Editorial

Der Hasenmonat

Im Dezember ist die Niederjagd offen. Die Jägerinnen hocken auf ihren Hochsitzen, frieren und passen auf Füchse, Eichelhäher und Hasen. Zeit auch für Hochparterre, für die Sendung «Kulturplatz» des Schweizer Fernsehens und für das Museum für Gestaltung Zürich, die Besten des Jahres in Architektur, Landschaft und Design zu küren und mit dem Hasen in Gold, Silber und Bronze auszuzeichnen. Die Kuratoren sind drei Jurys mit je fünf Frauen und Männern aus unterschiedlichen Berufen und Branchen der Gestaltung und aus verschiedenen Gegenden. Ihre erste Arbeit heisst vier Favoriten nominieren. Dann stellen sie Dossiers zusammen, treffen sich mit den Kolleginnen und Kollegen und wählen die drei Besten aus. Ihre Arbeiten sind Thema des Dezemberheftes von Hochparterre. Der Kulturplatz widmet ihnen Filme und das Museum für Gestaltung Zürich präsentiert die Besten in einer kleinen Ausstellung. Dazu gibt es eine beschwingte Feier mit Hasenrede und TV-Show-Charme.

Da die Besten mitsamt den Hasen bald zwanzig Jahre alt sind, regiert neben der Sorgfalt und dem Engagement auch die Macht der Gewohnheit. Die Auszeichnung ist gewichtig und sie stiftet – im besten Fall – Anregungen. So tauchten auch dieses Jahr neben erwarteten Projekten wie dem Nationalparkzentrum Überraschungen auf: Zum Beispiel Giorgi Winters Zuneigung zu den Kakibäumen im Tessin. Die Jury erweitert Landschaftsarchitektur um einen frischen und unakademischen Beitrag. Die Rauminstallation des Maurerroboters an der Architektur-Biennale in Venedig von Gramazio & Kohler erlegt den Hasen in Gold – in der Kategorie Design und nicht Architektur! Erfrischend auch dies: Die Grenzen der Disziplinen verschwimmen. Und neckisch, dass dies ein Beitrag leistet, der unter dem Thema «Architekturforschung» segelt. Forschung in Architektur wurde ja erfunden, um ihr endlich akademischen Respekt zu bescheren. Dass die Designer die Robotermauer nun für ihr Tun reklamieren, zeigt auch, auf welche Zuversicht diese Disziplin zu setzen scheint. Zumal die Jury auf den zweiten Platz einen Entwurf eines Studenten in Textildesign setzte und auf den dritten eine Leuchte, deren Designer Daniel Düsentrieb sein könnte. Dreimal Forschung, Lehre und Prototyp – ein erfrischendes Selbstverständnis eines Berufs, der gerne auf den Befehl des Marktes und des Konsums reduziert wird.
Köbi Gantenbein

Inhalt

04 Meinungen
06 Funde
09 Kolumne
15 C-Ausweis

16 Architektur: Hase in Gold: Nationalparkzentrum Zernez. Valerio Olgiati im Gespräch.
22 Architektur: Hase in Silber: Hofstatt in Pregassona. Wohnen mit Hof und Himmel.
26 Architektur: Hase in Bronze: Kunst(Zeug)Haus Rapperswil. Ein wogendes Oberlicht für die Kunst.
28 Landschaft: Hase in Gold: Kartause Valsainte. Ein Abbruch ehrt die Landschaft.
34 Landschaft: Hase in Silber: Kakibäume im Tessin. Eine Frucht bringt Farbe ins Tal.
38 Landschaft: Hase in Bronze: Lärmschutzwand bei Luzern. Eine Schlangenhaut für hohe Wände.
42 Design: Hase in Gold: Robotermauer an der Biennale Venedig. Installation im Rampenlicht.
48 Design: Hase in Silber: Vorhang mit Magneten. Ein Stoff wird modellierbar.
52 Design: Hase in Bronze: Die Aufziehleuchte. Licht aus eigenem Antrieb.

