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»Was heißt konstruieren mit Holz – heute und morgen?«

Holzbau und Architektur sind befreundete Disziplinen, weil dreidimensionales Vorstellungsvermögen, ein umfassendes Planungsverständnis, die Liebe zur Materialität...

Holzbau und Architektur sind befreundete Disziplinen, weil dreidimensionales Vorstellungsvermögen, ein umfassendes Planungsverständnis, die Liebe zur Materialität...

Holzbau und Architektur sind befreundete Disziplinen, weil dreidimensionales Vorstellungsvermögen, ein umfassendes Planungsverständnis, die Liebe zur Materialität und – nicht zuletzt, sondern zuvorderst – die Lust auf experimentelle Lösungen sie verbindet. Das Innovationspotenzial im Holzbau erscheint immens, allerdings auch die Grenzen von dessen Umsetzbarkeit.

Im Spannungsfeld zwischen Systementwicklungen und individuellen Lösungen, zwischen optimiertem Workflow und traditioneller Zimmerei bauen sich die Problematiken von Form- und Materialkongruenz, Planungsschnittstellen und Kostenwahrheiten auf – und nicht zuletzt von Verantwortlichkeiten für Kosten und andere Planungsfolgen. Wenn die These von der Freundschaft zutrifft, dann müsste hier auch die Solidarität von Holzbau und Architektur greifen...

Die Ingenieure Alfred R. Brunnsteiner, Georg Hochreiner, Pirmin Jung, Konrad Merz, Kurt Pock, Johann Riebenbauer und Richard Woschitz beantworteten per E-Mail Fragen zum Stand des Holzbaus.

Wie schätzen Sie aus heutiger Sicht die gestalterischen Chancen des Bauens mit Holz in Konkurrenz zu anderen Bauweisen ein? Welche architektonischen Potenziale hat Holz und sind diese schon ausgelotet?

Alfred R. Brunnsteiner
Durch plattenförmig vorgefertigte Bauteile aus Holz, wie osb, Furniersperrholz, Brettsperrholz etc. kommt man nahe an die Gestaltungsmöglichkeiten von Stahlbeton heran.

Georg Hochreiner
Der Ingenieurholzbau hat sich als »Königsklasse«, als Lehrmeister für künftige Ingenieure etabliert, da er alle Komponenten enthält, die auch bei anderen Bauweisen zur Anwendung kommen. Aktuell ist dieses Wissen nur bei wenigen Experten vorhanden und gipfelt in einzelnen Pilotprojekten und vielen missverstandenen Nachahmungen.

Pirmin Jung
Hölzerne Tragwerke, Flächenbauteile und Verkleidungen für unterschiedlichste Projektarten bergen ein riesiges, noch nicht ausgeschöpftes Gestaltungspotenzial.

Konrad Merz
Das Potenzial liegt in der Vielseitigkeit von Holz. Es sind Bauteile möglich, die nicht nur tragen, sondern gleichzeitig auch den Raum begrenzen, hohen Anforderungen an Oberflächen und Haptik genügen, dämmen und regulierend auf das Raumklima wirken.

Johann Riebenbauer
Holzbau ist im Gegensatz zu Stahl- und Stahlbetonbau wesentlich komplexer, die Grenzen des Sinnvollen und Wirtschaftlichen sind oft schneller erreicht. An eine gewisse »Grenzenlosigkeit« zum Beispiel des Stahlbaus kommt man nicht heran.

Richard Woschitz
Dank neuer Entwicklungen in der Verbindungsmitteltechnik, der Bearbeitungsmöglichkeiten von Holz und des Einsatzes digitaler Technologien in Planung und Herstellung entstehen noch nie gesehene Formen in der Holzarchitektur. Holz hat enormes architektonisches Potenzial, es muss nur konstruktiv richtig eingesetzt und mit modernsten Technologien verarbeitet werden.


Wo liegen aus Ihrer Sicht die (sinnvollen) statisch-konstruktiven Grenzen des Holzbaus? Welche räumlichen Dimensionen und welche Querschnitte sind heute machbar und auf welche Weise? Wo sehen Sie Innovationspotenzial?

Alfred R. Brunnsteiner
Wie Stahlbeton kann man auch Holz vorspannen. Größe hat eigentlich nur mit Höhe zu tun, je weiter gespannt wird, desto mehr konstruktive Höhe braucht es, egal mit welchem Material.

Georg Hochreiner
Die Querschnittsabmessungen sind mit den maschinellen Entwicklungen explosiv gewachsen und reichen heute von Lattenquerschnitten mit 3 mal 5 cm bis hin zu blockverleimten Brettschichtholzbauteilen mit Abmessungen von 60 mal 300 cm. Das dazugehörige Materialverständnis ist jedoch in vielen Fällen auf dem Stand von vor fünfzig Jahren zurückgeblieben, die normative Infrastruktur ist auf klassische Bauweisen abgestimmt und mit unflexiblen Bemessungsrezepturen untermauert.

Pirmin Jung
Für die räumliche Dimension gibt es für mich so keine (sinnvollen) Grenzen. Die Gebäudegeometrie mit der jeweils möglichen statischen Höhe entscheidet über die Spannweite. In einigen Jahren werden wir Hallen und mehrspurige Schwerlastbrücken mit über 100 Metern Spannweite sowie Hochhäuser aus Holz bauen. Dazu müssen wir u. a. Bauteile und Verbindungen für den Meganewton-Lastbereich entwickeln.

Kurt Pock
Konstruktive Grenzen gibt es aus meiner Sicht praktisch keine. Limitierend sind oft die Transportlängen und die Montagestöße. Innovationspotenzial sehe ich vor allem in der Verbindungs- und Fügetechnik. Gerade bei den Standardformteilen für den Holzhausbau besteht großes Potenzial. Hier bauen wir oft hoch entwickelte Elemente mit überalteten, nicht richtig auf die Anforderungen abgestimmten Verbindern zusammen.

Johann Riebenbauer
Sehr verkürzt: Brettsperrholz kann in Stärken von bis zu 60 cm produziert werden, ein 20-geschossiges Bauwerk mit 8 bis 9 Metern Deckenspannweite benötigt im eg eine 24 cm dicke Wand. Ein 100 Meter hoher Turm für Windkraftanlagen ist mit 30 cm Wandstärke machbar.

Richard Woschitz
Bei Großstadien sind die maximalen Spannweiten nur durch Netzwerkkuppeln zu erreichen. Bei Tragwerken mit geraden Stäben können beim Einsatz von Einfeldsystemen mit Vollwandträgern aus Brettschichtholz Spannweiten von 30 Metern, mit unterspannten Trägern Spannweiten von 50 Metern erreicht werden. Setzt man parallelgurtige Fachwerkträger ein, sind Spannweiten von 70 Metern, mit Fachwerkrosten sogar von 100 Metern möglich. Durch den Einsatz der cnc-Technik sind heute (fast) alle Querschnittsformen möglich. Das größte Innovationspotenzial sehe ich in der Verbindungsmitteltechnik sowie in der Homogenisierung des Werkstoffes Holz in der Palette der Holzwerkstoffprodukte.

Wie verläuft Ihrer Meinung nach idealerweise der Planungsprozess Architekt – Holzbauingenieur – Holzbauer – Ausführung? Wie gestalten sich aus Ihrer Sicht diese Schnittstellen?

Alfred R. Brunnsteiner
Beim Vorentwurf sollte der Tragwerksplaner schon neben dem Architekten sitzen. Die ersten Rechenschritte erfolgen auf Basis des Vorentwurfes. Die Holzbaufirmen sind auch immer hilfreich, jedoch in ihrer Fertigungstechnik verwurzelt. In der Auslobungsphase ergeben sich natürlich immer wieder Veränderungen infolge der Bieterideen, da muss das Planungsteam flexibel reagieren können.

Georg Hochreiner
Aktuell verfügen Architekten – bis auf wenige Ausnahmen – noch nicht über genügend Erfahrung im Umgang mit dem Baustoff Holz. Es ist daher zu empfehlen, gleich in den ersten fünf Minuten des architektonischen Entwurfes den Holzbauingenieur mitwirken zu lassen.

Pirmin Jung
In der Schweiz hat sich ein optimaler Planungsprozess etabliert: Vom ersten Entwurf weg entwickeln die Architekten die Tragstruktur und den Holzsystembau zusammen mit einem von Unternehmungen und Produkten unabhängigen Holzbauingenieur. Dieser erledigt die Detailplanung und die Statik, erstellt das detaillierte Leistungsverzeichnis für alle Leistungen, die der Holzbauer zu liefern hat und zeichnet während der Realisierung im Auftrag des Bauherrn für die Qualitätssicherung verantwortlich.

Konrad Merz
Möglichst frühe Einbindung des Ingenieurs und anschließend »herkömmlicher« Weg der Projektbearbeitung. Holzbauunternehmungen machen auf Basis der Ausführungsplanung von Ingenieur und Architekt die Werkstattplanungen.

Kurt Pock
Die Zusammenarbeit sollte so früh wie möglich starten, zumindest zwischen Architekt und Holzbauingenieur, der Holzbauer als Ausführender kann ja nur in Ausnahmefällen in der Planungsphase hinzugezogen werden (Vergaberichtlinien!). Im Zuge der Werkstattplanung soll ein Dialog zwischen Tragwerksplaner und Holzbauer stattfinden, um die Potenziale der Firma im Bereich des Abbundes und der Vorfertigung bestmöglich einzubringen.

Johann Riebenbauer
Ich habe in den letzten Jahren viele Versionen der Zusammenarbeit ausprobiert: nur mit ausführenden Firmen, Varianten über ausführende Firmen, nur Vorstatik und Firma macht die Ausführungsstatik – sowie Planung mit Architekten vom Entwurf weg bis zur Ausführung. Nur letztere Version ist wirklich zielführend! Die besten Projektergebnisse (auch in wirtschaftlicher Hinsicht) gelingen, wenn man der ausführenden Firma alles vorgeben kann.

Richard Woschitz
Architekten und Holzbauingenieure sitzen im selben Boot, mit dem optimalen Ergebnis als gemeinsames Ziel. Um das zu erreichen, ist der Ingenieur zunehmend als gleichermaßen kreativer Gegenpart zum Architekten gefragt, als entwerfender Tragwerksplaner und nicht nur als rechnender Statiker. Architekt und Holzbauingenieur sind aber auch in Ihrer Konstruktionswahl immer verpflichtet, auf die Herstellungs- und Baustellenlogistik zu achten. Erst nach diesen Prozessen sollte der ausführende Holzbauer beigezogen werden, um den kreativen Planungsprozess nicht einzuschränken.


Unter welchen Voraussetzungen sind Holzbaukonstruktionen kostengünstiger als andere Bauweisen?

Alfred R. Brunnsteiner
Ein Pfetten- oder Sparrendachstuhl ist am billigsten mit Holz zu machen. Bei flächigen und räumlichen Bauteilen ist man kostenneutral. Jeder Baustoff hat seine Vor- und Nachteile. Wenn ein Baustoff und die statische Höhe optimiert werden können, kommen fast immer die gleichen Kosten heraus. Preisunterschiede entstehen erst bei Höhenproblemen, weit gespannte schlanke Dächer werden dann meist in Stahl errichtet.

Georg Hochreiner
Wenn mit dem Rohstoff sparsam und effizient umgegangen wird, müssen Holzkonstruktionen nicht mehr zu Liebhaberpreisen eingekauft werden, sondern erweisen sich sogar als wirtschaftlicher. Voraussetzung dafür ist aber Input von Know-how in die Konstruktion inklusive Detailausbildung. Dies liegt dann auf der Linie nachhaltiger Bewirtschaftung, ist jedoch noch nicht in den Köpfen der Industrie verankert, die aktuell noch möglichst viel Holz mit traditionellen Methoden verkaufen will.

Pirmin Jung
Holztragwerke mit einem für den Holzbau optimalen Spannweiten-Höhen-Verhältnis sind billiger als Stahl- und Betontragwerke, auch bei großen Spannweiten und Lasten. Bei Geschossbau ist der Holzbau bei relativ einfachen Grundrissen, im energieeffizienten Bauen (Minergie-P, Minergie-Eco) und bei Schul- und Verwaltungsbauten kostenmäßig konkurrenzfähig.

