Fassade. Wer eine der historischen Horten-Warenhausfassaden aus den 60er Jahren kennt, fühlt sich gleich erinnert: Das prägnante Erscheinungsbild stammt tatsächlich aus sogenannten Hortenkacheln – jenen Fassadenelementen aus Aluminium (selten auch aus Keramik-Formteilen), die, zahlreich aneinander gereiht, noch heute in ihrer modernistischen Ornamentik rund 300 Kaufhausfassaden zieren. Aus solch einer, genauer von einem 2007 in Hamm abgerissenen Bauwerk, stammen auch die hier verwendeten Recyclingmaterialien. Für sie lag allerdings keine Bauteilzertifizierung vor. Die daher notwendige Materialprüfung ergab, dass die Alu-Formteile mitsamt ihrer Unterkonstruktion und ohne weitere Verstärkungen eingebaut werden konnten. Nur mussten sie aufgrund von Auskreidungen entlackt und mit einer neuen Pulverbeschichtung versehen werden. Die alte Fassade ist nun an Fuß- und Kopfpunkt über Stahllaschen an ihrem neuen Stahltragwerk befestigt, die den kleinen Platz zur Hauptstraße hin L-förmig abschottet.
Bemerkenswert offen
Nach außen sind in die Kachelfassade Schaukästen für Vereinsinformationen integriert. Zum Platz hin mit seiner Sitzinsel, der Rasenfläche und den zwei noch kleinen Bäumchen (schmalblättrige »Raywood«-Eschen) ist das Erscheinungsbild der Fassade mit vertikalen Lärchenholzlatten hingegen »weich«. An dieser Seite umfasst das Stadtmöbel eine 30 m lange Sitzbank und eine kleine Bühne, die für diverse Veranstaltungen genutzt werden kann. Gleichzeitig beherbergt der Wandaufbau zwei »Leseinseln« mit je einer Öffnung aus grün gefärbtem Verbundsicherheitsglas und 13 unverschlossene gläserne Büchervitrinen in einem Aluminiumrahmen, deren Inhalts sich jeder Besucher bedienen kann – ohne Bibliothekar, ohne Leihnummer, ohne Leihfrist – Vertrauensbasis. Gesammelt hat der Bürgerverein inzwischen ohnehin so viele Bücher, dass man nicht mal unbedingt aufs Zurückbringen angewiesen ist.
Doch den immensen Wohnungsleerstand zumindest entlang der Hauptverkehrsstraße und Trambahnstrecke spürt man spätestens bei Anbruch der Dunkelheit. (Zu) wenige Lichter dringen aus den umliegenden Häusern, und als hätte das Lesezeichen ebenso »aufgegeben«, wird es bei Dunkelheit in seiner ursprünglich geplanten Art nur noch bei besonderen Anlässen beleuchtet. Der Grund dafür ist allerdings ein einfacher: Obwohl das derzeit energieeffizienteste Leuchtmittel eingesetzt wurde – LEDs, die das Bauwerk von innen heraus zum Leuchten bringen sowie Bewegungsmelder, die verschiedene Lichtszenen abspielen –, verbraucht der zugehörige Industrierechner zur Steuerung unverhältnismäßig viel Strom – und dessen Kosten trägt laut Nutzungsvereinbarung mit der Stadt der Bürgerverein. So hat man sich kurz vor Weihnachten zumindest für nachträglich installierte Lichterketten als Grundbeleuchtung des großen »Ls« (in der Queransicht) entschieden, die nicht mit dem Steuerungsrechner verbunden sind.
Ein weiterer Wermutstropfen ist der südliche Bereich des Platzes. Ein geplanter Baumhain wurde aufgrund von Kostensteigerungen um etwa 25 000 Euro (v. a. wegen des erhöhten Stahlpreises) und den daher in anderen Bereichen notwendigen Kosteneinsparungen nicht realisiert. Die Süd-West-Seite fällt so gestalterisch etwas ab, zwei Glascontainer bilden das optische Ende. Dem Gesamtkonzept aber schadet das nicht.