56 Jury

58 Anerkennungen

64 Nominierte

66 Bücher

68 Raumtraum

Das gedachte Haus

«Der Bau ist konzeptionell, nicht funktional», sagt Valerio Olgiati zum Nationalparkzentrum.

Herr Olgiati, herzliche Gratulation zum Goldenen Hasen für das Informationszentrum des Schweizerischen Nationalparks in Zernez siehe HP 6-7 / 08. Sind Sie zufrieden damit?
Ja, mit beidem, dem Hasen und dem Bau. Im Wettbewerb war die Grundrissfigur noch komplizierter, jetzt ist sie straff und symmetrisch. Ist es ein Grundrisskonzept? Nein, es ist auch ein Volumen- und Schnittkonzept. Beim Wettbewerb gab es ein grösseres und ein kleineres Quadrat und in der Mitte eine Wendeltreppe. Damals war es ein Sackgassenmuseum. Grundsätzlich muss man sich bei einem Museum überlegen: Sackgasse oder Rundgang? Heute ist es ein Rundgangmuseum, man endet dort, wo man begonnen hat. Es sind zwei gleiche Quadrate oder besser Würfel, die sich übereck berühren. Ich wollte ein Gebäude bauen, dass so unkontextuell und so wenig funktional wie möglich ist, ein Haus, das so nah wie möglich an eine absolute Architekturidee herankommt. Sobald es nach Funktionen riecht, ist es vorbei. Hat man ein grosses und ein kleines Quadrat, dann kann das nur aus funktionalen Gründen so sein, zwei gleiche hingegen haben nichts mit Funktionen zu tun.

Könnte man das Museum auch für einen andern Zweck gebrauchen? Man könnte es bewohnen, als Lagerhaus gebrauchen oder als Kirche?

Stimmt, es hat etwas Sakrales. Doch was mich mehr interessiert: Wie weit können Sie beim Entwerfen die Wirkung abschätzen, die Irritation der Drehung zum Beispiel? Das Modell und die Pläne waren schon in Ausstellungen zu sehen, für die Betrachter war das Projekt offenbar nicht zu lesen, erst im Bau selbst haben die Leute erfahren wie es ist. Nun aber die Wirkung: Von aussen hat man zwei Volumen, zwei kann man sich gut merken. Wären es drei, sähe es schon nach einer Komposition aus. Jetzt sind da 24 gleiche Löcher und 3 Geschosse. Das ist es, was man von aussen sieht. Man hat einen vollständigen Überblick, doch wenn man hineinkommt, verliert man sich in einem Labyrinth, die Raumsituation wiederholt sich und bald weiss man nicht mehr, wo man ist. Man bringt das, was man von aussen sah und das Innere nicht zur Deckung. Dass es so funktioniert, habe ich schon gehofft, aber es war doch ein Risiko dabei.

Im Wettbewerb stand das Gebäude noch neben dem Schloss, jetzt steht es als Solitär auf der andern Strassenseite. War der ursprüngliche Standort nicht besser?

Es wäre vor allem für den Nationalpark besser, denn dann wäre Verwaltung und Informationszentrum beieinander. Einen Moment, kommt da nicht trotzdem der Kontext ins Spiel, das Schloss als ausgezeichneter Ort? Nur im Gebrauch, sozusagen funktional angebunden, und das Haus selbst hätte mehr Platz gehabt, wäre freier gestanden als heute neben der Schule. Ich sage ja nicht, dass das Zentrum ohne Kontext dasteht, ich sage nur, dass die Entwurfsidee grundsätzlich nicht aus dem Kontext entwickelt ist. Heute ist, vor allem in der deutschen Schweiz, die Herleitung aus dem Kontext, die Lektüre des Ortes geradezu eine moralische Verpflichtung. Selbstverständlich gibt es den Kontext, natürlich ist der Bau an das Dorf angeschlossen und ist der Eingang auf der richtigen Seite, die Idee des Gebäudes hingegen ist absolut unkonzeptionell. Man könnte es auch anderswo aufstellen, solange das Terrain flach ist.