Konrad Merz
Der Holzbau hat im Geschossbau seine Vorzüge, wenn folgende Punkte zutreffen: regelmäßig strukturierte Grundrisse, Spannweiten unter 6 Metern, möglichst linienförmige Lastabtragung (tragende Wände), tragende Deckenbauteile sichtbar belassen als hochwertige Oberflächen, hohe Anforderungen an den U-Wert der Gebäudehülle. Im Ingenieurholzbau haben Holzkonstruktionen Vorteile bei anspruchsvollen geometrischen Formen und auch, wenn die tragenden Bauteile direkt raumbildend wirken sollen.

Kurt Pock
… wenn das exzellente Verhältnis von Gewicht und Tragfähigkeit dieses wunderbaren Werkstoffs zum Tragen kommt. Dies ist bei großen Spannweiten der Fall. Massive Konstruktionen tragen vor allem sich selbst. Holz hat hier dank seines geringen Eigengewichts echte Vorteile.

Johann Riebenbauer
… nur wenn Leichtigkeit ein Faktor ist bzw. wenn die Bauweise sehr umfassend beurteilt und verglichen wird. Ansonsten ist der Holzbau in Mitteleuropa immer teurer als andere Bauweisen, da im Holzbau meist höhere Maßstäbe angesetzt werden. So gibt es Architekten, die mit Holz nicht bauen, wenn man außen nicht sieht, dass es ein Holzhaus ist. Holzfassaden sind aber teurer als Putzfassaden …

Richard Woschitz
… wenn – bei sparsamstem Holzeinsatz – Systembau in der Holzkonstruktion angewendet wird. Entscheidend ist die konstruktive Effizienz zwischen Materialeinsatz und Tragvermögen.


In welcher Form beeinflusst die internationale – ja, globale – Verbreitung des Holzbaus dessen Techniken und Fertigungsmethoden?

Alfred R. Brunnsteiner
Man sollte immer einheimisches Holz verwenden. Holz aus den Regenwäldern sollte für uns tabu sein. Verrückt ist es auch, wenn Holz aus Weißrussland kommt, in Zentraleuropa verarbeitet und dann in Kanada verbaut wird. Die Globalisierung sollte im gesamten Bauwesen, nicht nur im Holzbau, zum Ideenaustausch führen; die Techniken und Fertigungsmethoden können dann für alle nur besser werden.

Georg Hochreiner
Auch wenn Holzkonstruktionen weltweit errichtet werden, dominieren immer noch nationale Baupraktiken, limitiert durch das lokale Ausbildungssystem für die Baufachleute.


Die Kommunikation von Bildern funktioniert, der Transfer von Fachwissen jedoch wesentlich schlechter. Marketing ist also nicht mehr das alleinige Instrument für die Erschließung neuer Märkte.

Pirmin Jung
Beispiele aus anderen Ländern geben hiesigen Bauherren und Architekten das Vertrauen, dass eine bestimmte Bauaufgabe auch in Holzbauweise möglich ist. Natürlich orientiert man sich am Ausland, um für die eigene Arbeit neue Impulse und Ideen zu erhalten.

Konrad Merz
Trotz Globalisierung bleibt das Bauen und damit der Holzbau ein Geschäft mit vielen nationalen und regionalen Eigenheiten.

Kurt Pock
Um international reüssieren zu können, müssen wir die Standardisierung im Holzbau vorantreiben, weg vom individuellen Prototypenbau hin zur allgemein bekannten Standardlösung. Das Handwerk des Zimmermanns beschränkt sich weitgehend auf den deutschsprachigen Raum. In anderen Ländern werden die Holzkonstruktionen von anderen Gewerken mitbearbeitet. Um dennoch die Qualität zu halten, sind klare und robuste Lösungen erforderlich.

Johann Riebenbauer
International gesehen fehlt es vielen Ländern an Holzbautradition. Fachleute mit einigermaßen fundiertem Wissen hinsichtlich Bauphysik usw. sind oft nicht vorhanden. Deshalb werden international gesehen nur sehr einfache Bauweisen Erfolg haben. Die Anforderungen sind international gesehen auch sehr unterschiedlich, ein Vergleich ist hier schwer, Ansätze, die bei uns Gültigkeit haben, sind in manchen Ländern unsinnig und umgekehrt.

Richard Woschitz
Je mehr beispielhaft ausgeführte Holzbauprojekte in der Öffentlichkeit wahrnehmbar werden, umso mehr wird ein Weiterentwicklungsprozess in der Holzbautechnik und Fügetechnik stattfinden.

(Die Antworten sind zum Teil stark gekürzt.)

zuschnitt, Mi., 2010.07.14

22. Januar 2010Christoph Luchsinger
dérive

Zur „Krise“ der klassischen Raumplanung

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die...

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die...

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die pessimistische betrachtet das Planungswerk der Moderne als gescheitert – also all die Bemühungen im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, die Stadt lebensfähiger zu machen, ihre Funktionalität zu optimieren, gerechter zu verteilen, sozialere Zustände anzubieten usw. Diese Sicht interpretiert das heutige städtebauliche Geschehen als Resultat partikulärer Interventionen, zufälliger Maßnahmen, eigensinniger Gewinnmaximierung, katastrophaler Fehl­koordinationen und – im besten Fall – einiger geglückter Einzelfälle. Das, was wir noch Planung nennen, dient in der pessimistischen Sicht lediglich als rechtlich abgesteckter „playground“ wilder Spekulationen und keinesfalls der Verbesserung urbaner Verhältnisse im Sinne des Gemeinwohls. Diese pessimistische Sicht des Städtebaus rekurriert umgekehrt auf ein positivistisches Geschichtsverständnis und genießt heimlich die Widersprüchlichkeit und letztlich die Brutalität der Stadt in ihrem Wesen als menschliches Artefakt schlechthin. Und so ganz von der Hand zu weisen ist diese Sicht beileibe nicht. Sofern man die Stadtkultur und ihre baulichen Ausprägungen über mehrere Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg betrachtet, gehören gerade Brüche, Katastrophen, Zerstörungen und Vernichtungen, Eigensinnigkeiten, Aufoktroyierungen, planerische Zwangsmaßnahmen usw. zu ihren charakteristischen Eigenheiten. Die heutige Stadt als Resultat all dieser Wirkungen ist die Stadt, in der wir leben und die wir lieben, gerade auch ihrer Widersprüche wegen.

Die quasi optimistische Sicht betrachtet die Stadt als Gegenstand laufender Optimierung, als Akkumulation stetiger Verbesserungen. Ausgehend von den planerischen Kompendien, deren Anweisungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die technische und soziale Verwaltung der modernen Stadt regeln, erkennt die optimistische Sicht der heutigen Stadtkultur ihren Gehalt und ihre Leistung im Einbezug ständig neuer Vorgaben, z. B. des Umweltschutzes, der Energieeffizienz, der Wohnqualität, der ökologischen Bauweise, des Lärmschutzes, der Luftbeschaffenheit, der Mindestanforderungen an die Wohnungen, der Behindertengängigkeit, des Erschließungs- und Mobilitätskonzepts, der städtebaulichen Einbindung usw. usf. All diese Erfordernisse verlangen ausgewiesene Fachkenntnisse und einen gewaltigen Apparat zu deren Verwaltung und Kontrolle. Das heißt, wir als Planungsfachleute sind unverzichtbar – und nur deshalb nennen wir diese Sicht optimistisch, eben quasi optimistisch. In Wirklichkeit aber bewegen wir uns in einem orwellschen Szenario, dessen Kontrolle zur Hypertrophie neigt. Wir stehen mittlerweile tatsächlich vor dem Problem, dass die Mechanismen und Zielsetzungen der Planung sich gegenseitig mehr und mehr widersprechen, weil sie von PlanerInnen fachidiotisch und von PolitikerInnen willkürlich erdacht wurden. Für uns Städtebauende erscheinen die planungsrechtlichen Vorgaben mittlerweile nicht mehr als Leitlinien oder Leitfiguren einer zukünftigen „Neuen Stadt“, sondern als lästige Hindernisse in der Folge fehlgeleiteter Planungspolitik und als Schikanen für die Etablierung gescheiter städtebaulicher Ideen.

Die Entstehungsgeschichte der Raumplanung

Greifen wir zurück auf die Entstehungsgeschichte der Raumplanung. Die Raumplanung entstand als Weiterentwicklung der Stadterweiterungsplanungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die damals noch mit eigentlichen städtebaulichen Mitteln durchgeführt wurden. Städtebauliche Mittel heißt: Straßenplan, Definition von Baufeldern, Bebauungsvorgaben mittels Baulinien, Ausscheidung von Parzellen, Vorschreibung von Geschoßzahlen, Bautiefen usw.

Beispiele dafür finden sich überall in Europa: Josef Stübbens Handbuch des Städtebaus (1890) beispielsweise gibt umfassende Anweisungen, wie Stadterweiterungsquartiere technisch korrekt zu planen sind. Ildefons Cerdàs Teoria de la Urbanización (1867) erkennt, historisch gesehen, erstmals den Zusammenhang von Erschließung, Typologie des Wohnbaus und Anordnung der Freiräume und wird in seiner Anwendung in Form des Erweiterunsplans für Barcelona – des berühmten Ensanche/Eixample – zum Prototypen einer zwar städtebaulich klar fixierten, jedoch sehr flexibel interpretierbaren Struktur. Camillo Sitte, dessen Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen die Raumbildung in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte, gehört ganz zentral zu dieser Generation von Planern, die den Städtebau als integrale Aufgabe des Zusammenspiels von Infrastruktur, öffentlichen und privaten Bereichen, Baumassenverteilung und räumlicher Gestaltung verstand. Die Namens­liste ließe sich wesentlich verlängern: Reinhard Baumeister, Otto Wagner, Bruno Taut und so weiter – bis hin zum frühen Le Corbusier, dessen erster Großstadtentwurf „Une ville contemporaine pour 3 millions d’habitants“ aus dem Jahr 1923 ausgesprochen „architektonisch“ ist, gerade weil er zum Beispiel die Definition von Gebäudeblocks an bestimmte Typologien bindet.

Der Beginn der Aufspaltung von Städtebau und Raumplanung lässt sich historisch gesehen relativ klar festmachen, nämlich an den ersten Entwürfen für Großstadterweiterungen, namentlich dem Wettbewerb für Groß-Berlin 1906-10, der in verschiedenen Städten seine Nachahmungen fand (z. B. in Zürich, 1914-18). Diese Entwürfe, die in unterschiedlicher Art und Weise in die spätere Planung eingeflossen sind, entstanden vor dem Hintergrund der damaligen Eingemeindungen. Das schnelle, meist wenig koordinierte Wachstum der Vororte in der Folge der Industrialisierung führte zu einem extremen Ungleichgewicht zwischen Kernstadt und Umland, sowohl hinsichtlich der Nutzungsverteilung als auch hinsichtlich der Sozialstruktur, der Haushaltsbilanzen der verschiedenen Gemeinden und natürlich der Verkehrssituation. Dank der großmaßstäblichen Betrachtungsweise bei diesen Entwürfen stellte sich das Stadtganze erstmals als ein System der Interdependenz von Infrastruktur, Nutzungsverteilung, Sozialstruktur, Verkehrsnetzen und Finanzpolitik dar. Damit war auch die Möglichkeit formuliert, den Städtebau und seine Probleme als Überlagerung von verschiedenen Teilsystemen zu betrachten, zu analysieren und zu steuern.

