Editorial

Wieder einmal gibt es zwischen den Artikeln in dérive inhaltliche Verbindungslinien, die so ursprünglich gar nicht beabsichtigt waren. Oft werden mir diese selbst erst bei der Layoutkorrektur klar, wenn ich alle Texte noch einmal lese, um hoffentlich die allerletzten Fehler, über die zuvor alle inklusive mir drüber gelesen haben, zu finden („Surkamp“ habe ich diesmal glücklicherweise noch entdeckt, „Princton“ das letzte mal leider nicht; wobei ich mich ja dann trotzdem immer frage, wieso einem ein Fehler wie „Surkamp“ nicht schon beim ersten Mal Lesen auffällt).

Der Schwerpunkt hat diesmal das Thema Stadt und Comic und wurde fast vom selben Team, das vor einem Jahr den Schwerpunkt Cinematic Cities/Stadt im Film redaktionel l betreut hat, zusammengestellt: Thomas Ballhausens, Günter Krenns und Ines Wagners Anliegen beim vorliegenden Heft ist es, „mit der Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Beiträge sowohl die grundsätzlichen Elemente der untersuchten Wechselbeziehung zu skizzieren und in neue Kontexte einzubetten als auch Perspektiven auf bisher kaum beachtete oder gar bearbeitete Felder zu eröffnen“. Wohl bekannte und gut erforschte Aspekte des Themas wurden hingegen ausgespart – wer sich über den dérive-Schwerpunkt hinaus mit dem Thema beschäftigen will, findet auf Seite 36 eine Auswahlliste an empfehlenswerter Sekundärliteratur. Der Schwerpunkt umfasst diesmal nicht nur Texte, sondern auch mehrere Bildbeiträge – natürlich in Form von Comics. Herzlichen Dank an die ComiczeichnerInnen Axel Laimer, Birgit Scholin, Jörg Vogeltanz und Anna-Maria Jung, dass sie ihre Arbeiten für dérive zur Verfügung gestellt haben. Diese Vielzahl an Bildbeiträgen ist auch der Grund dafür, dass diesmal das Kunstinsert ausfällt. Im nächsten Heft wird diese Serie mit einer Arbeit von Ralo Mayer wieder aufgenommen.

Nicht zuletzt, weil uns die Präsentation von dérive 34 mit dem Schwerpunkt Arbeit Leben im Wiener Rochuspark viel Spaß gemacht hat, wird auch dieses Heft im Rahmen einer Veranstaltung präsentiert werden. Am 4. Juni ist dérive im Literaturhaus Wien zu Gast, wo die AutorInnen des vorliegenden Schwerpunkts zum Thema Stadt und Comic diskutieren werden. Zu diesem Zeitpunkt findet dort nämlich auch die von Thomas Ballhausen kuratierte, sehenswerte Ausstellung Sequenced Worlds statt, was sich glänzend trifft. Wie immer wird natürlich auch an diesem Abend das Feiern nicht zu kurz kommen! Rund drei Wochen später, Ende Juni, geht es mit den dérive-Veranstaltungen gleich weiter: Heft 36 wird im Wiener Stuwerviertel vorgestellt werden, das mit all seinen Problemen, Hoffnungen und Perspektiven, die prototypisch für ähnliche Stadtteile in anderen europäischen Städten stehen, das Thema für den Sommer-Schwerpunkt bildet.

Der oben erwähnte Strang, der die Beiträge dieses Heftes über den Schwerpunkt Stadt und Comic hinaus verbindet, hat mit der omnipräsenten Wirtschaftskrise zu tun: Krisen verlangen nach Helden, und wo findet man größere Helden als in Comics? Wenngleich es selbst Comichelden immer schwieriger haben, ihren Glanz zu bewahren. Der Wirtschaftsforscher Hannes Leo erklärt uns im Magazinteil, was die Ursachen der Krise sind – Helden ortet er allerdings weit und breit keine. Vielmehr befürchtet er, dass die Lehren aus der Krise wohl nur dann zu wirklichen und wirksamen Reformen führen werden, wenn sie uns noch viel heftiger trifft als bisher geschehen. Welche langfristigen Auswirkungen die Krise beispielsweise auf die US-Suburbs und die Stadtentwicklung insgesamt haben wird, ist in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht abzusehen: 2,2 Millionen Familien haben 2008 in den USA ihr Haus verloren, die Kredite von acht Millionen HausbesitzerInnen, die sie für ihre Immobilien zurückzahlen müssen, sind höher als der aktuelle Wert der Häuser.

Wenn eine Stadt in den letzten Jahren nicht mit dem Wort Krise in Verbindung gebracht werden konnte, dann ist es Dubai. Eine Rekordmeldung nach der anderen wurde kolportiert – über das elende Leben der Bauarbeiter und ihre miese Bezahlung war schon weit weniger zu hören. Doch auch Dubai steckt nun mitten in der Krise. Am momentan höchsten Gebäude der Welt, dem Burj Dubai, wird trotz stark fallender Immobilienpreise derzeit zwar noch gebaut, für das aktuellste Prestigeprojekt, den Nakheel Towe r mit veranschlagten 1140 m Höhe, wurde die Planung aber krisenbedingt ausgesetzt, und die Flotte der internationalen ManagerInnen verlässt zu Tausenden das möglicherweise sinkende Schiff. Elisabeth Blum und Peter Neitzke porträtieren in ihrem Beitrag, den sie vorausschauend Dubai, ein Zwischenbericht genannt haben, eine Stadt, die mit dem, was wir uns darunter vorstellen, wenig bis nichts zu tun hat. In Dubai gibt es nichts, was nicht der privaten Profitmaximierung untergeordnet ist; öffentlicher Raum existiert de facto nicht. Der Beitrag lässt vermuten, dass selbst die klassischen Superhelden, die wir aus den Comics kennen, kaum Interesse haben würden, für eine so wenig urbane, leblose Stadt ihre Kräfte zu vergeuden. Keine Spur von Gotham City.