Die Decken und Wände sind aus Dämmbeton, wie kamen Sie auf dieses Material?

Durch den Ingenieur Patrick Gartmann, mit dem ich oft zusammenarbeite. Das Wettbewerbsprojekt war noch verputzt. Während der Planungsphase ist der Dämmbeton verbessert worden und heute ist das Gebäude ein Monolith, es gibt zwar Arbeits-, aber keine Dilatationsfugen. Ging es auch um Schwere und Massivität? Dass es eine Schalenkonstruktion ist, das ist mir wichtig, dass die Mauer so dick ist, ist mir egal. Würde das Haus auf 2000 Metern über Meer stehen, wäre die Wand wohl noch zehn Zentimeter dicker, das hätte ich nicht gemacht. Dann würde die Dicke der Mauer wichtig. Jetzt ist es noch eine normale Mauer, heute sind alle so dick. Man versucht immer wieder, mir den Bergler anzudichten, einer der archaisch baut. Wenn Archaik, dann jene der alten Hochkulturen, nicht die rurale.

Wie steht es mit der Schichtung der Geschosse, was ist mit diesen kleinen Vorsprüngen der oberen Geschosse?

Das ist eine tektonische Betonung, die verhindert, dass das Gebäude als volle Box gelesen wird. Die Schichtung der drei Geschosse zeigt, dass es sich wirklich um einen Hohlkörper handelt. Im Grundriss ist ein Stern eingeschrieben, den man nicht sieht, der aber für mich entscheidend ist. Der Bau hat einen absoluten Anspruch, hat auch eine metaphysische Ader. Mir ist die Kombination des Kopf- und des Bauchmässigen und das Dazwischen, das Metaphysische sehr wichtig. Ich will schliesslich keine Neanderthaler-Architektur machen. Beim Gelben Haus zum Beispiel haben viele Leute behauptet, das komme so geerdet daher, aber ich kann mir nichts Ungeerdeteres vorstellen als diese widersprüchliche Konstruktion, die einem fast im Kopf krank macht.

Es geht also um ein intellektuelles Konzept?

Ja, das Gebäude ist vor allem ein verstandesmäs-siges Konzept, weniger ein emotionales.Was ist mit dem Stichwort sinnliche Architektur? Selbstverständlich gefällt es mir, wenn der Bau gefällt. Auch mir gefallen Häuser aus dem Bauch heraus. Doch das Sinnliche steht nicht im Vordergrund.

Das Haus ist karg, einzig die Bronzefenster sind reich und wertvoll. Warum das?

Die Reduktion ist keine moralische Haltung, also gibt es auch keine moralische Einschränkung, was das Material angeht. Der Beton hat einen ärmlichen Charakter, doch zusammen mit der Bronze gewinnt er eine veredelte Anmutung, beinahe wie Naturstein, zum Beispiel Tuffstein.

Die Ausstellung ist doch recht chaotisch, was sagt der Architekt dazu?

Zum Inhalt und zum Ausdruck der Ausstellung sage ich nichts. Beim Wettbewerb war das Ausstellungsprogramm keineswegs klar, einzig, dass es kein Kunsthaus ist und dass vor allem Objekte gezeigt werden. Als Architekt kann man ein Ober-, ein Seiten- oder Kunstlichtmuseum bauen. Ich hielt ein Seitenlichtmuseum mit natürlichem Licht an diesem schönen Ort für richtig. Das war die Grundlage während der Planungszeit. Wir dachten, die Objekte stünden in der Raummitte und der Rundgang gehe den Wänden entlang. Die Storen wären offen, der Ausblick in die Landschaft vorhanden. Nun haben die Betreiber aus dem Seitenlicht- ein Kunstlichtmuseum gemacht. Die Objekte sitzen in den Ecken, was Verdunkelung und massive Kunstlichtbeleuchtung erfordert. Ein krasser Denkfehler der Betreiber. Die Landschaft, die eigentliche Grundlage des Nationalparks, ist total ausgeblendet.

