Editorial

Die Geschichte der Zukunft der Stadt

Ein Heft über die Geschichte der Zukunft der Stadt? Klingt vermessen. Ja geradezu abwegig scheint es zunächst, sich angesichts der Herausforderungen des postfossilen Zeitalters und der sozialen Implikationen des Klimawandels mit Konzepten von Gestern zu beschäftigen. Zumal einer der Merksätze unserer abgeklärten Zeit da lautet: Nichts ist älter als die Zukunft von Gestern. Wir meinen jedoch, dass es sich lohnt, auf dem Weg in die Zukunft einen Umweg zu machen. Wir behaupten, dass viele der zeitgenössischen Zukunftsszenarien für die nachfossile Stadt in den Utopien der Moderne angelegt sind. Und wir glauben: Visionen sind Optionen für die Zukunft. Aber Visionen sind auch Optionen auf die Zukunft.

„Imagination Becomes Reality“

Die beiden Bedeutungsebenen des Begriffs Option, einerseits als Wahlmöglichkeit und andererseits als Zugriffsrecht auf etwas Zukünftiges, stecken die Bandbreite der Argumentation des Heftes ab. Angesichts des grundlegenden Wandels, der mit der drohenden Klimakatastrophe der Menschheit ins Haus steht, und der Unfähigkeit der Politik bei der Findung von Lösungen mitzuwirken (siehe das spektakuläre Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen), ist ein Denken in Alternativen wichtiger als je zuvor. Alternativen im Sinne von Möglichkeitsräumen, von Imagination, von Was-wäre-wenn-Fragen, nicht im Sinne einer reduktionistischen Entweder-oder-Entscheidung nach dem Motto: entweder wir halten die Zwei-Grad-Grenze ein oder alles ist verloren. Denn, wie Bruno Latour es in seinem Grundsatzartikel „Modernisierung oder Ökologisierung?“ zur Zukunft der Politischen Ökologie zuspitzt: „Man muss eine Prise Ungewissheit in die Politik einführen, um sie aus der Lethargie zu wecken“. Schließlich sei „ein absolutes und unumkehrbares Wissen, wie nur ein Experte es haben kann“ gerade in der Ökologie wertlos.

Latours anregende Beiträge in dieser Ausgabe beschäftigen sich nicht im strengeren Sinne mit Architektur oder Stadt, sondern mit einer neuen Vorstellung von Politik. Er entwickelt den Gedanken, dass wir das nüchterne Vertrauen in die sogenannten harten Fakten – im politischen Jargon „Realpolitik“ genannt – durch eine „neue Politik der Dinge und für die Menschen“, kurz „Dingpolitik“, ersetzen müssen. Eine Politik also, die Tatsachen nicht als einfache, eindeutige Wahrheiten, sondern als komplexe Dinge betrachten würde, als Ansammlungen von Bedeutungen, Auffassungen, Theorien und Handlungen, die die Fähigkeit besitzen, gemeinsame Grundlagen für scheinbar unabwendbare Entscheidungen zu bilden. Latour spielt mit der etymologischen Bedeutung des Wortes Ding, das in seiner germanischen Wurzel Thing eine politische Versammlung bezeichnet. In dieser Versammlung der Dinge sind dann sowohl menschliche als auch nicht-menschliche „Delegierte“ vertreten, die Interessen verhandeln, also Politik im Sinne von Gesellschaftlichkeit betreiben.

So betrachtet sind die hier versammelten Projekte und Referenzen nicht, wie Latour sie nennen würde, als „Tatbestände“, als matters of fact aufzufassen, sondern als „Interessenlagen“, matters of concern. Mit dieser methodologischen Unterscheidung können wir endlich aufhören, mit verächtlichem Gestus pauschal das Scheitern von Utopien und Visionen zu verkünden und uns wieder dem zuwenden, wofür diese Dinge eingetreten sind, welche Interessen sie verfolgt, welche Option sie angeboten haben, die wir aufgreifen und weiterdenken können. Wenn wir die Geschichte der Zukunft der Stadt als „ein kollektives Experimentieren im Hinblick auf die möglichen Zusammenhänge zwischen Dingen und Menschen“ (Latour) verstehen, eröffnet sie uns wieder ein Zugriffsrecht auf die Gestaltung der Zukunft, auch wenn viele Konzepte, wie die Liste der Referenzprojekte in diesem Heft zeigt, zunächst in den Schubladen verschwinden oder als großes „Scheitern“ in die Geschichte eingehen werden.