Hier setzt die Raumplanung an, indem sie beispielsweise die Nutzungsverteilung und die Dichte als eigenes System darstellt. Oder das Verkehrsnetz, dessen Optimierung unabhängig von allen anderen städtischen Parametern – gerade auch unabhängig von der stadträumlichen Situation – wesentlich effizienter zu bewerkstelligen war. Die Raumplanung arbeitet im wesentlichen mit Gesamtplänen, die jeweils nur einzelne Aspekte des Stadtganzen isoliert behandeln und optimieren. Dieses Denken in Teilsystemen ist durchaus im Sinne einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise, allerdings auch mit allen deren Nachteilen. Insbesondere ist es schwierig, die Teilsysteme wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Teilsysteme tendieren darüber hinaus dazu, sich immer weiter auszudifferenzieren und zu verselbstständigen. Die Geschichte der Raumplanung zeigt diesen Effekt geradezu exemplarisch auf. Während die ersten Umsetzungen für Stadterweiterungsplanungen mittels Flächenwidmungs- oder Zonenplänen noch zu gleichgewichtigen Resultaten führten, sind in der Folge wegen der ständigen Optimierung der Teilsysteme widersprüchliche Verhältnisse entstanden. Um nur zwei, drei Beispiele zu nennen: Die Verkehrsplanung ist nicht kongruent mit der Nutzungsplanung, die planerische Sicherung von Naturräumen kollidiert mit den Anforderungen an effiziente Ver- und Entsorgungssysteme, die Planungen der einzelnen Kommunen sind untereinander nicht koordiniert, was in der Folge des starken Wachstums der Städte und der Herausbildung von Agglomerationen zu buchstäblich verzerrten Räumen führt – so ziemlich das Gegenteil des planerischen Grundgedankens einer koordinierten Siedlungsentwicklung. Genau dies zeigte sich erstmals in der Hochblüte städtischer Planung nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Beispiel in Form von quer durch kleinteilige Quartiere geschlagenen Verkehrsschneisen oder disproportionaler Verdichtungen.

In den 1970er Jahren wurden denn auch die Planungsmethoden des modernen Städtebaus erstmals in Frage gestellt, nachdem die großen Wunden im Stadtganzen manifest geworden sind. Mittlerweile aber war die Planung mit all ihren Instrumenten im Rechtssystem fest verankert und konnte nicht einfach aufgehoben werden. Insbesondere sicherte sie den EigentümerInnen (und den SpekulantInnen) eine bestimmte Nutzung ihrer Grundstücke zu, was sich als bestimmende Größe für die Festlegung des Landwertes herausstellte. Der Immobilienmarkt ist ganz wesentlich auf die Planung angewiesen, um mit Landwerten handeln zu können. Das Feindbild Nummer 1 des Immobilienhändlers heißt demzufolge Planungsunsicherheit – was insofern paradox erscheint, als die Raumplanung von ihrer Entstehung her eigentlich ein obrigkeitliches (oder je nach dem demokratisches) Instrument zur besseren Koordination städtischer Zusammenhänge darstellte. Jetzt ist sie zum Instrument der Sicherstellung und Verwaltung von Eigentumswerten, von Rechtsansprüchen und Abgeltungen Einzelner geworden und hat damit ihren Charakter vorausschauender Lenkung verloren.

Neue Rahmenbedingungen

In den letzten Jahren hat sich die Situation insofern noch verschärft, als zu den üblichen raumplanerischen Festlegungen eine ganze Reihe von gesetzlichen Auflagen im Rahmen beispielsweise des Umweltschutzes oder auch der Gleichstellung gekommen sind. Bei diesen Auflagen handelt es sich natürlich wiederum um Teilsysteme, die jeweils individuell und unabhängig von den anderen Teilsystemen oder gar einer übergeordneten, zusammenhängenden Betrachtungsweise entstanden sind und optimiert werden und vielleicht mehr noch als die raumplanerischen Festlegungen ausgesprochen normativen Charakter haben. Das kann in extremis so weit führen, dass Grundstücke an ausgezeichneter Lage nicht mehr bebaut und genutzt werden können, weil die Einhaltung des Normenbündels ökonomisch vertretbare Lösungen verhindert. In solchen Situationen – und die Tendenz zeigt, dass solche Situationen langsam zur Normalität im Planungsalltag werden – bleibt nur der Weg über die Aushandlung der involvierten Interessen. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, ob nicht eine Reihe von „radikalen Korrekturen“ an der gängigen Planungspraxis angebracht sind, weil die planerische Überbestimmtheit zu einem anderen Verhalten zwingt, nämlich letztlich dazu, jedes Planungsvorhaben als einen Einzelfall zu verstehen, die beteiligten Interessen auszuhandeln und mit Ausnahmeregelungen an der legalen Praxis vorbeizusteuern. Damit meine ich gerade nicht so etwas wie die Wiener Großprojekte, die in Reinhard Seiss’ Buch Wer baut Wien (2007) in aller Klarheit und Schärfe (und sicherlich auch sehr polemisch) dargestellt werden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel der Millennium-Tower oder die Wienerberg City ermöglicht wurden, kann nicht die Lösung des Problems einer Planung darstellen, die offensichtlich nicht in der Lage ist, die Dynamik der Stadtentwicklung in adäquaten Leitbildern abzubilden.

Das städtebauliche Projekt – und damit sind sowohl die Vision von der Stadt als Ganzem als auch die einzelne Intervention in Form einer Quartiersplanung oder eines städtebaulichen Arealentwurfs gemeint – muss sich offensichtlich anders orientieren. Es kann weder darum gehen, Einzelinteressen zu bedienen und (wie dies beispielsweise gerade in Wien gang und gäbe ist) das architektonische Ego mit kurzfristigen Wirtschaftsinteressen zu vermählen, noch kann heutzutage eine über alles greifende normative Planung mit all ihren wuchernden Teilsystemen nachhaltig wirken. Im Sinne eines Wunschkataloges sind deshalb eingefordert:
1. Ein Planungsprozess, der möglichst alle potenziellen AkteurInnen mit einbezieht und somit den Interessenausgleich fördert.
2. Eine Planungsverwaltung, die mit stark vereinfachten und damit handhabbaren Gesetzen und Verordnungen operiert.
3. Eine Planungsstrategie, die von Seiten der Politik ihre privaten PartnerInnen sorgfältig auswählt und dabei insbesondere „soft skills“, also Sozialkompetenzen, berücksichtigt.
4. Eine Planungspolitik, die nicht normativ und partikulär Werte vorgibt (z. B. Geschoßflächenziffern, Anzahl der Parkplätze, Gebäudehöhen und -abstände, Energiegrenzwerte etc.), sondern Qualitätsstandards, diese aber zwingend!
5. Ein Planungsverständnis, das jedes Planungsvorhaben als Einzelfall mitsamt seinen spezifischen Randbedingungen versteht und entsprechend zu optimieren sucht (was man als „situative Nachhaltigkeit“ bezeichnen kann).
6. Eine Planungskultur, die Langfristigkeit zum Programm erklärt.
Kurzum: eine Verlagerung der Planungsfestlegungen und –kompetenzen von der normativen, legistischen Ebene hin zu einer prozessorientierten, auf Verhandlung der Interessen ausgerichteten Ebene unter Berücksichtigung einer nachhaltigen, auf den spezifischen Fall jedes Projektes bezogenen Zielsetzung.

Alle diese Forderungen sind möglicherweise nichts Neues. Aber es wäre an der Zeit, sie im Interesse einer besseren Städtebaukultur umzusetzen. Unser Beitrag als Städtebauende bestünde darin, die Zusammenhänge und Prozesse – die zugegeben einigermaßen komplex sind – transparent und verhandelbar zu machen, d. h. zu moderieren. Auch das ist nichts Neues. Es besteht lediglich der Verdacht, dass unsere Berufsgruppe dieser Aufgabe bisher nicht wirklich gewachsen ist und dass damit unsere Glaubwürdigkeit im Planungsprozess fehlt. In diesem Sinne appelliere ich einerseits an uns selbst, sich vermehrt mit den realen Prozessen der Stadtentwicklung zu befassen – d. h. sich vermehrt zu politisieren und fachlich zu profilieren – und anderseits, im Gegenzug, an die anderen Planungsbeteiligten (PolitikerInnen, BenutzerInnen, InvestorInnen, Behörden usw.), die Fachmeinung und die qualitativen Zuständigkeiten von ArchitektInnen-StädtebauerInnen anzuhören und ernst zu nehmen. Das ist möglicherweise ein zutiefst naives Bekenntnis zur Demokratie, aber an diese glaube ich (im Sinne von Winston Churchill) als die schlechteste aller möglichen Staatsformen – ausgenommen alle anderen – nach wie vor.

dérive, Fr., 2010.01.22



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16. Dezember 2008Christoph Luchsinger
zuschnitt

Holz in der Beiz

Als ich ein kleiner Junge war, standen zwei Gerichte ganz oben auf meinem Wunschspeisezettel. Riz Casimir bei Mövenpick und Backhendl bei Wienerwald waren...

Als ich ein kleiner Junge war, standen zwei Gerichte ganz oben auf meinem Wunschspeisezettel. Riz Casimir bei Mövenpick und Backhendl bei Wienerwald waren...

Als ich ein kleiner Junge war, standen zwei Gerichte ganz oben auf meinem Wunschspeisezettel. Riz Casimir bei Mövenpick und Backhendl bei Wienerwald waren Frühformen einer Küche, die sich erstens nicht mehr an die einheimischen Speisen und Ressourcen hielt und zweitens Essen auftischte, das jedes Mal genau gleich gut schmeckte wie beim vorigen Mal. Und mindestens ebenso faszinierend wie das Essen waren die täuschend echt aussehenden lebensgrossen Möwen, die im Mövenpick am Paradeplatz vor einem Panoramafoto der Zürcher Quaianlagen schwebten. Alles passte perfekt ins Bild einer weltoffenen City der 1960er Jahre mit ihren aufblühenden Banken, Versicherungen und noblen Geschäften. Die rote Weichselkirsche zuoberst auf dem mit exotischen Früchten vermischten Hühnergeschnetzelten im Reisring war ein Wink aus fernen Welten, in die wir am liebsten sofort geflogen wären.

Was damals sozusagen unbedarft begann, entpuppte sich schon bald als weitreichende Verwandlung der gastronomischen Topografie. Mit der Öffnung zu Küchen anderer Länder hielten auch andere Interieurs Einzug, und zwar im schönen Gleichschritt mit den Urlaubsreisen, die wir zunächst an die Riviera, dann an die Costa Brava und in die Ägäis unternahmen. Beim »Italiener« oder beim »Griechen« (gemäss dem Sprachgebrauch in Deutschland) zu essen, brachte so etwas wie ein Stück Fröhlichkeit in den Alltag des sozialen Wohlfahrtsstaats, mit Fischernetzen und Muscheln an den Wänden, Freskos der Rialtobrücke oder der Akropolis. Frascati und Chianti, Retsina und Rioja benetzten Pizza und Mussaka, Cozze und Paella. All das war unsere Welt und wurde keinesfalls als etwas vordergründig Konstruiertes, als Vorgespieltes wahrgenommen.

Während wir uns in den Trattorias und Tavernen bei allem aufgefahrenen Kitsch also sehr wohl zu Hause fühlten, verschwand allmählich Stück für Stück und leise der althergebrachte Typus der meist hölzern ausgekleideten Gaststube und mit ihm auch seine Speisekarte, auf der wir neben Rahmschnitzel mit Nudeln, Kalbszunge an Kapernsauce mit Bohnen oder zweierlei Braten an dreierlei Saucen auch Schleie, Hecht und Brachsmen aus unseren Gewässern fanden. Die Erosion der Speisekarte fand ihre Entsprechung in der Erosion der Interieurs. Ich wage zu behaupten, dass in unseren Landen die historisch letzten authentischen Modernisierungen traditioneller Gaststuben so um 1970 herum stattgefunden haben, etwa gleichzeitig mit der Verdrängung der Bachforelle durch die Regenbogenforelle und der massenhaften Einführung von Papierservietten. Was nachher folgte, waren hilflose Versuche, den Kunden medial zu übertölpeln mit allerlei Szenerien, die zunächst und am umfassendsten in »Sechuans« oder »Wong Tongs« als undurchsichtige Höhlen daherkamen und in »Asian Dreams« als Thaigärten inklusive Felsenquellen, künstlichem See und Brücke darüber auf die Spitze getrieben wurden, übertroffen nur noch von den Lokalen, die hinter einem kümmerlichen Rest von Gaststube noch einen kleinen Saal mit beispielsweise karibischem Outfit eingerichtet hatten, wo dann ausgerechnet Bami oder Nasi Goreng serviert wurde.

