Editorial
Mit der »Metropole Ruhr« wird 2010 erstmals eine gesamte Region europäische Kulturhauptstadt sein: 53 Kommunen anstatt einer einzigen. Damit erfährt die Kulturhauptstadt-Idee 25 Jahre, nachdem sie ins Leben gerufen wurde, erneut eine entscheidende Veränderung – nun steht nicht mehr lediglich eine Stadt mit ihren Einzelproblemen im Blickpunkt, sondern das Beziehungsgeflecht einer Region. Doch ein derart ehrgeiziges Projekt wäre ohne Vorläufer-Projekte nicht denkbar und so stellen wir der RUHR.2010 die Internationale Bauausstellung Emscher Park (1989–99) bewusst als »Fundament« voran und vergleichen und bewerten auch im Weiteren die Herangehensweisen und Ziele beider miteinander. Sechs Monate vor Beginn des Kulturhauptstadtjahres fragen wir kritisch: »Was war, was ist, was bleibt in der Ruhrregion?« uk
Inhalt
Diskurs
03 Kommentar
Tag der Architektur – eine vertane Chance? | Jürgen Tietz
06 Magazin
12 Letters from UK
Abschied von London | Beatrice Galilee
14 Im Blickpunkt
Rheinauhafen Köln | Christian Hümmeler
Schwerpunkt
Ruhr 2010
16 Übersichtskarte der Ruhrregion
18 IBA Emscher Park als »Fundament« für die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 von Herzog & de Meuron, Ortner & Ortner | Dirk E. Haas
26 Campus und Quartier: Alte und neue Arbeitswelten von Jourda & Perraudin, Drecker & Kirchhellen, Kiessler & Partner, Gerber Architekten | Frank Maier-Solgk
34 Interview mit Karl-Heinz Petzinka und Katja Assmann | uk
38 Brücken IM Ruhrgebiet | Roland Günter
46 Umgestaltung von Autobahnen und Halden | Adeline Seidel
Empfehlungen
50 Kalender
50 Ausstellungen
- Micro Houses (Bielefeld) | Peter Struck
- Fritz Leonhardt (Stuttgart) | Christian Schönwetter
52 Neu in …
- Barcelona (E) | Markus Jakob
- Cartagena (E) | Klaus Englert
- Dresden | Matthias Grünzig
- München | Ira Mazzoni
54 Bücher
Trends
Energie
56 Masterstudiengänge für Energieeffizientes und Nachhaltiges Bauen | Heike Wefelscheid
Technik aktuell
60 Der hydraulische Grundbruch | Martin Ziegler
64 Produkte
Möbelmesse in Köln und Mailand | uk
68 Produktberichte
Licht- und Elektrotechnik, Gebäudeautomation | Monika Zydeck
72 Schaufenster
Inneneinrichtung | Monika Zydeck
74 Schwachstellen
Unbelüftete Holzdächer mit Dachabdichtungen | Rainer Oswald
Anhang
80 Planer / Autoren / Bildnachweis
82 Vorschau / Impressum
Vom Hinterhof zum Standort
(SUBTITLE) Campus und Quartier: Alte und neue Arbeitswelten
»Arbeiten im Park« hieß eines der sieben Projektfelder der IBA Emscher Park, das den »Hinterhof des Reviers« nicht nur ökologisch und landschaftlich erneuern, sondern auch für den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft nutzbar machen wollte. Angesichts der schwierigen Standortbedingungen sah man die Notwendigkeit, hochwertige Standorte für die Ansiedlung innovativer Gewerbe- und Dienstleistungen zu entwickeln. Man setzte dabei unter anderem auf: ökologische Bauweise, hohen Grünflächenanteil, sorgfältigen Umgang mit kontaminierten Böden und Funktionsmischung. Zehn Jahre nach Abschluss der IBA und kurz vor dem nächsten Großereignis ist es Zeit, die ehemaligen Zukunftsansätze kritisch zu hinterfragen und ihre Weiterentwicklung im Zusammenhang mit der RUHR.2010 zu betrachten.
Etwa zwanzig neue Gewerbeparks sind in den Jahren der IBA Emscher Park (1989–1999) entstanden, von unterschiedlicher architektonischer und städtebaulicher Bedeutung und Prägnanz. Einige wie der Innenhafen Duisburg oder die Zeche Nordstern sind als »Zukunftstandorte« zu zugkräftigen Symbolen für den Wandel der Region geworden, manche der auf den ehemaligen Brachen errichteten neuen Zentren erfüllen ihre Kernfunktion, zeigen baulich wie konzeptionell einen Zuschnitt, der vermutlich heute anders ausfallen würde. Obwohl Gewerbe- und Technologieparks in der Regel nicht zu den Bautypen gehören, die Anlass für allzu avantgardistische Architekturentwürfe geben, verbinden einige der neuen Arbeitswelten ökologische Modernität mit einer architektonischen Ausdruckskraft, die zeittypische Aspekte besitzt, aber auch heute überzeugt. Die in Herne-Sodingen auf der Fläche der ehemaligen »Zeche Mont-Cenis« 1999 eröffnete Fortbildungsakademie des nordrhein-westfälischen Innenministeriums (Jourda & Perraudin) zum Beispiel – eine großzügig dimensionierte, ringsum verglaste Halle (176 x 72 x 15 Meter), ist solch ein Exempel bildhaft gewordener Technologie. Das Glas wirkt als Mikroklimahülle, die Solarzellen, mit der etwa die Hälfte des Daches belegt ist, beleuchten und verschatten zusätzlich die innere Plaza wie die eingestellten Gebäude, und durch Sonneneinwirkung und Wärmerückgewinnung werden auch im Winter angenehme Temperaturen erreicht. Im übrigen produziert die ehemals größte (im Guiness-Buch verzeichnete) Photovoltaikanlage der Welt Strom für 350 Einfamilienhäuser. Gestalterisch kommt man ohne große Schnörkel aus: Entlang eines Wasserbeckens reihen sich die containerartigen, zum Teil in Holzbauweise ausgeführten Bautrakte – Gästehotel, Restaurant sowie auch kommunale öffentliche Einrichtungen –, während das Dach auf einer Holzkonstruktion von 56 Fichtenstämmen ruht. Prägend ist die offenbar als bewußter Kontrast zum historischen Charakter des Ortes konzipierte südlich-exotisch anmutende Atmosphäre. Eine Vorhalle ist mit rauhen Schotterflächen ausgelegt, während außerhalb die Wiesen von einem weiten Kranz von Pappeln umringt sind, die die optische Distanz zum städtischen Umfeld betonen. Trotz der später in der Nachbarschaft errichteten neuen Geschäftshäuser und der behindertengerechten Wohnhäuser sowie einem neuen Ärztehaus steht dieses Beispiel für Transparenz und Leichtigkeit auf dem leeren Brachgelände wie ein luftiger Exot, der jederzeit wieder davonschweben kann.
