Editorial

Viel Geld für Alpenresorts

Neulich lehnte die Gemeindeversammlung von Samedan mit grossem Mehr ab, dass auf Muottas Muragl ein Kunsthaus mit einem Luxushotel gebaut werden kann. 250 Mio. Franken hätte es gekostet. Ein paar Wochen zuvor versenkte die Nachbargemeinde Celerina einen Hotelturm von Mario Botta und ein Luxusresort in Bever ist ebenfalls gestrandet. Alle Vorhaben versprachen viele Arbeitsplätze und internationalen Glanz fürs Oberengadin. Doch die Bevölkerung will das grosse Auftrumpfen nicht. Aber der Reunionsplatz der Reichen und Schönen scheint nicht massgebend zu sein für den Alpenbogen.

Das zeigt die Titelgeschichte von Rahel Marti ab Seite 16. Sie hat zwischen Wallis und Graubünden gut 50 Vorhaben zusammengetragen, die mit gut 6 Milliarden Franken die Alpen retten wollen. Neben ein paar nun schon reifen Versprechen, wie der Hotelturm auf der Schatzalp oder der Ausbau des Kaltbades auf der Rigi von Mario Botta, sind darunter grosse Baustellen in Adelboden, Bad Ragaz oder Laax. Der rote Faden durch die 50 Projekte hat zwei Begriffe: «Klotzen», unter 50 Mio. Franken geht wenig, und «Resort». Es entstehen nicht einzelne Häuser, sondern Anlagen mit Hotels, Zweitwohnungen, Läden und Bädern. Rahel Martis Reportage beruht auf einer «Denkwerkstatt». Hochparterre hat zusammen mit Mountain Wilderness und der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz Täter, Komplizinnen und Interpreten solcher Pläne eingeladen: von Reto Gurtner, Laax, über Benno Nager, Andermatt, bis zu Hansruedi Müller, Universität Bern. Und die Debatte geht weiter. Am 29. Januar veranstalten wir zusammen mit dem Schweizer Heimatschutz im Naturhistorischen Museum Bern die Tagung «Mehr Baukultur, bitte!» Oder anders herum: Gut, wenn die Tourismusregionen vorankommen. Doch unbedingt nötig sind dafür planerische und architektonische Qualitäten, das Mitwirken breiter Kreise und nicht das landesübliche Recht des Stärkeren.

6 Milliarden für die Alpen — und wo bleibt die Krise? Das fragte Meret Ernst Designerinnen und Designer, die viel kleinere Brötchen backen. Wie rüsten sie sich für die kälter werdenden Winde? Wie die grossen Klotzer im Resortgeschäft sind auch die kleinen Ateliers frohgemut und zuversichtlich: «Augen zu und durch», «so schlimm wird es schon nicht werden» und «die Leute werden auch in einem halben Jahr noch kaufen und wir also produzieren». Wir von Hochpar-terre schliessen uns nur teilweise an; wir haben das Budget 2009 auf 20 Prozent Umsatzeinbruch eingerichtet und sind auf den Estrich gestiegen, um zu schauen, ob die Motten die Wintermäntel noch nicht aufgefressen haben.
Köbi Gantenbein

Inhalt

04 Meinungen
06 Funde
09 Sammeln und zeigen
15 B-Ausweis

16 TIitelgeschichte: Die Rettung des Tourismus …
… oder ein fauler Trick? In den Bergen wachsen eine Menge Resorts. Retten sie den Alpentourismus? Ein Bericht und Überblick.
26 Wettbewerb: Zürichs Kunstpalazzo
Stein vor Glas für das Kunsthaus. Das Resultat vieler Vorgaben.

28 Design: Voll die Krise
Designerinnen und Designer berichten, wie sie die Krise sehen.
32 Architektur: Neuer Glanz
Das Bundeshaus ist saniert und in der Gegenwart angekommen.
34 Verkehr: Auf der Hardbrücke wirds eng
Nun will auch das Tram mitspielen.
38 Architektur: Ein Tag in der Zackenanlage
24 Stunden im Einkaufszentrum Westside. Eine Reportage.
42 Design: Der Weg zu neuem Licht
Eine neue Leuchte von Spinform und ihre Stationen.
44 Verkehr: Tiefenplanung in Bern
Ein kritischer Blick auf das Projekt «Zukunft Bahnhof Bern».

48 Leute

50 Siebensachen

52 Bücher

54 Fin de Chantier

60 Raumtraum

Zürichs Kunstpalazzo

Das Resultat vieler Vorgaben und Bedingungen: Stein setzt sich durch gegen Glas. Und das alte Kunsthaus muss kuschen.