Natürlich gab es einige Renitente, die den Wandel nicht mitzumachen gedachten und in ihren alten Gewändern ausharrten. Sie sind heute heroische Exoten in einem Meer von kopierten Gegenwelten, die da völlig ortlos, beliebig im Kontext verteilt und jederzeit austauschbar die gastroarchitektonische Landkarte ausmachen. Ob Restaurant, Beiz, Gasthof, Pizzeria, Gasthaus, Gaststube, Taverne, Trattoria, Bistro, Brasserie, Lokal, Inn, Pub, Foodstation, Wirtshaus oder was auch immer – die überwiegende Mehrzahl unserer Verpflegungsstätten hat ihr Gesicht verloren und damit ihren Charakter, ihre Persönlichkeit, ihre Echtheit. Und was einmal verloren ging, lässt sich nicht mehr wiederherstellen, nur heraufbeschwören, im besten Fall zu einem neuen echten Mythos. Das heisst konkret, dass die kopierten Gegenwelten durch echte Welten nicht mehr zu ersetzen sind. Was bleibt, sind Endlossimulationen, die sich so lange selbst übersetzen, bis die letzte Transkription den Originaltext ersetzt.

Das »Sensei« in Innsbruck ist auf diesem Weg schon ganz schön weit gelangt. Wie schreibt man Sushi und Sashimi einer bürgerlichen Innenstadtumgebung im Tirol, gegenüber von Barock und Kopfsteinpflaster, ein? Indem man beispielsweise – so wie das Rainer Köberl tat – ein Zimmer zur Schatulle macht. Köberls Kunstgriff besteht darin, das »Sensei« wie ein Kleinod auszubilden, das den ganzen Raum ausfüllt, ein Massstabssprung, der sozusagen automatisch und ganz selbstverständlich die Simulation in Gang setzt. Es braucht dann keinerlei Rechtfertigung, warum das Innere aus Holz gefertigt ist, warum das Holz mit allerlei Methoden veredelt und verfremdet wurde, warum zur Strasse hin das Ganze wie ein Schrein sich öffnet. Die Lage des »Sensei« im ersten Obergeschoss unterstreicht die Exklusivität des Raums zusätzlich und erinnert etwa an die alten Ritterstuben, in denen die Trophäen aus fremden Ländern prangten. Einmal eingetreten in den Mikrokosmos, geniesst man die Raffinesse der Details, der Oberflächen und der Lichtreflexe in der Dunkelheit, streichelt die Furniere mit dem Tigermuster auf den Tischen und fragt sich, wie es möglich war, aus Lärche ein goldbesticktes Ebenholzparkett hervorzuzaubern. »Sensei« belegt eindrücklich, dass künstlich nicht ein Widerspruch zu echt darstellen muss, was unter anderem deshalb gelingt, weil die Übersetzung mit dem Original vollkommen frei umgeht.

Was hingegen daraus resultieren mag, wenn ein Text Wort für Wort von einer Sprache in die andere und dann in die nächste und so weiter und zum Schluss zurück in die Ausgangssprache übertragen wird, lässt sich auf kleinstem Raum bei »Kim kocht« in Wien anschauen. Es sind zwar noch Worte da – zum Beispiel poliertes Brett, Glas, furniert, rohe Schwarte, Birke, Kupfer, Kirschholz, weisses Tischtuch, Hütte –, aber keine Sätze, geschweige denn ein Text. Hier hat sich die Erosion des Gastrointerieurs selbst thematisiert, was schon beinahe wieder originale Qualität hätte, wenn das Ganze nicht so humorlos aufgetragen würde. Und all dem steht entgegen, dass das eigentliche Essen – das von Kim gekocht wird – einmalig präzise und authentisch schmeckt. Wie um Himmels willen ist es möglich, dass die Kochkunst mittlerweile die Architektur formal überholt? Vielleicht weil Form fatalerweise als etwas fertig Zubereitetes verstanden wurde und nicht als das Ergebnis einer Zubereitung?

Kaum einer hat die Metamorphose des gastroarchitektonischen Ambientes und die damit verbundene Entfremdung von Geschichte so früh und so genau begriffen wie Hermann Czech. Sein »Kleines Café« verschliff derart hemmungslos Bestand und Eingriff, dass seitdem alle Debatten über Alt und Neu, künstlich und »natürlich« eigentlich vom Tisch sind. Das Gasthaus »Immervoll« dupliziert die Untergrabung dieser Kluft genussvoll und gelassen, ohne aufgesetzte Rhetorik, also selbstverständlich. Czech hält die Zeit an, indem er sie von hinten unmerklich einholt. Niemand weiss, ob allenfalls der Besitzer die alte Täfelung eigenhändig weiss gestrichen hat, die schräg oberhalb der Tische aufgehängten Spiegel mit allen ihren Sichtbezügen aus der Kammer seiner Grossmutter oder aus der Filiale von Ikea besorgte, die Sitzbänke eigenhändig renovierte oder ob da ein Architekt mitmischte. Nichts scheint kalkuliert, aber alles funktioniert. Es würde auch funktionieren, wenn im »Immervoll« etwas ganz Exotisches zu Tische käme anstelle knusprig frischer Wiener Schnitzel. »Immervoll« entkoppelt Ambiente von Produkt, Design von Inhalt, Gaststube von Heimat und lässt den Gast trotzdem nicht allein, wenn er nach vertrauter Umgebung sucht. Ganz im Gegenteil wird der Gast gewahr, dass die fernen Welten im Inneren zu finden sind, ganz zu Hause. Und da ist immer noch das Holz als Stoff, an das wir uns erinnern, ob Täfelung, Boden, Decke oder Tisch ...

zuschnitt, Di., 2008.12.16



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16. Juni 2007Christoph Luchsinger
zuschnitt

Zeit lassen

Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie das Spektrum all jener Beteiligten am Planen und Bauen entstanden ist, mit dem wir uns jeden Tag produktiv auseinandersetzen...

Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie das Spektrum all jener Beteiligten am Planen und Bauen entstanden ist, mit dem wir uns jeden Tag produktiv auseinandersetzen...

Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie das Spektrum all jener Beteiligten am Planen und Bauen entstanden ist, mit dem wir uns jeden Tag produktiv auseinandersetzen (oder auch frustriert herumschlagen). Manche sagen, dass ursprünglich alles aus einer Hand kam, dass ein und dieselbe Person Idee und Konzept zu einem Bauvorhaben entwickelte, für die Organisation des Bauplatzes sorgte und den Bau als Unternehmer selbst ausführte. Das ist der Mythos vom Baumeister alter Schule, der kraft der ihm eingeborenen Tradition eigentlich nichts wirklich falsch machen konnte, weder kulturell noch konstruktiv.

Andere sagen, dieser Schöpfungsmythos der Spezialisierung der Bauleute im Laufe der Zeit stimme nicht. Es habe schon immer die Einen gegeben, die eher zum Entwerfen und Planen, und die Anderen, die eher zum Umsetzen neigten. An den Dombauhütten gab es durchaus Auseinandersetzungen zwischen solchen Interessen. Und damit schlichen sich auch Fehler ein, weil der Eine dem Anderen nicht richtig zuhörte oder weil er etwas im Kopf hatte, von dem er dachte, es sei das, was der Andere eben erklärt hatte, und umgekehrt usw.

Das Dilemma, ob der ursprüngliche Baufachmann ein abgespaltener Spezialist des Baumeisters oder ein launischer Besserwisser auf der Dombauhütte war, wird noch verdüstert durch ein weiteres, belastendes Indiz. Der klassische »Architekt« ist seit der Renaissance und bis weit ins 19. Jh. hinein insofern Laie, als er auch noch Künstler, Gelehrter, Philosoph o.ä. in Personalunion war. Architektur war nur eine der vielen Äusserungen, mit denen sich der Homo universalis an die Welt wandte. Und der sollte auch noch verstehen, wie man zwei Balken zusammenzapft oder den Dachrand ausbildet?

Nein, das ging dann schon zu weit, das funktionierte nicht mehr wirklich. Wir kennen ja die Geschichten von den berühmten Meistern, die mir nichts dir nichts ganze Gebäudeflügel abreissen liessen, weil die Profilierungen der Fenster nicht ihrer – nie präzis ausformulierten – Vorstellung entsprachen. Oder die grossflächig den Bau auskleideten, weil der Putz etwas zu stark abgetönt wurde, obwohl nicht einmal die Farbe je besprochen worden war. Wehe, wenn Bernini auf die Baustelle kam! Oder wenn Borromini oder Ledoux den Vorarbeiter zu sich rief, da flogen die Fetzen! Die Meister konnten sich das leisten, sie waren anerkannt am Hof und ohnehin die Meinungsmacher. Aber für den Alltag der modernen Industriegesellschaft taugte das nicht. Also musste ein neuer Beruf her, dessen Mitglieder planen, entwerfen, organisieren, rechnen, zeichnen und kommunizieren konnten und die ihr Wissen über das praktische Bauen akademisch im Trockendock erlernten. Der moderne Architekt war da, geb. ca. 1870, verwaist, keine Vorstrafen, keine speziell vertieften Qualifikationen, ein Allrounder, ein smart guy, der sich überall zurechtfindet.

Während er also eine relativ junge Erscheinung ist, verkörpert der Handwerker Tradition und Althergebrachtes. Ein Sparren ist immer noch ein Sparren, auch wenn er mittlerweile vielleicht schichtverleimt ist, ein Ziegel immer noch ein Ziegel, auch wenn er statt aus Ton aus Beton oder Faserzement ist. Gemauert wird nach wie vor von unten nach oben und der Putz kommt am Schluss auf die Wand bzw. auf die Perimeterdämmung. Die Handgriffe im Handwerk sind weitgehend noch dieselben wie ehedem, vor allem aber zeichnet sich der Handwerker nach wie vor dadurch aus, dass er auf ein Problem zugreift, um es möglichst umgehend konkret zu lösen. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie einfach sich manches, das man während Stunden im Büro wälzte, erledigen lässt, wenn man am Bau mit dem Handwerker spricht.

Am Bau besprechen ist dabei allerdings beinahe Conditio sine qua non, und manchmal reicht nicht einmal das aus, insofern als das Ergebnis nicht unbedingt dem entspricht, was man zusammen besprochen hatte. Vergleiche oben, Beispiel Dombauhütte. Und vorgängig, auf dem Plan, geht fast alles, aber oft sind die Konsequenzen nicht überschaubar und plötzlich ist eine Schraube oder eine Fuge da, wo man als Architekt nie und nimmer so ein Ding vermutet hätte. Diese Tendenz, sich nicht vollständig zu verstehen, nimmt zu in einer Zeit, in der die Zeit fehlt, die Dinge auszulegen, aufzuzeichnen, hin- und herzuschicken, zu korrigieren. Als Architekten sind wir ehrlich begeistert, einen Werkstattplan vom Handwerker zu erhalten, aufgrund dessen wir sehen, wie er das wirklich macht. Ganz zu schweigen davon, noch eingreifen und ändern zu können.

Beiden Seiten fehlt also die Zeit (was gleichbedeutend ist mit Geld), dem Architekten, um sich ins neue Thema einzuarbeiten, dem Handwerker, um seine praktische Lösung überhaupt aufzuzeigen. Ich meine, die Verrohung der Details liegt nicht daran, dass dem Handwerk das Know-how entgleitet und der Architekt nur noch grafisch projektiert. Oder dass mit der Verbreitung von Convenient Solutions, Halbfabrikaten und Patentbauteilen industrielle Methoden im Bauen ein- und ausgehen. All das trifft zwar auch zu, ist aber ein anderes Thema. Die Verrohung der Details liegt daran, dass sich die Leute nicht mehr aufeinander einlassen.

Dies wäre aber umso notwendiger, als Handwerker und Architekten wegen ihrer gemeinsamen Wurzel zwar viel voneinander verstehen, aber eben doch zuwenig, um nicht miteinander reden zu müssen. Und dafür – Regel Nr. 1 – muss man sich halt Zeit lassen.

zuschnitt, Sa., 2007.06.16



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Publikationen

Artikel 12

19. Januar 2016Mario Kopf
Kurier

„Hochhäuser brauchen einen Mehrwert“

Welche Bedeutung haben Wolkenkratzer für Wien? Ein Gespräch mit Christoph Luchsinger, Professor für Städtebau und Entwerfen an der Technischen Universität Wien, über Potenziale und die Zukunft.