Dank der jährlich etwa 10 000 Fortbildungsteilnehmer und übrigens auch der Bewohner des Stadtteils ist diese südliche Enklave im Revier aber durchaus belebt. Den Eindruck gewinnt man nicht immer beim seinerzeit ebenfalls mehrfach preisgekrönten Wissenschaftspark Rheinelbe in Gelsenkirchen-Ueckendorf. Er folgt stärker noch dem Ideal eines in Grün eingebetteten Campus. Kernstück der auf dem Gelände des ehemaligen Gußstahlwerks errichteten Gebäudekomplex (Kiessler & Partner) ist eine 300 Meter lange Glasarkade, die auf dem Dach eine moderne Solarstromkraftanlage trägt, und von der neun quergestellte Büroflügel kammartig abzweigen. Ihr gestalterisches Markenzeichen ist die nach Westen ausgerichtete und bei Bedarf hochfahrbare Schrägfassade, an die der im landschaftlichen Stil angelegte Park (Büro Drecker, Kirchhellen) mit einem kleinen See (der als Regenrückhaltebecken dient) unmittelbar grenzt. Mit Anklängen an die historische Gewächshausarchitektur macht diese lichtdurchflutete und mit ihrer elegant wirkenden Galerie versehene Verteilerhalle innerhalb der städtischen Umgebung fraglos einen leicht fremdartigen Eindruck. Bezüge zur industriellen Vergangenheit des Ortes sind kaum sichtbar. Vor allem ist dem Bau trotz seiner zentrumsnahen Lage weder architektonisch noch durch seine Einrichtungen – auf eine ursprünglich geplante Buchhandlung und ein Restaurant wurde verzichtet – die Absicht einer kulturellen oder anderweitigen Integration in die urbanen Zu- sammenhänge anzumerken. Obwohl seit einiger Zeit Kunstausstellungen organisiert werden, dominiert der Charakter des neutralen Wissenschaftsparks. Beide Standorte, architektonisch anspruchsvoll und mit Lichtkunstinstallationen gelegentlich ästhetisch eindrucksvoll verfremdet, erscheinen als Arbeitswelten, die ästhetisch die Distanz zur städtischen Umgebung betonen.
Funktionsmischung
Nicht alle Gewerbe- oder Technologieparks der Generation Emscher Park sind architektonisch ähnlich sprechen. Ein Gebäudeensemble wie das des Innovations- und Gründerzentrums Herne am Nordrand der Stadt unweit des Emscher Kanals ließe sich vermutlich auch andernorts finden. Ähnlich wie in Gelsenkirchen fungiert ein langgestreckter, (doppel-)verglaster Erschließungsriegel als Atrium und Verteiler zu mehreren, im rechten Winkel abzweigenden Baukörpern. Die Parkatmosphäre springt mit den begrünten Außenfassaden sofort ins Auge, doch standen flexible Flächennutzung, funktionale Räumlichkeiten und eine kostengünstige (Stahlskelett)-Bauweise offenbar im Vordergrund. Die Firmen, die den Komplex nutzen, kommen vordringlich aus dem IT-, EDV- und Logistikbereich. Auch in Bochum-Wattenscheidt, auf der Fläche der ehemaligen Zeche Holland, hat sich der Schwerpunkt gewerblicher Nutzungen inzwischen erweitert. Die um einen Hof gruppierten und sanierten Zechengebäude, die ursprünglich einem »Eco-Textil-Zentrum« Platz boten, das sich der Entwicklung umweltverträglicher Verfahrenstechniken in der Textilindustrie widmen sollte, sind nun zum Gründerzentrum für ein breites Feld innovativer Unternehmen aus der Region geworden, nachdem sich die eindeutige Orientierung nicht als tragfähig erwiesen hatte. Der angrenzende Gewerbepark funktioniert gleichwohl auch heute; die Flächen sind überwiegend vermietet. Ein neu angelegter Landschaftspark und die entlang einer Teichanlage errichteten neuen Wohnhäuser haben die einstige Brache fraglos aufgewertet – ob sich aus der räumlichen Nähe von Wohnen und Gewerbepark jedoch etwas anderes als eine Schreibergartenidylle entwickeln lässt, kann man bezweifeln. Das gestalterisch markanteste Element des Areals ist jedenfalls der denkmalgeschützte Förderturm der Zeche Holland, dessen Sanierung in Verbindung mit einem Büroneubau für dieses Jahr erhofft wird.
Kreative Arbeitswelten
Ursprünglich sollte jeder der neuen Arbeitsstandorte ein bestimmtes branchenspezifisches Profil besitzen, mit öffentlich/staatlichen Institutionen als Keimzellen, um die herum sich die entsprechenden Firmen ansiedeln sollten. Das Cluster-Prinzip ist jedoch, wie auch in Gelsenkirchen, wo sich der ursprüngliche Schwerpunkt Energiewirtschaft um den Bereich der Gesundheit erweitert hat, zugunsten einer größeren Diversifizierung modifiziert worden. So bleibt auch heute die Gretchenfrage die nach den Arbeitsfeldern mit der günstigsten Zukunftsperspektive bei gleichzeitig größter Flexibilität. Ist es die Wasserstofftechnologie, auf die man in Herten setzt? Einige der einschlägigen Firmen werden das innerstädtische »ZukunftsZentrum« mit seiner markant-schrägen Solarzellenfassade bald verlassen, um auf das Gelände der Zeche Ewald zu ziehen. Hier soll, rund um den neu entstehenden »Blue Tower«, einer Prototypanlage zur Erzeugung und Nutzung von Wasserstoff, ein neues Kompetenz-Zentrum entstehen, das die ehemalige Bergbaustadt in eine international führende Wasserstoffmetropole verwandeln soll.