Manfred Russo setzt seine Serie zur Geschichte der Urbanität in der 26. Folge mit einem weiteren Text zur Moderne fort. Im Zentrum steht wiederum der Newskij Prospekt in St. Petersburg und der Kampf um Anerkennung. Diesmal aus der Sicht von Dostojewskijs Mann aus dem Untergrund, dem kleinen Beamten, der nichts freudiger und zugleich verbissener herbeisehnt als auf dem Newskij Prospekt mit einem Offizier zusammenzustoßen, um der Klassengesellschaft zumindest einen kleinen Stoß zu versetzen.

Der hintere Teil des Heftes bietet wie immer zahlreiche Besprechungen von Büchern und Ausstellungen. Der Platz war ein weiteres Mal nicht ausreichend, um die Vielzahl interessanter Publikationen und Ausstellungen abzubilden, weswegen ich auf unsere Website www.derive.at verweise, wo sich weitere aktuelle Besprechungen finden. Die dérive-Website, die bisher fast ausschließlich der Heftpräsentation, der Abo-Bestellung sowie gelegentlichen Veranstaltungsankündigungen diente, wird in den nächsten Monaten übrigens eine erhebliche Aufwertung erfahren: Im Hintergrund wird bereits heftig gewerkt, damit sich die Website in mehreren Schritten zu einer interaktiven Plattform für Stadtforschung wandelt. Mehr dazu demnächst an dieser Stelle. Bis dahin viel Spaß mit der Superhelden, Superkrisen, Super-Stadtwahnsinn-Ausgabe Stadt und Comic wünscht

Christoph Laimer

Inhalt

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt: Stadt und Comic

Die Bilder der Stadt. Vorbemerkung zum Schwerpunkt Stadt und Comic
Thomas Ballhausen, Günter Krenn, Ines Wagner

Rezept für einen Superhelden
Jill Meißner

Comic: London Calling (Excerpt) from Wired World (graphic novel)
Jörg Vogeltanz (Artwork), Thomas Ballhausen (Text/Story)

It’s the end of the world as we know it… Stadtbildfragmente New Yorks im Comic Heroes
Kathrin Kuna

Urban Trash Zone
Die kollabierende Stadt in Warren Ellis’ und Ben Templesmith’s Fell: Feral City
Verena Bauer

„Schokolade“ – Tagebuch einer Stadt (Ausschnitt)
crystal clear (Axel Laimer)

Stadtgegeben. Gedanken zur urbanen Topografie Guido Crepax’
Paolo Caneppele, Günter Krenn

Comic: (O.T.)
Birgit Scholin

Die illustrative Urbanisierung der Kinderliteratur
Ines Wagner
Ausgewählte Literaturhinweise

Magazin

Dubai, ein Zwischenbericht
Elisabeth Blum und Peter Neitzke

Krise! Welche Krise?
Hannes Leo

Serie

Geschichte der Urbanität, Teil 26 - Moderne III: Der Kampf um Anerkennung
Manfred Russo

Besprechungen

Städte lassen sich am Gang erkennen wie Menschen
Edeltraud Haselsteiner über den von Helmut Berking und Martina Löw herausgegebenen Band Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung
Durchsicht und Ausschluss
Andre Krammer über UmBau 24 – Strategien der Transparenz herausgegeben von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur und der Abteilung für Architekturtheorie TU Wien
Urbanographien – Neue Erzählungen urbanen Handelns
Paul Rajakovics über Urbanografien – Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie herausgegeben von Elke Krasny und Irene Nierhaus
Das Zulassen der Metamorphose
Manfred Russo über Richard Sennetts Handwerk
Städtische Eigenlogiken
Jens Kastner über Martina Löws Soziologie der Städte
Ein Philosoph unter den Architekten
Elke Krasny über die Ausstellung Bogdan Bogdanovic' – Der verdammte Baumeister im Architekturzentrum Wien
Linz in nackten Zahlen
Erik Meinharter über den Linz Atlas - Zur Lebensqualität hier und anderswo herausgegeben von Peter Arlt, Dimitri Broquard & Jonas Voegeli
Stadt, altersgerecht
Heinrich Hoffer über Zukunft Alter – stadtplanerische Handlungsansätze zur altersgerechten Quartiersentwicklung herausgegeben von Volker Kreuzer, Christa Reicher und Tobias Scholz
Stadt in Bewegung
Daniel Kalt über den Band Bewegungsraum und Stadtkultur herausgegeben von Jürgen Funke-Wieneke und Gabriele Klein
Design für die reale Welt
Elke Krasny über Victor Papanek – Design für die reale Welt. Anleitungen für eine humane Ökologie und sozialen Wandel herausgegeben von Florian Pumhösl, Thomas Geisler, Martina Fineder und Gerald Bast
Wiener Frauen: die Stadt gehört euch!
Susanne Karr über die Ausstellung Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien in der Wienbibliothek im Rathaus
Der Knall und die Leere
Günter Hainzl über die Ausstellung Anish Kapoor: Shooting into the Corner im MAK
Das gescannte Leben des Baumeisters
Andre Krammer über Le Corbusier Le Grand herausgegeben von Jean-Louis Cohen und Tim Benton
Freedom`s just another word ...
Susanne Karr über die Vortragsreihe Welche Freiheit? in der Wiener Secession
Utopie in Glas
Andrea Winklbauer über die Ausstellung Land aus Glas von Isa Melsheimer in der Galerie nächst St. Stephan
Notizen zur „goldenen Welt“ (des Kapitalismus)
Paul Rajakovics über die Ausstellung Zukunft und Ende der goldenen Welt von Linda Bilda im Salzburger Kunstverein
Stadt ist Sport? (Diese Besprechung gibt es nur auf der Website)
Erik Meinharter