Welche Bedeutung haben Wolkenkratzer für Wien? Ein Gespräch mit Christoph Luchsinger, Professor für Städtebau und Entwerfen an der Technischen Universität Wien, über Potenziale und die Zukunft.

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Presseschau 12

»Was heißt konstruieren mit Holz – heute und morgen?«

Holzbau und Architektur sind befreundete Disziplinen, weil dreidimensionales Vorstellungsvermögen, ein umfassendes Planungsverständnis, die Liebe zur Materialität...

Holzbau und Architektur sind befreundete Disziplinen, weil dreidimensionales Vorstellungsvermögen, ein umfassendes Planungsverständnis, die Liebe zur Materialität...

Holzbau und Architektur sind befreundete Disziplinen, weil dreidimensionales Vorstellungsvermögen, ein umfassendes Planungsverständnis, die Liebe zur Materialität und – nicht zuletzt, sondern zuvorderst – die Lust auf experimentelle Lösungen sie verbindet. Das Innovationspotenzial im Holzbau erscheint immens, allerdings auch die Grenzen von dessen Umsetzbarkeit.

Im Spannungsfeld zwischen Systementwicklungen und individuellen Lösungen, zwischen optimiertem Workflow und traditioneller Zimmerei bauen sich die Problematiken von Form- und Materialkongruenz, Planungsschnittstellen und Kostenwahrheiten auf – und nicht zuletzt von Verantwortlichkeiten für Kosten und andere Planungsfolgen. Wenn die These von der Freundschaft zutrifft, dann müsste hier auch die Solidarität von Holzbau und Architektur greifen...

Die Ingenieure Alfred R. Brunnsteiner, Georg Hochreiner, Pirmin Jung, Konrad Merz, Kurt Pock, Johann Riebenbauer und Richard Woschitz beantworteten per E-Mail Fragen zum Stand des Holzbaus.

Wie schätzen Sie aus heutiger Sicht die gestalterischen Chancen des Bauens mit Holz in Konkurrenz zu anderen Bauweisen ein? Welche architektonischen Potenziale hat Holz und sind diese schon ausgelotet?

Alfred R. Brunnsteiner
Durch plattenförmig vorgefertigte Bauteile aus Holz, wie osb, Furniersperrholz, Brettsperrholz etc. kommt man nahe an die Gestaltungsmöglichkeiten von Stahlbeton heran.

Georg Hochreiner
Der Ingenieurholzbau hat sich als »Königsklasse«, als Lehrmeister für künftige Ingenieure etabliert, da er alle Komponenten enthält, die auch bei anderen Bauweisen zur Anwendung kommen. Aktuell ist dieses Wissen nur bei wenigen Experten vorhanden und gipfelt in einzelnen Pilotprojekten und vielen missverstandenen Nachahmungen.

Pirmin Jung
Hölzerne Tragwerke, Flächenbauteile und Verkleidungen für unterschiedlichste Projektarten bergen ein riesiges, noch nicht ausgeschöpftes Gestaltungspotenzial.

Konrad Merz
Das Potenzial liegt in der Vielseitigkeit von Holz. Es sind Bauteile möglich, die nicht nur tragen, sondern gleichzeitig auch den Raum begrenzen, hohen Anforderungen an Oberflächen und Haptik genügen, dämmen und regulierend auf das Raumklima wirken.

Johann Riebenbauer
Holzbau ist im Gegensatz zu Stahl- und Stahlbetonbau wesentlich komplexer, die Grenzen des Sinnvollen und Wirtschaftlichen sind oft schneller erreicht. An eine gewisse »Grenzenlosigkeit« zum Beispiel des Stahlbaus kommt man nicht heran.

Richard Woschitz
Dank neuer Entwicklungen in der Verbindungsmitteltechnik, der Bearbeitungsmöglichkeiten von Holz und des Einsatzes digitaler Technologien in Planung und Herstellung entstehen noch nie gesehene Formen in der Holzarchitektur. Holz hat enormes architektonisches Potenzial, es muss nur konstruktiv richtig eingesetzt und mit modernsten Technologien verarbeitet werden.


Wo liegen aus Ihrer Sicht die (sinnvollen) statisch-konstruktiven Grenzen des Holzbaus? Welche räumlichen Dimensionen und welche Querschnitte sind heute machbar und auf welche Weise? Wo sehen Sie Innovationspotenzial?

Alfred R. Brunnsteiner
Wie Stahlbeton kann man auch Holz vorspannen. Größe hat eigentlich nur mit Höhe zu tun, je weiter gespannt wird, desto mehr konstruktive Höhe braucht es, egal mit welchem Material.

Georg Hochreiner
Die Querschnittsabmessungen sind mit den maschinellen Entwicklungen explosiv gewachsen und reichen heute von Lattenquerschnitten mit 3 mal 5 cm bis hin zu blockverleimten Brettschichtholzbauteilen mit Abmessungen von 60 mal 300 cm. Das dazugehörige Materialverständnis ist jedoch in vielen Fällen auf dem Stand von vor fünfzig Jahren zurückgeblieben, die normative Infrastruktur ist auf klassische Bauweisen abgestimmt und mit unflexiblen Bemessungsrezepturen untermauert.

Pirmin Jung
Für die räumliche Dimension gibt es für mich so keine (sinnvollen) Grenzen. Die Gebäudegeometrie mit der jeweils möglichen statischen Höhe entscheidet über die Spannweite. In einigen Jahren werden wir Hallen und mehrspurige Schwerlastbrücken mit über 100 Metern Spannweite sowie Hochhäuser aus Holz bauen. Dazu müssen wir u. a. Bauteile und Verbindungen für den Meganewton-Lastbereich entwickeln.

Kurt Pock
Konstruktive Grenzen gibt es aus meiner Sicht praktisch keine. Limitierend sind oft die Transportlängen und die Montagestöße. Innovationspotenzial sehe ich vor allem in der Verbindungs- und Fügetechnik. Gerade bei den Standardformteilen für den Holzhausbau besteht großes Potenzial. Hier bauen wir oft hoch entwickelte Elemente mit überalteten, nicht richtig auf die Anforderungen abgestimmten Verbindern zusammen.

Johann Riebenbauer
Sehr verkürzt: Brettsperrholz kann in Stärken von bis zu 60 cm produziert werden, ein 20-geschossiges Bauwerk mit 8 bis 9 Metern Deckenspannweite benötigt im eg eine 24 cm dicke Wand. Ein 100 Meter hoher Turm für Windkraftanlagen ist mit 30 cm Wandstärke machbar.

Richard Woschitz
Bei Großstadien sind die maximalen Spannweiten nur durch Netzwerkkuppeln zu erreichen. Bei Tragwerken mit geraden Stäben können beim Einsatz von Einfeldsystemen mit Vollwandträgern aus Brettschichtholz Spannweiten von 30 Metern, mit unterspannten Trägern Spannweiten von 50 Metern erreicht werden. Setzt man parallelgurtige Fachwerkträger ein, sind Spannweiten von 70 Metern, mit Fachwerkrosten sogar von 100 Metern möglich. Durch den Einsatz der cnc-Technik sind heute (fast) alle Querschnittsformen möglich. Das größte Innovationspotenzial sehe ich in der Verbindungsmitteltechnik sowie in der Homogenisierung des Werkstoffes Holz in der Palette der Holzwerkstoffprodukte.

Wie verläuft Ihrer Meinung nach idealerweise der Planungsprozess Architekt – Holzbauingenieur – Holzbauer – Ausführung? Wie gestalten sich aus Ihrer Sicht diese Schnittstellen?

Alfred R. Brunnsteiner
Beim Vorentwurf sollte der Tragwerksplaner schon neben dem Architekten sitzen. Die ersten Rechenschritte erfolgen auf Basis des Vorentwurfes. Die Holzbaufirmen sind auch immer hilfreich, jedoch in ihrer Fertigungstechnik verwurzelt. In der Auslobungsphase ergeben sich natürlich immer wieder Veränderungen infolge der Bieterideen, da muss das Planungsteam flexibel reagieren können.

Georg Hochreiner
Aktuell verfügen Architekten – bis auf wenige Ausnahmen – noch nicht über genügend Erfahrung im Umgang mit dem Baustoff Holz. Es ist daher zu empfehlen, gleich in den ersten fünf Minuten des architektonischen Entwurfes den Holzbauingenieur mitwirken zu lassen.

Pirmin Jung
In der Schweiz hat sich ein optimaler Planungsprozess etabliert: Vom ersten Entwurf weg entwickeln die Architekten die Tragstruktur und den Holzsystembau zusammen mit einem von Unternehmungen und Produkten unabhängigen Holzbauingenieur. Dieser erledigt die Detailplanung und die Statik, erstellt das detaillierte Leistungsverzeichnis für alle Leistungen, die der Holzbauer zu liefern hat und zeichnet während der Realisierung im Auftrag des Bauherrn für die Qualitätssicherung verantwortlich.

Konrad Merz
Möglichst frühe Einbindung des Ingenieurs und anschließend »herkömmlicher« Weg der Projektbearbeitung. Holzbauunternehmungen machen auf Basis der Ausführungsplanung von Ingenieur und Architekt die Werkstattplanungen.

Kurt Pock
Die Zusammenarbeit sollte so früh wie möglich starten, zumindest zwischen Architekt und Holzbauingenieur, der Holzbauer als Ausführender kann ja nur in Ausnahmefällen in der Planungsphase hinzugezogen werden (Vergaberichtlinien!). Im Zuge der Werkstattplanung soll ein Dialog zwischen Tragwerksplaner und Holzbauer stattfinden, um die Potenziale der Firma im Bereich des Abbundes und der Vorfertigung bestmöglich einzubringen.

Johann Riebenbauer
Ich habe in den letzten Jahren viele Versionen der Zusammenarbeit ausprobiert: nur mit ausführenden Firmen, Varianten über ausführende Firmen, nur Vorstatik und Firma macht die Ausführungsstatik – sowie Planung mit Architekten vom Entwurf weg bis zur Ausführung. Nur letztere Version ist wirklich zielführend! Die besten Projektergebnisse (auch in wirtschaftlicher Hinsicht) gelingen, wenn man der ausführenden Firma alles vorgeben kann.

Richard Woschitz
Architekten und Holzbauingenieure sitzen im selben Boot, mit dem optimalen Ergebnis als gemeinsames Ziel. Um das zu erreichen, ist der Ingenieur zunehmend als gleichermaßen kreativer Gegenpart zum Architekten gefragt, als entwerfender Tragwerksplaner und nicht nur als rechnender Statiker. Architekt und Holzbauingenieur sind aber auch in Ihrer Konstruktionswahl immer verpflichtet, auf die Herstellungs- und Baustellenlogistik zu achten. Erst nach diesen Prozessen sollte der ausführende Holzbauer beigezogen werden, um den kreativen Planungsprozess nicht einzuschränken.


Unter welchen Voraussetzungen sind Holzbaukonstruktionen kostengünstiger als andere Bauweisen?

Alfred R. Brunnsteiner
Ein Pfetten- oder Sparrendachstuhl ist am billigsten mit Holz zu machen. Bei flächigen und räumlichen Bauteilen ist man kostenneutral. Jeder Baustoff hat seine Vor- und Nachteile. Wenn ein Baustoff und die statische Höhe optimiert werden können, kommen fast immer die gleichen Kosten heraus. Preisunterschiede entstehen erst bei Höhenproblemen, weit gespannte schlanke Dächer werden dann meist in Stahl errichtet.

Georg Hochreiner
Wenn mit dem Rohstoff sparsam und effizient umgegangen wird, müssen Holzkonstruktionen nicht mehr zu Liebhaberpreisen eingekauft werden, sondern erweisen sich sogar als wirtschaftlicher. Voraussetzung dafür ist aber Input von Know-how in die Konstruktion inklusive Detailausbildung. Dies liegt dann auf der Linie nachhaltiger Bewirtschaftung, ist jedoch noch nicht in den Köpfen der Industrie verankert, die aktuell noch möglichst viel Holz mit traditionellen Methoden verkaufen will.

Pirmin Jung
Holztragwerke mit einem für den Holzbau optimalen Spannweiten-Höhen-Verhältnis sind billiger als Stahl- und Betontragwerke, auch bei großen Spannweiten und Lasten. Bei Geschossbau ist der Holzbau bei relativ einfachen Grundrissen, im energieeffizienten Bauen (Minergie-P, Minergie-Eco) und bei Schul- und Verwaltungsbauten kostenmäßig konkurrenzfähig.

