Editorial

dérive hat diesmal ein besonderes Extra zu bieten: Andreas Fogarasi zeigt drei seiner aktuellen Werkserien in einem Beileger, zu finden am Ende des Heftes. Regelmäßige dériv­e-Leser und -Leserinnen kennen Andreas Fogarasi als Autor und Redakteur von zwei Schwerpunktheften (dérive 10 „Argument Kultur“ und dérive 23 „Visuelle Identität“) und wissen vielleicht auch, dass Fogarasi das grafische Erscheinungsbild von dérive entwickelt hat. Das Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen zeigt ab 28. Februar 2010 seine Ausstellung „1998“. Das beigelegte Heft ist – gemeinsam mit dieser dérive – Teil der kommenden Ausstellung.

Für den Schwerpunkt von dérive 38 Rekonstruktion und Dekonstruktion

Zur soziologischen Analyse des aktuellen Städtebaus zeichnet die Architektursozio­login Heike Delitz verantwortlich. Eines der Phänomene, die im Schwerpunkt vor allem aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive thematisiert werden, ist die Welle an Rekonstruktionen von Kirchen, Schlössern und ganzen Stadtquartieren, die speziell in Deutschland heftige und emotional geführte Debatten auslösen und als Rückfall in vormoderne Zeiten scheinen – am prominentesten dabei wohl die Diskussion rund um das Stadtschloss in Berlin. Andererseits wird die gesellschaftliche Grundlage für die von Kritikern oft als „Spektakel­architektur“ bezeichnete und von den Marketing­ab­tei­lungen von Konzernen und Kommunen favorisierte Architektur von Stars wie Zaha Hadid, Frank Gehry, Coop Himmelb(l)au, Daniel Libes­kind etc. untersucht. Delitz dazu in ihrem Einleitungs-Artikel: „Soziologisch dringt dann der Konflikt zwischen Destruktion und Rekonstruktion, Architektur und Öffentlichkeit tiefer als bis zu Geschmacks­fragen. Es zeigt sich darin mehr als das provozierende Geschäft, die Distinktionsleistung der Avantgarde. Die Frage ist, warum unsere Gesellschaft gerade jetzt auf gerade diese Gestalten ihrer selbst kommt.“ Für das Schwerpunkt-Cover hat uns Dorit Margreiter dankenswerterweise zwei Fotos aus einer Arbeit über das Brühl-Ensemble in Leipzig zur Verfügung gestellt, das auch im Mittelpunkt eines Artikels von Silke Steets über die Dekonstruktion der Ostmoderne steht.

Der Magazinteil bringt neben Manfred Russos neuer Folge zur Geschichte der Urbanität drei sehr unterschiedliche Beiträge: Christoph Luchsinger, der seit kurzem eine Professur am Städtebauinstitut der TU Wien inne hat, legt mit seinem Beitrag zur Krise der klassischen Raumplanung seine Vorschläge für neue Rahmenbedingungen dar und eröffnet damit vielleicht eine Debatte, für die dérive gerne als Forum zur Verfügung steht. Daniel Kalts lose Serie über Kunst im öffentlichen Raum widmet sich diesmal der für Österreich wegweisenden Arbeit von Kunst im öffentlichen Raum Nieder­österreich, die seit 13 Jahren unter der Leitung von Katharina Blaas-Pratscher entwickelt wird. Kalt spricht mit Blaas-Pratscher über Zielsetzungen, Ambitionen und Pläne. Im dritten Beitrag stellt Thomas Ballhausen einige Ausschnitte aus dem von ihm und Verena Bauer übersetzten Buch Scharfe Zähne von Toby Barlow vor: „Barlow vereint in seinem international gefeierten Debütwerk die Coolness von Noir-Krimis mit antiker Mythologie, er verkoppelt eine berührend aufrichtige Liebesgeschichte mit dem eindringlichen Porträt einer Stadt, die voller Träume und Alpträume steckt.“

Der Besprechungsteil ergänzt die hohe Dichte an zeitgenössischer Kunst – Dorit Margreiters Arbeiten am Cover, Michael Ashkins Kunstinsert und Andreas Fogarasis Beilage – mit einem Kunst/Kultur/Stadt-Schwerpunkt: Zu einer Besprechung von Wem gehört die Stadt, einem Band über Kunst im öffentlichen Raum in Wien seit 1968, reiht sich eine Rezension von Kunst macht Stadt in dem die Auswirkungen von Kunstförderungen auf die Quartiersentwicklung untersucht werden. Weiters zu lesen eine Besprechung von Oliver Freys Die amalgame Stadt in der es – wie der Untertitel ankündigt – um Orte, Netze, Milieus der Kreativen geht, die auch im Band Phantom Kulturstadt, der ebenfalls besprochen wird, in einigen der Beiträge Thema sind.
Christoph Laimer

Inhalt

Inhaltsverzeichnis

Schwerpunkt: Rekonstruktion und Dekonstruktion.
Zur soziologischen Analyse des aktuellen Städtebaus
Heike Delitz

