Editorial

Stadtarchitektur oder Stadt der Mauern?

„Die Portugiesen kamen vorbei, um mitzunehmen“, so beschreibt Dawid Danilo Bartelt in seinem Beitrag lakonisch das „fluide Imperiumskonzept“ der Portugiesen in Brasilien, das vor allem auf Warenströmen basierte. Im Gegensatz zu den Spaniern, die kamen, um zu herrschen und zu siedeln, war Städtebau bei den Portugiesen kein großes Thema. Darin liegt auch der Unterschied zwischen dem improvisierten Charakter portugiesischer Kolonialstädte und den rigiden Rasterstädten der spanischen Kolonisatoren begründet. Das Fluidum, das Brasilien seit jeher umweht, hat somit einen realpolitischen Hintergrund. Es ist auf einem kulturellen Nährboden gediehen, der von Anfang an vom Austausch geprägt war. Vor nun bald 80 Jahren kam Le Corbusier zum ersten Mal nach Brasilien, nicht nur um mitzunehmen, sondern auch um zu geben. Mit seinem „fremden Blick“ entdeckte er in der tropischen Landschaft etwas in sich selbst, das ihn veränderte. Mit dieser Veränderung legte er wiederum den Keim für eine der außergewöhnlichsten Entwicklungen in der Geschichte der modernen Architektur: die brasilianische Moderne (vgl. Queiroz, S. 34).
Die Fähigkeit, sich das Fremde einzuverleiben und es zugleich zu verwandeln, postulierte der brasilianische Intellektuelle Oswald de Andrade 1928 in seinem „Anthropophagischen Manifest“ als Wesensmerkmal der brasilianischen Kultur. Wie sich der „Kannibale“ die Kräfte und den Mut des Feindes buchstäblich einzuverleiben suche, könne Brasilien die kulturelle Abhängigkeit und damit die postkoloniale Machtkonstellation nur überwinden, indem es das Fremde verschlinge und verinnerliche. Die Anthropophagie steht dabei als Metapher für einen ungehemmten Synkretismus und eine selbstbewusste Form der Kulturaneignung (vgl. Andrade, S. 30; Filho, S. 32). Und in der Tat scheint sich Brasilien die architektonische Moderne dergestalt einverleibt zu haben, dass es – im Gegensatz zu China und Indien, den beiden anderen von uns bisher behandelten BRIC-Staaten – unsere Sehnsucht nach einer ungebrochenen Moderne perfekt bedient (vgl. ARCH 168 Hochgeschwindigkeitsurbanismus und ARCH 185 Inselurbanismus). Eine Moderne, die weit über ihre europäischen Ursprünge hinausgeht und in ihren besten Beispielen eine zivile, ethische und urbane Architektur hervorgebracht hat, die den Traum der europäischen Moderne transzendiert.

Vor diesem Hintergrund wollen wir nicht wie gewohnt urbanistisch argumentierten, d. h. mit einem eurozentrischen Blick auf die Probleme, Auswüchse und Dynamiken städtischer Agglomerationen hinweisen. Stattdessen setzen wir mit dem vorliegenden Heft die Stadtreihe mit einem eher architektonischen, besser gesagt: mit einem „stadtarchitektonischen“ Fokus fort. Den Begriff „Stadtarchitektur“ verwendet der brasilianische Architekt Alexandre Delijaicov im Heft, um das besondere Stadt- und Architekturverständnis seines außergewöhnlichen Schulbauprojekts CEU in São Paulo zu charakterisieren. Dieses Konzept hält in der Verschränkung der beiden Ebenen ein einzigartiges Raumkonzept bereit, das in der Lage ist, den „Knoten der schizophrenen Aufteilung in Architektur und Urbanismus“ zu lösen, wie es der brasilianische Pritzker-Preisträger Paulo Mendes da Rocha gefordert hat (vgl. Delijaicov/Rosa, S. 92).

In diesem Heft wollen wir uns auf São Paulo und auf die nach der Stadt benannte Paulista-Schule konzentrieren, deren derzeit prominentester Vertreter Paulo Mendes da Rocha ist. Im Zentrum unseres Interesses steht der Beitrag dieser Architekturrichtung zur Herausbildung eines sozialen Raumkonzepts, das den Kern einer neuen „Stadtarchitektur“ bildet. Damit ist jedoch das Gegenteil dessen gemeint, was vor allem Europäer mit Aldo Rossis „Architektur der Stadt“ (1966) verbinden. Es geht hier nicht wie bei Rossi um eine Herleitung der Architektur aus dem Geist der Geschichte, nicht um eine Entwurfsmethodik, deren Grundlage die historischen Stadttypologien bildeten. Vielmehr wird mit Stadtarchitektur ein soziales Projekt umschrieben, dessen Ideen u.a. auf die brasilianischen Reformpädagogen Anisio Teixeira und Paulo Freire und die Architekten Affonso Eduardo Reidy und João Batista Vilanova Artigas zurückgehen. Der soziale Charakter der Architektur steht dabei im Mittelpunkt: die Architektur urbaner Infrastrukturen, wie Plätze, Straßen und Verkehrssysteme; die Architektur öffentlicher Einrichtungen, wie Park- und Unterrichtsschulen, CEU und Kultureinrichtungen wie SESC und die Architektur des sozialen Wohnungsbaus (vgl. Wisnik, S. 52; Hehl, S. 74).