Die Bilder der Stadt

(SUBTITLE) Vorbemerkung zum Schwerpunkt Stadt und Comic

Im Zentrum der vorliegenden Schwerpunktausgabe steht das Verhältnis von Stadt und Comic, das nicht zuletzt durch die Vielzahl filmischer Comic-Adaptionen in den letzten Jahren einen regelrechten Aufschwung erfahren hat. Oft war von Sin City zu lesen, von Gotham oder Metropolis; aktuelle Verfilmungen wie The Spirit oder Watchmen werden ihren Teil zur Fortführung dieses Trends beitragen. Die Verbindung dieser beiden sequentiell erzählenden Medien, die sowohl in ihrer historischen Entwicklung wie auch in ihren thematischen Ausrichtungen eine unleugbare Nähe zum Stadt-Raum aufweisen, ist dabei ebenso zu bedenken wie die zahlreichen positiven Herausforderungen der sich ergebenden, nicht minder zahlreichen intermedialen Bezüge. An den künstlerischen Arbeiten lässt sich eine ergänzende, streckenweise sogar alternative Geschichte der Moderne und ihrer Folgen ablesen. Das (neue) Interesse für diese Arbeiten und die ihnen zugrundeliegenden Comics und graphic novels, die spätestens mit dem Jahr 1986 eine wahre Zäsur in der Produktion und Rezeption der „bunten Bilder“ einläuteten, führt dabei aber auch immer wieder zurück zu den Fragen erzählerischer wie auch formaler Umsetzungsstrategien räumlicher Dimensionen zurück. Schon die Anfänge der Comics, die als eigenständiges und auch eigengesetzliches Medium eine enge Verwandtschaft zum Film aufweisen, sind an der Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum interessiert; die Palette reicht hier von den erträumten Wunderwelten Little Nemos bis zu den sich ständig wandelnden, geradezu verflüssigten Hintergründen in Krazy Kat. Die fruchtbare Historie dieser nicht immer unproblematischen Wechselbeziehung kann und soll dabei durchaus als erzählerische Erfolgsgeschichte gedacht werden, die bis in unsere Tage – und gewiss auch darüber hinaus – andauert: Der städtische Raum wird im Verlauf seiner comic history zur Konstante der so genannten Neunten Kunst, er wird zum Austragungsort unterschiedlichster Konflikte, zum umfehdeten Raum unterschiedlichster Diskurse.

Ganz im Sinne dieser thematischen Kontinuität war es uns ein Anliegen, im vorliegenden Heft mit der Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Beiträge sowohl die grundsätzlichen Elemente der untersuchten Wechselbeziehung zu skizzieren und in neue Kontexte einzubetten als auch Perspektiven auf bisher kaum beachtete oder gar bearbeitete Felder zu eröffnen. Ganz bewusst wurden bereits umfassend erforschte Themen, die sich über die Literaturhinweise und die den Schwerpunkt abrundende Auswahlbibliografie erschließen lassen, nur in den einleitenden Ausführungen berücksichtigt; das Hauptgewicht der Texte liegt auf der schlüssigen Auseinandersetzung mit neuen oder bisher kaum erforschten Werken, die über einen konkreten thematischen Zugriff vorgestellt werden. So unternimmt Jill Meißner in ihrem Beitrag eine vergleichende Lektüre der immer wieder sehr heftig diskutierten Heldenentwürfe, die die Metropolen bevölkern, und macht dabei unter anderem auch auf kulturübergreifende Prozesse aufmerksam. Kathrin Kunas und Verena Bauers Texte gehen der beinahe unauflöslichen Verbindung des Heldischen und des Städtischen im Comic anhand spezifischer Beispiele nach: Kuna untersucht den städtischen und comic-gemäßen Unterbau der beliebten Serie Heroes, Bauer stellt in ihrem Aufsatz Feral City – eine Zusammenarbeit von Altmeister Warren Ellis und Jungtalent Ben Templesmith, der auch in Europa eine breitere LeserInnenschaft zu wünschen ist – im Kontext neuerer Gedanken zur Stadtentwicklung vor. Günter Krenn und Paolo Caneppele kehren in ihrem Essay zu einem ihrer langjährigen Forschungsinteressen, dem Leben und Werk Guido Crepax’, zurück; erstmals kann man hier nun ausführlicher vom Spannungsverhältnis Crepax und Architektur lesen. Ines Wagners Ausführungen zu Illustrationen in Kinderbüchern, die in ihrer künstlerischen Gestaltung nicht selten den Charakter von Comicbildern annehmen, setzen sinnvoll auf den vorhergehenden Ansätzen auf und führen zugleich auch wieder zu den grundsätzlichen Gedanken einer konstruktiv-kritischen Lektüre der Wechselbeziehung Stadt und Comic zurück. Ergänzt werden die Texte von Arbeiten österreichischer Künstlerinnen und Künstler, die sich ebenfalls dem facettenreichen Themenkreis Stadt widmen: Birgit Scholins und Axel Laimers (crystal clear) zarte, feingliedrige Arbeiten sind ganz im Sinne der permanenten Gestaltungsherausforderung von leerer Seite und Stadtraum zu lesen, Anna-Maria Jungs Beispielseiten aus ihrem Comic Xoth! entführen in die Welt des US-amerikanischen Schriftstellers H. P. Lovecraft und seiner Entwürfe horribler Urbanität, und die Ausschnitte aus der graphic novel Wired World von Jörg Vogeltanz und Thomas Ballhausen stellen ein düsteres Parallelwelt-London vor.