Rekonstruktivismus als soziale Bewegung – der Fall Berlin
Joachim Fischer

Nach der sozialistischen Moderne? Der Streit um die Rekonstruktion der Leipziger Universitätskirche St. Pauli
Ralph Richter und Thomas Schmidt-Lux

Wiederaufbau und De-Konstruktion: Zwei Skizzen zu Frankfurter Fällen – Tabula Rasa im Wandel der Zeit: Aspekte der Debatte um den Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt
 – Hochbauen und Niederreißen in „Mainhattan“

Oliver Schmidtkes und Markus Dauss

Dekonstruktion der Ostmoderne. Das Leipziger Brühl-Ensemble
Silke Steets

Parasitäre Strategien der De-Konstruktion. Eine architektursoziologische Skizze
Heike Delitz

Kunstinsert

Michael Ashkin: Riker’s Heterotopos

Magazin

Zur „Krise“ der klassischen Raumplanung
Christoph Luchsinger

Ein weites Land, mit Kunst bespielt
Daniel Kalt

Scharfe Zähne
Toby Barlow

Serie

Geschichte der Urbanität – Teil 29, Moderne VI: Raum-Zeitkontraktionen
Manfred Russo

Besprechungen

Wem gehört die Stadt?
Daniel Kalt über Wem gehört die Stadt? Wien – Kunst im öffentlichen Raum seit 1968 herausgegeben von Bettina Leidl und Gerald Matt

Macht Kunst Stadt?
Manfred Russo über Kunst macht Stadt von Philipp Rode und Bettina Wandschura

Planen in einer „Postkonfliktsituation“
Peter Schmidt über die Ausstellung Balkanology im Architekturzentrum Wien

Wiener Stadterneuerung im Überblick
Philipp Rode über die Ausstellung Die sanften Wilden im Ringturm Wien

Die Wiener Kreativszene und ihre Orte
Manfred Russo über Die amalgame Stadt von Oliver Frey

Bubischädel für Wiener Mädel
Iris Meder über die Ausstellung Kampf um die Stadt im Wien Museum

Faits Divers
Phänomen Kulturstadt
Susanne Karr über Phantom Kulturstadt herausgegeben von Konrad Becker und Martin Wassermair

Vorwärts Zurück
André Krammer über die erste Ausgabe der Zeitschrift Dortmunder Vorträge zur Stadtbaukunst

Kunst am Fertigbau
Maria Welzig über die Interventionen Hausstellungen in der Blauen Lagune von Studierenden der Kunsthochschule Kassel und der Universität für angewandte Kunst Wien

Die steirische Architektur von außen betrachtet
Roland Tusch über Von Menschen und Häusern herausgegeben von Ilka und Andreas Ruby

Das Gebäude und seine Umwelt
Peter Schmidt über Anti-Object. The dissolution and disintegration of architecture von Kenga Kuma

Hoch Haus
Susanne Karr über Haus Hoch. Das Hochhaus Herrengasse und seine berühmten Bewohner von Iris Meder und Judith Eiblmayr

Rhetorik und Raster
Thomas Ballhausen über Prosopopus von Nicolas de Crécy

Rekonstruktion und Dekonstruktion

(SUBTITLE) Zur soziologischen Analyse des aktuellen Städtebaus

Es gibt sicher viele soziologisch bemerkens­werte Phänomene der zeitgenössischen Architektur. Aber das nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftstheoretisch – nämlich nicht zuletzt im sozialen Bewegungspotenzial – auffälligste Phänomen der mitteleuropäischen, zumal bundes­deutschen Gegenwartsgesellschaft ist derzeit wohl die Rekonstruktion historischer Gebäude und Stadtkerne. Eine Welle der Rekonstruktion erobert die Herzen der Bevölkerung und wird von ihr initiiert, während sich die ArchitektInnen zuweilen geschlossen dagegen stellen. Scharfe Töne fallen hier wie da. Und während das Konfliktpotenzial offensichtlich nur in der bundesdeutschen Architektur derart immens ist, wird andernorts vergleichsweise unspektakulär rekonstruiert: in den osteuropäischen Gesellschaften etwa in Moskau (Wiedererrichtung der Erlöserkirche), Vilnius (Plan der Wiedererrichtung des jüdischen Viertels), im polnischen Elblag (großflächige Rekonstruktion der zerstörten Stadt). Es gibt Rekonstruktionsbegehren auch in Frankreich, den Plan, die Tuilerien wiederherzustellen. Restauriert, rekonstruiert, wiederaufgebaut werden dabei sicher vor allem Gebäude des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber auch die klassische Moderne hat ihre Rekonstruktionsprojekte – und ihre Dekonstruktionen, den Abbau vornehmlich, aber nicht nur der sozialistischen Ensembles. Beides ist aussagekräftig in Hinsicht auf das, was eine Gesellschaft für wertvoll erachtet: welches Gesicht und welche Geschichte sie sich gibt.