Für das Heft und die Ausstellung, die wir für die Galerie des Instituts für Auslandsbeziehungen kuratiert haben, haben wir konkret drei Geschichten von der Zukunft der Stadt herausgegriffen:

Die Geschichte der Großstadt

Die Großstadt bildet den Typ von Verstädterung der Umwelt, der heute zum globalen Normalfall geworden ist, und der auf der grundsätzlichen Künstlichkeit der „Lebenserhaltungssysteme“ beruht, beginnend mit der Ville Radieuse von Corbusier (1935), über Die Stadt von Morgen der 1960er Jahre bis zu den heutigen Megastädten. Vom Wasser über die Luft bis zum Licht werden die natürlichen Lebensgrundlagen durch die Kanalisierung der Wasserversorgung, die Klimatisierung der Lüftung und die Elektrifizierung der Beleuchtung ersetzt. Die Stadt nähert sich dadurch ihrem heutigen Idealbild an, ein künstlicher Garten Eden, der überall auf der Welt den jeweiligen Bewohnern die gleichen paradiesischen Lebensbedingungen garantiert, gleichgültig ob man sich in Paris, Moskau oder Schanghai aufhält – wenn man nicht zu den Abermillionen gehört, die in den Slums der Megacities ihr Dasein fristen (siehe den Beitrag von Mike Davis). Als well-tempered environment (Reyner Banham) wird die Stadt zu einem anschaulichen Kapitel in der Bedienungsanleitung des Raumschiffs Erde (Buckminster Fuller).

Die Geschichte des modernen Hauses

Das moderne Haus kulminiert im Typ des autonomen Hauses, von dem man in den 1960er Jahren treffend sprach. Gemeint ist damit der Versuch, die „Lebenserhaltungssysteme“ umwelt-autark zu organisieren – das Haus soll eine Mischung aus Reaktor und Wiederaufbereitungsanlage von Wasser, Luft etc. sein. Diese Tendenz zur Autarkie setzt früh mit den ersten Versuchen des neuen Bauens, noch in Mitteleuropa, ein und setzt sich dann mit dem International Style (1932) fort. Ihren Höhepunkt erreicht sie nach dem Krieg mit dem Hochhaus, das nicht nur zum weltweiten Exportschlager wurde, sondern zum auf allen Kontinenten maßgeblichen Bautypus. Während das Glashaus der Moderne der Prototyp des autonomen Hauses schlechthin ist, mit freiem Grundriss und Panoramablick auf die Umwelt, die man genießt ohne sich auf sie einlassen zu müssen, ist das Glashochhaus dessen Potenzierung, ebenfalls mit freiem Grundriss und Erschießungskern und einem Servicegeschoss für die Überlebenssysteme am Ende der Fahnenstange.

Die Geschichte der modernen Verkehrspolitik

Die moderne städtische Verkehrspolitik beruht auf dem Prinzip der Verkehrstrennung, die den Raum in unterschiedliche Arten der Fortbewegung zerlegt. Sie kulminiert im Highway als dem Paradigma grenzenloser Bewegung im Raum. Im Laufe der Zeit hat der Autoverkehr zahlreiche städtebauliche Konzepte angeregt, von der funktional getrennten Stadt der Moderne bis hin zur autogerechten Stadt. Aber auch die mit dem Auto einhergehende Abhängigkeit vom Öl spiegelt sich in zyklisch auftretenden Debatten: Ist der Treibstoff günstig, wird eine Optimierung der steigenden Verkehrsflüsse angestrebt, in Zeiten von Ölknappheit zeigt sich hingegen die Tendenz zu alternativen, kollektiv nutzbaren Transportsystemen.

Zurück in die Zukunft

Gegen diese Geschichten von der Zukunft der Stadt wird es sicher Widerspruch geben. Plädieren sie doch für drei heute oft kritisierte Ikonen der Moderne: Verstädterung, Autonomie von der Umwelt und grenzenlose Bewegung im Raum. Die Kritik ist jedoch in der Regel zutreffend und unzutreffend zugleich. Denn sie übersieht sie oft, dass mit diesen Ikonen der Moderne erst die Instrumente geschaffen wurden, die die Auseinandersetzung mit Architektur und Stadt im Zeitalter ihrer Globalisierung erlauben. Erst auf ihrer Basis ist es möglich, zu einer grundlegenden Revision anzusetzen und die Fragen aufzugreifen, die zugunsten des Universalismus europäisch-amerikanischer Provenienz ausgeblendet wurden: die Besonderheit des Klimas, der Lage, des Orts und der Kultur (wobei letztere sich ja gerade in der Auseinandersetzung mit den klimatischen Bedingungen entwickelt hat). Und zum anderen vergisst die Gegenrede gern, dass unter den Bedingungen industriekapitalistischer Entwicklung, selbst noch in den 1960er Jahren, als sich der Industriekapitalismus zur Wissensökonomie entwickelte, die Alternative meist ein Rückfall in vorindustrielle Verhältnisse war.

Alternativen gab es. Aber sie waren marginalisiert, an die Ränder des kapitalistischen Mainstreams gedrängt, und immer gefährdet durch das Schisma von utopischem Vorgriff und Rückfall in vorbürgerliche Zeiten. Hierher gehört der ägyptische Architekt Hassan Fathy mit seiner Wiederentdeckung vernakulärer Bauprinzipien. Und hierher gehört der späte Corbusier mit dem Versuch, das Konzept der brise-soleil zu einer eigenständigen solaren Architektur auszubauen, wie es in der von ihm entworfenen indischen Planstadt Chandigarh demonstriert wird. Beteiligt waren dort auch Maxwell Fry und Jane Drew, auf deren Bedeutung für eine klimagerechte Architektur Susanne Kohte jüngst in der Archithese hingewiesen hat. „Tropical Architecture in the Humid Zone“ heißt die richtungsweisende Publikation der beiden britischen Architekten – sie ist ein erster Versuch zur Überwindung des Klimauniversalismus. Im Rahmen der Geschichte der Zukunft der Stadt spielen sie, wie auch die Projekte von Candilis Josic Woods für Casablanca eine neue Rolle, die heute im Zeitalter der Globalisierung und der Sensibilität für den Blauen Planeten eine neue Bedeutung gewinnen. Sie stehen nicht mehr am Rande, sondern beginnen in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussion vorzudringen und Vorläufer eines neuen planetarischen Bewusstseins zu werden, das Folgen für Architektur und Stadt hat.