Abschließend ist zu bemerken, dass der vorliegende Schwerpunkt als kleiner Beitrag gelesen werden kann und soll, sich auch im deutschen Sprachraum weiter für eine seriöse und lustvolle Auseinandersetzung mit dem Medium Comic einzusetzen, also die Möglichkeit der comic studies nicht nur anzudenken, sondern – immer auch im Sinne der LeserInnenschaft – umzusetzen. Um den letzten Satz der Abschluss-Episode von Calvin & Hobbes als Motto aufzugreifen: „It’s a magical world, Hobbes, ol‘ buddy ... Let’s go exploring!“


[Thomas Ballhausen ist Lektor an der Universität Wien (Europäische und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft) sowie Mitarbeiter des Filmarchivs Austria.]

[Günter Krenn, Studium der Philosophie und der Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Filmarchiv Austria; Arbeits- und Forschungsschwerpunkt: Musik, Filmgeschichte und Bildende Kunst. Mehrere selbständige Veröffentlichungen. Zuletzt erschienen: „Romy Schneider. Die Biographie“ (Berlin, 2008).]

[Ines Wagner, freischaffende Wissenschaftlerin und Journalistin mit den Arbeits- und Forschungsschwerpunkten Kinder- und Jugendbuch, -film, -kultur. Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien, derzeit Arbeit an der Dissertation „Kinderfilm in Österreich“. Mitarbeit beim Internationalen Kinderfilmfestival Wien, bei diversen Verlagen und bei Recherche arbeiten am Filmarchiv Austria.]

dérive, Fr., 2009.03.27

27. März 2009 Thomas Ballhausen, Günter Krenn, Ines Wagner

Die illustrative Urbanisierung der Kinderliteratur

„Lausch den Geräuschen der Stadt. Hör meine Lieder der Straßen.“ Carrer & Shapiro 1998

Was dem Kind im frühen 19. Jahrhundert widerfuhr, hatte grundsätzlich immer eine primär belehrende Funktion. Auch die Darstellung der Stadt als komplexes, stilprägendes Phänomen in den frühen Werken der Kinder- und Jugendliteratur verschrieb sich ganz dem Ziel, Besserungs- und Erziehungsmaßnahmen anzubieten. Trotzdem mag es wohl so gewesen sein, dass „auch die kinderliterarische Stadtbelehrung […] mit dem Schockartigen des Reizes, des Neuen, des Sensationellen [arbeitet]“ (Pech 1995). Durch den massiven Prozess der Verstädterung um 1900 ist die Diskrepanz zwischen der Lebensrealität des kindlichen Lesepublikums und den literarischen Handlungsräumen augenscheinlich eklatant. Neben literarischen Streifzügen durch die Großstadt als kindlicher Raum (Gansberg 1905) entstehen zu dieser Zeit auch einige wenige Werke, die die Stadt als mitwirkendes, handlungsweisendes Element erkennen und eine gleichzeitige Entfernung von der Reduktion der Stadt auf ein begrenztes Vorkommen als Kulissen zeigen.

Während die Stadtdarstellung meist auf die Ebene des Textes beschränkt ist, erscheinen schon Mitte des 19. Jahrhunderts Bücher für Kinder, die, teils sehr aufwändig illustriert, durch Bildfolgen sequenziell eine Geschichte erzählen. Berühmteste Beispiele für diese illustrierten Kinderbücher sind: Heinrich Hoffmanns Der Struwwelpeter (1845) und Max und Moritz (1865) von Wilhelm Busch, zwei Urtypen des Bilderbuches, die damalige mediale Entwicklungen auf dem Weg zum Film aufgreifen, indem sie mit dicht aufeinander folgenden Bildern erzählen. „In diesen Bildfolgen wird, wie in der damals neuen Fotografie, der pointierte Augenblick eines Ereignisses heraus gelöst und „medial“ präsentiert […] – ganz modern – [der] Augenblick des Schreckens.“ (Thiele 2000). In seinen Illustrationen vermag der Künstler Wilhelm Busch ein bewegtes Bild zu schaffen, noch bevor der Film das Laufen lernt. Was er meisterhaft vorführt, ist die grafische Übertreibung, die Vermischung subjektiver Wahrnehmung der Akteure mit der Wahrnehmung des Betrachters (Grünewald 1984, S. 25f).

Die verbildlichte Stadt kommt im 19. Jahrhundert nur selten über einen kulissenhaften Charakter hinaus. Auf Grund der starken Verbreitung von Bilderbögen, dem wichtigsten Medium des populären gedruckten Unterhaltungsangebots im städtischen Bereich, findet die Stadt in die Abbildungen häufig Eingang, nicht selten auch in Form eines Simultanbildes (zum Beispiel Der gestiefelte Kater (1850) von Moritz von Schwind). Die Bildfolgen vieler dieser beliebten Bilderbögen sind ähnlich einer Abfolge von Szenenbildern des Guckkastentheaters angelegt. Somit blickt der Betrachter immer von der selben Position auf das Geschehen der Papierbühne, Perspektiven und Standpunkte ändern sich hier noch nicht. Erst später nutzen die Comics das Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven zur Unterstützung der Handlung (Grünewald 1984, S. 20ff).