Viel Spielraum blieb den Architekten nicht. Die Planungsämter hatten zur Vorbereitung des Wettbewerbs ganze Arbeit geleistet. Als Bauplatz hatten sie ein Quadrat gegenüber dem Kunsthaus, auf der andern Seite des Heimplatzes, auserkoren. Für die Turnhallen, die abgerissen werden sollen, setzt sich nur noch der Heimatschutz ein. Die interessante Aufgabe aber, am Konglomerat des Kunsthauses weiterzubauen, war im Wettbewerb von vornherein ausgeschlossen.
Von Karl Moser 1910 erbaut und 1925 erweitert, von den Gebrüdern Pfister 1958 und von Müller & Blumer 1976 erweitert, beschäftigte das Kunsthaus von 1997 bis 2005 auch noch Sam Architekten (Schnebli Manz) mit der Gesamtsanierung. Der Jurybericht fasst diesen Sachzwang positiv zusammen: «Damit wurde die Basis geschaffen für die nun zu planende Erweiterung.»

Mehr als einen Anbau wünscht sich Kunsthausdirektor Christoph Becker. Der Neubau soll zusammen mit dem sanierten Kunsthaus das Neue Kunsthaus formen, so die Worte Beckers. Den Widerspruch, aus zwei getrennten Gebäuden eins zu machen, hatten die Architekten aufzulösen.

Heimplatz muß warten

Einzig ein unterirdischer Gang wird den 150 Millionen Franken teuren Neubau mit dem Mutterhaus verbinden, auch das war eine Vorgabe des Wettbewerbs. Doch der Heimplatz selbst war nicht Gegenstand des Wettbewerbs. Seine Neugestaltung schreibt die Stadt — wenn überhaupt — später aus.
Sonst aber arbeiteten die städtischen Ämter emsig. Sie organisierten 2006 einen Workshop, an dem drei Architektenteams teilnehmen durften. Aus dem Bericht «Vorabklärungen zum Projektwettbewerb» flossen weitere Bedingungen ins Wettbewerbsprogramm ein. Selbst ein Energiekonzept stand den Architekten während des Wettbewerbs zur Verfügung. Es kam zum Schluss, dass der Bedarf nach Kälte dreimal höher sein wird als nach Wärme und dass eine grosse thermische Trägheit notwendig wird, um im Winter nicht tags kühlen und nachts heizen zu müssen. Und es prophezeite, dass ein Drittel des Stroms für Beleuchtung gebraucht werde. Deshalb hatten die Architekten für viel Tageslicht zu sorgen.

Auch der Kanton Zürich redet mit und hat einen Masterplan für das Hochschulgebiet ausarbeiten lassen. Vom Heimplatz bis zur Haldenbachstrasse sieht dieser Entwicklungsplan die Rämistrasse als eine Bildungs- und Kulturmeile. Er legt fest, dass der Kunsthausneubau den Heimplatz räumlich fasst und dass der Freiraum zwischen Erweiterung und alter Kantonsschule als öffentlicher Garten der Kunst genutzt werden soll.

Die meisten der zwanzig Wettbewerbs-Architekten hielten sich brav an die Vorgaben. Denn sie hatten schon die Präqualifikation mit 214 Büros überstanden und deshalb einen Auftrag zu verlieren und nicht einen Wettbewerb zu gewinnen.

Im Gegensatz zu einem selektiven Verfahren riskiert der Architekt in einem offenen Projektwettbewerb mehr. Der Bund Schweizer Architekten (BSA) kritisierte übrigens im Vorfeld das Verfahren ungewöhnlich scharf. Er erinnerte an die goldene Regel: Je öffentlicher die Aufgabe, desto offener das Verfahren. Gefruchtet hat der Appell des Vorstands der BSA-Ortsgruppe Zürich allerdings wenig, trotz der vielen BSA-Mitglieder in der Jury und im Teilnehmerfeld.

Klötze, Klötze, Klötze

Als einziger Preisträger verletzte Roger Diener den Perimeter mit einem länglichen, quer zum Heimplatz gestellten Bau. Damit schuf er eine grosse Terrasse mit Freitreppe entlang der Rämistrasse. Sie sieht im Modell grosszügiger aus als in den Plänen. Guter Städtebau mit zu wenig architektonischem Fleisch am Knochen, urteilte die Jury und belohnte den verhalten Mutigen mit einem Ankauf, aber nicht mit einem Rang.