Dieses neue planetarische Bewusstsein geht mit Entwicklungen einher, die wir an dieser Stelle nur kurz ansprechen können: den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus, der statt Gleichförmigkeit Differenzierung ermöglicht, die Entwicklung neuer Planungs- und Entwurfsmethoden, die statt Typisierung Variation erlauben, und die Entwicklung neuer Materialien, die klima-aktiv und nicht mehr statisch sein können.

Mit diesen Entwicklungen können wir wieder modern sein – im Sinne einer reflexiven Moderne. Denn angesichts dieser Möglichkeiten können wir das, was die Moderne an Konzept und Methodik geschaffen hat, weiterentwickeln und auf die neuen Probleme der Globalisierung anwenden. Um es mit Bruno Latour zu sagen: „Wir sind nie modern gewesen“, denn wir haben nie die neuen Möglichkeiten, nun nicht mehr der Industriegesellschaft, sondern der Wissensökonomie, zu Ende gedacht.

Eine reflexive Moderne wird das zu leisten haben. Sie wird in dem Sinne modern sein, wie sie sich den aufkommenden neuen sozialen Fragen stellt, und planetarisch, wie sie den Blick auf den Blauen Planeten reflektiert. Und in diesem Sinne in einer Weise global sein, die wir bisher nicht kannten.


Gliederung des Hefts

Das Heft ist nach den einzelnen Aufgaben einer reflexiven Moderne aufgebaut. Geleitet haben uns dabei verschiedene Fragestellungen: Wie verändert sich die Stadt durch den Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien? Welche Auswirkungen haben die erneuerbaren Energien auf das Stadtsystem, die Nachhaltigkeits- und Mobilitätspolitik?

Zu diesen Fragestellungen gibt es jeweils eine Zeitleiste, um den historischen Hintergrund des Themas zu beleuchten, Projektvorstellungen gegenwärtiger Planungen, und Referenzprojekte, die zeigen, wie und in welcher Art heutige Lösungen auf den Visionen der 1960er Jahre aufbauen. Abgerundet wird dieser Teil durch einen dem jeweiligen Thema zugeordneten Text.

Zeitleiste und Referenzprojekte bilden in diesem Sinne einen Schwerpunkt für sich, ein Heft im Heft. Automatisierte Verkehrskonzepte wie Personal-Rapid-Transit-Systeme werden zum Beispiel im Thementeil Mobilitätspolitik im Kontext des Masdar-Projekts in Abu Dhabi (Foster Partners) vorgestellt, auf den folgenden Referenzseiten kontextualisiert, im themen-oriertierten Beitrag von Florian Böhm in die Zukunft gedacht und im Beitrag von Bruno Latour zu „Aramis – oder die Liebe zur Technik“ philosophisch reflektiert. Diese vielfältigen Hinweise auf den mit den 1960er Jahren beginnenden Versuch einer Individualisierung des öffentlichen Nahverkehrs vermitteln einen Eindruck von den heute vergessenen Potentialen der Moderne. Ein Steinbruch solcher Modelle ist die Zeitleiste zur Mobilitätspolitik (Ernst Gruber/ARCH ) und die Referenzseite zur Elektromobilität. Ähnliche Querbezüge finden sich auch bei den Zeitleisten Stadtsystem (Christina Lenart/ARCH ) und Nachhaltigkeit (Berkes, Birkefeld, Escher, Löbbecke, Mosina, Opel/ARCH ).

Darüber hinaus gibt es einen theoretischen Block mit Beiträgen von Mike Davis, Thilo Hilpert und Bruno Latour, die in das Thema einer reflexiven Moderne einführen. Während Bruno Latour wie eingangs beschrieben in „Modernisierung oder Ökologisierung?“ die Grundlagen eines neuen Konzepts von Politischer Ökologie entwirft, geht er in „Ein vorsichtiger Prometheus?“ explizit auf ein neues Konzept von Nach-Moderne ein, das in Deutschland durch die Schriften von Ulrich Beck als reflexive Moderne diskutiert wird. Thilo Hilpert hingegen schlägt unter dem Titel: „Utopien vom Blauen Planeten“ die Brücke vom Utopie-Diskurs der 1960er Jahre zum Projektteil und eröffnet damit den Projektdiskurs. Schließlich erinnert Mike Davis daran, dass der Klimawandel die soziale Frage der Zukunft ist und wir angesichts dessen ein „Gebot zur Utopie“ haben. Denn das Heft heißt zwar „Post-Oil City“, aber nicht nur die Zukunft der Stadt, sondern die des Planeten steht auf dem Spiel.

Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo mit Christian Berkes, Ernst Gruber, Christina Lenart, Nicole Opel, Anna Birkefeld, Cornelia Escher, Elizaveta Mosina

Inhalt

02 ARCH Wettbewerb SIMPLE SYSTEMS – COMPLEX CAPACITIES
06 ARCH Porträt: Die Firma seele
08 Open City – Designing Coexistence
09 Literatur zum Thema

Editorial

10 Post-Oil City
Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Christian Berkes, Ernst Gruber, Christina Lenart mit Anna Birkefeld, Cornelia Escher, Elizaveta Mosina, Nicole Opel

Essays
12 Modernisieren oder ökologisieren?
Bruno Latour

22 Ein vorsichtiger Prometheus?
Design im Zeitalter des Klimawandels
Bruno Latour

28 Wer wird die Arche bauen? Das Gebot zur Utopie im Zeitalter der Katastrophen
Mike Davis

34 Die Utopien vom Blauen Planeten. Bilanz der Zukunft von Gestern
Thilo Hilpert

Nachhaltigkeit
42 Klimadesign einer Post-Oil City
Matthias Schuler im Gespräch mit Anh-Linh Ngo

Klimagerechte Planung
46 Masdar City: Foster Partners, Transsolar u.a.
52 Arabische Stadt
54 Wichita-Haus: Richard Buckminster Fuller
56 Schirmkonstruktionen: Frei Otto

Vernakuläre Prinzipien
58 Xeritown: SMAQ mit X-Architects
62 Hassan Fathy

Postfossile Infrastrukturen
64 Energie-Inkubator Tempelhof: CHORA, Büro Happold u.a.
66 Zeitleiste: Nachhaltigkeit

Stadtverkehr
74 Wege zu einer postfossilen Mobilität
Florian Böhm

Elektromobilität
78 Better Place: Shai Agassi

Automatisierte Verkehrssysteme
80 Masdar City: Foster Partners, Systematica u.a.
84 Personal Rapid Transit
86 Eine neue Politik der Dinge und für die Menschen. Aramis – oder die Liebe zur Technik
Bruno Latour

Radial-konzentrische Stadt
90 Curitiba – Akupunktur-Städtebau: IPPUC, Jaime Lerner
94 Verkehr und städtische Dichte: von Sartory und Kohlmaier; LIN – Finn Geipel Giulia Andi, Jeff Kenworthy
96 Lernen von Curitiba. Erfolge und Misserfolge früher Stadt-Akupunktur
Stefan Gruber

Metropolis 2.0
98 SkyCar City: MVRDV u.a.

Postfossile Infrastrukturen
102 High Line: James Corner Field Operations mit Diller Scofidio Renfro
106 Lineare Stadtlandschaften
Bianca Maria Rinaldi
108 Zeitleiste: Stadtverkehr

Stadtsystem
116 Der urbane Metabolismus. Ganzheitliche Betrachtungen zum Ressourcenhaushalt urbaner Systeme
Michael Prytula

Meta-urbane Struktur
118 Taiwan-Strait-Inkubator: CHORA u.a.
120 Megastrukturen: Yona Friedman, Constant Nieuwenhuys

Partizipative Stadt
122 N.E.S.T.: Franz Oswald u.a.
128 Mexicali: Christopher Alexander

Suburbanisierung
130 Philadelphia – Urban Voids: Front Studio; Ecosistema Urbano
134 Broadacre City: Frank Lloyd Wright
136 Urban Agriculture. Nahrungsmittelproduktion und Stadt
Carolin Mees
138 Zeitleiste: Stadtsystem

Arabische Stadt

(SUBTITLE) Klimagerechte Planung

Die traditionelle arabische Stadt schafft durch Form und Orientierung der Baumassen und Freiräumen ein angenehmes Mikroklima und dient damit als Vorbild für Masdar City. Das Wissen um klimagerechte Planung, das sich hier manifestiert, kann heute mittels neuer technologischer Möglichkeiten simuliert und systematisch angewendet werden.Bereits in den 1950er Jahren haben Architekten wie Candilis Josic Woods bei Siedlungsprojekten in Nordafrika arabische Bautraditionen in neue Strukturformen zu übersetzen versucht. Damals wie heute dient die karge, vielerorts noch unbesiedelte Wüste als Testgelände für ein neues Verständnis von Architektur und Städtebau. Über die intensive Auseinandersetzung mit außereuropäischen Lebensweisen gelangten anthropologische und soziologische Aspekte in den modernistischen Diskurs. Auch die Auseinandersetzung mit klimatischen Aspekten der arabischen Stadt kann – transportiert über Projekte wie Masdar – Impulse für klimagerechte und energieeffiziente Planung in Europa geben.

Die arabische Stadt ist charakterisiert durch die Polarität privater und öffentlicher Lebensbereiche, die auch die Gebäudetypologie prägt. Zellen verschiedener Größenordnung und Komplexität können durch gleiche räumliche und architektonische Logik miteinander verkettet werden und ermöglichen ein Erschließungssystem, das vom großen offenen Raum in immer kleinere, private Bereiche führt.