Während die Stadt als sinntragendes Element einer Geschichte im Bereich der illustrativen Darstellung, sprich in Comics, Bilderbüchern oder Bildgeschichten, selten beachtet wird, erfreut sich der Großstadtroman in der Kinder- und Jugendliteratur zunehmender Beliebtheit. Die Straße sieht Erich Kästner als Lernort bürgerlicher Öffentlichkeit. In Emil und die Detektive (1929) wird dem kleinen Jungen die Stadt Berlin gleichermaßen als Rummelplatz vorgestellt wie auch als Angstbild entworfen. „Diese Autos. Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen […] Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser.“ (Kästner 2000, S. 65). Trotz aller Elemente großstädtischen Lebens ist der Schock für den kleinen Jungen Emil überwindbar, er lernt schnell die Gesetze der Straße und erfährt solidarisches Handeln (Mieles 1995, S. 98f). Trotzdem ist die Großstadt der Schauplatz des Verbrechens, ein althergebrachtes und äußerst beliebtes Merkmal des Großstadtmotivs: der Verfall der städtischen Sozialstruktur. Die Steigerung davon verbildlichte schon Charles Dickens 1838 in seinem Roman Oliver Twist: Scharen von elternlosen, verwahrlosten Kindern, Amoral und Gesetzlosigkeit beherrschen das Stadtbild. Die Topografie von Straßen, Plätzen, Slums mit Nebel und Regen, dunklen Winkeln und Müllhalden ist die Londons – ein oppositionelles Bild zu der damals vorherrschenden gutbürgerlichen Kindheitsromanze.

Die Architektur der kindlichen Seele in Bilderfolgen

Von ähnlicher Couleur geprägt ist Die Erfindung des Hugo Cabret, ein Roman in Bildern und Worten von Brian Selznick aus dem Jahr 2008. Die Bilder der Großstadt lehnen sich an das Dickens’sche London an, der Protagonist, der kleine Hugo, ist von Elternferne1 geprägt, er haust vereinsamt in einem verborgenen Raum im Pariser Bahnhofsgebäude, wo er für die Wartung aller Uhren zuständig ist. Der Bahnhof, ein Knotenpunkt im Zeitalter der Mobilität, ist Hugos einziger Lebens- und Handlungsraum. Die Darstellung der Stadt in den sequentiellen kunstvollen Bildfolgen entspricht dem inneren Seelenleben des kleinen Hugo Cabret. Der Straßentumult ist für ihn nur erträglich, ja verständlich, wenn sich zwischen ihm und der städtischen Außenwelt eine Grenze befindet, eine Mauer, die ihm Schutz vor den Grausamkeiten und der Kälte gewährt und ihm damit die Position eines außenstehenden Beobachters gewährt. „Der Kaffee war heiß, und während Hugo ihn abkühlen ließ, warf er einen Blick durch den höhlenartigen Bahnhof auf all die Menschen, die, unterwegs zu tausend unterschiedlichen Zielen, vorbeihetzten. Wenn er sie von oben durch die Uhren betrachtete, fand er, dass sie wie wirbelnde Zahnräder in einem komplizierten Apparat wirkten. Doch aus der Nähe, inmitten des ganzen geschäftigen Geschiebes und Gewoges, erschien alles nur laut und unzusammenhängend.“ (Selznick 2008, S. 152).

Hugo ist kein kindlicher Flaneur durch die Straßen von Paris, die Stadt bleibt meist außerhalb des Bahnhofsgemäuers, vollkommen unzugänglich. Er schlendert nicht, er beobachtet selten, er kann die Stadt nicht genießen und versteht sich selbst nicht als ein Teil von ihr. Viel eher erweckt die Stadt den Anschein eines schlummernden Ungetüms, und man tut besser daran, es nicht zu wecken: „,Hör auf, beim Laufen so mit den Absätzen zu klackern‘, zischte der alte Mann durch die Zähne. „Ich sag dir, das bringt Unglück!“ […] Dann sagte er leise zu sich: „Ich hoffe, der Schnee deckt alles zu, damit die ganzen Schritte verstummen und die Stadt ihren Frieden finden kann.„“ (Selznick 2008, S. 93). Paris zeigt sich von seiner dunklen, schattenhaften und gleichermaßen sehr magischen Seite – weniger im Text, sondern viel deutlicher in den Bildern: kräftigen Schwarzweiß-Illustrationen, zu sequentiell erzählenden Bildfolgen arrangiert, kombiniert mit historisch bedeutsamen Fotos und Screen­shots alter Filme.

Die cineastischen Querverweise der Erzählung finden sich explizit im Text, aber auch in den Bildern verankert. So heißt es in der Einführung: „Doch ehe ihr die Seite umschlagt, möchte ich, dass ihr euch vorstellt, im Dunkeln zu sitzen wie zu Beginn eines Kinofilms.“ (Selznick 2008, S. 1). Über die ersten 21 Seiten des Buches erstreckt sich ein textloser Comicstrip, der auf wundersame Weise den Beginn des Geschehens darstellt. Durch filmische Mittel wie Zoom und den gekonnten Einsatz von verschiedenen Perspektiven und Einstellungsgrößen entsteht in diesem Buch ein „Kopfkino“, das Bild und Text nebeneinander, aber nie mit- oder ineinander platziert.