Oder ist es doch die viel beschworene und inzwischen auch bundesweit in ihrer Bedeutung erkannte Kreativwirtschaft? Die größten Anstrengungen in diese Richtung hat in den vergangenen Jahren im Ruhrgebiet die Zeche Zollverein unternommen. 170 Unternehmensansiedlungen, 70 Prozent davon der Kreativwirtschaft zuzurechnen, sind dort inzwischen erfolgt und 1100 Arbeitsplätze seit der Stillegung der Zeche entstanden, wobei das Thema Design nach wie vor den Kern der Aktivitäten bildet. Hier wie andernorts hat sich die Nähe zu Universität und Forschung als der vielleicht entscheidende Vorteil erwiesen. Demnächst wird die Folkwang FH Design aus dem Zentrum auf das Zechengelände ziehen, dann zum Teil auch die Zollverein School von Sanaa nutzen, hauptsächlich aber die neu errichteten Gebäude der Designstadt bevölkern. Für diese zeitgenössische Variante eines Gewerbeparks werden ab Herbst 2009 fünf kürzlich ausgezeichnete »mobile working spaces« realisiert, die jeweils von Teams aus Designern und Architekten »abseits des Gewöhnlichen« entwickelt wurden. Hier wird er also wahr, der Traum der Entsprechung von Erbauern und Nutzern, und es entspricht dem vorsichtiger gewordenen Zeitgeist, wenn wie in diesem Fall von mobiler Architektur die Rede ist.
Sicherlich ist die Zeche Zollverein als jährlich von mehr als 800 000 Menschen besuchte Weltkulturerbestätte, als Ort kultureller Großveranstaltungen und als das seltene Beispiel einer historischen Architektur, die die Sachlichkeit der frühen Moderne mit Monumentalität und Ausdrucksstärke verbindet, in jeder Hinsicht ein Sonderfall. Ästhetisch besitzt der Ort jedenfalls jene atmosphärische Dichte, die für die Akteure der Kreativität seit je besonders reizvoll anmutet. Dennoch waren auch hier, abseits der städtischen Pulsadern, erhebliche öffentliche Infusionen notwendig, von der Ansiedlung von Institutionen bis zur Durchführung branchenspezifischer Messen. Ob sich die Kreativwirtschaft, die nach gängiger Definition vom Architekturbüro über die Werbeagentur bis zum Games-Entwickler heute elf Teilbranchen umfasst, darüber hinaus auch eine urbanistische Wirkung entfalten kann, die den Gewerbeparks der »Arbeiten-im-Park-Generation’«meist abging, wird sich noch zeigen müssen. Die Probe aufs Exempel wird man vermutlich in Dortmund erleben. Im kommenden Frühjahr eröffnet das Dortmunder U – ehemals Symbol des Dreiklangs von Kohle, Stahl und Bier – als rundumerneuertes »Zentrum für Kunst und Kreativität«. Der knapp sechzig Meter hohe Backsteinkoloss wird derzeit von Gerber Architekten aufwendig instandgesetzt. Unterhalb eines spektakulären Veranstaltungssaals und den neuen Räumen des Museums am Ostwall werden sich dann Einrichtungen aus dem Zwischenbereich von Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft ansiedeln, darunter das »Zentrum für kulturelle Bildung im Informations- und Medienzeitalter«. Spannend wird die Frage, ob das kulturelle Kraftzentrum auch in seinem Umfeld Wirkungen erzeugen kann, um die heute triste Szenerie aus Brachen und fünfziger Jahre Wohnblocks zum Kreativquartier zu entwickeln. Bernd Fesel und das für Kreativwirtschaft verantwortliche Team der RUHR.2010 sieht jedenfalls genügend Potential. Im Ruhrgebiet seien rund 25 000 Unternehmen in diesem Sektor tätig (mit steigenden Beschäftigtenzahlen), die jährlich zwischen 8 bis 9 Mrd. Euro (im Vergleich: Berlin 7 Mrd. Euro) Umsatz erwirtschaften. Gemeinsam mit den Stadtverantwortlichen werden derzeit die Leerstände katasterartig erhoben, um später Künstlern und kulturellen Einrichtungen günstige Raumangebote machen zu können. Immerhin bestehen mit dem nahen Bahnhof eine ideale Verkehrsanbindung und mit dem FZW im Schatten des U eines der etabliertesten Rockveranstaltungshäuser der Region. Auch in Dortmund wird viel davon abhängen, wie behutsam und im Blick auf welche Mieter die weitere bauliche Entwicklung vorangetrieben wird. Für Kreativquartiere gilt gemeinhin als günstiges Zeitfenster die Phase zwischen Brache und Gentrifizierung. Der Trend jedoch ist eindeutig: Ob in Dortmund, Essen oder einem der neu geplanten Kreativquartiere in Bochum, Dienstlaken, Oberhausen oder Unna-Massen (wo sich das Flüchtlingsaufnahmelager in das Künstlerdorf Unna-Massimo verwandeln soll), die kreativen Arbeitswelten der kommenden Generation setzen auf den vorhandenen baulichen Bestand und eine urbane Quartiersentwicklung. Nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus, dass die Relikte des Industriezeitalters die bildstärksten (und medial vermittelbarsten) Elemente sind, die die Region besitzt. Ob jedoch die sanierten, kulturell bespielten und von Designer bevölkerten Zechenanlagen ähnlich wie vor langer Zeit ein Atomei neben dem Biergarten zum Symbol des gesellschaftlichen Aufbruchs werden – ist eine offene Frage, die nicht nur im Revier entschieden wird.db, Mo., 2009.07.06
06. Juli 2009 Frank Maier-Solgk
Kulturhauptstadt als Motor
(SUBTITLE) Gespräch mit Karl-Heinz Petzinka und Katja Assmann
Von Athen über Glasgow bis zur Ruhrregion, vom Tourismus-Festival zum Stadtentwicklungsinstrument – ein Gespräch mit dem künstlerischen Direktor der Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst der RUHR.2010, Prof. Karl-Heinz Petzinka, und der Projektleiterin dieses Bereichs, Katja Aßmann, über 25 Jahre europäische Kulturhauptstadt und die Frage: Was bleibt, wenn das Kulturhauptstadtjahr vorüber ist.