12 500 Quadratmeter für die Kunst auf 5500 Quadratmetern unterzubringen, führt zu ähnlichen Lösungen: zu Klötzen. Alle Projekte im von der Zürcher Kunstgesellschaft, der Stiftung Kunsthaus und der Stadt Zürich veranstalteten Wettbewerb sind etwas zu gross geraten — die Vorprojekte gingen von mehr Räumen in den Untergeschossen aus. Die 19-köpfige Jury (11 davon Fachpreisrichter) entschied sich knapp für den Bau von David Chipperfield und gegen den von Gigon / Guyer.

Der Graben in der Jury verlief nicht zwischen Architekten und Sachpreisrichtern. Es ging um verschiedene Auffassungen von Architektur. Das Steinerne von Chipperfield setzte sich gegen das Gläserne von Gigon / Guyer durch. Das zweitrangierte Projekt versuchte, sich ganz schweizerisch mit Ausschnitten am Volumen an die Situation anzupassen. Anders der Brite: Er stellt ein schnörkelloses Volumen hin, einen Palazzo. Stünde er in Florenz, dann wärs eher der Palazzo Strozzi als der Palazzo Pitti, also ein grosser Bau mit vielleicht absichtlich zu wenig Umgebung. Die Jury meint, der Bau sprenge mit seinen Dimensionen die im Quartier üblichen Massstäbe, und empfiehlt das oberirdische Volumen zu verkleinern. Im Wettbewerb sprach man noch vom Museum des 21. Jahrhunderts, das entstehen sollte. Doch der grosse Wurf fehlt unter den 20 Projekten. Dafür gabs zu viele Bedingungen.

Kommentar profaner Tempel versus sakrales Warenhaus

Wie sieht ein Kunsthaus aus? Jetzt wissen wirs: Ein mächtiger Kubus mit Steinfassade, die Fenster mit senkrechten Lamellen verschleiert, innen eine durch alle Geschosse gehende Halle, oben Oberlichtlichtsäle, unten Seitenlicht, eine brauchbare innere Organisation, das alles hatten wir schon. Das «Museum des 21. Jahrhunderts» gleicht dem des 19. David Chipperfields neues Kunsthaus ist brav und konventionell. Keine Experimente beim Projekt, das Umfeld ist schon schwierig genug.

Haben alle gemerkt, wie dominant und monumental dieser Quader ist? Nach aussen geschlossen sendet er die Botschaft aus: Ich bin eine Majestät. Er ist der Eckstein der geplanten Bildungs- und Kulturmeile, ein städtebauliches Schwergewicht, dem sich das bestehende Kunsthaus unterordnen muss. Die stumme Masse erzeugt durch ihr Gewicht eine stille Würde. So sieht die Monumentalität heute aus. Chipperfield behauptet den Vorrang des Museums als öffentlicher, genauer als wertvoller, weil wertvermittelnder Bau. Die Kunst ist das andere, sie braucht ein Weihegefäss. Das Museum ist ein profaner Tempel.
Der zweite Preis von Gigon / Guyer sagt: Ich bin ein Republikaner. Das grosse Volumen wird aus einzelnen Baukörpern zusammengesetzt, vielgliedrig versucht der Riesenbau kleiner zu wirken als er ist. Seine Haut leuchtet. Der zweite Preis will nicht Würde, sondern Interesse wecken, will einladen, offen sein. So sieht die prä-tentiöse Bescheidenheit heute aus. Sie behauptet die besondere Selbstverständlichkeit des Museums. Die Kunst ist Wahrnehmung, sie braucht ein Schauhaus. Das Museum ist ein sakrales Warenhaus.

Der erste Preis ist ein später, heimlicher Verwandter des Kunstmuseums Basel. Eine Querelle des Anciens et des Modernes liegt in der Luft wie damals, als Christ und Bonatz sich 1932 gegen Hans Schmidt durchsetzten. Das löste eine Monumen-talitätsdebatte aus, jetzt ist in Zürich eine fällig. Wie sieht ein öffentlicher Bau mit «gehobener Bestimmung» aus, braucht ein Kunsthaus Würde? Wenn ja, was verleiht sie? Der Stein oder das Glas? Ob David Chipperfield das «Museum des 21. Jahrhunderts» gefunden hat, ist fraglich, ein funktionierndes, Würde aus-strahlendes hingegen fand er sicher. Trotzdem, zwischen Schwellenangst und Würde ist ein ziemlicher Spalt. Der will erst gefüllt sein.