Überraschend sind wohl nicht die Phäno­mene der Re- und Dekonstruktion, sofern beide zunächst schlicht auf das soziale Bedürfnis eines „kollektiven Gedächtnisses“ verweisen. Jede Gesellschaft muss sich angesichts des ständigen Wandels der Einzelnen einen stabilen „Rahmen“ schaffen, sich mit „Häusern und Menschen beschweren“ (Halbwachs 2002, S. 15). Eher ist die Überraschung überraschend. Die Überraschung der Architektur durch die Rekonstruktionsbegehren und der Konflikt zwischen zeitgenössischer Architektur und dem Geschmack der Bevölkerung lässt sich sicher professionssoziologisch aufklären: aus dem Ethos einer auf das Neue konditionierten, autonom gewordenen Profession. Spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert geht es der Architektur darum, zeitgemäß zu bauen, auch wenn es stets erneut traditionalistische Gegenbewegungen gibt: Die Architektur wird zu einer avantgardistischen, das Kontingenzbewusstsein moderner Gesellschaften forcierenden Profession, in sozialtechnischer, die Gesellschaft optimierender Absicht. Was die „Retro-Fraktion“ hingegen vertritt, erscheint als Rückfall in vormoderne Zeiten, als Einschmeicheln in die „Volksmeinung“ – so etwa heißt es bei Falk Jaeger zum Humboldt-Forum in wettbewerbe aktuell. Ähnlich die Position des Bundes Deutscher Architekten: In der Rekonstruktion gehe es um das „Inszenieren von Ereignisräumen“ in einer „rückwärtsgewandte(n) Architektursprache“, die zur „Verfälschung unserer europäischen Stadtkultur“ führe. Denn die ArchitektInnen moderner Gesellschaften stehen als professionelle NeuererInnen, zu denen sie ausgebildet werden, auf der Seite des Vorstoßes in die Zukunft. In ihnen zeigt sich ein je neuer Zug der Zeit. Zu den bemerkenswerten Phänomenen der aktuellen Architektur gehört dann auch ihre zeitgenössische Formensprache – jene Entwurfsweise der Hadids, Gehrys, Libeskinds und Himmelb(l)aus, die sich in der Disziplin und unter den InvestorInnen als zunehmend resonanzfähig erweist, während sie andererseits (im Volk und auch bei vielen SoziologInnen) als bloße „Spektakelarchitektur“ gilt. Diese Architektur ist der Antiheld im Verlangen nach der „europäischen Stadt“. Sie ist zweifellos ein Distinktionsmedium; zweifellos geht es ihr um eine erneute Ablösung von der Geschichte, zweifellos um einen Stör-Akt. Architektursoziologisch aber ist aufschlussreich, weshalb sich die Gesellschaft gerade diese zeitgenössische Gestalt ihrer selbst wählt. Soziologisch dringt dann der Konflikt zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion, Architektur und Öffentlichkeit tiefer als bis zu Geschmacksfragen. Es zeigt sich darin mehr als das provozierende Geschäft, die Distinktionsleistung der Avantgarde. Die Frage ist, warum unsere Gesellschaft gerade jetzt auf gerade diese Gestalten ihrer selbst kommt.

Die Soziologie hat sich allerdings lange kaum für die Architektur interessiert, abgesehen von der marxistischen Funktionalismuskritik der 1960er/1970er Jahre. Insgesamt – in ihren Grundbegriffen und Grundproblemen – verstand und versteht die Soziologie das Soziale jenseits der Dinge, in einer „antiästhetischen und antitechnischen Haltung“ (Eßbach 2001). Sie konzipiert es als „Interaktion“ oder als „Kommunikation“, wobei dann unsere zeitgenössische Gesellschaft als durchgreifend medienvermittelt gilt: vermittelt durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (in der Systemtheorie) oder neue Medien (in jeder Theorie der „Medien“ oder „Informationsgesellschaft“). Demgegenüber entfaltet sich jüngst die Architektursoziologie mit einem gesellschaftsdiagnostischen Interesse.[1] Der Soziologie geht es nicht um die Frage der Architektur – dies hat die Architekturdisziplin selbst zu klären. Sie interessiert sich vielmehr für die Gesellschaft: für ihr historisches Gewordensein, ihre dominanten Vergesellschaftungsprinzipien, ihre Subjektformen. Soziologisch sind alle zeitgenössischen Bauten höchst interessant; sie sind gerade in ihrer Vielfalt und Kontrarität aussagekräftig in Hinsicht auf kollektive Begehren. Es ist also ein Aufklärungsdienst, den die Architektursoziologie leisten kann und mit dem sie sich selbst über die Trends der Gegenwartsgesellschaft unterrichtet.

Die Frage ist im Folgenden also nicht die Architektenfrage: pro oder contra Re- oder Dekonstruktion. Die Frage, die hier an Fällen der Re- bzw. Dekonstruktion in Frankfurt, Leipzig, Berlin und anderswo nur versuchsweise zu beantworten sein wird, ist vielmehr: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, angesichts dieser Architektur?