Das Gebetshaus markiert das Zentrum eines selbstversorgten Viertels. Der maximale Abstand zwischen den Wochentags- und Freitags-Moscheen orientiert sich traditionell an deren fußläufiger Erreichbarkeit. Heute hingegen richten sich die Distanzen am Auto oder in Masdar City am PRT-System aus.

Klimagerechter Städtebau lässt sich in der Altstadt von Damaskus studieren. Über das regelmäßige römisch-hellenistische Straßennetz wuchs nach der muslimischen Eroberung im Jahr 636 ein engmaschiges System von Gassen. Durch zahlreiche Sackgassen wird die heiße Luft aus der Stadt herausgehalten, während durchgängige Ost-West Straßen für Durchlüftung sorgen.

Eine ähnliche Struktur findet sich im Kairoer Straßennetz des 19. Jahrhunderts: Dem städtischen Außenraum kommt kaum Bedeutung zu. Die Alternative zu öffentlichen Plätzen sind die klimatisch abgeschirmten Moscheen.

Enge Gassen halten das unerwünschte direkte Sonnenlicht ab. Die an das Haupthaus angebauten „Masrîya“ kragen als Nebenhäuser wie hier in Fès über die darunterliegende Gasse und verschatten diese zusätzlich. Der Straßenraum bleibt dadurch verhältnismäßig kühl.

Windtürme dominieren, wie hier im iranischen Chupanan, häufig die Dachlandschaft. In ihren unterschiedlichen regionalen Ausformungen erfüllen sie die Funktion der Gebäudekühlung, indem sie die Luftzirkulation im Haus, aber auch in den Straßen regulieren.

ARCH+, Fr., 2010.02.12

12. Februar 2010 ARCH+ Verlag GmbH

Energie-Inkubator Tempelhof

(SUBTITLE) Post-Fossile Infrastrukturen

Der „Stadt- und Energie-Inkubator“ für Tempelhof zielt darauf ab, das Areal des ehemaligen Flughafens nicht nur als neu angelegten Stadtteil ins urbane Gefüge zu integrieren, sondern das Gebiet darüber hinaus für die Erzeugung alternativer Energien nutzbar zu machen. Hierfür hat das Ingenieurbüro Happold ein Konzept entwickelt, das auf die Einsparung von Ressourcen einerseits und die Verwendung und Förderung regenerativer Energien andererseits setzt. Es soll in drei parallel zur stadträumlichen Entwicklung des Gebiets verlaufenden Phasen umgesetzt werden. Zentrale Anlaufstelle und erstes zu realisierendes Gebäude des neuen Stadtteils ist die „Urban Gallery“, die als interaktives Diskussionsforum im Zentrum einer prozessualen, partizipativen Planung steht. Durch die Einbindung der Anwohner und die Schaffung eines kreativen, wissenschaftsfreundlichen Klimas soll Tempelhof nicht nur zu einem Standort für Energieproduktion im materiellen Sinne werden, sondern als synergetische Ideenfabrik im Bereich „Stadt und Klima“ fungieren.

Die Konzeptskizze von Raoul Bunschoten zum Umgang mit dem Gebiet um das Tempelhofer Feld zeigt die unterschiedlichen Entwicklungszonen des „Stadt- und Energie-Inkubators“. Bestehende Elemente wie das geschwungene Flughafengebäude sind ebenso zu erkennen wie die geplante Vernetzung mit den umliegenden Vierteln.

Blick über das Planungsgebiet mit der Unterteilung in die drei Teilbereiche: Das Tempelhofer Feld (A), der eigentliche Bereich des Inkubators mit dem ehemaligen Flughafengebäude (B) und die angrenzenden Entwicklungsgebiete (C), in denen die zu entwickelnden Kernbereiche optisch hervorgehoben sind.

Projekte und Aktionspläne, die in der Urban Gallery auf der Basis von methodischen Szenario-Spielen, Prototyp-Entwicklungen und einer interaktiven Datenbank entwickelt werden, führen zu einer synergetischen Wachstumsdynamik.

Phase I: Die Entfernung der das Gebiet umgrenzenden Zäune und die Initiierung der „Urban Gallery“ ermöglichen die öffentliche Aneignung des Raumes. Dabei werden sowohl Zwischennutzungskonzepte wie Park- und Freizeitanlagen als auch die ersten längerfristigen Entscheidungen über die Grundstruktur des Gebiets wirksam.

Phase II: Der Blick über den Columbiaplatz zeigt exemplarisch, wie erste Baufelder, öffentliche Plätze und temporäre Flächen im Zuge der IBA entstehen. Über ein Biogas-Kraftwerk werden das Columbiaquartier sowie Kreuzberg versorgt. Die Stadtteile erreichen eine für nachhaltige Systeme rentable Dichte.

Phase III: Die langfristige Entwicklung eines innerstädtischen Kraftwerks steht im Vordergrund. Auf dem ehemaligen Tempelhof-Areal ist ein sozio-kulturelles Netzwerk aus Kitas, betreutem Wohnen, Büros und energieorientierten Bildungseinrichtungen entstanden, das Innovation fördern und anziehen soll.