Der Ausblick in die Landschaft war also immer ein Teil des Konzepts?

Der Besucher kommt von der Treppe in einen Raum mit vier gleichen Fenstern in jede der vier Himmelsrichtungen. Dann geht er, oder sie, durch die Stockwerke und sieht immer dieselbe Landschaft. Doch wenn man wieder am Ausgangspunkt ankommt, weiss man nicht, wo man gewesen ist. Das führt auch dazu, dass das Gebäude grösser erscheint, als es ist. Was man nicht erfassen kann, macht man grös-ser, nicht kleiner.

Welche Bedeutung hat dieses Gebäude in der Entwicklung des Architekten Valerio Olgiati?

In meinem Bestreben nach einer konzeptionellen Architektur ist es mein radikalster Bau. Er ist konzeptuell, nicht funktional. Er ist auch nicht phänomenologisch vom Material her bestimmt, obwohl ich weiss, dass Materialkombinationen ihre Wirkung haben. Das ist auch meine Auslegung der Poesie der Architektur. Doch prinzipiell ist es ein gedachtes Haus.

Ist das Zentrum in Zernez ein Findling oder ein Fremdling?

Ein Findling wäre etwas aus der Natur Geborenes, das ist es nicht. Es ist aus dem Hirn geboren, darum ein Fremdling.

hochparterre, Mo., 2008.12.08

08. Dezember 2008 Benedikt Loderer



verknüpfte Bauwerke
Neues Nationalparkzentrum Zernez

Bauklötze staunen

Im Blitzlicht der Biennale stiehlt die Backsteinmauer des Roboters dem Läuferverband die Show.

Der Maurer setzt einen Stein auf den nächsten und fixiert die beiden mit Mörtel. Er klopft die Ziegel mit dem Gummihammer fest und kontrolliert mit der Wasserwaage, ob sie richtig sitzen.
Genauso mauerten die Arbeiter in den Fünfzigerjahren auch den Schweizer Pavillon im Areal der Biennale in Venedig. Im Herbst war im Backsteingebäude von Bruno Giacometti der Schweizer Beitrag für die diesjährige Architektur Biennale installiert. Zu Giacomettis hellen Ziegeln kamen neue hinzu – eine Wand aus dunkelbraunen Backsteinen zog sich durch die Innenräume. Die beiden Mauerwerke unterschieden sich aber nicht nur farblich. Die temporären Wände waren plastisch verformt und schienen an gewissen Stellen fast vornüber zu kippen.

Und doch bezog sich das raumbildende Element direkt auf Giacomettis Bau. Die Materialität und die räumliche Konfiguration verbanden die Installation mit dem bestehenden Pavillon. Entworfen haben die schwankende Architektur Fabio Gramazio und Matthias Kohler mit ihrem Forschungsteam an der ETH Zürich. Gemauert hat ein computergesteuerter Roboter siehe HP 6-7 / 06. Die Mauer zeigte anschaulich, was die von Reto Geiser kuratierte Biennale-Ausstellung behandelte: die schweizerische Architekturforschung.

Architekten am Computer

«Mein erster Rechner war ein Commodore 64», sagt Matthias Kohler. «Ich habe allerdings bereits damals lieber programmiert als gespielt.» Computer beschäftigen den Architekten immer noch. Zusammen mit seinem Büropartner Fabio Gramazio leitet er seit drei Jahren den Lehrstuhl Architektur und Digitale Fabrikation an der ETH Zürich. Dort erforschen sie mit ihren Assistenten und Studierenden, wie sich architektonischer Entwurf und digitale Herstellung verbinden lassen.