Ulrike Kunkel: Lassen Sie uns eingangs kurz auf die generelle Idee einer europäischen Kulturhauptstadt eingehen. Seit dem Beschluss 1985, der einem Vorschlag der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri folgte, haben sich sowohl die Bezeichnung als auch die Idee selbst verändert: Im kommenden Jahr wird nun sogar erstmals eine gesamte Region Kulturhauptstadt sein.
Katja Aßmann: In der Tat wurden in den ersten Jahren mit Athen, Florenz, Amsterdam die gängigen europäischen Kulturmetropolen ausgewählt, bevor mit Glasgow der Titel 1990 erstmals an eine Arbeiterstadt ging. Das war eine entscheidende Zäsur. Der Kulturhauptstadt-Titel hat damals einen erfolgreichen Imagewechsel und einen städtebaulichen Wandel für die Stadt bewirkt. Das hat sich in der Folge weiterentwickelt. Ich glaube, Glasgow ist immer noch die Mutter der neuen Kulturhauptstädte. Und das Ruhrgebiet mit dem regionalen Anspruch ist eigentlich noch mal eine ganz neue Stufe: Nicht nur auf eine Stadt mit ihren Einzelproblemen zu wirken, sondern das Beziehungsgeflecht einer ganzen Region zu betrachten.
Karl-Heinz Petzinka: Man kann sagen, aus dem ursprünglichen Festival des Tourismus ist eine inhaltliche Diskussion über die Stadt geworden, von dort ging es zu einer städtebaulichen Dimension bis hin zur Betrachtung ganzer Regionen. Fakt ist aber, dass im übergeordneten Sinne die Kulturhauptstadt nach wie vor das Gleiche geblieben ist: Nämlich, die Idee, in einen Kommunikationsprozess zu treten.
Also war es durchaus ein kontinuierlicher Prozess, der fast zwangsläufig darin münden musste, dass der Kulturhauptstadtgedanke irgendwann auf eine Region ausgeweitet wurde. Aber warum nun gerade auf das Ruhrgebiet? Genießt es eine europaweite Sonderstellung?
K.-H. Petzinka: Ja vielleicht. Auch früher hatten sich Regionen beworben, die aber nicht gewählt wurden. Wenn es das Ruhrgebiet jetzt geschafft hat, dann weil der Strukturwandelprozess hier bereits spürbar ist, er ist in vollem Gange. Das hat letztendlich auch die Kommission überzeugt und es hieß: »Okay, wenn Ihr das alles schon geschafft habt, dann ist es interessant, in solche Strukturen weiter zu investieren, auch wenn es ein Wagnis bleibt.«
Gibt es herausragende Maßnahmen anderer Kulturhauptstädte, die Ihnen bis heute in Erinnerung sind?
K. Aßmann: Da denke ich natürlich an Glasgow und Porto. Beide haben die Kulturhauptstadt als Stadtentwicklungsinstrument genutzt. Porto hat 2001 die gesamte Stadtinfrastruktur erneuert. Das ist ein Beispiel, das ich wirklich herausragend finde.
K.-H. Petzinka: Mir kommt auch noch Liverpool in den Sinn. Die Stadt hat mit ihrem großen innerstädtischen Einkaufskomplex keine architektonische Marke gesetzt – das muss man dann schon differenzieren – sondern hat Ideen zu Projekten entwickelt, die ohnehin anstanden. Die Liverpooler haben das damals sehr schön formuliert: Wir hätten alles auch ohne die Kulturhauptstadt gemacht, aber die Kulturhauptstadt beflügelt zusätzlich, sie wirkt als Beschleunigungsfaktor. Ähnliches passiert ja nun auch hier im Ruhrgebiet.
K. Aßmann: Die Kunst ist eigentlich, die Kulturhauptstadt nicht nur als Marketingmaschine zu sehen, sondern zu nutzen, um nachhaltige Veränderungen für die Städte und ihre Bewohner zu lancieren. Dabei ist es vor allem wichtig, die Menschen von den Ideen zu überzeugen, sie mitzunehmen und für Neues zu öffnen. Das Bauprogramm kommt dann fast wie selbstverständlich.
Bei der RUHR.2010 bilden 53 Kommunen gemeinsam die Kulturhauptstadt. Das bedeutet viele Meinungen, Interessen, unterschiedliche städtebauliche und architektonische Voraussetzungen. Das birgt einerseits Chancen, ist andererseits aber auch mit besonderen organisatorischen Schwierigkeiten verbunden.
K.-H. Petzinka: Ich sage mal, in unserer »Stadt der Möglichkeiten« haben wir keine Schwierigkeiten. Ich sage das so pauschal, weil Sie gleich sehen werden, wie die Methodik ein Teil der Lösung ist. Unsere erste Aufgabe war es, zu definieren, welche Vorschläge und Projekte überhaupt für die Aufnahme in das Kulturhauptstadt-Programm qualifizieren. Wir haben es relativ simpel gemacht. Wenn ich die Kulturhauptstadt als meine Zielsetzung beschreiben würde, würde ich sagen, ob dabei eine Straße, eine Seenplatte oder ein Stadtquartier rauskommt, interessiert mich nicht; entscheidend ist, dass wir in einer Zusammenarbeit von verschiedenen Kommunen oder Institutionen zu einem Mehrwert kommen. Die Zusammenarbeit haben wir dann »horizontale und vertikale Verknüpfung« genannt, denn immer, wenn mehrere Beteiligte an der gleichen Idee in eine Richtung arbeiten, entsteht ein Mehrwert. Das meint, wir arbeiten immer Disziplin übergreifend und ein Projekt muss immer mehr als drei Städte betreffen. Und nur, wenn alles zusammenkommt, kann ein Projekt Teil der Kulturhauptstadt sein. Alle wichtigen Projekte haben auf dieser Ebene geklappt. Sie sind übrigens zum großen Teil 2010 nicht fertig, sondern sie haben eine Zeitschiene von bis zu 20 Jahren.