hochparterre, Fr., 2009.01.16

16. Januar 2009 Ivo Bösch



verknüpfte Bauwerke
Kunsthaus Zürich - Erweiterungsbau

Mit Ecken und Kanten

(SUBTITLE) Wohn- und Geschäftshaus St.-Jakob-Turm

Gedrungen steht der grünlich schimmernde St.-Jakob-Turm zwischen dem Stadion St.-Jakob und dem Flüsschen Birs. Auf einen Blick ist seine Form kaum zu erfassen. Vielwinklig im Grund- und Aufriss ragt er samt Sockel 19-geschossig in die Höhe. Doch weil die obersten 10 Geschosse spitz zulaufen, sieht man dem Turm seine Höhe nicht an, und wenn man genug nahe steht, fällt die obere Hälfte gänzlich aus dem Sichtfeld. Ein Hochhaus, das sich klein macht? Wendet man den Blick aufs Ganze, erklärt sich der Turm fast von selbst — als Schlusspunkt und Ausrufezeichen in der Silhouette des St.-Jakob-Parks.

Der Sockelbau mit der Eventplattform auf dem Dach und dem Autohaus in der Ecke schliesst nahtlos ans Bestehende an und im Untergeschoss dockt der Neubau an das Einkaufszentrum und vervollständigt die Mall zu einem Rundgang. Die Schrägen und die schiefen Ebenen, die das St.-Jakob-Stadion und die angegliederte Altersresidenz prägen, haben die Architekten weitergestrickt und am Turm in die Höhe gefaltet.

Gegen die Bahnlinie in seinem Rücken überzieht eine geschlossene Glasfassade aus raumhohen Elementen den Turm. Hier — gegen Norden — sind Büroräume und Dienstleistungsflächen angeordnet. Richtung Süden wird die Fassade zu einer raumhaltigen Schicht. Die grünlich schimmernden Gläser verjüngen sich zu Brüstungs- und Schürzenelementen vor einem schmalen Loggiastreifen. Konventionelle Holzfenster mit Rafflamellenstoren bilden hier die Klimagrenze und weisen auf die dahinter liegende Nutzung hin: Wohnen. Insgesamt gibt es in dieser besser besonnten Turmhälfte zwischen dem 5. und dem 17. Stock 37 Wohnungen von 2 ½ bis 5 ½ Zimmern. Die vier obersten Geschosse sind vollständig dem Wohnen vorbehalten.

Wie die Gesamtform fügt sich auch die Detaillierung des St.-Jakob-Turms ins Stadionensemble ein: Was aus der Ferne als filigrane Glashaut erscheint, entpuppt sich aus der Nähe als robuste Konstruktion, die zudem so weit vom Boden abgehoben ist, dass sie kaum vom rauen Treiben der Fussballfans tangiert ist; der Turmfuss schafft hier Distanz.

hochparterre, Fr., 2009.01.16

16. Januar 2009 Werner Huber

Ein Tag in der Zackenanlage

Auch Architektur kann die Gesetze der Einkaufswelt nicht ändern. Caspar Schärer berichtet von 24 Stunden im Westside.

Bereits kurven die ersten Architekturtouristen durch Bern auf der Suche nach Westside. Arglos fragen sie im Stadtzentrum nach Daniel Libeskinds erstem und bisher einzigem Einkaufszentrum, das Anfang Oktober, in einer der schwärzesten Börsenwoche der letzten Jahre, am westlichen Stadtrand erwartungsfroh seine Tore öffnete.
Von der Architektur her sei Westside unvergleichlich, heisst es, und das Angebot an Ladengeschäften, Multiplexkino und Bad ebenso einmalig. Oder, wie es Libeskind ausdrückt: «Westside ist viel mehr als eine blosse Hülle für ein Einkaufszentrum. Es ist ein Raum, um darin zu leben. Hier fühlen sich die Menschen wohl, verbringen eine schöne Zeit.» Sätze wie diese fordern einen Praxistest heraus. Eine erfahrene Shopperin verstärkt mich auf dem Rundgang durch die Westside-Räume.

09:20 Wir steigen am neuen Bahnhof Brünnen aus der S44. Vor uns breitet sich der leere Gilberte-de-Courgenay-Platz aus, auf zwei Seiten gefasst von der bekannten Robinienholzfassade. Die grossen Bauvolumen sind ordentlich rechteckig. Schräg sind hingegen die aufgesetzten Glasbänder — nicht immer Fenster —, die Eingänge ins Zentrum und die Konterlattung der Fassade mit dem entsprechenden Nagelmuster.