In den Neunzigerjahren begannen Architekten digital zu entwerfen und zu visualisieren – die Simulationen blieben aber zweidimensional. «In diesen bildhaften Entwürfen wurde das Material, mit dem gebaut werden sollte, nicht mit einbezogen», kritisiert Matthias Kohler.
Und noch etwas hat den ETH-Assistenz-Professor gestört, wenn er gesehen hat, wie Architekten mit neuerer Computertechnik umgehen: Als computergesteuertes Fräsen möglich wurde, sah man ganze Fassaden gebohrt und gefräst. «Das mag im Detail interessant sein, hat aber wenig mit den konstruktiven Anforderungen und dem Massstab des Bauens zu tun», sagt Kohler. Er versteht Bauen als additiven Prozess. Wie aber unterstützt der computergesteuerte Roboter das additive Vorgehen? «In einem dreidimensionalem Aufbauprozess», erklärt Kohler, «weben wir dem Material Informationen ein.» So können funktionale und komplexe Formen gefertigt werden.

Mobile Maschine

Die Steine wie in Venedig aufeinanderzuschichten, wäre zwar von Hand nicht unmöglich, sicher aber nervenaufreibend und zeitintensiv. In der digitalen Fabrikation wird nicht mehr von Hand gemauert und die Maschine verwendet anstelle von Mörtel einen Kunststoffkleber. Die Mauer-Programme schreibt das Team von Gramazio Kohler an der ETH und füttert damit anschliessend den Roboter. Die Maschine, die in Venedig gemauert hat, heisst R-O-B. Im Gegensatz zum Weingut Gantenbein, wo zum ersten Mal mit an der ETH vorgefertigten Mauerelementen gebaut wurde siehe Sonderheft 2 / 08, ist diese Fabrikationsanlage nun mobil. Sie wird in einem Container transportiert und mauert vor Ort. Die Anlage wurde für die Ziegelei Keller entwickelt und auf dem Biennale-Gelände das erste Mal eingesetzt. Der Ziegeleichef Christian Keller: «R-O-B verbindet Fabrikationsmöglichkeiten mit einer Just-in-Time-Produktion vor Ort. So können wir schnell auf Kundenwünsche reagieren und die Kosten für Produktion und Transportkosten möglichst tief halten.» Die Anlage ist computergesteuert, was erlaubt, spezifische Bauelemente zu fertigen, ohne an ein bestimmtes Material gebunden zu sein. Denn der Roboter soll keinesfalls den Maurer ersetzen: «Eine klassische Wand zieht ein Mensch schneller hoch als unsere Anlage. R-O-B mauert nur komplexe Elemente», erklärt Christian Keller. So wie die verformten Wände in Venedig.

Schwingende Wände

Die architektonische Grundlage der Installation «Structural Oscillations» im Biennale-Pavillon ist eine einzige, kontinuierliche, die Ausstellungsbereiche absteckende Grundrisslinie. Ausgehend von dieser gekrümmten Kontur wurde die dreidimensionale Mauer entwickelt. Form und Funktion haben die Architekten dabei immer gleichzeitig diskutiert: «Eine frei stehende Backsteinwand muss in sich stabil sein und sicher stehen», so Matthias Kohler. «Aus diesen konstruktiven Anforderungen entwickelten wir den architektonischen Ausdruck.»

Der Roboter erstellte die Wand in einzelnen Segmenten. Bei Abschnitten, die wegen ihrer Geometrie leicht hätten kippen können, mauerte er die unteren Lagen stärker geschwungen und vergrösserte so die Standfläche. Eine Gegenschwingung in den oberen Lagen glich den Schwerpunkt aus.

Das Erscheinungsbild entstand, indem die Maurermaschine einzelne Steine ausdrehte. In welchem Winkel sie dies tat, war direkt von der Mauergeometrie abgeleitet: Je stärker sie gekrümmt war, umso stärker wurden die einzelnen Steine ausgelenkt. An flacheren Stellen lagen die Steine gerade aufeinander, was die plastische Verformung der Wand noch deutlicher machte. So erhält sie ihren textilen Ausdruck, der im Kontrast zur soliden Materialität des Ziegels steht.