In diesem medienübergreifenden Werk werden auf raffinierte Weise Worte zu Bildern und das Buch zum Film. Die Handlung wird abwechselnd durch den Text, dann wieder durch die Bilderfolgen fort getrieben. Durch das streckenweise Erzählen eines Vorgangs in sequentiell angeordneten Folgen von Bildern, in comicartigen Strips, entstehen keine Lücken, nichts wird doppelt erzählt. Intelligente Schnittfolgen erzeugen einen mitunter filmischen Rhythmus. Auch wenn die Illustrationen manchmal etwas banal anmuten, so muss man sich doch deren Zweck vor Augen halten: Filmbilder zu imitieren und eine Geschichte in klaren, eindeutigen Narrativen zu erzählen. Der/die Leser/in wird durch die Kombination von Bildfolgen und Texten angehalten, Verbindungen herzustellen – durch genaues Betrachten, durch Kombinieren und Assoziieren. Nur eine eindeutig rezipierbare Bildfolge als Wiedergabe des Handlungsverlaufs kann divergierende Interpretationsmöglichkeiten beim Publikum vermeiden und führt somit zu einem exakten Verständnis des Geschehens.

Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen, die bestätigen, dass Kinder den korrekten Sinn einer sequentiell erzählenden Bildfolge sehr schnell erfassen, indem sie meist problemlos die richtigen Text-Wort-Verbindungen herstellen und Schemata, Symbolik und Typik eindeutig entschlüsseln. Grund dafür ist der Entfall eines Übersetzungsprozesses, das Bild im Kopf wird direkt aufgenommen und entsteht nicht erst aus einem übersetzten Text (Grünewald 1984, S. 91ff).

Die Straßen bei Nacht

Eine andere Form der Text-Bild-Interdependenz greift in Yvan Pommaux‘ Geschichten rund um die Katergestalt John Chatterton, die als berühmter Detektiv in einer namenlosen Großstadt der 1940er Jahre ihren märchenhaften Kriminalfällen nachgeht. Pommaux treibt ein ästhetisches Spiel mit unterschiedlichen Bildsprachen und liefert mit seinem komplexen Mix aus Comic, Märchen, film noir, Bildender Kunst und amerikanischen Filmklassikern ein Beispiel für die dynamische Entwicklung der Bilderbuchillustration. Intertextualität und interdisziplinäre Zitate nehmen eine für die Kinder- und Jugendliteratur selten breiten Raum ein und setzen sich somit über gattungs- und altersbedingte Kategorien hinweg (Oetken 2002, S. 77).

Auf wundersame Weise verbinden die Episoden bekannte Märchenmotive mit neuen Sehgewohnheiten aus Film und Fernsehen und verknüpfen Elemente der Detektivgeschichte mit solchen des film noir. Anthropomorphisierte Tiere, ein typisches Merkmal des Comics, bevölkern die Straßen in Chattertons Welt, sie sind schick gekleidet, handeln und denken wie Menschen. „Ihr Tieraussehen ist nur Kostüm, das einerseits die Fiktion des Spiels betont, andererseits das Interesse der jungen Leser steigert.“ (Grünewald 1984, S. 41). Eine sehr vereinfachte Sicht der Dinge, denn entgegen der Comictradition sind die Tiere als handelnde Gestalten bei Pommaux nicht stilisiert oder cartoonesk dargestellt, sondern durchwegs naturalistisch gezeichnet.

Pommaux bedient sich vielfacher filmischer Aspekte der Comic-Ästhetik. „Durch die Anordnung der Bilder kann der Illustrator mit der Zeit spielen […] Er kann die erzählte Zeit nach Bedarf etwa durch serielle Reihung der Bilder oder Konzentration im Zoom be- und entschleunigen oder die Handlung mit Nutzen des Bildzwischenraums und durch entsprechende Hinweise im Blocktext [der sehr sparsam eingesetzt ist] für beliebige Zeit unterbrechen.“
(Oetken 2002, S. 78).

Die Straßen der Großstadt bei Nacht sind die einzig mögliche Kulisse für den detektivischen Spürsinn John Chattertons. Aus der katerbedingt erniedrigten Perspektive bekommt das Publikum eine eindrückliche, wenn auch bruchstückhafte Vorstellung von dem düsteren, nicht ungefährlichen, etwas urban verwahrlosten Aktionsradius, in dem der Protagonist agiert. Vordergründig sind Nebel- und Rauchmotive, finstere Winkel und eine Farbsymbolik ähnlich kolorierten Schwarzweiß-Filmen, welche die Stadt als Ort der Amoral und des Verbrechens kennzeichnet. Bedingt durch die ungeschriebenen Gesetze der Kinderliteratur und den Einsatz der Märchenmotive ist ein glücklicher Ausgang ohne Blutvergießen der Kriminalfälle unabwendbar.