Konrad Merz
Der Holzbau hat im Geschossbau seine Vorzüge, wenn folgende Punkte zutreffen: regelmäßig strukturierte Grundrisse, Spannweiten unter 6 Metern, möglichst linienförmige Lastabtragung (tragende Wände), tragende Deckenbauteile sichtbar belassen als hochwertige Oberflächen, hohe Anforderungen an den U-Wert der Gebäudehülle. Im Ingenieurholzbau haben Holzkonstruktionen Vorteile bei anspruchsvollen geometrischen Formen und auch, wenn die tragenden Bauteile direkt raumbildend wirken sollen.

Kurt Pock
… wenn das exzellente Verhältnis von Gewicht und Tragfähigkeit dieses wunderbaren Werkstoffs zum Tragen kommt. Dies ist bei großen Spannweiten der Fall. Massive Konstruktionen tragen vor allem sich selbst. Holz hat hier dank seines geringen Eigengewichts echte Vorteile.

Johann Riebenbauer
… nur wenn Leichtigkeit ein Faktor ist bzw. wenn die Bauweise sehr umfassend beurteilt und verglichen wird. Ansonsten ist der Holzbau in Mitteleuropa immer teurer als andere Bauweisen, da im Holzbau meist höhere Maßstäbe angesetzt werden. So gibt es Architekten, die mit Holz nicht bauen, wenn man außen nicht sieht, dass es ein Holzhaus ist. Holzfassaden sind aber teurer als Putzfassaden …

Richard Woschitz
… wenn – bei sparsamstem Holzeinsatz – Systembau in der Holzkonstruktion angewendet wird. Entscheidend ist die konstruktive Effizienz zwischen Materialeinsatz und Tragvermögen.


In welcher Form beeinflusst die internationale – ja, globale – Verbreitung des Holzbaus dessen Techniken und Fertigungsmethoden?

Alfred R. Brunnsteiner
Man sollte immer einheimisches Holz verwenden. Holz aus den Regenwäldern sollte für uns tabu sein. Verrückt ist es auch, wenn Holz aus Weißrussland kommt, in Zentraleuropa verarbeitet und dann in Kanada verbaut wird. Die Globalisierung sollte im gesamten Bauwesen, nicht nur im Holzbau, zum Ideenaustausch führen; die Techniken und Fertigungsmethoden können dann für alle nur besser werden.

Georg Hochreiner
Auch wenn Holzkonstruktionen weltweit errichtet werden, dominieren immer noch nationale Baupraktiken, limitiert durch das lokale Ausbildungssystem für die Baufachleute.


Die Kommunikation von Bildern funktioniert, der Transfer von Fachwissen jedoch wesentlich schlechter. Marketing ist also nicht mehr das alleinige Instrument für die Erschließung neuer Märkte.

Pirmin Jung
Beispiele aus anderen Ländern geben hiesigen Bauherren und Architekten das Vertrauen, dass eine bestimmte Bauaufgabe auch in Holzbauweise möglich ist. Natürlich orientiert man sich am Ausland, um für die eigene Arbeit neue Impulse und Ideen zu erhalten.

Konrad Merz
Trotz Globalisierung bleibt das Bauen und damit der Holzbau ein Geschäft mit vielen nationalen und regionalen Eigenheiten.

Kurt Pock
Um international reüssieren zu können, müssen wir die Standardisierung im Holzbau vorantreiben, weg vom individuellen Prototypenbau hin zur allgemein bekannten Standardlösung. Das Handwerk des Zimmermanns beschränkt sich weitgehend auf den deutschsprachigen Raum. In anderen Ländern werden die Holzkonstruktionen von anderen Gewerken mitbearbeitet. Um dennoch die Qualität zu halten, sind klare und robuste Lösungen erforderlich.

Johann Riebenbauer
International gesehen fehlt es vielen Ländern an Holzbautradition. Fachleute mit einigermaßen fundiertem Wissen hinsichtlich Bauphysik usw. sind oft nicht vorhanden. Deshalb werden international gesehen nur sehr einfache Bauweisen Erfolg haben. Die Anforderungen sind international gesehen auch sehr unterschiedlich, ein Vergleich ist hier schwer, Ansätze, die bei uns Gültigkeit haben, sind in manchen Ländern unsinnig und umgekehrt.

Richard Woschitz
Je mehr beispielhaft ausgeführte Holzbauprojekte in der Öffentlichkeit wahrnehmbar werden, umso mehr wird ein Weiterentwicklungsprozess in der Holzbautechnik und Fügetechnik stattfinden.

(Die Antworten sind zum Teil stark gekürzt.)

zuschnitt, Mi., 2010.07.14

22. Januar 2010Christoph Luchsinger
dérive

Zur „Krise“ der klassischen Raumplanung

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die...

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die...

Die mentale Landkarte der StädtebauerInnen verortet gegenwärtig eine pessimistische und eine quasi optimistische Sicht der städtebaulichen Kultur. Die pessimistische betrachtet das Planungswerk der Moderne als gescheitert – also all die Bemühungen im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, die Stadt lebensfähiger zu machen, ihre Funktionalität zu optimieren, gerechter zu verteilen, sozialere Zustände anzubieten usw. Diese Sicht interpretiert das heutige städtebauliche Geschehen als Resultat partikulärer Interventionen, zufälliger Maßnahmen, eigensinniger Gewinnmaximierung, katastrophaler Fehl­koordinationen und – im besten Fall – einiger geglückter Einzelfälle. Das, was wir noch Planung nennen, dient in der pessimistischen Sicht lediglich als rechtlich abgesteckter „playground“ wilder Spekulationen und keinesfalls der Verbesserung urbaner Verhältnisse im Sinne des Gemeinwohls. Diese pessimistische Sicht des Städtebaus rekurriert umgekehrt auf ein positivistisches Geschichtsverständnis und genießt heimlich die Widersprüchlichkeit und letztlich die Brutalität der Stadt in ihrem Wesen als menschliches Artefakt schlechthin. Und so ganz von der Hand zu weisen ist diese Sicht beileibe nicht. Sofern man die Stadtkultur und ihre baulichen Ausprägungen über mehrere Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg betrachtet, gehören gerade Brüche, Katastrophen, Zerstörungen und Vernichtungen, Eigensinnigkeiten, Aufoktroyierungen, planerische Zwangsmaßnahmen usw. zu ihren charakteristischen Eigenheiten. Die heutige Stadt als Resultat all dieser Wirkungen ist die Stadt, in der wir leben und die wir lieben, gerade auch ihrer Widersprüche wegen.

Die quasi optimistische Sicht betrachtet die Stadt als Gegenstand laufender Optimierung, als Akkumulation stetiger Verbesserungen. Ausgehend von den planerischen Kompendien, deren Anweisungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die technische und soziale Verwaltung der modernen Stadt regeln, erkennt die optimistische Sicht der heutigen Stadtkultur ihren Gehalt und ihre Leistung im Einbezug ständig neuer Vorgaben, z. B. des Umweltschutzes, der Energieeffizienz, der Wohnqualität, der ökologischen Bauweise, des Lärmschutzes, der Luftbeschaffenheit, der Mindestanforderungen an die Wohnungen, der Behindertengängigkeit, des Erschließungs- und Mobilitätskonzepts, der städtebaulichen Einbindung usw. usf. All diese Erfordernisse verlangen ausgewiesene Fachkenntnisse und einen gewaltigen Apparat zu deren Verwaltung und Kontrolle. Das heißt, wir als Planungsfachleute sind unverzichtbar – und nur deshalb nennen wir diese Sicht optimistisch, eben quasi optimistisch. In Wirklichkeit aber bewegen wir uns in einem orwellschen Szenario, dessen Kontrolle zur Hypertrophie neigt. Wir stehen mittlerweile tatsächlich vor dem Problem, dass die Mechanismen und Zielsetzungen der Planung sich gegenseitig mehr und mehr widersprechen, weil sie von PlanerInnen fachidiotisch und von PolitikerInnen willkürlich erdacht wurden. Für uns Städtebauende erscheinen die planungsrechtlichen Vorgaben mittlerweile nicht mehr als Leitlinien oder Leitfiguren einer zukünftigen „Neuen Stadt“, sondern als lästige Hindernisse in der Folge fehlgeleiteter Planungspolitik und als Schikanen für die Etablierung gescheiter städtebaulicher Ideen.

Die Entstehungsgeschichte der Raumplanung

Greifen wir zurück auf die Entstehungsgeschichte der Raumplanung. Die Raumplanung entstand als Weiterentwicklung der Stadterweiterungsplanungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die damals noch mit eigentlichen städtebaulichen Mitteln durchgeführt wurden. Städtebauliche Mittel heißt: Straßenplan, Definition von Baufeldern, Bebauungsvorgaben mittels Baulinien, Ausscheidung von Parzellen, Vorschreibung von Geschoßzahlen, Bautiefen usw.

Beispiele dafür finden sich überall in Europa: Josef Stübbens Handbuch des Städtebaus (1890) beispielsweise gibt umfassende Anweisungen, wie Stadterweiterungsquartiere technisch korrekt zu planen sind. Ildefons Cerdàs Teoria de la Urbanización (1867) erkennt, historisch gesehen, erstmals den Zusammenhang von Erschließung, Typologie des Wohnbaus und Anordnung der Freiräume und wird in seiner Anwendung in Form des Erweiterunsplans für Barcelona – des berühmten Ensanche/Eixample – zum Prototypen einer zwar städtebaulich klar fixierten, jedoch sehr flexibel interpretierbaren Struktur. Camillo Sitte, dessen Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen die Raumbildung in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte, gehört ganz zentral zu dieser Generation von Planern, die den Städtebau als integrale Aufgabe des Zusammenspiels von Infrastruktur, öffentlichen und privaten Bereichen, Baumassenverteilung und räumlicher Gestaltung verstand. Die Namens­liste ließe sich wesentlich verlängern: Reinhard Baumeister, Otto Wagner, Bruno Taut und so weiter – bis hin zum frühen Le Corbusier, dessen erster Großstadtentwurf „Une ville contemporaine pour 3 millions d’habitants“ aus dem Jahr 1923 ausgesprochen „architektonisch“ ist, gerade weil er zum Beispiel die Definition von Gebäudeblocks an bestimmte Typologien bindet.

Der Beginn der Aufspaltung von Städtebau und Raumplanung lässt sich historisch gesehen relativ klar festmachen, nämlich an den ersten Entwürfen für Großstadterweiterungen, namentlich dem Wettbewerb für Groß-Berlin 1906-10, der in verschiedenen Städten seine Nachahmungen fand (z. B. in Zürich, 1914-18). Diese Entwürfe, die in unterschiedlicher Art und Weise in die spätere Planung eingeflossen sind, entstanden vor dem Hintergrund der damaligen Eingemeindungen. Das schnelle, meist wenig koordinierte Wachstum der Vororte in der Folge der Industrialisierung führte zu einem extremen Ungleichgewicht zwischen Kernstadt und Umland, sowohl hinsichtlich der Nutzungsverteilung als auch hinsichtlich der Sozialstruktur, der Haushaltsbilanzen der verschiedenen Gemeinden und natürlich der Verkehrssituation. Dank der großmaßstäblichen Betrachtungsweise bei diesen Entwürfen stellte sich das Stadtganze erstmals als ein System der Interdependenz von Infrastruktur, Nutzungsverteilung, Sozialstruktur, Verkehrsnetzen und Finanzpolitik dar. Damit war auch die Möglichkeit formuliert, den Städtebau und seine Probleme als Überlagerung von verschiedenen Teilsystemen zu betrachten, zu analysieren und zu steuern.