Bühne frei!
Zumal der neue Außenraum gut ankommt: »Vorher war hier nichts, nur Gestrüpp«, konstatiert eine Einwohnerin, »die haben sich schon was einfallen lassen!« Und fügt hinzu, dass das »Lesezeichen« dennoch überwiegend von Jugendlichen genutzt wird. Lesen könne sie schließlich auch zuhause auf dem Hof. Man mag ihr unvermittelt Recht geben, schließlich kann man sich tatsächlich ruhigere Orte zur Lektüre vorstellen. Die Art der aktuellen Nutzung verraten die ersten Kritzeleien auf den Holz- und Glasflächen und herumliegende Kekse einschließlich einer noch nicht leeren Verpackung – in einer der Büchervitrinen, wohlbemerkt. »Das hier überhaupt noch Bücher stehen!«, erstaunt eine Besucherin, die die neue Ortsmitte zum ersten Mal sieht. Doch bislang gab es erst einen »richtigen« Vandalismusschaden vergangenen Dezember, der eine demolierte, inzwischen aber schon wieder neue Glasscheibe bedingte. Einer weiteren »Inbesitznahme«, zumindest durch ungewollte Graffitis, wurde bereits vorgebeugt: Die Sockelbereiche des Stadtmöbels aus Stahlbeton-Fertigteilen durften Sprayer selbst gestalten – eine, wie sich bei immer mehr Projekten zeigt, wirkungsvolle Maßnahme. Dafür wurde ein Wettbewerb unter allen Jugendlichen aus Magdeburg veranstaltet, die ihre »tag«-Entwürfe – einzige Vorgabe: in weiß, schwarz und chrom – einreichen konnten.
Das Gelingen und Bestehen des Experiments »Lesezeichen und Stadtregal« wird sich erst nach Jahren abzeichnen. Aber schon jetzt ist klar: Eine derart ambitionierte Idee ist mit Wunschdenken verbunden. Und wenn auch mehr Grünanlage und Platzgestaltung als ernsthafte Büchereinutzung, ist es neben der Signalwirkung ein famoses Angebot an die Bürger, schließlich steht die Bühne jedem offen – auch der Stadt Magdeburg, die sie laut Bürgerverein bislang noch nicht zu Nutzen versteht. Für den Stadtteil Salbke zeigt sich aber bereits der Nutzen über das zuvor Beschriebene hinausgehend: die Aufwertung des Viertels, die den Immobilien ringsum wieder etwas mehr Attraktivität verleihen und zu Sanierungen führen könnten.db, Mi., 2010.03.03
03. März 2010 Christine Fritzenwallner
Eine Insel um den Ozean
(SUBTITLE) Plaza de España in Santa Cruz auf Teneriffa (E)
Durch das große runde Meerwasserbecken auf der Plaza de España in Santa Cruz de Tenerife wird symbolhaft die Verbindung der Stadt zum Meer geschaffen. Der Platz, der sich wie ein Querschnitt durch die Vegetation und Tektonik der Insel liest, ist binnen kurzer Zeit zum beliebten Treffpunkt der Bewohner geworden. Ob flanieren, sonnen, lesen, spielen, schwatzen oder skaten – alles ist hier möglich.