Und das ist unsere Kulturhauptstadt-Idee, die wir programmatisch verfolgen. Weniger die Frage nach einem Einkaufszentrum wie in Liverpool oder einem Konzerthaus. Vernetztes Denken ist gefragt. Für Projekte dieser Art ist die allgemeine Akzeptanz auch größer: Ein Masterplan für eine Bundesautobahn zum Beispiel oder ein 17 Museen überspannendes Konzept, das sind Dinge, die letztendlich alle 53 Kommunen betreffen.
Gibt es andere Länder oder Städte, die sich für Ihre Methodik interessieren?
K.-H. Petzinka: Aus den Niederlanden gibt es großes Interesse. Aber auch Vertreter aus Berlin waren schon zweimal hier, da man sich dort für 2017 mit der Stadtplanungsidee einer besonderen IBA für den Flugplatz Tempelhof auseinandersetzt. Auch Planer aus Hamburg waren zu Besuch und sogar aus Detroit. Und alle übrigens, ohne dass wir sie gezielt eingeladen hätten.
Im Zusammenhang mit der RUHR.2010 wird von der »Metropolregion Ruhr« gesprochen. In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist das sicher plausibel, aber zu einer Metropole gehört schließlich noch etwas mehr. Ist die Idee nicht zum Scheitern verurteilt?
K.-H. Petzinka: Wir haben gesagt: Wir sind eine andere, eine unkonventionelle Metropole. Wenn man hier aus dem Fenster schaut und die fünf Hochhäuser von Essen sieht, dann ist das natürlich nicht metropolitan. Oder die Halden, die Innenstädte, die B1, das ist alles nicht im eigentlichen Sinne metropolitan, aber es ist unsere Metropole. Von mir aus lachen alle darüber, aber wenn man einen Großraum mit 5,5 Mio. Menschen in eine Richtung bewegt, dann ist das ein durchaus urbanes Projekt. Wir bieten Randgruppen Chancen, sich zu entwickeln. Unna Massimo zum Beispiel, ein Quartier mit 350 Wohnungen, die leer stehen, weil es Übergangswohnungen von Aussiedlern waren. Dort können sich nun Kreative ansiedeln. Suchen Sie das mal in einer Großstadt, dort ist es unbezahlbar. Wir glauben, dass die Kreativen ihren Raum hier haben, und wir denken, dass die Wohnungswirtschaft zu neuem Leben erwacht, weil die Mieten niedrig sind, weil wir Wasserflächen haben und noch mehr Seenflächen bekommen werden und einen hohen Freizeitwert bieten. Wir werden dem Rheinland ganz schön Konkurrenz machen. Wir clustern die Wissenschaft, wir clustern Technologie, wir clustern kreative Branchen. Unter dem Begriff der Kreativwirtschaft bündeln wir kreativ arbeitende Industriezweige und Jungdesigner sowie Künstler. Und nicht zuletzt bieten wir attraktive Wohnortgebilde. Attraktiv kann dabei eben auch preiswert und sogar runtergekommen bedeuten, es kommt immer darauf an, für wen.
Derzeitige Schätzungen gehen allerdings davon aus, dass die Region weiter mit massiver Abwanderung und nur wenig Zuwanderung rechnen muss. Hat da ein Projekt wie die RUHR.2010 überhaupt Möglichkeiten gegenzusteuern?
K.-H. Petzinka: Ob wir erfolgreich gegensteuern können, kann ich noch nicht sagen, aber wir glauben eine geeignete Antwort auf die Abwanderungstendenz gefunden zu haben: Dort, wo Kultur und Kreativität sind, werden Sie immer Interessierte finden, die hin wollen. Wie viele kann ich nicht sagen, aber ohne Kultur und ohne Freiräume kommt gar keiner. Der nächste Schritt ist, die Lebensqualität durch Freizeit- und Wohnumfeldverbesserungen zu steigern. Die demographische Entwicklung, ist letztendlich ein gesellschaftliches Phänomen und kein spezifisches des Ruhrgebiets. Das einzige, was uns unterscheidet: Hier finden die Entwicklungen zehn Jahre früher statt. Wir haben uns also schon jetzt gewappnet, während andere noch vor sich hin dösen. Wir setzen auf Immigration und Internationalität, die Universitäten rücken zusammen in eine neue gemeinsame Ruhr-Universität. Wir haben den Sektor Gesundheitswirtschaft und nicht zuletzt die Logistik als einen großen Wachstumsmotor.
K. Aßmann: Eben sind ja schon ein paarmal die Stichworte Raum für kreativ arbeitende und Kretativquartiere gefallen. Das könnte durchaus eine Initialidee der RUHR.2010 sein, die in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten weiterverfolgt und umgesetzt wird. Derzeit sind wir noch auf dem Weg dorthin.
K.-H. Petzinka: Wenn in Rotterdam und Amsterdam die Mieten davongaloppieren, weil diese Städte einen hohen internationalen Zuzug haben, aber keine Expansionsflächen, dann ist das für viele Künstler dort nicht zu bezahlen. Und so gibt es etliche, die an unseren leerstehenden Hallen und Räumen interessiert waren, schließlich ist Rotterdam nur zwei Zug-Stunden entfernt. Und so hat sich auf einmal ein Stück Kreativwirtschaft entwickelt.
Dann konkurrieren Sie also weniger mit Rotterdam und natürlich auch nicht mit New York, wenn es um die kreative Szene geht, aber immer noch mit Berlin. Dort finden Sie ebenfalls unkompliziert günstigen Raum.
K.-H. Petzinka: Ja, natürlich. Die Attraktivität Berlins werden wir nicht toppen können. Aber zum Glück denken die Menschen verschieden und so werden sich die einen für Berlin und die anderen für das Ruhrgebiet entscheiden. Und wenn Leute zu uns kommen, wird das auch bewirken, dass die Region endlich ihre Stärken sieht und das allgemeine Selbstbewußtsein und die Identifikation mit der Gegend wieder zunimmt. Auch dabei wird uns das Kulturhauptstadt-Projekt helfen.