Zum Anfassen und in Echtgrösse

Das Material ist den beiden Architekten wichtig. Deshalb arbeiten sie an der ETH wenn immer möglich im Massstab 1:1. Das war für Matthias Kohler ein weiterer Grund, in die Forschung einzusteigen und den Lehrstuhl «Architektur und Digitale Fabrikation» zu schaffen. «Im Massstabsmodell herrschen nie reale Bedingungen», erklärt er. «Erst durch echte Grössenverhältnisse beginnen Daten und Material gegenseitig zu wirken.»

Auch im Biennale-Pavillon in Venedig sind die digitale und die reale Welt aufeinandergetroffen. Es gab Besucher, bei denen die schwingenden Wände Schwindel auslösten. «Wir wollen keine Architektur machen, von der einem übel wird», lacht Kohler, «dass unsere Entwürfe aber zu physischen Erlebnissen und sinnlichen Erfahrungen führen, interessiert uns.»

Nicht alles aber war an Reto Geisers Schweizer Auftritt so gelungen, wie die Robotermauer: Mit viel zu vielen Informationen zur aktuellen Architekturforschung überforderte der Kurator die Besucher. Glücklicherweise erlebte man die Wand als überraschendes, eigenständiges Exponat, ohne dass sie zusätzlich als Projektionsfläche herhalten musste. Nur ein Video verlor sich auf der Wand und dies zeigte, obwohl die Backsteine einzeln weiss angemalt waren, dass sich die Mauer nicht als Bespielungsfläche eignet.

Gramazio Kohler
Fabio Gramazio (38) und Matthias Kohler (40) führen seit 2000 das Architekturbüro Gramazio & Kohler in Zürich. Sie beschäftigen 6 bis 8 Mitarbeitende. Seit 2005 sind sie Assistenz-Professoren an der ETHZ. Dort forschen und lehren 10 Personen. Zu ihren bekannten Arbeiten gehören ein Pavillon an der Expo.02 und die Weihnachtsbeleuchtung der Zürcher Bahnhofstrasse.

Literatur:
Das Buch «Digital Materiality in Architecture» ist bei Lars Müller Publishers erschienen und illustriert, wie sich digitale Entwicklungsprozesse auf den architektonischen Entwurf auswirken. Es zeigt Projekte von Gramazio & Kohler und dem von ihnen geleiteten Fachbereich an der ETH Zürich.

hochparterre, Mo., 2008.12.08

08. Dezember 2008 Lilia Glanzmann

Spuren hinterlassen

Eine Reihe Apfelbäume, zugemauerte Fensternischen und abgebrochene Gewölbe: Subtile Spuren als Zeichen der verschwundenen Kartäuserklausen.

Die Risse in den Kreuzgangmauern und in der untersten Reihe der Klausen in der Kartause Valsainte im Greyerzerland waren bedenklich gross geworden. Der schlecht drainierte Hang hatte den Untergrund instabil gemacht. Der beigezogene Ingenieur rechnete vor: In den engen Mönchsklausen neu drainieren, unterfangen und reparieren hätte rund 12 Millionen Franken gekostet. Eine umfassende Drainage, dabei aber die Reihe der baufälligen 14 Klausen abbrechen, kostete 7,5 Millionen. Doch wie konnte man der Denkmalpflege des Bundes und des Kantons beibringen, dass in einem Monument von nationaler Bedeutung ein Abbruch vernünftiger wäre?

Abbruch eines Denkmals

Die Klosterbrüder selbst gaben den Ausschlag: Diese Zeile Mönchszellen stand schon während Jahrzehnten leer, warum sie also erhalten, wenn man sie eh nicht mehr braucht? Die pragmatische Haltung der Mönche überraschte die Planer und daraus entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit. Bald war man sich einig: Nicht nur Drainage und Abbruch der baufälligen Klausen, sondern auch der Rückbau der Aussenmauer auf die Baulinie vor 1903 werden dazu beitragen, den Weiterbestand der Kartause zu sichern.