Hier setzt die Raumplanung an, indem sie beispielsweise die Nutzungsverteilung und die Dichte als eigenes System darstellt. Oder das Verkehrsnetz, dessen Optimierung unabhängig von allen anderen städtischen Parametern – gerade auch unabhängig von der stadträumlichen Situation – wesentlich effizienter zu bewerkstelligen war. Die Raumplanung arbeitet im wesentlichen mit Gesamtplänen, die jeweils nur einzelne Aspekte des Stadtganzen isoliert behandeln und optimieren. Dieses Denken in Teilsystemen ist durchaus im Sinne einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise, allerdings auch mit allen deren Nachteilen. Insbesondere ist es schwierig, die Teilsysteme wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Teilsysteme tendieren darüber hinaus dazu, sich immer weiter auszudifferenzieren und zu verselbstständigen. Die Geschichte der Raumplanung zeigt diesen Effekt geradezu exemplarisch auf. Während die ersten Umsetzungen für Stadterweiterungsplanungen mittels Flächenwidmungs- oder Zonenplänen noch zu gleichgewichtigen Resultaten führten, sind in der Folge wegen der ständigen Optimierung der Teilsysteme widersprüchliche Verhältnisse entstanden. Um nur zwei, drei Beispiele zu nennen: Die Verkehrsplanung ist nicht kongruent mit der Nutzungsplanung, die planerische Sicherung von Naturräumen kollidiert mit den Anforderungen an effiziente Ver- und Entsorgungssysteme, die Planungen der einzelnen Kommunen sind untereinander nicht koordiniert, was in der Folge des starken Wachstums der Städte und der Herausbildung von Agglomerationen zu buchstäblich verzerrten Räumen führt – so ziemlich das Gegenteil des planerischen Grundgedankens einer koordinierten Siedlungsentwicklung. Genau dies zeigte sich erstmals in der Hochblüte städtischer Planung nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Beispiel in Form von quer durch kleinteilige Quartiere geschlagenen Verkehrsschneisen oder disproportionaler Verdichtungen.

In den 1970er Jahren wurden denn auch die Planungsmethoden des modernen Städtebaus erstmals in Frage gestellt, nachdem die großen Wunden im Stadtganzen manifest geworden sind. Mittlerweile aber war die Planung mit all ihren Instrumenten im Rechtssystem fest verankert und konnte nicht einfach aufgehoben werden. Insbesondere sicherte sie den EigentümerInnen (und den SpekulantInnen) eine bestimmte Nutzung ihrer Grundstücke zu, was sich als bestimmende Größe für die Festlegung des Landwertes herausstellte. Der Immobilienmarkt ist ganz wesentlich auf die Planung angewiesen, um mit Landwerten handeln zu können. Das Feindbild Nummer 1 des Immobilienhändlers heißt demzufolge Planungsunsicherheit – was insofern paradox erscheint, als die Raumplanung von ihrer Entstehung her eigentlich ein obrigkeitliches (oder je nach dem demokratisches) Instrument zur besseren Koordination städtischer Zusammenhänge darstellte. Jetzt ist sie zum Instrument der Sicherstellung und Verwaltung von Eigentumswerten, von Rechtsansprüchen und Abgeltungen Einzelner geworden und hat damit ihren Charakter vorausschauender Lenkung verloren.

Neue Rahmenbedingungen

In den letzten Jahren hat sich die Situation insofern noch verschärft, als zu den üblichen raumplanerischen Festlegungen eine ganze Reihe von gesetzlichen Auflagen im Rahmen beispielsweise des Umweltschutzes oder auch der Gleichstellung gekommen sind. Bei diesen Auflagen handelt es sich natürlich wiederum um Teilsysteme, die jeweils individuell und unabhängig von den anderen Teilsystemen oder gar einer übergeordneten, zusammenhängenden Betrachtungsweise entstanden sind und optimiert werden und vielleicht mehr noch als die raumplanerischen Festlegungen ausgesprochen normativen Charakter haben. Das kann in extremis so weit führen, dass Grundstücke an ausgezeichneter Lage nicht mehr bebaut und genutzt werden können, weil die Einhaltung des Normenbündels ökonomisch vertretbare Lösungen verhindert. In solchen Situationen – und die Tendenz zeigt, dass solche Situationen langsam zur Normalität im Planungsalltag werden – bleibt nur der Weg über die Aushandlung der involvierten Interessen. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, ob nicht eine Reihe von „radikalen Korrekturen“ an der gängigen Planungspraxis angebracht sind, weil die planerische Überbestimmtheit zu einem anderen Verhalten zwingt, nämlich letztlich dazu, jedes Planungsvorhaben als einen Einzelfall zu verstehen, die beteiligten Interessen auszuhandeln und mit Ausnahmeregelungen an der legalen Praxis vorbeizusteuern. Damit meine ich gerade nicht so etwas wie die Wiener Großprojekte, die in Reinhard Seiss’ Buch Wer baut Wien (2007) in aller Klarheit und Schärfe (und sicherlich auch sehr polemisch) dargestellt werden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel der Millennium-Tower oder die Wienerberg City ermöglicht wurden, kann nicht die Lösung des Problems einer Planung darstellen, die offensichtlich nicht in der Lage ist, die Dynamik der Stadtentwicklung in adäquaten Leitbildern abzubilden.

Das städtebauliche Projekt – und damit sind sowohl die Vision von der Stadt als Ganzem als auch die einzelne Intervention in Form einer Quartiersplanung oder eines städtebaulichen Arealentwurfs gemeint – muss sich offensichtlich anders orientieren. Es kann weder darum gehen, Einzelinteressen zu bedienen und (wie dies beispielsweise gerade in Wien gang und gäbe ist) das architektonische Ego mit kurzfristigen Wirtschaftsinteressen zu vermählen, noch kann heutzutage eine über alles greifende normative Planung mit all ihren wuchernden Teilsystemen nachhaltig wirken. Im Sinne eines Wunschkataloges sind deshalb eingefordert:
1. Ein Planungsprozess, der möglichst alle potenziellen AkteurInnen mit einbezieht und somit den Interessenausgleich fördert.
2. Eine Planungsverwaltung, die mit stark vereinfachten und damit handhabbaren Gesetzen und Verordnungen operiert.
3. Eine Planungsstrategie, die von Seiten der Politik ihre privaten PartnerInnen sorgfältig auswählt und dabei insbesondere „soft skills“, also Sozialkompetenzen, berücksichtigt.
4. Eine Planungspolitik, die nicht normativ und partikulär Werte vorgibt (z. B. Geschoßflächenziffern, Anzahl der Parkplätze, Gebäudehöhen und -abstände, Energiegrenzwerte etc.), sondern Qualitätsstandards, diese aber zwingend!
5. Ein Planungsverständnis, das jedes Planungsvorhaben als Einzelfall mitsamt seinen spezifischen Randbedingungen versteht und entsprechend zu optimieren sucht (was man als „situative Nachhaltigkeit“ bezeichnen kann).
6. Eine Planungskultur, die Langfristigkeit zum Programm erklärt.
Kurzum: eine Verlagerung der Planungsfestlegungen und –kompetenzen von der normativen, legistischen Ebene hin zu einer prozessorientierten, auf Verhandlung der Interessen ausgerichteten Ebene unter Berücksichtigung einer nachhaltigen, auf den spezifischen Fall jedes Projektes bezogenen Zielsetzung.

Alle diese Forderungen sind möglicherweise nichts Neues. Aber es wäre an der Zeit, sie im Interesse einer besseren Städtebaukultur umzusetzen. Unser Beitrag als Städtebauende bestünde darin, die Zusammenhänge und Prozesse – die zugegeben einigermaßen komplex sind – transparent und verhandelbar zu machen, d. h. zu moderieren. Auch das ist nichts Neues. Es besteht lediglich der Verdacht, dass unsere Berufsgruppe dieser Aufgabe bisher nicht wirklich gewachsen ist und dass damit unsere Glaubwürdigkeit im Planungsprozess fehlt. In diesem Sinne appelliere ich einerseits an uns selbst, sich vermehrt mit den realen Prozessen der Stadtentwicklung zu befassen – d. h. sich vermehrt zu politisieren und fachlich zu profilieren – und anderseits, im Gegenzug, an die anderen Planungsbeteiligten (PolitikerInnen, BenutzerInnen, InvestorInnen, Behörden usw.), die Fachmeinung und die qualitativen Zuständigkeiten von ArchitektInnen-StädtebauerInnen anzuhören und ernst zu nehmen. Das ist möglicherweise ein zutiefst naives Bekenntnis zur Demokratie, aber an diese glaube ich (im Sinne von Winston Churchill) als die schlechteste aller möglichen Staatsformen – ausgenommen alle anderen – nach wie vor.

dérive, Fr., 2010.01.22



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dérive 38 Rekonstruktion und Dekonstruktion

16. Dezember 2008Christoph Luchsinger
zuschnitt

Holz in der Beiz

Als ich ein kleiner Junge war, standen zwei Gerichte ganz oben auf meinem Wunschspeisezettel. Riz Casimir bei Mövenpick und Backhendl bei Wienerwald waren...

Als ich ein kleiner Junge war, standen zwei Gerichte ganz oben auf meinem Wunschspeisezettel. Riz Casimir bei Mövenpick und Backhendl bei Wienerwald waren...

Als ich ein kleiner Junge war, standen zwei Gerichte ganz oben auf meinem Wunschspeisezettel. Riz Casimir bei Mövenpick und Backhendl bei Wienerwald waren Frühformen einer Küche, die sich erstens nicht mehr an die einheimischen Speisen und Ressourcen hielt und zweitens Essen auftischte, das jedes Mal genau gleich gut schmeckte wie beim vorigen Mal. Und mindestens ebenso faszinierend wie das Essen waren die täuschend echt aussehenden lebensgrossen Möwen, die im Mövenpick am Paradeplatz vor einem Panoramafoto der Zürcher Quaianlagen schwebten. Alles passte perfekt ins Bild einer weltoffenen City der 1960er Jahre mit ihren aufblühenden Banken, Versicherungen und noblen Geschäften. Die rote Weichselkirsche zuoberst auf dem mit exotischen Früchten vermischten Hühnergeschnetzelten im Reisring war ein Wink aus fernen Welten, in die wir am liebsten sofort geflogen wären.

Was damals sozusagen unbedarft begann, entpuppte sich schon bald als weitreichende Verwandlung der gastronomischen Topografie. Mit der Öffnung zu Küchen anderer Länder hielten auch andere Interieurs Einzug, und zwar im schönen Gleichschritt mit den Urlaubsreisen, die wir zunächst an die Riviera, dann an die Costa Brava und in die Ägäis unternahmen. Beim »Italiener« oder beim »Griechen« (gemäss dem Sprachgebrauch in Deutschland) zu essen, brachte so etwas wie ein Stück Fröhlichkeit in den Alltag des sozialen Wohlfahrtsstaats, mit Fischernetzen und Muscheln an den Wänden, Freskos der Rialtobrücke oder der Akropolis. Frascati und Chianti, Retsina und Rioja benetzten Pizza und Mussaka, Cozze und Paella. All das war unsere Welt und wurde keinesfalls als etwas vordergründig Konstruiertes, als Vorgespieltes wahrgenommen.

Während wir uns in den Trattorias und Tavernen bei allem aufgefahrenen Kitsch also sehr wohl zu Hause fühlten, verschwand allmählich Stück für Stück und leise der althergebrachte Typus der meist hölzern ausgekleideten Gaststube und mit ihm auch seine Speisekarte, auf der wir neben Rahmschnitzel mit Nudeln, Kalbszunge an Kapernsauce mit Bohnen oder zweierlei Braten an dreierlei Saucen auch Schleie, Hecht und Brachsmen aus unseren Gewässern fanden. Die Erosion der Speisekarte fand ihre Entsprechung in der Erosion der Interieurs. Ich wage zu behaupten, dass in unseren Landen die historisch letzten authentischen Modernisierungen traditioneller Gaststuben so um 1970 herum stattgefunden haben, etwa gleichzeitig mit der Verdrängung der Bachforelle durch die Regenbogenforelle und der massenhaften Einführung von Papierservietten. Was nachher folgte, waren hilflose Versuche, den Kunden medial zu übertölpeln mit allerlei Szenerien, die zunächst und am umfassendsten in »Sechuans« oder »Wong Tongs« als undurchsichtige Höhlen daherkamen und in »Asian Dreams« als Thaigärten inklusive Felsenquellen, künstlichem See und Brücke darüber auf die Spitze getrieben wurden, übertroffen nur noch von den Lokalen, die hinter einem kümmerlichen Rest von Gaststube noch einen kleinen Saal mit beispielsweise karibischem Outfit eingerichtet hatten, wo dann ausgerechnet Bami oder Nasi Goreng serviert wurde.