Der einzige von aussen direkt zugängliche Laden am Platz ist der kleine Westside-Shop im Sockelgeschoss der Altersresidenz Senecasita. Dort gibt es Postkarten, Bücher über Daniel Libeskind, Bücher über Shoppingcenter und ein Ringheft mit allen Grundrissen und Schnitten von Westside — leider ein Einzelstück und deshalb unverkäuflich. Im Wissen, dass wir den Komplex bis auf Weiteres nicht mehr verlassen werden, betreten wir das Zentrum durch die Lobby des Hotels Holiday Inn.

09:38 Da an diesem Freitagmorgen 115 Gäste auschecken, können wir unser Hotelzimmer noch nicht beziehen. Stattdessen nehmen wir den schmalen Korridor, der direkt in einen der fünf Kristalle der Mall mündet. Die Kristalle sind durch das Dach und alle Geschosse gestanzte Lichthöfe mit Rolltreppen zur vertikalen Zirkulation. «Sehr schick», lobt die Begleiterin und deutet auf die makellos hellen Oberflächen der schrägen Brüstungen und schiefen Stützen. Das räumliche Gitter im Kristall wirkt für das ungeübte Auge zunächst chaotisch, die Orientierung im Zentrum beeinträchtigt es deswegen nicht. Zwei breite Gassen führen parallel durch Westside, eine davon ist klar als Hauptschlagader zu erkennen. In der Ferne machen wir zwei weitere Kristalle aus und machen uns auf den Weg.

10:17 Nach einem ersten Rundgang durch die Mall stellen wir fest: Das Gedränge hält sich in Grenzen, wir haben reichlich Platz, auch in den Läden. Libeskinds Architektur belästigt uns nicht wie befürchtet, sondern begleitet uns mal lauter, mal leiser auf der Wanderung. Angenehm fällt auf, dass der «öffentliche» Bereich konsequent frei gehalten ist von den marktschreierischen Stehplakaten, Wühltischen und sonstigem Plunder, der die wirklich öffentlichen Räume der Innenstädte zunehmend verseucht.

11:00 Patrick Sahli, der freundliche Betriebsleiter von Westside, holt uns am Infoschalter ab für die vereinbarte Führung hinter die Kulissen der Maschine. Zunächst zeigt er uns hinter einer unscheinbaren Tür im zweiten Untergeschoss die Holzschnitzelheizung. Es riecht hier so organisch wie an keinem zweiten Ort in Westside. 50 Kubikmeter Schnitzel werden hier im Winter täglich verheizt, und doch ist die Anlage erstaunlich klein. In der Wasseraufbereitung unter dem Bad bemerken wir anerkennend, dass selbst in Technikräumen die schiefen Wände weitergezogen und in ansprechender Betonqualität ausgeführt sind. Gleich nebenan liegt die Anlieferung mit ihren elf Laderampen für Lastwagen.
Patrick Sahli zeigt uns auf einem Plan, dass gerade mal drei Warenliftpaare die kommerziellen Flächen erschliessen. Eines davon steht direkt an der Wand zur Autobahn und wickelt 40 Prozent des Transports ab. Das ist also die Achillesferse des Zentrums. Lange, fensterlose Korridore dienen der Feinverteilung der Waren auf den Ladengeschossen. Diese Korridore bilden die äusserste Schicht im Zwiebelschalenprinzip des Einkaufszentrums, in dessen Mitte die Mall sitzt.

12:41 Der Appetit meldet sich, es wird Zeit, das gastronomische Angebot auszuprobieren. Der Foodcourt als Schnittstelle zwischen Einkaufszentrum und Multiplexkino bietet an: McDonald‘s und je einmal japanische und italienische Küche. Am anderen Ende, beim Bad, lockt ein Migros-Restaurant. Das ist uns zu wenig der Vielfalt. Wir entscheiden uns für Thailand gleich beim Haupteingang, weil wir dort durch grosse Scheiben auf den Gilberte-de-Courgenay-Platz schauen können.

13:50 Bezug des Hotelzimmers im siebten Stock des Holiday Inn. Eine tolle Aussicht auf Matten, Wälder und Berge überrascht uns. Kühe weiden, ein Bauer steuert seinen Traktor übers Feld und im Südwesten ducken sich die Häuser von Niederbottigen. Spätestens jetzt verstehen wir, was mit «Stadtland» gemeint ist. In der Nasszelle des Hotelzimmers leisteten sich die Gestalter eine lächerliche Libeskind-Karikatur, als sie die weissen Plättli mit einem schräg verlaufenden schwarzen Balken aufdoppelten.