Möglich wurde der Abbruch im Denkmalschutzobjekt auch deshalb, weil es hier immer wieder Brände, Zerstörungen und Wiederaufbauten gegeben hatte, die Anlage also immer wieder verändert wurde. Die Gründung der Chartreuse de la Valsainte geht aufs 13. Jahrhundert zurück. Das Gewölbe der Kirche stammt aus dem Jahr 1380, die Kirchenfassade aber von 1729. 1778 wurde das Kloster aufgehoben, danach teilweise zerstört und verkauft. Doch 1861 konnte der Orden das Land zurückkaufen und wieder aufbauen. Um die aus Frankreich vertriebenen Brüder aufzunehmen, war bis 1903 die südlichste und am tiefsten liegende Reihe der Klosterklausen gebaut worden. Der nun erfolgte Rückbau auf den Zustand vor 1903 ist also ein dokumentierter Teil der Klostergeschichte, was nicht zuletzt die Denkmalpflege veranlasste, dem Abbruch zuzustimmen. Dazu kam die Erkenntnis, dass die heutige Hülle des Klosters zwar im Kernbestand relativ jung ist, dieses letzte bewohnte Kartäuserkloster der Schweiz im Grundkonzept aber immer gleich geblieben ist.

Planung im Team

Via die kantonale Denkmalpflege kam der Architekt und Geograf Pascal Amphoux zum Projekt. Er spannte sein Lausanner Netzwerk auf, «denn ich arbeite immer in Teams», wie er betont. Zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Christoph Hüsler und den beigezogenen Spezialisten wurde das Projekt erarbeitet. Klaus Holzhausen ergänzte das Team für Fragen der Gartendenkmalpflege, Sylvia Krenz für architektonische Details, denn bisherige Innenmauern sind mit den Abbrüchen zu Fassaden geworden. Mit dabei war auch Roger Simond, Fachmann für Mörtel und Verputze. Die zurzeit 18 Brüder und Patres in der Chartreuse de la Valsainte pflegen einen sorgsamen Umgang mit Ressourcen und Natur. Und wenn es um schöne Planerideen ging, waren sie es, die immer wieder die Frage stellten: «Wozu? A quoi ça sert?» Nein, Bänke wollten sie in der neu entstandenen «Terrasse» keine, sie setzten sich selbst sowieso nicht drauf, also nützten sie in der nicht öffentlich zugänglichen Anlage auch nichts. Wichtig war dagegen die Drainage. Auch das Dachwasser musste gefasst und abgeleitet werden.

Mönche für nützliche Lösungen

Immer wieder bewiesen die Mönche den Planern während der Planungs- und Bauphase, dass sie sich im Wirtschaften, in der Ökologie und mit der Natur auskennen: Sie pflegen entlang der inneren Klostermauern rund 1500 Laufmeter Spalierobst, Bäume, die bis zu 150 Jahre alt sind. «Das ist wahrscheinlich die grösste derartige Spalieranlage der Schweiz», stellt Klaus Holzhausen fest, «und dies auf fast 1000 Meter über Meer.» Und weil zu jeder Kartäuserzelle ein eigener Garten gehört, ist das Kloster mit Gemüse und Früchten mehr als nur Selbstversorger. Zusätzlich betreiben die Mönche eine Schreinerei und eine Schlosserei, aber auch ein eigenes Kraftwerk. Das alles gibt viel zu tun — dabei sind die meisten Mönche nicht mehr so jung. Die Kartäuser in ihren hellen Kutten leben zwar den grössten Teil des Tages zurückgezogen und schweigend in ihren Klausen, aber die reale Welt ist ihnen keineswegs fremd. Nützliche Lösungen sind ihnen wichtig. Es war deshalb ganz in ihrem Sinn, dass der Bauschutt der abgebrochenen Klausen für die über fünf Kilometer neue Drainage und für den Bau der neuen Abschlussmauer geschreddert und wiederverwendet wurde. Doch in der Kartause wurde nicht einfach Baufälliges abgebrochen und zum Verschwinden gebracht. Die Planerinnen und Planer gingen auf den Geist des Ortes und auf die von den Kartäusern bewusst gewählte Stille ein. Bevor abgebrochen wurde, waren auf Betreiben des Denkmalschutzes und unter Leitung von Klaus Holzhausen die nun verschwundenen Klausen minutiös dokumentiert worden — mitsamt der dazugehörenden Gärten. Und es wurden danach ganz bewusst «Spuren hinterlassen, aber keine Beweise», wie Pascal Amphoux unterscheidet. Zwar wurde mit der Denkmalpflege zuerst über sichtbare Ruinen diskutiert, doch dann überzeugte die subtilere Lösung.