Indem wir auf die zivile, ethische und urbane Dimension der brasilianischen Architektur verweisen, wollen wir zugleich unterstreichen, dass die Lösungsansätze für ein drängendes Probleme der heutigen brasilianischen Stadt im Kern bereits vorliegen. Die Stadtsoziologin Teresa Caldeira benennt dieses Problem mit der metaphorischen Beschreibung São Paulos als „Stadt der Mauern“. Damit weist sie auf die städtischen Herausforderungen hin, auf die soziale Segregation von morro und asfalto, von Favela-Bewohnern oben auf den Hügeln (morro) und den Wohlhabenden in den Apartments unten auf dem Asphalt (asfalto), von Zentrum und Peripherie, von Landlosen und Stadtbewohnern. Damit greift sie über den alten Stadt-Land-Gegensatz hinaus und macht deutlich, dass Stadt und Stadtgebrauch an Eigentumstitel gebunden sind (vgl. Bartelt, S. 6).

Die „Stadt der Mauern“, mit denen sich die wohlhabenden Schichten gegen die Invasion von den Hügeln und aus dem Hinterland, dem „Sertão“, wappnen wollen, gibt es nur um den Preis der Aufgabe der sozialen Durchlässigkeit der Stadt. Dem setzen wir in dieser Ausgabe ein Konzept von Stadtarchitektur entgegen, das einschließt statt auszuschließen, das ent-grenzt statt auszugrenzen und zwar in der Absicht, den Stadtkörper so zu organisieren, dass er wieder gesellschaftsfähig wird. Die Angst vor der Invasion der Hügelbewohner geht inzwischen so weit, dass die „Stadt der Mauern“ selbst vom Boden abhebt und nach neuen Lagen „on-the-air“ sucht, aber nicht mehr aus Gründen politischer Utopie, wie die Immeubles Villas von Le Corbusier, sondern aus schieren Sicherheitsbedürfnissen (vgl. Oswalt, S. 110).

Die europäischen Ursprünge der brasilianischen Architektur beginnen und enden mit Le Corbusier. Damit sind nicht nur seine zwei Reisen nach Südamerika gemeint, 1929 und 1936, sondern auch diejenigen Bezüge, die durch den englischen Architekturhistoriker Reyner Banham und die Architekten Alison und Peter Smithson vermittelt auf Le Corbusier zurückverweisen: der „Brutalismus“ der Paulista-Schule (vgl. Wisnik, S. 52). 1946 entwirft Le Corbusier die Unité d’habitation für Marseille und bildet hierbei das Fluchttreppenhaus am Ende der rue interieur als Architekturplastik aus, und das ganze Gebäude als „soziale Plastik“. Diese Architekturplastik wird in Beton gegossen, der aufgrund seiner sichtbar bleibenden Spuren der Schalungsbretter béton brut genannt wird. Von diesem Terminus technicus leitet sich der nach ihm benannte „Brutalismus“ ab. Allerdings ist dieser allzu schnell zum Ismus verkommen, weswegen Banham zwischen dem Brutalismus als Stilbegriff und dem „New Brutalism“ der englischen Mitglieder des Team 10 unterscheidet. Letztere traten für eine sozial motivierte Kritik an den CIAM-Grundsätzen in Architektur und Städtebau und nicht für das Material béton brut ein: „Bisher ist der Brutalismus als Formproblem behandelt worden“, schreiben Alison und Peter Smithson diesbezüglich, „während er in seinem Wesen ethisch ist.“ Banham sieht in diesem Neuen Brutalismus eine Haltung, die jenseits der bloßen Zurschaustellung unbearbeiteter Oberflächen das Fanal für einen Neuanfang der europäischen Nachkriegsarchitektur bilden könnte. „The New Brutalism“ nannte er folgerichtig seine bahnbrechende Veröffentlichung von 1966 und fügt als Untertitel die Frage hinzu „Ethic or Aesthetic“, um damit anzudeuten, dass darunter die Neuerfindung der Architektur in ethischer Absicht gemeint ist.