Der Planausschnitt mit Teilen des Lilienthal- und des Columbiaquartiers veranschaulicht die Dichte infrastruktureller und kultureller Einrichtungen, die aus der sukzessiven Entwicklung des Gebiets hervorgehen soll. Im durch die IBA entwickelten Gebiet dominieren Freizeitanlagen und Parks.

Das Energiekonzept für Tempelhof basiert auf einer Analyse der Potentiale verschiedener regenerativer Energien. Diese werden nach Kriterien wie Effizienz und Finanzierbarkeit, aber auch hinsichtlich ihrer Signalwirkung und Sichtbarkeit bewertet.

Die drei Phasen des Energiekonzepts nutzen unterschiedliche Methoden der CO2-freien Energiegewinnung. In der letzten Phase wird durch die breite Palette und die gesteigerte Effizienz nicht nur der Bedarf des neuen Quartiers gedeckt, sondern auch ein Vielfaches der hier benötigten Wärme und Strom an die Stadt abgeführt.

Neben der Produktion regenerativer Energien setzt das Konzept für Tempelhof auch auf die Einsparung von Ressourcen, die durch architektonische Leitlinien und neue technische Lösungen, aber auch durch ein verändertes Verbraucherverhalten erreicht werden sollen. Die Graphik veranschaulicht die stufenweise Steigerung der Energieeffizienz.

Die Verringerung der CO2-Emissionen der Gebäude wird anhand von architektonischen Leitlinien festgelegt. Auch zur Reduzierung des Frischwasserverbrauches durch neue technische Systeme bestehen konkrete Zielvorgaben.

ARCH+, Fr., 2010.02.12

12. Februar 2010 ARCH+ Verlag GmbH

Nahrungsmittelproduktion in der Stadt

(SUBTITLE) Von Community Gardens zu Vertical Farming

Das Thema der urbanen Landwirtschaft wird aktuell in der Stadtplanung breit diskutiert. Hintergrund dieser Diskussion ist paradoxerweise der zunehmende Urbanisierungsgrad. Prognosen sagen voraus, dass im Jahr 2030 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Damit vergrößert sich auch der ökologische Fußabdruck der Städte erheblich. Bereits heute sind Städte für rund 70 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich, ein nicht unerheblicher Anteil davon entfällt auf den Transport und die Nahrungsmittelversorgung. Eine nachhaltige Stadtplanung muss daher auch die Verkürzung und Vermeidung von Transportwegen und die Aktivierung lokaler und regionaler Systeme zum Ziel haben.

Die gegenwärtige Attraktivität landwirtschaftlicher Tätigkeit innerhalb der Städte ist jedoch auch ein Indiz für die aktuelle wirtschaftliche Rezession. Denn das Thema gewinnt immer wieder dann an Bedeutung, wenn steigende städtische Armut und abnehmender wirtschaftlicher Druck eine Zwischennutzung von Brachflächen für den Anbau von Gemüse und Obst zur Selbstversorgung sinnvoll erscheinen lassen. Heute verbindet sich das Thema zudem mit dem Anspruch auf eine nachhaltige und gesunde Lebensführung.

Nahrungsmittelanbau in New York City

Dass urbane Landwirtschaft kein neues Thema ist, sondern eine lange Tradition besitzt, zeigt besonders ein Blick in die USA. Dort wird bereits eine bedeutende Menge von Nahrungsmitteln in städtischen Gärten und Farmen erzeugt. Professionelle Produzenten, Gemeinschafts- und Hinterhofgärtner und sogar Food Banks nutzen Brachflächen, Parks, Glashäuser, Dachflächen, Balkone, Fensterbänke und die Uferzone von Gewässern für den Anbau von Nahrungsmitteln. Ein Drittel der zwei Millionen Farmen des Landes sind innerhalb städtischer Grenzen angesiedelt; sie produzieren 35 Prozent des nordamerikanischen Bedarfs an Obst und Gemüse, Hühnerfleisch und Fisch.

Wie in den meisten anderen Metropolen gibt es im Stadtzentrum von New York kaum Grundstücke, die groß genug sind, um landwirtschaftliche Nutzung zu ermöglichen. Dafür existieren kleinere Brachflächen, die bereits als Gärten genutzt werden; sie lassen sich leicht für den Anbau von Nahrungsmitteln aktivieren.

Ein Beispiel der erfolgreichen Zwischennutzung privater und öffentlicher Grundstücke bieten seit über 30 Jahren die Community Gardens. Im Gegensatz zur urbanen Landwirtschaft dienen diese Gärten größtenteils der Selbstversorgung und reagieren als private und gemeinschaftliche Form der Landnutzung auf die Bedürfnisse der Nachbarschaft. Anders als einige Kleingartenkolonien in Deutschland sind die Community Gardens nicht dauerhaft durch die Gesetzgebung geschützt. Dass diese Gärten dennoch so lange im Stadtraum bestehen bleiben konnten, erklärt sich nicht zuletzt durch die historische Verankerung der Idee.