Zeichen setzen

Die deutlichsten Spuren sind ein dem früheren Verbindungsgang folgender Mauerabsatz. Er war die Baupiste für die Abbruchfahrzeuge. Jetzt ist er bekiest und durch schlichte, in regelmässigen Abständen gesetzte Wasserspeier entwässert. Die zweite markante Spur setzt die schnurgerade Reihe der Apfelbäume, die im Zent-rum der ehemaligen Gärten stehen, die zu jeder Klause gehörten. Sie hinterlassen ein Lebenszeichen der verschwundenen Anlagen, stehen nun aber in einer Mähwiese. Eine gärtnerische Lösung stand für die Klosterbrüder nicht zur Debatte. Mit ihren bestehenden Gärten haben sie schon mehr als genug zu tun. Die bergseitige Begrenzungsmauer, an der der doppelstöckige Erschliessungsgang zu den Kartausen angebaut war, ist von einer Innen- zu einer Aussenwand geworden. Doch auch hier sind Spuren zurückgeblieben: Die Ansätze der Gewölbedecken, aber auch zwei Waschbecken, die den oberen Gang flankierten, sind — fast Mahnmalen gleich — in der Höhe der früheren Fensterreihe erhalten. Die Fenster selbst wurden zwar zugemauert, bleiben aber ihrerseits erkennbare Nischen.

Bauschutt wiederverwendet

Mit dem Abbruch ergab sich auch die Möglichkeit, die Westmauer der Klosteranlage auf die Baulinie, wie sie zwischen 1884 und 1903 bestanden hatte, zurückzuversetzen. Dadurch entstand ein «Talweg». Diesen Begriff verwenden die Fachleute in der Westschweiz für eine Geländemulde. Das Kloster hat nun mit diesem kleinen Einschnitt wieder einen Abstand und einen Grünraum zur Strasse bekommen. Entlang der Strasse wurde auf einer Seite die einstige Lindenallee neu angepflanzt, ein Eingriff, der nicht zuletzt die umliegende Landschaft aufwertet.

Entstanden ist die neue Betonmauer ebenfalls aus Bauschutt. Der Verzögerer hat ihr eine Waschbeton-ähnliche Struktur gegeben und sie zeigt sich klar als neues Element, indem sie auf die Plattenabdeckung verzichtet, die man auf allen alten Mauern der Anlage hier findet. Doch selbst von der alten Umgrenzungsmauer haben die Architekten eine Spur hinterlassen: eine unvermittelt neben der Strasse verlaufende Kurve. Die subtilsten Spuren aber werden sich wohl erst in einigen Jahren zeigen. Die Mauern der abgebrochenen Klausen wurden bis rund 20 Zentimeter unter der neuen Humusschicht abgebrochen. «In einem trockenem Sommer werden sie sich in der Wiese abzeichnen», erwartet Christoph Hüsler. All diese Eingriffe sind allerdings nur aus Distanz zu sehen. «Die Kartause Valsainte kann nicht besichtigt werden», steht auf einer schon ziemlich lädierten Hinweistafel an der Abzweigung am Jaunpass zum Kloster. Aber dank der Hanglage sind gute Einblicke in die Anlage gegeben. Gerade die Mauerspuren der abgebrochenen Klausen wird man nach ein paar Jahren deutlich erkennen können. Finanziert wurde die Sanierung durch die Kartause selbst und einen speziell gegründeten Unterstützungsverein sowie durch kantonale und eidgenössische Beiträge.

hochparterre, Mo., 2008.12.08

08. Dezember 2008 René Hornung

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