Vor dem Hintergrund der sozialen Segregation in Brasilien scheint es naheliegend, dass die ethische Problemstellung des „Brutalismus“ bei Architekten wie Vilanova Artigas auf fruchtbaren Boden fiel (vgl. Moreira, S. 58). Denn eine wesentliche Frage für Architektur und Städtebau betrifft den Umgang mit der Heterogenität der modernen Gesellschaft. In Europa versuchten damals die Vertreter des New Brutalism darauf zu antworten, indem sie das Projekt nicht mehr als monolithische Einheit betrachteten, sondern als Ergebnis einer fraktalen Montage heterogener Elemente, seien sie funktional, sozial, räumlich oder stadträumlich. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Wettbewerbsentwurf für die Universität Sheffield von Alison und Peter Smithson. Während die Moderne dazu neigte, den Baukörper monolithisch zu konzipieren und alle Funktionen in einem Gehäuse zu konzentrieren, versuchten die Smithsons nun, ihn in eine Folge von heterogenen Elementen aufzulösen und zugleich als Cluster zusammenzufassen. Dadurch bildete sich eine heterogene Struktur, die durch die Verkehrswege aus Rampen, Brücken und Straßendecks und dem zugrunde liegenden Montageprinzip zusammengehalten wird. „Aufgrund dieser Zurschaustellung des inneren Verkehrssystems wird der Zusammenhang der Verkehrswege – in Ermangelung jeder erkennbaren visuellen Ästhetik – zum verbindenden Prinzip des Entwurfs“ – und zu seiner neuen ethischen Basis. Banham charakterisierte diesen Ansatz als „topologisches Entwerfen“. Es zeichnet sich durch eine weitere Verflüssigung des fließenden Raums der Moderne aus, indem es den Akzent von der Funktion auf die Bewegungssequenz verlagert und dadurch die Bewegung als das dem Entwurf zugrundeliegende Montageprinzip einführt. Allerdings muss hier einem verbreiteten Missverständnis vorgebeugt werden: Damit wird nicht einer szenographischen Architektur das Wort geredet, wie sie Jahrzehnte später vielfach zur Erklärung der Arbeiten von Rem Koolhaas herangezogen wurde, sondern der abstrakten Bewegung als solcher. In architektonischen Begriffen könnte man vom Bewegungsdiagramm als Entwurfsmuster sprechen.

Die Paulista-Schule hat das in Europa abgebrochene Projekt des „New Brutalism“ und dessen Suche nach einer ethischen Begründung der Architektur fortgesetzt. Indem sie es mit den sozialen und klimatischen Bedingungen Brasiliens verschmilzt, entwickelt sie ein soziales Verständnis von Architektur und bildet damit ein neues Entwurfsmusters aus, das in einer spezifischen Art von Stadtarchitektur mündet (vgl. Brinkmann, S. 46; Spiro, S. 100).
Sehen wir uns hierzu das Projekt der Park- und Spielschulen genauer an (vgl. Wisnik, S. 52; Delijaicov, S. 92). Wie die Smithsons suchen die brasilianischen Architekten das Konzept des monolithischen Gebäudes in eine Folge von heterogenen Körpern aufzulösen und nach neuen Kriterien zu montieren. Die Organisation des Verkehrsflusses gehorcht dabei ebenfalls dem Montageprinzip. Die funktionalen Einheiten werden so arrangiert, dass sie sich um einen meist überdachten Pausenhof legen. Gleichzeitig erweitern sich die Schulen nach außen um Höfe und Gärten – daher auch der Name Park- und Spielschule. Als punktuelle Intervention wirken sie über sich hinaus und auf den bestehenden Stadtraum ein. Die Schule wird dadurch nicht nur zu einer Bildungsstätte, sondern auch zu einem sozialen Zentrum für die Anwohner. Diese können die Schule abends und am Wochenende als Versammlungsort und Treffpunkt nutzen (Bibliothek, Theater, Kino). Es handelt sich also um wenige gezielte Eingriffe – die Erweiterung der Schule um Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die Anordnung dieser Einrichtungen um einen Pausenhof und Öffnung des Schulkomplexes nach außen in eine abgestufte Folge von Höfen und Gärten, sprich um die Auflösung der Grenzen nach innen und außen – zwischen den Funktionen und zwischen Architektur und Stadt. Dadurch entsteht eine neue Art von Stadtarchitektur und eine architektonische Alternative zum Segregationsprinzip der Stadt der Mauern. Diese neue Stadtarchitektur, eine Architektur der urbanen Landschaft (vgl. Queiroz, S. 34), basiert zwar auf europäischen Anregungen und dem Denken in Bewegungssequenzen sowie dessen Umsetzung in Bewegungsdiagramme. Diese Bewegungsdiagramme werden jedoch anders als in Europa räumlich akzentuiert und das Räumliche wird wiederum sozial-räumlich verstanden.