Die profane Alltäglichkeit der modernen Metropole

Mit der Verortung von Märchenmotiven in der Großstadt bewegt sich Pommaux auf kinderliterarisch durchwegs sicherem Terrain. Spätestens seit der Auszeichnung des Bilderbuches Aufstand der Tiere oder Die neuen Stadtmusikanten (1989) von Jörg Müller und Jörg Steiner mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis wurde die Großstadtkulisse dem Bilderbuch gänzlich eröffnet. Vier geknechtete Tiere des Kommerzes und der Markenwelt, die Eule, der Panda, das Krokodil und der Pinguin, wollen sich aus ihrer Rolle befreien und machen sich auf den Weg nach Disneyland, um dort, ganz in Grimm’scher Manier, als Stadtmusikanten aufzutreten. Perspektivisch außergewöhnliche Ansichten, einzig beleuchtet durch aufdringliche, neongrelle Leuchtreklame, skizzieren die Stadt spielerisch als neue Entdeckung, in all ihren Facetten. Mit Hilfe von optischen Verzerrungen wölben sich die Fassaden der Wolkenkratzer und scheinen die Figuren unter sich zu begraben. Die Perspektiven erzwingen den Blick in unendlich tiefe Straßenschluchten und durch Linsen, die die Szenerie stauchen oder dehnen. Die Stadt zeigt sich den vier Tieren in Form von Menschenmasse, Lärm und tristen nächtlichen Straßenzügen. „Die technischen und optischen Medienqualitäten [der Bilder] verbinden sich mit den assoziierten mythischen Filmbildern von Isolation, Anonymität und Großstadtdschungel amerikanischer Filmgeschichte.“ (Thiele 2000, S.31). Als kritischer Reflex auf die wankende Medienwirklichkeit spiegelt sich diese nur mehr in den glänzenden Kunststoffflächen und den schrillen postmodernen Glaspalästen.

Die ländliche Idylle hinter sich lässt auch die Variation eines beliebten Kinderreims mit dem Titel Kurz nach sechs kommt die Echs (2002) von Nadia Budde, wenn sich die Figuren – abermals anthropomorphisierte Tiere – in der tristen Monotonie eines arbeitsbedingten Alltagstrotts der anonymisierten Großstadt wiederfinden. Sie verkörpern den Typus der konturlosen, grauen Masse. Ihr Lebensraum, die Stadt, wird nicht im Text aufgegriffen, ausschließlich verbildlicht werden gleichförmig farblose, vollkommen entnaturalisierte Häuserfronten und stilisierte Verkehrsdichte, geistlose Großraumbüros, Massenmenschen an der Bushaltestelle und namenlose, traurige Gesichter. Comichafte Zeichnungen grotesken Striches machen die skurrile Szenerie zumindest für das Publikum amüsant. Seitenfüllende, sequenziell erzählende Bildfolgen sind von einer geometrischen Ordnung beherrscht. Übersichtliche Reihen, zivilisierte Menschenschlangen und stete Korrektheit werden erst im Traum der Echse – ein Ausbruch aus ihrer Einförmigkeit – zugunsten eines bildnerischen Beschreibens von Schwüngen, Drehungen und Wellen im Durcheinander abgelöst.

Die Stadt als höchst betriebsamen, labyrinthischen Ort, an dem man seine Sinne mit aller Kraft zusammenhalten muss, erlebt Bailey der Streuner (1998) von Chiara Carrer/Shapiro Bret: „Es war gerade fünf Uhr und sehr viel Verkehr. Die Straßen waren verstopft und Bailey sah nur mehr tausend Beine. Er wurde herumgeschubst, die Straßen hinauf und hinunter, einmal hin, einmal her und kreuz und quer durch die ganze Stadt.“ (Carrer & Shapiro 1998). Die phantasievolle Gestaltung der Stadt ist so hektisch wie sie selber: Im Stil der Collage und Montage werden Versatzstücke gerissen, geklebt, übermalt und so miteinander kombiniert, dass der Puls der Metropole zu spüren ist. Die Stadt ist eine Zeichenwelt, jeder Zentimeter des Buches will sich dem Publikum mitteilen. Das Stilmittel der Collage, als Möglichkeit, konventionelle Sehgewohnheiten zu irritieren, indem Bekanntes umgestaltet und etwas Neues geschaffen wird, ermöglicht die bruchstückhafte Dokumentation und Kombination der komplexen Schichten des Erzählens. Neue Sichtweisen werden denkbar.

Neue Sichtweisen und neue Erzählweisen der Stadt eröffnen dem Bilderbuch neue Realitäten. Angesichts der zunehmenden Verstädterung sei festgehalten, dass immer mehr AutorInnen und vor allem IllustratorInnen den Übergang von der Schilderung einer unbestimmten und ungenau beschriebenen Wohnsituation hin zu einer Darstellung der Stadt als realistischen Handlungsort wagen. So hat es nun nahezu dreieinhalb Jahrtausende gedauert, bis eine moderne Version der aesopischen Tierfabel Die Landmaus und die Stadtmaus (2008) von Kathrin Schäfer nahezu wertfrei das Leben in der Stadt dem Landleben gegenüberstellt und zu der finalen, grandios kitschigen Einsicht kommt: „Deins ist deins und meins ist meins. Beides anders, beides schön.“ (Schärer 2008).


Anmerkung:
[01] Die Elternferne, das Waisendasein von Kindern, ist ein beliebtes Motiv und ein Merkmal des Klassikerkanons der Kinder- und Jugendliteratur.