Da Sie von Selbstbewusstsein und Identifikation sprechen: Es gibt durchaus Kritiker, die sagen, dass sich die Planer sowohl bei der IBA als auch bei der RUHR.2010 zwar mit viel Engagement um die baulichen Hinterlassenschaften gekümmert haben, aber nicht genug um die Menschen in der Region. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
K.-H. Petzinka: Nein, sage ich einfach mal. Aber bei 5,5 Mio. Menschen werden Sie irgendwo immer ein paar Millionen finden, die sich gar nicht angesprochen fühlen. Ansonsten haben wir bewusst die Transformationsarchitektur gewählt, weil sie ganz anders Erinnerungsvermögen und Emotionen weckt als zum Beispiel der Museumsentwurf von Chipperfield in Essen, der sich einem Laien viel schwerer erschließt und der dann eher sagt, das interessiert mich nicht. Aber wenn Sie nach dem Dortmunder U, der Küppersmühle und den Halden fragen, dann hören Sie: »Ja, da habe ich gearbeitet. Die Kunst ist zwar bescheuert, aber da gehe ich hin, da verbringe ich Zeit.«
Lassen Sie uns noch auf die Zeit nach 2010 kommen. Im Anschluss an die IBA war es 1999 ja so, dass viele der Projekte stagnierten, weil es keine Folgegesellschaften gab. Wie wird es nach dem 31. Dezember 2010 aussehen und weitergehen?
K.-H. Petzinka: Ich glaube, das ist ganz einfach. Die EU-Mittel sind bedingungsgemäß auf 20 Jahre zweckgebunden. Also kann ich Ihnen sagen, dass wir zumindest 20 Jahre lang die Projekte, die mit EU-Mitteln gefördert sind, betreiben werden. Projekte wie die der Transformationsarchitektur sind ohnehin auf lange Zeit angelegt. Es sind keine Einmalergebnisse, es sind Prozesse.
K. Aßmann: Das Entscheidende denke ich, ist, dass bei den meisten Projekten die RUHR.2010 nicht der Projektträger ist, sondern wir haben immer Partner mit hinzugenommen, die die Projekte nach 2010 weiterführen. Das hat uns bei der Planung ein bisschen aufgehalten, weil wir natürlich die Partner »abholen«, für unsere Ziele gewinnen mussten. Aber wir haben darüber die Gewährleistung, dass die Projekte weitergeführt werden. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch das Besondere der Kulturhauptstadt, dass wir unangepasst sein können und Experimente zulassen. Experimente führen nicht immer zum Erfolg. Von daher finde ich das gar nicht schlimm, wenn manche Dinge nicht nachhaltig bleiben, aber wir haben Anstöße gegeben. Und wenn nur die Hälfte nachhaltig eine Wirkung zeigt, dann wäre das ein riesiger Erfolg. Auf einmal gibt es wirklich noch eine spürbare Urbanität. Vielleicht schafft man es zum Beispiel, die Metropolen-Card, diese öffentliche Nahverkehrskarte, zu behalten. Wenn das passieren würde, wären wir, glaube ich, wirklich ein Stück weiter in Richtung Ruhrmetropole.
Ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
[ Das Interview führte Ulrike Kunkel am 3. Juni in der Zeche Nordstern.
Karl-Heinz Petzinka, geboren in Bocholt, ist Architekt und künstlerischer Direktor für die Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst der RUHR.2010. Er ist Professor an der Kunstakademie Düsseldorf und Vorsitzender der Geschäftsführung des Immobilienkonzerns THS in Gelsenkirchen.
Katja Aßmann, Projektleiterin für die Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst bei der RUHR.2010, studierte Architektur und Kunstgeschichte. Sie ist Projektleiterin im Europäischen Haus der Stadtkultur und hat den »Baukultur Salon« erfunden und etabliert. Sie arbeitete bereits maßgeblich an der IBA Emscher Park. ]db, Mo., 2009.07.06
06. Juli 2009 Ulrike Kunkel
Epizentren des Neuen?
(SUBTITLE) IBA Emscher Park als »Fundament« für die Ruhr.2010
Sind zehn Jahre nach dem Finale der IBA Emscher Park die damaligen Projektansätze und Strategien noch aktuell? Haben sich die Visionen der IBA eingelöst und wohin führt der weitere Weg unter zeitgenössischen Fragestellungen? – Ein Rückblick auf die IBA und ein Ausblick auf die IBA-Projekte die im Rahmen der RUHR.2010 nachqualifiziert werden.
Der Ort zählt zu den key visuals des postindustriellen Ruhrgebiets: Das Werksschwimmbad von Dirk Paschke und Daniel Milohnic vor der riesenhaften Kulisse der Kokerei Zollverein, 2001 im Rahmen eines Kunst-Projekts aus zwei Übersee-Containern zusammengeschweißt und mit einem umlaufenden Sonnendeck aus Holzplanken ausgestattet, symbolisiert jenen kreativen Spirit, mit dem das Ruhrgebiet gerne für sich und seinen schon sprichwörtlichen Strukturwandel wirbt. Kaum eine Ruhrgebietskampagne kommt ohne ein Motiv dieses unorthodoxen Ortes aus.