Ein Vorläufer der Community Gardens waren die sogenannten Relief Gardens bzw. Victory oder War Gardens, die die US-Regierung während der Weltkriege und der Weltwirtschaftkrise Ende der 1920er Jahre aufgrund von Nahrungsmittelknappheit propagierte. Die Regierung stellte der Bevölkerung amerikanischer Großstädte Land zur Verfügung und animierte sie, in Parkanlagen, auf öffentlichen Grünflächen, in privaten Hinterhöfen und auf Dachterrassen gemeinschaftlich Gärten zur Selbstversorgung anzulegen. Selbstanbau entlastete das öffentliche Budget und brachte eine soziale Stabilisierung. Während des Ersten Weltkrieges produzierten in den USA fünf Millionen Bürger auf diese Weise Nahrungsmittel im Wert von 520 Millionen Dollar in zwei Saisonzyklen. Im Zweiten Weltkrieg gärtnerten an die 20 Millionen Familien in sogenannten Victory Gardens und sicherten so im Jahr 1944 rund 40 Prozent der nordamerikanischen Nahrungsmittelversorgung.

Nach Kriegsende wurde der Anbau von Obst und Gemüse auf öffentlichem Boden wieder untersagt und die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung ging von neuem an landwirtschaftliche Betriebe außerhalb der Stadt über. In der NachkriegszeitStattdessen wurden Transportsysteme ausgebaut und der Neubau von Wohnungen an der städtischen Peripherie subventioniert, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Stadtentwicklung an die steigende Bevölkerungszahl anzupassen. Dadurch entstand der neue Typus des automobilisierten Vorstädters und mit ihm die Attribute der neuen Lebensweise: Supermarktketten, Tiefkühlkost und Fast Food-Restaurants. In der Innenstadt wurden auf öffentlichen und privaten Brachen Wohnbauten errichtetDie innerstädtischen Brachen wurden bebaut. Dass damit der während der Krisenzeiten geschätzte Freiraum reduziert wurde, erschien wirtschaftlich zweitrangig.

Bis zu den Ölkrisen der 1970er Jahre nahm die Bevölkerungszahl von New York weiter zu und der Stadtraum verdichtete sich kontinuierlich. Mit dem weltweiten Anstieg des Ölpreises stürzten die von fossiler Energie abhängigen Industriestaaten jedoch in die Rezession. Nachdem 1974 die Stadt New York finanziellen Bankrott angemeldet hatte, wurde die Wartung infrastruktureller Stadtsysteme drastisch reduziert, Polizei- und Feuerwehrstationen geschlossen. Vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte lohnte sich auch die Investition in Mietwohngebäude im Stadtzentrum nicht mehr: Die Bevölkerungsteile, die es sich leisten konnten, waren in die Vorstädte abgewandert und erhöhte Betriebskosten konnten nicht über Mieterhöhungen auf die verbleibende, vorwiegend einkommensschwache Bevölkerung abgewälzt werden. Zudem gingen in dieser Zeit in New York Grundstücke bei Nichtzahlung der Eigentums- und Grundsteuer nach nur einem Jahr in das Eigentum der Stadt über, so dass viele Grundstücksbesitzer in verarmten Bezirken wie der South Bronx ihre Gebäude in Brand stecken ließen, um als Wiedergutmachung für ihre Investitionen die Versicherungsprämie zu kassieren. Im Jahr 1975 lag in der Bronx ein Viertel der Gesamtfläche des Bezirks brach.

Mit dem Wegzug eines großen Teils der Bevölkerung aus der Innenstadt schlossen Geschäfte und Supermärkte. Die verbliebenen Anwohner organisierten sich in Nachbarschaften und begannen, auf brachliegenden Grundstücken Gärten zur Selbstversorgung, sogenannte Community Gardens, anzulegen. Die Stadt unterstützt diese Stadterneuerung in Eigenregie seit 1978 durch das Programm „GreenThumb“, über das sie den Anwohnern Materialien und technisches Know-How zur Verfügung stellt. Aufgrund ihres jahrelangen Engagements konnte die Bevölkerung vielerorts ihr Gartenland gegen Bebauungsvorhaben verteidigen – selbst in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs.

Heute gibt es im Stadtgebiet von New York mehr als 700 Community Gardens, von denen rund 600 auf städtischem und 100 auf privatem Grund liegen. In den fünf New Yorker Bezirken belegen sie laut der Community Garden Organisation „GreenGuerillas“ eine Fläche von rund 809.300 Quadratmetern, etwa die Hälfte davon dient der Nahrungsmittelproduktion. Die durchschnittlich 46,5 Quadratmeter großen Community Gardens sind entweder in mehrere einzelne Beete aufgeteilt oder verfügen über ein großes gemeinsames Beet, je nach kulturellem Hintergrund und sozialer Struktur der Gartengruppe. Im Zentrum steht meistens eine Gartenhütte, die zu verschiedenen Anlässen der Nachbarschaft als Gemeinschaftsraum dient.