Kurzer Abriss der Beiträge

Joachim Fischer interpretiert die architektonische Rekonstruktion in vielen mitteleuropäischen Städten als eine soziale Bewegung nach 1989. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich 1989 eine Gesellschaftsrevolution ereignete, in deren Zuge die bürgerliche Gesellschaft nach ihrer Kontingenz- und Vernichtungserfahrung im 20. Jahrhundert sich neu entdeckt und durchzusetzen versucht. In den revolutionären Ereignissen der Bürgerbewegungen wurden inmitten der von sozialistischer Bauhaus-Architektur überformten Zentren die okzidentalen Städte (Max Weber) wieder entdeckt. Im architektonischen Rekonstruktivismus im Namen der europäischen Stadt sucht die bürgerliche Gesellschaft der Moderne sich in ihrem Ursprung darzustellen und zu stabilisieren. Durchgespielt wird das am Fall Berlin, von der Wiederbebauung des Potsdamer Platzes über den Schlossbau bis hin zum Rekonstruktionsprojekt der bürgerlichen Mitte zwischen Alexanderplatz und Schloss.

Ralph Richter und Thomas Schmidt-Lux beleuchten den Neubau des Paulinerforums in Leipzig, der in zwei Hinsichten bemerkenswert ist. Einerseits handelt es sich um eine bauliche Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Religion – ein Streit, der die Moderne insgesamt betrifft und architektonisch offenbar nur hier, in Leipzig, aufbricht. Zum anderen geht es hier nicht um eine treue Rekonstruktion, sondern um einen Zwitter zwischen skultpuralem Außen und gotisierendem Innen. Oliver Schmidtke und Markus Dauss interessieren sich für zwei konträre Projekte in Frankfurt/Main: für die Idee der Rekonstruktion der mittelalterlichen Innenstadt und für den Hochhaus-Streit um Zürich-Haus und Opernturm. In Hinsicht auf die aktuelle moderne Gesellschaft erlauben beide Projekte, die kollektiven Begehren zu erahnen, die in uns stecken. Im ersten Dekonstruktionsbeitrag hingegen diskutier­t Silke Steets den Abbau eines Ensembles der sozialistischen Architekturmoderne, des Brühls in Leipzig zwischen Hauptbahnhof und bürgerlicher Innenstadt. Der Abriss in einer zu DDR-Zeiten privilegierten Wohnlage lässt, offensichtlich ohne Idee und Not vollzogen, in die Leipziger Lokalgesellschaft blicken – ebenso in ihre politische wie in ihre ökonomische Funktionsweise, entlang der These der Eigenlogik der Städte (Berking/Löw 2008). Im Beitrag von Heike Delitz geht es schließlich um die dekonstruktive Architektur: auch um eine Art Zerstörung, aber eher in einem immateriellen Sinn; um die Parasiten des Städtebaus, die sich in die moderne resp. restaurierte „europäische Stadt“ einschleichen. Es ist zu fragen, was sich hier für eine Gesellschaft erschafft; warum sich die aktuelle Gesellschaft gerade diese Architektur als ihre zeitgenössische wählt; wohin uns die Architektur zieht.


Anmerkungen:
[01] vgl. Schäfers 2006; Fischer/Delitz 2009; Delitz 2009. Siehe auch die Aktivitäten der Arbeitsgemein­schaft „Architektursoziologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (www.architektur-soziologie.de) oder das 2010 erscheinende Themenheft von Espaces et Sociétés: Sociologie et architecture: matériau pour une comparaison européenne.
[02] Der Molkenmarkt war ursprünglich ein Teil des Berliner Altstadtkerns und ist jetzt ein Platz in Berlin Mitte, der von der verkehrsreichen Gruner­straße durchschnitten wird.

Literatur:
Berking, Helmuth & Löw, Martina (Hg.) (2008): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt/M.: Campus.
Eßbach, Wolfgang (2001): Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie. In: Andreas Lösch u. a. (Hg.): Technologien als Diskurse. Heidelberg: Synchron, S. 123-136.
Delitz, Heike (2009): Architektursoziologi­e. Reihe Einsichten. Themen der Soziologie. Bielefeld: transcript.
Fischer, Joachim & Delitz, Heike (Hg.) (2009): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld: transcript.
Halbwachs, Maurice (2002 [1938]): S­oziologie, Demographie und Morphologie. In: Ders., Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften 4. Konstanz: UVK, S. 11-22.
Schäfers, Bernhard (2006 [2003]): A­rchitektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, Wiesbaden: VS.


[Heike Delitz ist Postdoc-Stipendiatin an den Lehrstühlen Soziologie II und Philosophie II der Otto Friedrichs Universität Bamberg. Jüngste Veröffentlichung: Architektur­soziologie. Reihe: Einsichten. Themen der Soziolog­ie, Bielefeld 2009]