Ganz so ungewöhnlich ist dieser Ort jedoch nicht, denn im Laufe der zehnjährigen Internationalen Bauausstellung Emscher Park sind eine Reihe ähnlicher Szenerien entstanden, die das Bild der Region verändert haben. Mit ihrer hohen medialen Präsenz suggerieren diese Orte eine atmosphärische Dichte dieses neuen Ruhrgebiets, die der Realität allerdings noch ein wenig voraus ist, denn nach wie vor befindet sich diese Region beständig im Wandel; das gilt insbesondere für einige Schlüsselprojekte der IBA, die in den 1990er Jahren initiiert wurden. Zehn Jahre nach dem Ende der IBA stellt sich dennoch die Frage: Hat die IBA bereits eine neue Architektur des Ruhrgebiets begründen können – Architektur, verstanden im doppelten Sinn: als grundlegende räumliche Struktur dieser Region, aber auch als spezifische Qualität, die sich genau so im öffentlichen Bauen nach und neben der IBA erkennen lässt? Haben sich auch die seinerzeit innovativen strategischen Ansätze der IBA, die im internationalen Rahmen nach wie vor Beachtung finden, in die Planungskultur des Ruhrgebiets eingeschrieben? Darüber wird gegenwärtig heftig diskutiert, denn mit dem Programmjahr der Europäischen Kulturhauptstadt steht ein neues Großereignis an, das sich ganz in der Tradition der IBA Emscher Park sieht und erklärtermaßen Kunst und Baukultur als Motor für die weitere Gestaltung der regionalen Stadtlandschaft einsetzen möchte. Daher lohnt der Blick auf solche Orte, die zu den wichtigsten IBA-Projekten zählen und nun zu Schauplätzen der Europäischen Kulturhauptstadt werden: der Duisburger Innenhafen, der Bochumer Westpark und das Essener Zollvereinareal – wobei Duisburg, Bochum und Essen eher Koordinaten sind, denn diese Stadträume sind längst zu regionalen Orten geworden.
Duisburg: Innenhafen
Der Beginn der Bauarbeiten für die Erweiterung des Museum Küppersmühle für Moderne Kunst liegt nur wenige Wochen zurück: Herzog & de Meuron, die bereits den Umbau der ehemaligen Getreidemühle zum Kunstmuseum planten, haben für die zusätzlich benötigten Ausstellungsflächen einen auf alten Getreidesilos aufgelagerten, zweigeschossigen Quader in 36 Meter Höhe entworfen. Die Silos an der Ostseite des Museums dienen als neue Erschließungskerne, der Quader bietet rund 2000 Quadratmeter an neuen Ausstellungsräumen, in denen bedeutende Kunstwerke der Nachkriegszeit aus der Sammlung von Sylvia und Ulrich Ströher gezeigt werden sollen. Der radikal-einfache und gleichzeitig utopische Gestus des schwebenden Baukörpers setzt ganz auf seine Fernwirkung und gibt der Museumserweiterung ein spektakuläres Moment, das allerdings in der Stadt nicht unumstritten ist (»Schuhkarton«) und auch bei Denkmalpflegern anfänglich Widerstände auslöste – schließlich ist es ein ungewöhnliches Zusammenspiel von historischer und moderner, von funktionaler und zeichenhafter Architektur, von denen das Ruhrgebiet bislang noch viel zu wenige kennt.
Im westlichen Abschnitt des Innenhafens wird zeitgleich ein weiteres Ensemble aus alter und neuer Architektur errichtet, dessen Fernwirkung ebenfalls ein wesentlicher Parameter der Entwurfsaufgabe zu sein scheint. Hier entsteht nach Plänen von Ortner & Ortner Baukunst das Landesarchiv Nordrhein Westfalen: Das vorhandene Speichergebäude wird dabei um einen geschlossenen Archivturm ergänzt, dessen ursprünglich vorgesehene Höhe von 65 Meter allerdings aus Kostengründen auf 30 Meter reduziert wurde. Wie im Fall der Küppersmühle wird auch hier die historische Architektur noch einmal zeichenhaft überhöht, sodass das Landesarchiv durch seine Lage an der Autobahn A 40, der Hauptstraße des Ruhrgebiets, zu einer weiteren Landmarke der Region wird. Die archaisch anmutende Erhabenheit dürfte auch die Architekten ein wenig verunsichert haben – jedenfalls spricht das geplante Gegenstück, der 120 Meter lange, mäanderförmige Anbau eine deutlich andere Architektursprache.
Beide Bauvorhaben spielen im Kontext der Europäischen Kulturhauptstadt eine wichtige Rolle: Sie fungieren als architektonische Signets des RUHR.2010-Mottos »Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel«, sie machen aber vor allem auf ein Terrain aufmerksam, das zu einem der erfolgreichsten Projekte der IBA Emscher Park geworden ist. Auf der Grundlage des Masterplans von Foster & Partners sind seit den 1990er Jahren zahlreiche Wohn- und Bürogebäude, Museen, Restaurants, eine Synagoge, ein »Park der Erinnerung« und eine Marina entstanden, die das alte Hafenareal in ein neues Stadtquartier verwandelt haben. Die einzelnen Bausteine des Quartiers wurden zumeist auf konzeptionell und technisch hohem Niveau realisiert; das betrifft die Wohnbauten im neu geschaffenen Grachtenviertel genau so wie die Bürogebäude nördlich des Hafenbeckens, die mit ihren Erdgeschosszonen aus Restaurants, Pubs und Clubs wesentlich dazu beitragen, dass der Innenhafen zu einem regelrechten Ausgeh-Viertel geworden ist. Nicht alles ist gelungen, gerade dort, wo einzelne Neubauten nicht zur Belebung der Waterfront beitragen oder, wie bei einigen Wohnbauten, kein rechtes Verhältnis zu den historischen Speichergebäuden gefunden haben. Das Quartier hat sich dennoch, auch dank seiner günstigen Entwicklungsvoraussetzungen als innenstadtnahes Hafenareal, zu einem für das Ruhrgebiet bislang einzigartigen Stadtraum entwickelt.