Sonnenschein und unbeschwertes Strandleben am tief blauen, stets angenehm warmen Atlantik – Sommer ein ganzes Jahr lang: Teneriffa ist für viele der Inbegriff von Urlaub und wohl kaum jemand würde die kanarische Insel auf Anhieb mit anspruchsvoller Architektur oder Außenraumgestaltung in Verbindung bringen. Doch so unterschiedlich die Vegetation von Nord nach Süd ist, so unterschiedlich ist zum Glück – zumindest teilweise – auch die Bebauung. Während der karge, wasserarme und sonnenverwöhnte Inselsüden vom Massentourismus mit all seinen unangenehmen Begleiterscheinungen schwer gezeichnet ist und sich die aneinandergereihten Hotelanlagen an Belanglosigkeit gegenseitig überbieten, finden sich auf der wasser- und vegetationsreicheren Nordseite noch ruhigere Orte. Auch viele der Hotels haben hier ein etwas anderes Gesicht, so z. B. einige fein gegliederte, relativ gut erhaltene Hotelhochhäuser aus den 60er Jahren in Puerto de la Cruz.
Architektonische Zeichen in der Hauptstadt
In der im Nord-Osten gelegenen Hafenstadt Santa Cruz spürt man vom Tourismus nur wenig. Ihre wirtschaftliche Bedeutung verdankt die Stadt dem konsequenten Ausbau des Hafens seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Zusammen mit Las Palmas auf Gran Canaria teilt sie sich abwechselnd die Hauptstadtfunktion der autonomen spanischen Provinz Canarias. Der Mix aus Kolonialbauten, Ensembles des Jugendstils, des Art déco und der Moderne, durchsetzt mit durchaus brachial zu nennenden Spekulationsbauten, machen Santa Cruz erfreulich »normal«. Doch besteht, wie so oft, ein entscheidendes Defizit der Stadt darin, dass sie durch eine mehrspurige Hauptstraße sowie vorgelagerte Industrie- und Hafenareale vom Meer abgeschnitten ist. Die Stadtverwaltung hat dieses Manko zwar erkannt, von dem umfassenden, seit 1998 u. a. von Herzog & de Meuron entwickelten Konzept, wie die Stadt sich zum Meer hin öffnen ließe, wurde bislang allerdings nur ein erster, wenn auch wichtiger und überaus gelungener Teil umgesetzt. Dabei handelt es sich um die Neugestaltung der Plaza de España, dem wichtigsten Platz von Santa Cruz. Ehemals verkehrsumtost und vom klobigen »Monumento de los Caidos« der Franco-Ära unangenehm dominiert, ist nach der Umgestaltung ein urbaner Ort mit hoher Aufenthaltsqualität entstanden. Ein Platz, der unterschiedliche Angebote macht und sowohl neuer touristischer Anziehungspunkt als auch Identifikations- und Treffpunkt für die Bewohner geworden ist. Das monströse Denkmal wurde zwar erhalten, bildet aber nicht mehr den Platzmittelpunkt, sondern liegt etwas abseits im westlichen Teil.
Wie ein kleiner Ozean
Neuer Mittelpunkt und wesentliches Gestaltungselement dieses, am Rande der Innenstadt gelegenen Platzes, ist ein kreisrundes, bis zu einem Meter tiefes, im Durchmesser knapp 80 m messendes Meerwasserbecken. Die abschließend polierte Oberfläche des Beckens besteht aus weißem, Kunstharz gebundenen Marmorkies. Der Verlauf der Festungsmauern des unter dem Wasserbecken in Teilen erhaltenen »Castillo de San Cristóbal« ist als schwarze Linie markiert. Über einen etwas lieblos gestalteten Ab- und Zugang steigt man zu den Überresten der wehrhaften Mauern hinunter, eine kleine Ausstellung informiert über die Geschichte des Castillos und die Stadtbefestigung Santa Cruz’. Aus verschieden hohen Metallrohren schießt vier Mal täglich aus dem Wasserbecken für einige Minuten eine Fontäne empor und zeigt den Wechsel der Gezeiten an; analog zu den Gezeiten ändert sich auch die Höhe des Wasserspiegels. Da das Wasser aber nie bis ganz an den Beckenrand heranreicht, kann man im Becken immer sowohl am Wasser entlang als auch im Wasser gehen – ganz wie am Strand! Den Abschluss des Beckens bildet ein wulstartiger Rand, der unterschiedlich tief in den umgebenden Asphalt eingebettet ist, so dass sich verschiedene Sitzhöhen ergeben. Der glatte, fast schwarze Asphalt mit weißer Marmorkies-Beimischung umfließt das Becken und »ergießt« sich über die Platzfläche. Er erinnert an Lavaströme und an vulkanische Gesteinsformationen der Insel.