14:20 Auf dem Gang ins Bad durchqueren wir mit unseren mit Bademantel und Tüchern gefüllten Taschen die Mall. Zum ersten Mal spüren wir, was das Nebeneinander von Shopping und Baden bedeuten kann: Es ist ein seltsames Gefühl, demnächst ins Wasser zu springen, während nebenan eingekauft wird. Dennoch sind wir gespannt auf das Erlebnisbad, da Libeskind in diesem Bereich mehr oder weniger freie Hand hatte.

Und tatsächlich ist der Hauptraum tüchtig gezackt und mit schrägen Wänden und dreieckigen Fenstern ausgestattet. Allerdings werden wir den Eindruck nicht los, dass die grosse Inszenierung den nicht ganz so grossen Innenraum überstrahlen soll. Wir testen eine der Rutschbahnen (lustig), drehen eine Runde im Aussenbecken (mit Blick auf Gäbelbach) und wenden uns der von der Münchner Innenarchitektin Ushi Tamborriello gestalteten Sauna zu. Hier finden unsere Augen Erholung, die einzelnen Saunazellen sind geräumig und kommen ganz ohne finnische Holzromantik aus. Die Formensprache ist zurückhaltend und modern, die Lichtführung angenehm und charmant. Wir kommen ganz schön ins Schwitzen.

18:11 Wieder zurück in der Mall. Ich lasse meine Begleiterin endlich ungestört die Geschäfte durchforsten und mache mich auf die Suche nach der Aufenthaltsqualität. Auf einem der wenigen in der Mall verteilten Sitzblöcke merke ich, dass es gar nicht einfach ist, hier nicht einzukaufen. Der Raum und die Menschen darin sind in ständiger Bewegung, ein Innehalten ist nur in den Restaurants und Cafés möglich. Ohne Hotelzimmer müssten wir vermutlich früher oder später vor der Konsummaschine kapitulieren.

20:22 Der Foodcourt ist nun das unbestrittene Zentrum der Anlage. Das Publikum hat sich deutlich verjüngt, gruppenweise strömen die Leute aus der Tiefgarage und steuern das Multiplexkino an. Nach wie vor sind die Läden geöffnet (bis 22 Uhr) und die Shopper vermischen sich mit den Kinogängern aus der Region. Wir finden, dass Kino und Shopping ganz gut zusammenpassen und gönnen uns ein Abendessen beim Japaner, bevor auch wir uns in die Schlange vor der Kinokasse stellen.

23:30 Der Film ist aus, im Foodcourt ist es inzwischen ruhiger geworden, dafür ist in der Tiefgarage umso mehr los. Einer Welle gleich verlassen Dutzende von Autos mit Freiburger Schildern Westside in Richtung Westen.

01:10 Einsam drehe ich meine Runden, schaue in aller Ruhe die Tiefgarage an, umkreise in dunkler Nacht den ganzen Komplex von aussen, riskiere auf dem Autobahnzubringer fast mein Leben und entscheide, dass es für heute genug sei. Westside hat mich ermüdet, obwohl ich nur ganz wenige Geschäfte von innen gesehen habe. Das auf rastloses Kaufen ausgerichtete Raumprogramm hat mich ausgelaugt.

Das Experiment, eine profane Einkaufsmall mit Architektur, die im Museumsbau erprobter ist, neu zu definieren, ist nicht geglückt. Selbst ein Daniel Libeskind kann die Gesetze der Shopping-Welten nicht ändern. Es bleibt die alte Frage: Wer braucht hier eigentlich wen? Westside wollte einen Autoren-Architekten zur Aufwertung seiner Destination. Hat Libeskind diese Situation wirklich konsequent ausgenutzt?

07:57 Drei Minuten vor der offiziellen Öffnungszeit stehen wir unausgeschlafen vor dem Eingang. Westside rüstet sich für einen starken Samstag, in der Mall schlendern schon die ersten Kunden den noch geschlossenen Ladenfronten entlang. Wir hingegen packen unsere Einkäufe in den vor Ort gekauften Koffer und fahren zurück in die Welt ohne Erlebnisse.

hochparterre, Fr., 2009.01.16

16. Januar 2009 Caspar Schärer



verknüpfte Bauwerke
Einkaufs- und Freizeitzentrum Westside

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