dérive, Fr., 2010.01.22

22. Januar 2010 Heike Delitz

Zur „Krise“ der klassischen Raumplanung

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die pessimistische betrachtet das Planungswerk der Moderne als gescheitert – also all die Bemühungen im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, die Stadt lebensfähiger zu machen, ihre Funktionalität zu optimieren, gerechter zu verteilen, sozialere Zustände anzubieten usw. Diese Sicht interpretiert das heutige städtebauliche Geschehen als Resultat partikulärer Interventionen, zufälliger Maßnahmen, eigensinniger Gewinnmaximierung, katastrophaler Fehl­koordinationen und – im besten Fall – einiger geglückter Einzelfälle. Das, was wir noch Planung nennen, dient in der pessimistischen Sicht lediglich als rechtlich abgesteckter „playground“ wilder Spekulationen und keinesfalls der Verbesserung urbaner Verhältnisse im Sinne des Gemeinwohls. Diese pessimistische Sicht des Städtebaus rekurriert umgekehrt auf ein positivistisches Geschichtsverständnis und genießt heimlich die Widersprüchlichkeit und letztlich die Brutalität der Stadt in ihrem Wesen als menschliches Artefakt schlechthin. Und so ganz von der Hand zu weisen ist diese Sicht beileibe nicht. Sofern man die Stadtkultur und ihre baulichen Ausprägungen über mehrere Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg betrachtet, gehören gerade Brüche, Katastrophen, Zerstörungen und Vernichtungen, Eigensinnigkeiten, Aufoktroyierungen, planerische Zwangsmaßnahmen usw. zu ihren charakteristischen Eigenheiten. Die heutige Stadt als Resultat all dieser Wirkungen ist die Stadt, in der wir leben und die wir lieben, gerade auch ihrer Widersprüche wegen.

Die quasi optimistische Sicht betrachtet die Stadt als Gegenstand laufender Optimierung, als Akkumulation stetiger Verbesserungen. Ausgehend von den planerischen Kompendien, deren Anweisungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die technische und soziale Verwaltung der modernen Stadt regeln, erkennt die optimistische Sicht der heutigen Stadtkultur ihren Gehalt und ihre Leistung im Einbezug ständig neuer Vorgaben, z. B. des Umweltschutzes, der Energieeffizienz, der Wohnqualität, der ökologischen Bauweise, des Lärmschutzes, der Luftbeschaffenheit, der Mindestanforderungen an die Wohnungen, der Behindertengängigkeit, des Erschließungs- und Mobilitätskonzepts, der städtebaulichen Einbindung usw. usf. All diese Erfordernisse verlangen ausgewiesene Fachkenntnisse und einen gewaltigen Apparat zu deren Verwaltung und Kontrolle. Das heißt, wir als Planungsfachleute sind unverzichtbar – und nur deshalb nennen wir diese Sicht optimistisch, eben quasi optimistisch. In Wirklichkeit aber bewegen wir uns in einem orwellschen Szenario, dessen Kontrolle zur Hypertrophie neigt. Wir stehen mittlerweile tatsächlich vor dem Problem, dass die Mechanismen und Zielsetzungen der Planung sich gegenseitig mehr und mehr widersprechen, weil sie von PlanerInnen fachidiotisch und von PolitikerInnen willkürlich erdacht wurden. Für uns Städtebauende erscheinen die planungsrechtlichen Vorgaben mittlerweile nicht mehr als Leitlinien oder Leitfiguren einer zukünftigen „Neuen Stadt“, sondern als lästige Hindernisse in der Folge fehlgeleiteter Planungspolitik und als Schikanen für die Etablierung gescheiter städtebaulicher Ideen.

Die Entstehungsgeschichte der Raumplanung

Greifen wir zurück auf die Entstehungsgeschichte der Raumplanung. Die Raumplanung entstand als Weiterentwicklung der Stadterweiterungsplanungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die damals noch mit eigentlichen städtebaulichen Mitteln durchgeführt wurden. Städtebauliche Mittel heißt: Straßenplan, Definition von Baufeldern, Bebauungsvorgaben mittels Baulinien, Ausscheidung von Parzellen, Vorschreibung von Geschoßzahlen, Bautiefen usw.

Beispiele dafür finden sich überall in Europa: Josef Stübbens Handbuch des Städtebaus (1890) beispielsweise gibt umfassende Anweisungen, wie Stadterweiterungsquartiere technisch korrekt zu planen sind. Ildefons Cerdàs Teoria de la Urbanización (1867) erkennt, historisch gesehen, erstmals den Zusammenhang von Erschließung, Typologie des Wohnbaus und Anordnung der Freiräume und wird in seiner Anwendung in Form des Erweiterunsplans für Barcelona – des berühmten Ensanche/Eixample – zum Prototypen einer zwar städtebaulich klar fixierten, jedoch sehr flexibel interpretierbaren Struktur. Camillo Sitte, dessen Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen die Raumbildung in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte, gehört ganz zentral zu dieser Generation von Planern, die den Städtebau als integrale Aufgabe des Zusammenspiels von Infrastruktur, öffentlichen und privaten Bereichen, Baumassenverteilung und räumlicher Gestaltung verstand. Die Namens­liste ließe sich wesentlich verlängern: Reinhard Baumeister, Otto Wagner, Bruno Taut und so weiter – bis hin zum frühen Le Corbusier, dessen erster Großstadtentwurf „Une ville contemporaine pour 3 millions d’habitants“ aus dem Jahr 1923 ausgesprochen „architektonisch“ ist, gerade weil er zum Beispiel die Definition von Gebäudeblocks an bestimmte Typologien bindet.