Natürlich gab es einige Renitente, die den Wandel nicht mitzumachen gedachten und in ihren alten Gewändern ausharrten. Sie sind heute heroische Exoten in einem Meer von kopierten Gegenwelten, die da völlig ortlos, beliebig im Kontext verteilt und jederzeit austauschbar die gastroarchitektonische Landkarte ausmachen. Ob Restaurant, Beiz, Gasthof, Pizzeria, Gasthaus, Gaststube, Taverne, Trattoria, Bistro, Brasserie, Lokal, Inn, Pub, Foodstation, Wirtshaus oder was auch immer – die überwiegende Mehrzahl unserer Verpflegungsstätten hat ihr Gesicht verloren und damit ihren Charakter, ihre Persönlichkeit, ihre Echtheit. Und was einmal verloren ging, lässt sich nicht mehr wiederherstellen, nur heraufbeschwören, im besten Fall zu einem neuen echten Mythos. Das heisst konkret, dass die kopierten Gegenwelten durch echte Welten nicht mehr zu ersetzen sind. Was bleibt, sind Endlossimulationen, die sich so lange selbst übersetzen, bis die letzte Transkription den Originaltext ersetzt.

Das »Sensei« in Innsbruck ist auf diesem Weg schon ganz schön weit gelangt. Wie schreibt man Sushi und Sashimi einer bürgerlichen Innenstadtumgebung im Tirol, gegenüber von Barock und Kopfsteinpflaster, ein? Indem man beispielsweise – so wie das Rainer Köberl tat – ein Zimmer zur Schatulle macht. Köberls Kunstgriff besteht darin, das »Sensei« wie ein Kleinod auszubilden, das den ganzen Raum ausfüllt, ein Massstabssprung, der sozusagen automatisch und ganz selbstverständlich die Simulation in Gang setzt. Es braucht dann keinerlei Rechtfertigung, warum das Innere aus Holz gefertigt ist, warum das Holz mit allerlei Methoden veredelt und verfremdet wurde, warum zur Strasse hin das Ganze wie ein Schrein sich öffnet. Die Lage des »Sensei« im ersten Obergeschoss unterstreicht die Exklusivität des Raums zusätzlich und erinnert etwa an die alten Ritterstuben, in denen die Trophäen aus fremden Ländern prangten. Einmal eingetreten in den Mikrokosmos, geniesst man die Raffinesse der Details, der Oberflächen und der Lichtreflexe in der Dunkelheit, streichelt die Furniere mit dem Tigermuster auf den Tischen und fragt sich, wie es möglich war, aus Lärche ein goldbesticktes Ebenholzparkett hervorzuzaubern. »Sensei« belegt eindrücklich, dass künstlich nicht ein Widerspruch zu echt darstellen muss, was unter anderem deshalb gelingt, weil die Übersetzung mit dem Original vollkommen frei umgeht.

Was hingegen daraus resultieren mag, wenn ein Text Wort für Wort von einer Sprache in die andere und dann in die nächste und so weiter und zum Schluss zurück in die Ausgangssprache übertragen wird, lässt sich auf kleinstem Raum bei »Kim kocht« in Wien anschauen. Es sind zwar noch Worte da – zum Beispiel poliertes Brett, Glas, furniert, rohe Schwarte, Birke, Kupfer, Kirschholz, weisses Tischtuch, Hütte –, aber keine Sätze, geschweige denn ein Text. Hier hat sich die Erosion des Gastrointerieurs selbst thematisiert, was schon beinahe wieder originale Qualität hätte, wenn das Ganze nicht so humorlos aufgetragen würde. Und all dem steht entgegen, dass das eigentliche Essen – das von Kim gekocht wird – einmalig präzise und authentisch schmeckt. Wie um Himmels willen ist es möglich, dass die Kochkunst mittlerweile die Architektur formal überholt? Vielleicht weil Form fatalerweise als etwas fertig Zubereitetes verstanden wurde und nicht als das Ergebnis einer Zubereitung?

Kaum einer hat die Metamorphose des gastroarchitektonischen Ambientes und die damit verbundene Entfremdung von Geschichte so früh und so genau begriffen wie Hermann Czech. Sein »Kleines Café« verschliff derart hemmungslos Bestand und Eingriff, dass seitdem alle Debatten über Alt und Neu, künstlich und »natürlich« eigentlich vom Tisch sind. Das Gasthaus »Immervoll« dupliziert die Untergrabung dieser Kluft genussvoll und gelassen, ohne aufgesetzte Rhetorik, also selbstverständlich. Czech hält die Zeit an, indem er sie von hinten unmerklich einholt. Niemand weiss, ob allenfalls der Besitzer die alte Täfelung eigenhändig weiss gestrichen hat, die schräg oberhalb der Tische aufgehängten Spiegel mit allen ihren Sichtbezügen aus der Kammer seiner Grossmutter oder aus der Filiale von Ikea besorgte, die Sitzbänke eigenhändig renovierte oder ob da ein Architekt mitmischte. Nichts scheint kalkuliert, aber alles funktioniert. Es würde auch funktionieren, wenn im »Immervoll« etwas ganz Exotisches zu Tische käme anstelle knusprig frischer Wiener Schnitzel. »Immervoll« entkoppelt Ambiente von Produkt, Design von Inhalt, Gaststube von Heimat und lässt den Gast trotzdem nicht allein, wenn er nach vertrauter Umgebung sucht. Ganz im Gegenteil wird der Gast gewahr, dass die fernen Welten im Inneren zu finden sind, ganz zu Hause. Und da ist immer noch das Holz als Stoff, an das wir uns erinnern, ob Täfelung, Boden, Decke oder Tisch ...

zuschnitt, Di., 2008.12.16



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16. Juni 2007Christoph Luchsinger
zuschnitt

Zeit lassen

Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie das Spektrum all jener Beteiligten am Planen und Bauen entstanden ist, mit dem wir uns jeden Tag produktiv auseinandersetzen...

Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie das Spektrum all jener Beteiligten am Planen und Bauen entstanden ist, mit dem wir uns jeden Tag produktiv auseinandersetzen...

Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie das Spektrum all jener Beteiligten am Planen und Bauen entstanden ist, mit dem wir uns jeden Tag produktiv auseinandersetzen (oder auch frustriert herumschlagen). Manche sagen, dass ursprünglich alles aus einer Hand kam, dass ein und dieselbe Person Idee und Konzept zu einem Bauvorhaben entwickelte, für die Organisation des Bauplatzes sorgte und den Bau als Unternehmer selbst ausführte. Das ist der Mythos vom Baumeister alter Schule, der kraft der ihm eingeborenen Tradition eigentlich nichts wirklich falsch machen konnte, weder kulturell noch konstruktiv.

Andere sagen, dieser Schöpfungsmythos der Spezialisierung der Bauleute im Laufe der Zeit stimme nicht. Es habe schon immer die Einen gegeben, die eher zum Entwerfen und Planen, und die Anderen, die eher zum Umsetzen neigten. An den Dombauhütten gab es durchaus Auseinandersetzungen zwischen solchen Interessen. Und damit schlichen sich auch Fehler ein, weil der Eine dem Anderen nicht richtig zuhörte oder weil er etwas im Kopf hatte, von dem er dachte, es sei das, was der Andere eben erklärt hatte, und umgekehrt usw.

Das Dilemma, ob der ursprüngliche Baufachmann ein abgespaltener Spezialist des Baumeisters oder ein launischer Besserwisser auf der Dombauhütte war, wird noch verdüstert durch ein weiteres, belastendes Indiz. Der klassische »Architekt« ist seit der Renaissance und bis weit ins 19. Jh. hinein insofern Laie, als er auch noch Künstler, Gelehrter, Philosoph o.ä. in Personalunion war. Architektur war nur eine der vielen Äusserungen, mit denen sich der Homo universalis an die Welt wandte. Und der sollte auch noch verstehen, wie man zwei Balken zusammenzapft oder den Dachrand ausbildet?

Nein, das ging dann schon zu weit, das funktionierte nicht mehr wirklich. Wir kennen ja die Geschichten von den berühmten Meistern, die mir nichts dir nichts ganze Gebäudeflügel abreissen liessen, weil die Profilierungen der Fenster nicht ihrer – nie präzis ausformulierten – Vorstellung entsprachen. Oder die grossflächig den Bau auskleideten, weil der Putz etwas zu stark abgetönt wurde, obwohl nicht einmal die Farbe je besprochen worden war. Wehe, wenn Bernini auf die Baustelle kam! Oder wenn Borromini oder Ledoux den Vorarbeiter zu sich rief, da flogen die Fetzen! Die Meister konnten sich das leisten, sie waren anerkannt am Hof und ohnehin die Meinungsmacher. Aber für den Alltag der modernen Industriegesellschaft taugte das nicht. Also musste ein neuer Beruf her, dessen Mitglieder planen, entwerfen, organisieren, rechnen, zeichnen und kommunizieren konnten und die ihr Wissen über das praktische Bauen akademisch im Trockendock erlernten. Der moderne Architekt war da, geb. ca. 1870, verwaist, keine Vorstrafen, keine speziell vertieften Qualifikationen, ein Allrounder, ein smart guy, der sich überall zurechtfindet.

Während er also eine relativ junge Erscheinung ist, verkörpert der Handwerker Tradition und Althergebrachtes. Ein Sparren ist immer noch ein Sparren, auch wenn er mittlerweile vielleicht schichtverleimt ist, ein Ziegel immer noch ein Ziegel, auch wenn er statt aus Ton aus Beton oder Faserzement ist. Gemauert wird nach wie vor von unten nach oben und der Putz kommt am Schluss auf die Wand bzw. auf die Perimeterdämmung. Die Handgriffe im Handwerk sind weitgehend noch dieselben wie ehedem, vor allem aber zeichnet sich der Handwerker nach wie vor dadurch aus, dass er auf ein Problem zugreift, um es möglichst umgehend konkret zu lösen. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie einfach sich manches, das man während Stunden im Büro wälzte, erledigen lässt, wenn man am Bau mit dem Handwerker spricht.

Am Bau besprechen ist dabei allerdings beinahe Conditio sine qua non, und manchmal reicht nicht einmal das aus, insofern als das Ergebnis nicht unbedingt dem entspricht, was man zusammen besprochen hatte. Vergleiche oben, Beispiel Dombauhütte. Und vorgängig, auf dem Plan, geht fast alles, aber oft sind die Konsequenzen nicht überschaubar und plötzlich ist eine Schraube oder eine Fuge da, wo man als Architekt nie und nimmer so ein Ding vermutet hätte. Diese Tendenz, sich nicht vollständig zu verstehen, nimmt zu in einer Zeit, in der die Zeit fehlt, die Dinge auszulegen, aufzuzeichnen, hin- und herzuschicken, zu korrigieren. Als Architekten sind wir ehrlich begeistert, einen Werkstattplan vom Handwerker zu erhalten, aufgrund dessen wir sehen, wie er das wirklich macht. Ganz zu schweigen davon, noch eingreifen und ändern zu können.

Beiden Seiten fehlt also die Zeit (was gleichbedeutend ist mit Geld), dem Architekten, um sich ins neue Thema einzuarbeiten, dem Handwerker, um seine praktische Lösung überhaupt aufzuzeigen. Ich meine, die Verrohung der Details liegt nicht daran, dass dem Handwerk das Know-how entgleitet und der Architekt nur noch grafisch projektiert. Oder dass mit der Verbreitung von Convenient Solutions, Halbfabrikaten und Patentbauteilen industrielle Methoden im Bauen ein- und ausgehen. All das trifft zwar auch zu, ist aber ein anderes Thema. Die Verrohung der Details liegt daran, dass sich die Leute nicht mehr aufeinander einlassen.

Dies wäre aber umso notwendiger, als Handwerker und Architekten wegen ihrer gemeinsamen Wurzel zwar viel voneinander verstehen, aber eben doch zuwenig, um nicht miteinander reden zu müssen. Und dafür – Regel Nr. 1 – muss man sich halt Zeit lassen.

zuschnitt, Sa., 2007.06.16



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