Literatur:
Carrer, Chiara & Shapiro, Brett (1998): Bailey der Streuner. Wien: Picus
Gansberg, Fritz (1905): Streifzüge durch die Welt der Großstadtkinder. Lebensbilder und Gedankengänge für den Anschauungsunterricht in Stadtschulen. Leipzig: Teubner
Grünewald, Dietrich (1984): Wie Kinder Comics lesen. Frankfurt/Main: dipa
Kästner, Erich (2000): Emil und die Detektive. Hamburg: Dressler
Mieles, Myriam (1995): Zivilisationsraum Großstadt. In: Nassen, Ulrich (Hg.): Naturkind, Landkind, Stadtkind. Literarische Bilderwelten kindlicher Umwelt. München: Fink
Oetken, Mareile (2002): Detektive im Bilderbuch: am Beispiel Chatterton. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien, 54. Jg., 13.Beiheft. S. 70-81
Pech, Klaus-Ulrich (1995): Riesenpläne, ausgeführt. Zur Funktion von Stadt und Land in der Kinderliteratur des frühen 19. Jahrhunderts. In: Nassen, Ulrich (Hg.): Naturkind, Landkind, Stadtkind. Literarische Bilderwelten kindlicher Umwelt. München: Fink
Selznick, Brian (2008): Die Erfindung des Hugo Cabret. Ein Roman in Worten und Bildern. München: cbj
Schärer, Kathrin (2008): Die Stadtmaus und die Landmaus. Düsseldorf: Sauerländer
Thiele, Jens (2000): Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Oldenburg: Isensee


[Ines Wagner, freischaffende Wissenschaftlerin und Journalistin mit den Arbeits- und Forschungsschwerpunkten Kinder- und
Jugendbuch, -film, -kultur. Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien, derzeit Arbeit an der Dissertation „Kinderfilm in Österreich“. Mitarbeit beim Internationalen Kinderfilmfestival Wien, bei diversen Verlagen und bei Recherche­arbeiten am Filmarchiv Austria.]

dérive, Fr., 2009.03.27

27. März 2009 Ines Wagner

Stadt ist Sport?

Eventisierung, Trendsport und Stadien, oder was hat Sport mit Stadt zu tun? Der neu erschienene Band acht „Bewegungsraum und Stadtkultur“ der Reihe „transcript Materialitäten“ basiert auf dem 18. Sportwissenschaftlichen Hochschultag der deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft zum Thema „Stadt-Sport-Kultur“, der im Jahr 2007 stattfand. Das Buch versucht, wie im Titel schon erkennbar, das Thema breiter anzusetzen und das Verhältnis Bewegungsraum und Stadtkultur fassbarer zu machen. Die im Untertitel vorgenommene Fokussierung auf „sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven“ ist zutreffend, da sich urbanistische oder planerische Betrachtungen und Schlüsse nicht direkt aus den Beiträgen ableiten lassen. Dies ist gut so. Der Band ist in drei Themenbereiche gegliedert, die „Kulturen der Bewegung“, „Sporträume“ und „Stadtentwicklung“ umfassen. Den grundlegendsten und umfassendsten Diskurs bietet das erste Themenfeld. Wie der Beitrag von Mitherausgeber Jürgen Funke-Wieneke zeigt, ist die Auseinandersetzung, unter welchem Aspekt Bewegung in der Stadt betrachtet werden muss, noch Gegenstand weiterer Diskussionen. Staunend erfahren wir nach einer ausführlichen Beschreibung der alltäglichen Bewegungsabläufe des Autors, dass die Bewegungsforschung „von solchen Szenen und ihrem eigentümlichen Bewegungsstil noch so gut wie nichts“ weiß. Erklärtermaßen beginnt für die Sportwissenschaft die Bewegung an einer anderen Grenze als für einen Bewegungspädagogen, nämlich „dort wo die Bewegung sich selbst thematisiert“. Sich diese grundsätzlichen Diskussionen zur Bewegungsforschung und Bewegungspädagogik vor Augen zu führen, ist jedoch, selbst wenn sie sehr einheitlich auf Piaget oder Merleau-Ponty basieren, für jedeN StadtforscherIn sehr aufschlussreich. Für ein neues Verständnis davon, welche Formen Bewegung und deren Erforschung in der Stadt annehmen kann, ist gesorgt. Werden doch Person und Umwelt als sich gegenseitig bedingende und formende „plastische Systeme“ gesehen. Die räumlich konkreteren Themenfelder „Sporträume“ und „Stadtentwicklung“ fallen in ihrer Inhaltlichen Tiefe stark ab. Die Beiträge in den beiden Gebieten, die sich anhand von Fallbeispielen weiter in die direkte Relation von Bewegung und Raum wagen, bleiben – wahrscheinlich auch aufgrund der Einschränkungen des gewählten Formats des Mediums – oberflächlich und rufen eher den Wunsch nach mehr Information hervor. Ärgerlich wird diese Form des „kleinen Einblicks“ nur dann, wenn die im Beitrag ausformulierten Vermutungen auch als nicht belegt oder noch nicht empirisch nachweisbar dargestellt sind. So werden die im Beitrag von Ahlfeldt und Maenning angenommenen relevanten Folgeerscheinungen des „ikonischen Stadionbaus“ in der Stadt unkritisch mit Aufwertungsprozessen in Zusammenhang gebracht und diese auch noch als eine Möglichkeit gewertet, die investierten Allgemeinkosten wieder in die Gesellschaft rückzuführen. Anhand dieses Beispiels ist die dem Buch zugrundeliegende Form der Tagung zu erkennen, die ja auch Fragen aufwerfen will und Anregungen für Forschungen geben kann, Diskurs wecken und provozieren will, aber nicht per se als vollwertiger Beitrag in einer Publikation enden muss. Für einen Einblick in den Diskurs über die Bedeutung der Bewegung und nicht ausschließlich des Sports in der Stadt ist der Band in jedem Fall empfehlenswert.


Funke-Wieneke, Jürgen; Klein, Gabriele (Hg.)
Bewegungsraum und Stadtkultur
„sozial und kulturwissenschaftliche Perspektiven“
Bielefeld: transcript, 2008
275 Seiten, 26,80 Euro

dérive, Fr., 2009.03.27

27. März 2009 Erik Meinharter

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