Der Beginn der Aufspaltung von Städtebau und Raumplanung lässt sich historisch gesehen relativ klar festmachen, nämlich an den ersten Entwürfen für Großstadterweiterungen, namentlich dem Wettbewerb für Groß-Berlin 1906-10, der in verschiedenen Städten seine Nachahmungen fand (z. B. in Zürich, 1914-18). Diese Entwürfe, die in unterschiedlicher Art und Weise in die spätere Planung eingeflossen sind, entstanden vor dem Hintergrund der damaligen Eingemeindungen. Das schnelle, meist wenig koordinierte Wachstum der Vororte in der Folge der Industrialisierung führte zu einem extremen Ungleichgewicht zwischen Kernstadt und Umland, sowohl hinsichtlich der Nutzungsverteilung als auch hinsichtlich der Sozialstruktur, der Haushaltsbilanzen der verschiedenen Gemeinden und natürlich der Verkehrssituation. Dank der großmaßstäblichen Betrachtungsweise bei diesen Entwürfen stellte sich das Stadtganze erstmals als ein System der Interdependenz von Infrastruktur, Nutzungsverteilung, Sozialstruktur, Verkehrsnetzen und Finanzpolitik dar. Damit war auch die Möglichkeit formuliert, den Städtebau und seine Probleme als Überlagerung von verschiedenen Teilsystemen zu betrachten, zu analysieren und zu steuern.

Hier setzt die Raumplanung an, indem sie beispielsweise die Nutzungsverteilung und die Dichte als eigenes System darstellt. Oder das Verkehrsnetz, dessen Optimierung unabhängig von allen anderen städtischen Parametern – gerade auch unabhängig von der stadträumlichen Situation – wesentlich effizienter zu bewerkstelligen war. Die Raumplanung arbeitet im wesentlichen mit Gesamtplänen, die jeweils nur einzelne Aspekte des Stadtganzen isoliert behandeln und optimieren. Dieses Denken in Teilsystemen ist durchaus im Sinne einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise, allerdings auch mit allen deren Nachteilen. Insbesondere ist es schwierig, die Teilsysteme wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Teilsysteme tendieren darüber hinaus dazu, sich immer weiter auszudifferenzieren und zu verselbstständigen. Die Geschichte der Raumplanung zeigt diesen Effekt geradezu exemplarisch auf. Während die ersten Umsetzungen für Stadterweiterungsplanungen mittels Flächenwidmungs- oder Zonenplänen noch zu gleichgewichtigen Resultaten führten, sind in der Folge wegen der ständigen Optimierung der Teilsysteme widersprüchliche Verhältnisse entstanden. Um nur zwei, drei Beispiele zu nennen: Die Verkehrsplanung ist nicht kongruent mit der Nutzungsplanung, die planerische Sicherung von Naturräumen kollidiert mit den Anforderungen an effiziente Ver- und Entsorgungssysteme, die Planungen der einzelnen Kommunen sind untereinander nicht koordiniert, was in der Folge des starken Wachstums der Städte und der Herausbildung von Agglomerationen zu buchstäblich verzerrten Räumen führt – so ziemlich das Gegenteil des planerischen Grundgedankens einer koordinierten Siedlungsentwicklung. Genau dies zeigte sich erstmals in der Hochblüte städtischer Planung nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Beispiel in Form von quer durch kleinteilige Quartiere geschlagenen Verkehrsschneisen oder disproportionaler Verdichtungen.

In den 1970er Jahren wurden denn auch die Planungsmethoden des modernen Städtebaus erstmals in Frage gestellt, nachdem die großen Wunden im Stadtganzen manifest geworden sind. Mittlerweile aber war die Planung mit all ihren Instrumenten im Rechtssystem fest verankert und konnte nicht einfach aufgehoben werden. Insbesondere sicherte sie den EigentümerInnen (und den SpekulantInnen) eine bestimmte Nutzung ihrer Grundstücke zu, was sich als bestimmende Größe für die Festlegung des Landwertes herausstellte. Der Immobilienmarkt ist ganz wesentlich auf die Planung angewiesen, um mit Landwerten handeln zu können. Das Feindbild Nummer 1 des Immobilienhändlers heißt demzufolge Planungsunsicherheit – was insofern paradox erscheint, als die Raumplanung von ihrer Entstehung her eigentlich ein obrigkeitliches (oder je nach dem demokratisches) Instrument zur besseren Koordination städtischer Zusammenhänge darstellte. Jetzt ist sie zum Instrument der Sicherstellung und Verwaltung von Eigentumswerten, von Rechtsansprüchen und Abgeltungen Einzelner geworden und hat damit ihren Charakter vorausschauender Lenkung verloren.