Querschnitt durch die Insel-Vegetation
Rund um das Wasserbecken lenken drei größere Pavillons und mehrere kleine »Verkehrsbauten«, die u. a. die Abgänge zur Tiefgarage markieren, die Aufmerksamkeit auf sich. – Keine Architekturen im eigentlichen Sinne, sondern asymmetrische Pavillon-Skulpturen, gebildet aus schrägen Ebenen, die sich aus dem Asphalt herausschieben bzw. in der Platzkruste einnisten und mehr oder minder entfernte Verwandtschaft zu Naturformen haben, ohne diese nachzuahmen. Ihre schroffen Oberflächen werden aus schwarz besprühtem Spritzbeton mit dunklen Zuschlagstoffen gebildet. Sie nehmen Motive wie Eruption und Erosion auf, die die bizarre Formenwelt der Kanarischen Inseln prägen. Doch auch die reiche und sehr unterschiedliche Vegetation Teneriffas wird zum Thema: Der französische Botaniker und Gartenkünstler Patrick Blanc verwandelte die Dachflächen in wild blühende Gärten bzw. in karge Kakteenlandschaften. Die unterschiedlich großen, locker über den Platz verteilten Baumscheiben komplettieren den Querschnitt durch die Insel-Vegetation: Jeweils ein Baum oder Strauch wird pro Scheibe gelungen in Szene gesetzt.
Die Transformation des schwarzen Lavagesteins in schwarzen Spritzbeton mag vom Konzept her zwar reizvoll erscheinen, überzeugt vor Ort allerdings nur bedingt, zumal der Beton bereits unschöne Alterungsspuren zeigt. Auch werden die Pavillons nur während der Hochsaison als Touristeninformation und zum Verkauf von Kunsthandwerk genutzt und geben in der übrigen Zeit des Jahres beim Näherkommen ein leicht verwahrlostes Bild ab. Dennoch atmet das Gesamtkonzept etwas vom Geist des kanarischen Künstlers und Architekten César Manrique, der stets im Einklang mit der Natur entwarf.
Belebt, bei Tag und bei Nacht
Am Abend wird der Platz durch hunderte von »Lampions« erleuchtet. Das Licht kommt von speziell für den Ort entworfenen, unterschiedlich großen, gläsernen Leuchtkörpern, die an Seifenblasen erinnern und den Platz wie Lichterketten überspannen. Die relativ hellen Leuchten tauchen die Plaza, die selbst im Januar am Abend fast noch belebter ist als am Tag, zusammen mit unter Wasser Strahlern in ein sehr angenehmes Licht und verleihen ihr eine rustikal festliche, leicht märchenhafte Atmosphäre.
Tagsüber und auch am Abend nimmt der Platz bereits jetzt eine wichtige Gelenk- und Mittlerfunktion zwischen Stadt und Hafen wahr. Durch das große (Meer)wasserbecken am Rande der Innenstadt als Verbindungselement zwischen Stadt und Meer, rückt das Wasser endlich zumindest symbolisch wieder an die Stadt heran und wird von ihr umschlossen. Wünschenswert wäre natürlich dennoch, dass die weitreichenden Pläne, die das Meer für die Stadt wieder erlebbar und nutzbar machen sollen, in den nächsten Jahren peu à peu umgesetzt werden. Derzeit liegen sie leider erst einmal auf Eis, so dass die Plaza de España wie ein schöner Torso und Vorbote auf weitere architektonische Interventionen am Rande der Innenstadt strahlt.db, Mi., 2010.03.03
03. März 2010 Ulrike Kunkel