Die Nahrungsmittel werden an Nachbarn und Freunde vergeben, auf Bauernmärkten verkauft oder auch Suppenküchen zur Verfügung gestellt. Der Anbau wird häufig auf den spezifischen Bedarf sowie die kulturellen Vorlieben der Nachbarn ausgerichtet.
Die Community Gardens zeigen, dass eine intensive Produktion von Nahrungsmitteln in der Stadt möglich ist. Im Gegensatz zu den Victory Gardens, die als kurzfristige Antwort auf eine Krise auf politischen Beschluss hin angelegt wurden, sind sie Ausdruck einer „grassroots“-Bewegung, die flexibel auf die lokalen Bedürfnisse eingeht: Ein Garten kann als Spielplatz, Gemeindezentrum oder auch für die Versorgung genutzt werden und sich über Jahrzehnte im Stadtraum halten.

Neue Konzepte der Nahrungsmittelversorgung in New York

Da die Bevölkerungszahl von New York rapide zunimmt – im Jahr 2030 wird voraussichtlich eine Million Bewohner mehr im Stadtraum wohnen –, muss die Nahrungsmittelproduktion vor Ort extrem gesteigert werden, wenn der lokale Bedarf klimagerecht gedeckt werden soll. Da gleichzeitig die Anzahl von brachliegenden Grundstücken in der Innenstadt abnimmt, müssen neue Formen der Stadtraumnutzung zum Anbau von Obst und Gemüse, aber auch neue Systeme für die Vermarktung der erzeugten Produkte entwickelt werden.

Eine wichtige Einrichtung für die Verteilung von lokal produzierten Nahrungsmitteln sind die unter dem Namen Greenmarkets im Jahr 1976 eingerichteten Farmers’ Markets. Diese Bauernmärkte wurden stadtweit von der gemeinnützigen Organisation Just Food vor allem für den Verkauf von Produkten aus den Community Gardens eingerichtet. Als Schnittstelle zwischen urbanem Gärtnern und urbaner Landwirtschaft bieten sie den Community Gardeners über den Verkauf der Nahrungsmittel die Möglichkeit, wieder in ihre Gärten zu investieren und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Zugleich wird die Versorgung einkommensschwacher Bezirke wie Brooklyn und der Bronx gestärkt, in denen der Großteil der Community Gardens liegt und wo es aufgrund der wenigen, schlecht bestückten Supermärkte kaum Zugang zu frischen, bezahlbaren Produkten gibt. Im Jahr 2005 sind in New York über 3000 solcher Farmers’ Markets abgehalten worden. Beinahe die Hälfte der dort angebotenen Produkte stammte aus städtischen Gärten, der Rest kam von Farmen aus der Umgebung.

Ein Beispiel für die Umnutzung innerstädtischer Flächen für urbane Landwirtschaft ist die Red Hook Community Farm. Sie wurde im Jahr 2003 in Zusammenarbeit zwischen gemeinnützigen Organisationen und dem New Yorker Parks Department sowie mit Unterstützung von Nachbarn auf einem ehemaligen Baseballfeld im südwestlichen Teil von Brooklyn angelegt. Durch das Aufhäufen von Mutterboden wurde der asphaltierte, rund 11.130 Quadratmeter große Platz zu einer produzierenden Farm, die gleichzeitig als Plattform für soziale Programme dient, wie etwa ein landwirtschaftlich ausgerichtetes Lernprogramm für Jugendliche.

Seit ihrer Einrichtung wurden in der Red Hook Community Farm geschätzte zwölf Tonnen Nahrungsmittel zum Verschenken, Verkauf und Eigenverbrauch angebaut und dabei in dieser lokalen Institution Einkommen im Wert von 120.000 Dollar erzeugt. Da dieses Farmprojekt so erfolgreich war, hat die Trägerorganisation Added Value in diesem Jahr eine zusätzliche, 12.140 Quadratmeter große Farm auf Governors Island angelegt. Ziel war dabei laut Added Value nicht allein die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion und die Sicherung der nachhaltigen Entwicklung dieser Insel, sondern auch das Angebot weiterer Lernprogramme für die Jugendlichen von South Brooklyn.

Im New Yorker Stadtgebiet werden zahlreiche alternative Formen urbaner Landwirtschaft, bis hin zu vertical farming, zur Produktion von Nahrungsmitteln diskutiert und erprobt. Trotz dieses Erfindungsreichtums scheint rein rechnerisch die Produktion des gesamten Nahrungsmittelbedarfs einer Stadt auf ihrem eigenen Boden bei Erhaltung des Lebensstandards unmöglich. Für die Versorgung einer Großstadt wie London wurde beispielsweise berechnet, dass etwa die 120-fache Fläche des Stadtgebiets nötig wäre. Die beschriebenen Projekte sind jedoch aus einem anderen Grund wesentlich: Sie schaffen ein neues Bewusstsein für den Umgang mit Nahrungsmitteln und können in Verbindung mit sozialen Programmen lokale Initiativen zur Verbesserung der Lebenssituation stärken.


[Carolin Mees ist Architektin und Universitätsassistentin am Institut für Architektur und Landschaft der TU Graz. Sie schreibt derzeit an ihrer Doktorarbeit über Community Gardens in der South Bronx von New York an der Universität der Künste in Berlin.]

ARCH+, Fr., 2010.02.12

12. Februar 2010 Carolin Mees

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