Neue Rahmenbedingungen

In den letzten Jahren hat sich die Situation insofern noch verschärft, als zu den üblichen raumplanerischen Festlegungen eine ganze Reihe von gesetzlichen Auflagen im Rahmen beispielsweise des Umweltschutzes oder auch der Gleichstellung gekommen sind. Bei diesen Auflagen handelt es sich natürlich wiederum um Teilsysteme, die jeweils individuell und unabhängig von den anderen Teilsystemen oder gar einer übergeordneten, zusammenhängenden Betrachtungsweise entstanden sind und optimiert werden und vielleicht mehr noch als die raumplanerischen Festlegungen ausgesprochen normativen Charakter haben. Das kann in extremis so weit führen, dass Grundstücke an ausgezeichneter Lage nicht mehr bebaut und genutzt werden können, weil die Einhaltung des Normenbündels ökonomisch vertretbare Lösungen verhindert. In solchen Situationen – und die Tendenz zeigt, dass solche Situationen langsam zur Normalität im Planungsalltag werden – bleibt nur der Weg über die Aushandlung der involvierten Interessen. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, ob nicht eine Reihe von „radikalen Korrekturen“ an der gängigen Planungspraxis angebracht sind, weil die planerische Überbestimmtheit zu einem anderen Verhalten zwingt, nämlich letztlich dazu, jedes Planungsvorhaben als einen Einzelfall zu verstehen, die beteiligten Interessen auszuhandeln und mit Ausnahmeregelungen an der legalen Praxis vorbeizusteuern. Damit meine ich gerade nicht so etwas wie die Wiener Großprojekte, die in Reinhard Seiss’ Buch Wer baut Wien (2007) in aller Klarheit und Schärfe (und sicherlich auch sehr polemisch) dargestellt werden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel der Millennium-Tower oder die Wienerberg City ermöglicht wurden, kann nicht die Lösung des Problems einer Planung darstellen, die offensichtlich nicht in der Lage ist, die Dynamik der Stadtentwicklung in adäquaten Leitbildern abzubilden.

Das städtebauliche Projekt – und damit sind sowohl die Vision von der Stadt als Ganzem als auch die einzelne Intervention in Form einer Quartiersplanung oder eines städtebaulichen Arealentwurfs gemeint – muss sich offensichtlich anders orientieren. Es kann weder darum gehen, Einzelinteressen zu bedienen und (wie dies beispielsweise gerade in Wien gang und gäbe ist) das architektonische Ego mit kurzfristigen Wirtschaftsinteressen zu vermählen, noch kann heutzutage eine über alles greifende normative Planung mit all ihren wuchernden Teilsystemen nachhaltig wirken. Im Sinne eines Wunschkataloges sind deshalb eingefordert:
1. Ein Planungsprozess, der möglichst alle potenziellen AkteurInnen mit einbezieht und somit den Interessenausgleich fördert.
2. Eine Planungsverwaltung, die mit stark vereinfachten und damit handhabbaren Gesetzen und Verordnungen operiert.
3. Eine Planungsstrategie, die von Seiten der Politik ihre privaten PartnerInnen sorgfältig auswählt und dabei insbesondere „soft skills“, also Sozialkompetenzen, berücksichtigt.
4. Eine Planungspolitik, die nicht normativ und partikulär Werte vorgibt (z. B. Geschoßflächenziffern, Anzahl der Parkplätze, Gebäudehöhen und -abstände, Energiegrenzwerte etc.), sondern Qualitätsstandards, diese aber zwingend!
5. Ein Planungsverständnis, das jedes Planungsvorhaben als Einzelfall mitsamt seinen spezifischen Randbedingungen versteht und entsprechend zu optimieren sucht (was man als „situative Nachhaltigkeit“ bezeichnen kann).
6. Eine Planungskultur, die Langfristigkeit zum Programm erklärt.
Kurzum: eine Verlagerung der Planungsfestlegungen und –kompetenzen von der normativen, legistischen Ebene hin zu einer prozessorientierten, auf Verhandlung der Interessen ausgerichteten Ebene unter Berücksichtigung einer nachhaltigen, auf den spezifischen Fall jedes Projektes bezogenen Zielsetzung.

Alle diese Forderungen sind möglicherweise nichts Neues. Aber es wäre an der Zeit, sie im Interesse einer besseren Städtebaukultur umzusetzen. Unser Beitrag als Städtebauende bestünde darin, die Zusammenhänge und Prozesse – die zugegeben einigermaßen komplex sind – transparent und verhandelbar zu machen, d. h. zu moderieren. Auch das ist nichts Neues. Es besteht lediglich der Verdacht, dass unsere Berufsgruppe dieser Aufgabe bisher nicht wirklich gewachsen ist und dass damit unsere Glaubwürdigkeit im Planungsprozess fehlt. In diesem Sinne appelliere ich einerseits an uns selbst, sich vermehrt mit den realen Prozessen der Stadtentwicklung zu befassen – d. h. sich vermehrt zu politisieren und fachlich zu profilieren – und anderseits, im Gegenzug, an die anderen Planungsbeteiligten (PolitikerInnen, BenutzerInnen, InvestorInnen, Behörden usw.), die Fachmeinung und die qualitativen Zuständigkeiten von ArchitektInnen-StädtebauerInnen anzuhören und ernst zu nehmen. Das ist möglicherweise ein zutiefst naives Bekenntnis zur Demokratie, aber an diese glaube ich (im Sinne von Winston Churchill) als die schlechteste aller möglichen Staatsformen – ausgenommen alle anderen – nach wie vor.