Bochum: Westpark
Eine auf den ersten Blick ähnliche Konstellation – ohne Hafen, dafür mit Hügel – kennzeichnet den Bochumer Westpark. Das Gelände, auf dem über 150 Jahre lang Roheisen und Stahl hergestellt wurde, wird seit der IBA bei allen Überlegungen zur Entwicklung der Bochumer Innenstadt mit gedacht, obwohl auch hier wie in Duisburg eine stringente funktionale Verknüpfung mit der eigentlichen City noch aussteht. Nach Plänen von S.K.A.T. (mit Thomas Sieverts), Danielzik + Leuchter sowie Heimer + Herbstreit ist das Areal zu einer postindustriellen Terrassenlandschaft umgestaltet worden, einem neuen Typ von Stadtpark, der 2006 für den International Urban Landscape Award nominiert war. In der Mitte des Parks befindet sich die Jahrhunderthalle; zunächst nur als Ausstellungshalle für die Düsseldorfer Gewerbeausstellung 1902 konzipiert, wurde sie anschließend als Maschinenhalle auf dem Gelände des Bochumer Vereins genutzt. Heute ist die von Petzinka, Pink und Partner umgebaute Halle ein bedeutender Veranstaltungsort mit moderner Theatertechnik, ohne dass der Charme der alten Industriearchitektur darunter gelitten hätte. Sogar die erhaltenen Kran-Bahnen werden weiter genutzt. Die Hauptspielstätte der Ruhrtriennale sollte zunächst um eine Spielstätte für die Bochumer Symphoniker ergänzt werden; die Stadt Bochum hat sich jedoch entschieden, das Konzertgebäude nicht im Westpark, sondern in der eigentlichen Innenstadt unweit des Szene-Viertels »Bermudadreieck« zu errichten. Dieser Teil der Innenstadt soll in den nächsten zu einem der Kreativ-Quartiere des Ruhrgebiets ›weiter entwickelt werden. Diese Verlagerung des geplanten Konzertgebäudes zeigt einmal mehr, dass der Westpark noch nicht als Teil der Innenstadt wahrgenommen wird, auch wenn die Stadtverwaltung alles tut, ihn über eine neue U-Bahn-Station, attraktive und entsprechend inszenierte Parkeingänge mit der Bochumer City zu verknüpfen. Die Planer der Stadt haben auch die ursprüngliche Rahmenplanung aus der IBA überarbeitet, damit Westpark und Jahrhunderthalle nicht nur als postindustrielle Variante des alten Topos »Festspielhaus im Park« fungieren, sondern zu einer bevorzugten Adresse für private Investments wird – so wie dies im Duisburger Innenhafen in den letzten Jahren gelungen ist.
Essen: Zollverein
Für Baukultur ist Zollverein immer noch ein rätselhafter, paradoxer Ort. Ein Gebäudeensemble, das »auf Zeit« konzipiert war und trotz der beabsichtigten Vergänglichkeit herausragende baukünstlerischen Qualitäten besitzt, zeigt, dass temporäres Bauen nicht zu einem Weniger an gestalterischen Ambitionen führen muss als das Bauen für die so genannte Ewigkeit. Zollverein, ursprünglich nur für wenige Jahrzehnte gedacht, ist nun ein Weltkulturerbe, das – und da beginnt die nächste Besonderheit – nicht nur bewahrt, sondern weitergebaut werden soll, und zwar auf einem Niveau, das diesem Status Weltkulturerbe gerecht wird. Mit diesem Anspruch ist Zollverein ein auch im internationalen Maßstab einigermaßen einzigartiges Versuchsfeld für zeitgenössische Baukultur. Es ist zudem der Ort, der ein neues Verhältnis von Kultur und Arbeit befördern soll. Nicht die alten Kathedralen der Arbeit, die sich in den vergangenen Jahren zu neuen Kulturstätten gewandelt haben, sind das eigentlich Neue, sondern der geplante gegenläufige Effekt: Dort, wo jetzt Kultur entstanden ist, soll künftig neue Arbeit entstehen – ein viel versprechendes Thema für eine Kulturhauptstadt Ruhrgebiet, der in vielen Bereichen die traditionelle Erwerbsarbeit auszugehen droht.
Der Umbau der ehemaligen Kohlenwäsche zum Ruhr Museum durch OMA und Böll/Krabel und der Neubau der Zollverein School durch SANAA haben Zollverein längst auf die Agenda internationaler Architekturtouristen gesetzt; das Ensemble aus alter und neuer Architektur wird aber auch zum identitätstiftenden Ort für die gesamte Region, zu einem Symbol für einen Strukturwandel, der sich gleichermaßen als Sinneswandel begreift. Das gilt auch für den Zollverein Park, der in seinerEntstehung gar kein Park im Sinne einer gartenkünstlerisch gestalteten, absichtsvollen Landschaft ist, sondern eine industrielle Brache, die zunächst einmal nur zum Park erklärt wurde. Der Zollverein Park ist vom Grundsatz her also keine bauliche, sondern eine gedankliche Kreation: Objekte, Strukturen, Pflanzen, die ursprünglich einen völlig anderen (oder gar keinen) Sinn hatten, werden so im Rahmen der Neuinterpretation zu Elementen eines Parks. Diese Idee eines formalästhetisch vollkommen neuen Parks wird aber nicht nur konserviert, sondern nach Plänen von Agence Ter und der Planergruppe Oberhausen behutsam weiter entwickelt, ohne den einzigartigen Charakter zu überformen: zum Beispiel mit der großen Industriegleisharfe als Parkpromenade, halb verfallenen Gebäuden, die plötzlich zu außerschulischen Lernorten werden oder den neuen camouflage-haften Pavillons der Künstlergruppe Observatorium, die sich als im besten Sinne paradoxe Parkinfrastrukturen herausgestellt haben. Sie fungieren als wichtige Orientierungspunkte im Park und machen sich gleichzeitig so unsichtbar wie möglich: So sind sie zu neuen, in diesem Fall absichtsvollen Symbolen für das »Rätsel Zollverein« geworden.
Sind Innenhafen, Westpark, Zollverein oder auch andere prominente IBA-Orte nun eher Inseln in einem ansonsten eher anästhetischen Ruhrgebiet – oder doch die Epizentren eines neuen Ruhrgebiets, das sich mit den dort angesiedelten Projekten der Kulturhauptstadt auch materiell verändert? Die Antwort ist noch offen, wohl auch über 2010 hinaus. Mit RUHR.2010 ist bewusst kein explizit neuer Diskurs über Architektur und Baukultur verbunden, weil die Qualitätsstandards der IBA nach wie vor als Maßstab des Handelns anerkannt werden. 10 Jahre nach dem Ende der IBA gibt es nur wenige, die sich an dieser großen IBA-Nähe der Kulturhauptstadt reiben. Sie stört vor allem eines: Das große Versäumnis der IBA wird auch das große Versäumnis der Kulturhauptstadt sein. Die Region, die Metropole werden will, wird auch in 2010 kein angemessenes Nahverkehrssystem haben.db, Mo., 2009.07.06
06. Juli 2009 Dirk E. Haas