dérive, Fr., 2010.01.22

22. Januar 2010 Christoph Luchsinger

Die steirische Architektur von außen betrachtet

Zum vierten Mal publiziert das Haus der Architektur Graz ein Jahrbuch, das eine wertvolle Bilanz der Architektur in der Steiermark darstellt. Das Prinzip der ersten drei Bände wurde für die aktuelle Ausgabe grundlegend überdacht. Es entstand ein neues Konzept, das auf mehreren Ebenen zu einem überzeugenden Ergebnis geführt hat. Man entschloss sich, das Jahrbuch mit dem Architekturpreis des Landes Steiermark zu kombinieren. Anstelle einer mehrköpfigen Jury wird die Auswahl der Projekte künftig einem Kurator, diesmal dem Berliner Architekturkritiker Andreas Ruby, übertragen. Die Entscheidung, die Auswahl für den Architekturpreis in eine Hand zu geben, ist umstritten, aber couragiert. Unter dem subjektiven Fachurteil Andreas Rubys wurden zwölf Projekte für die Publikation, darunter eines für den Architekturpreis, ausgewählt.

Schlägt man das Buch auf, so tritt man unmittelbar in die Realität der steirischen Landschaft ein. Ein bemerkenswertes, formatfüllendes Foto des Erzberges mit Rastplatz im Vordergrund ist auf der nächsten Doppelseite von einem herben Schotterteich-Badeidyll, vermutlich südlich von Graz aufgenommen, gefolgt. Derartige Bilder trennen die zwölf Kapitel und Projekte voneinander. Während man die Vorworte der Politik und des Hauses der Architektur in der Umschlagklappe leicht übersieht, befindet man sich bereits mitten in der Lektüre des ersten Projekts. Die Bilder der in New York lebenden mexikanischen Fotografin Livia Corona fangen inszenierte Momente der Bauten aus unterschiedlichen Perspektiven ein und erzählen auf diese Weise kleine Geschichten. Die Sensibilität für den besonderen Augenblick, gepaart mit den inszenierten Narrativen führt zu einzigartigen Bildern.

Die Plandarstellungen haben im Buch einen besonderen Raum. Jedes Projekt wird mit einem Schwarzplan im Maßstab 1:2000 in seinem Kontext verortet. Die in der Planungspraxis üblichen Maßstäbe 1:200, 1:100 und 1:50 werden für die Darstellungen ausgewählter Fassaden und Grundrisse herangezogen. Die Auswahl lässt bei manchen Projekten weitere, ergänzende Darstellungen vermissen. Die Pläne wurden von Julian Schubert und Elena Schütz für dieses Buch gezeichnet und stellen bewusst auch die narrativen Details aus den Fotos dar.

Jedes Projekt wird von einer Interview­collage begleitet, die auf angenehme Weise die üblichen Projektbeschreibungen ersetzt. Studierende der Architekturfakultät in Graz wurden dafür engagiert, Gespräche mit Menschen zu führen, die aus unterschiedlichen Gründen einen Bezug zu den einzelnen Projekten haben. Aus diesem Material haben Ilka und Andreas Ruby Textcollagen zusammengestellt, die Verknüpfungen der neuen Bauten mit NutzerInnen, NachbarInnen, PassantIn­nen, AuftraggeberInnen und ArchitektIn­nen herstellen. Die üblichen Eckdaten der Projekte sind den einzelnen Kapiteln zugeordnet und werden im Anhang noch um ausführlichere Angaben zu FachplanerInnen, MitarbeiterInnen und ausführenden Firmen ergänzt.

Im Nachwort des Kurators, das die zwölf Kapitel abschließt, wird aus guter Distanz, mit qualifiziertem Blick die jüngere Architekturgeschichte der Steiermark reflektiert. Ausgehend von der Grazer Schule werden zwei Folgegenerationen beschrieben, die heute das Architekturgeschehen des Landes maßgeblich bestimmen. Die Besprechung der ausgewählten Projekte aus der Sicht des Kurators bildet den Abschluss dieses Textes. Im Nachwort der Herausgeber, das wiederum in der Umschlagklappe leicht zu übersehen ist, findet man interessante Informationen zum Konzept des Buches.

Das Buch beschreibt auf geschickte Weise die Lage der Architektur in der Steiermark und stellt Lob und Kritik gleichermaßen dar. Mit der Entscheidung für ein neues Konzept für Jahrbuch und Architekturpreis setzt sich das Haus der Architektur einer allgemeinen und der Kurator Andreas Ruby einer speziellen Kritik aus, die vor allem aus der lokalen Architekturszene kommt. Die Kompetenz und Qualifikation der beteilig­ten Akteure steht außer Zweifel, die Herausforderung liegt nun in einem gewinnbringenden Diskurs für alle Seiten, der den Blick von außen als Chance nutzt. Dafür ist dieses Buch ein guter Ausgangspunkt.

dérive, Fr., 2010.01.22

22. Januar 2010 Roland Tusch

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