Aber wie kann Architektur „das Soziale“ verräumlichen? Die gleiche Frage hat Richard Sennett kürzlich anlässlich der Entgegennahme des Gerda-Henkel-Preises in Bezug auf die Soziologie gestellt. Er betonte, dass es Ziel der soziologischen Literatur sein müsse, „ein Gefühl gelebter Erfahrung durch geschriebenen Text hervorzurufen“. Denn als schreibender Soziologe gelte es, mit literarischen Fähigkeiten in den Lesern „einen Sinn für „das Soziale“ als problematische Kategorie“ zu wecken. Wir können hier leicht anstelle des schreibenden Soziologen den bauenden Architekten und statt den geschriebenen Text gebaute Räume einsetzen, um die Relevanz dieser Antwort im architektonischen Kontext zu verstehen. Es gehe darum, so Sennett weiter, „einen öffentlichen Raum zu schaffen, so wie Hannah Arendt ihn verstand – einen Raum von miteinander geteilter, kollektiver Intelligenz“.

Genau in dieser kollektiven räumlichen Intelligenz sehen wir das neue Entwurfsmuster, das die brasilianische Moderne hervorgebracht hat und das wir in Anlehnung an Henri Lefebvre als Muster zur Produktion von Räumen bezeichnen möchten. Dadurch verschiebt sich erneut der Akzent: Haben wir am Beispiel des Brutalismus beschrieben, wie sich der Entwurfsansatz von der Funktion zur Bewegung verlagert, so können wir nun festhalten, dass hier die Produktion von Räumen im Mittelpunkt steht und damit die Frage, wie Räume entstehen und welche Programme sie erfüllen können. Räume definieren sich aber im Rahmen dieses Ansatzes nicht mehr nach den Unterscheidungen von privat und öffentlich, von gebunden und nicht gebunden, sondern nach sozial situativen Kriterien. Damit wird nicht nur die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit hinfällig, sondern auch die von Architektur und Stadt. Und diese Räume werden zu etwas, was sich sozial konstituiert, situativ einstellt und kodiert – sich aber durch formelle Kriterien weder eingrenzen noch erfassen lässt.

Hier ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Stadtarchitektur entstanden, gerade weil sie ein soziales Projekt und ein architektonisches Konzept verfolgt. Als stadtarchitektonische Interventionen unternehmen sie den Versuch, die duale Stadt und ihre Grenzen nach innen und außen aufzulösen, so dass am Horizont die Vision einer sozial durchlässigen Stadt wieder vorstellbar wird (vgl. Ribbeck, S. 22; Vigliecca, S. 26).

Redaktionsgruppe dieser Ausgabe: Carolin Kleist, Anne Kockelkorn, Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Marcos L. Rosa mit Christian Berkes, Ernst Gruber und Christina Lenart


Diese Ausgabe ist in Kooperation mit dem Stadtforschungsprojekt Urban Age entstanden, einer Initiative der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der London School of Economics. Wir danken Wolfgang Nowak, Ute Weiland, Jessica Barthel und Anja Fritzsch sowie dem Team der LSE für die gute Zusammenarbeit.

Inhalt

02 Editorial
Stadtarchitektur oder Stadt der Mauern?
Carolin Kleist, Anne Kockelkorn, Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo

04 São Paulo zwischen Wachstum und Schrumpfung
São Paulo – eine Makro-Metropole
Regina Maria Prosperi Meyer

06 Hinterland ist überall
Dawid Danilo Bartelt

12 São Paulo – eine chronologische Stadtgeschichte
Raquel Rolnik

16 Die Verkehrsnetze von São Paulo
Renato Anelli

22 Die informelle Stadt
Eckhart Ribbeck

26 Die Urbanisierung der Favela Paraisópolis
Héctor Vigliecca

28 Der Leerstand im Zentrum von São Paulo
José Armenio de Brito Cruz

30 Das brasilianische Projekt
Anthropophagisches Manifest
Oswald de Andrade

32 Das Anthropophagische Manifest als „synthetisches Fragment“
José Galisi Filho

34 Die urbane Dimension der modernen Architektur in Brasilien
Rodrigo Queiroz

41 Kontext Copan – Die Verschmelzung von Stadt und Architektur
Eduardo Aquino, Fernando de Mello Franco, Karen Shanski

46 Urbane Maßstäbe
Jens Brinkmann

52 Das Schulprogramm und die Herausbildung der „Paulista-Schule“
Guilherme Wisnik

58 „Das Haus wie die Stadt, die Stadt wie das Haus“
Die ethische Architektur von Vilanova Artigas
Pedro Moreira

68 Die Renovierung der Bibliothek der FAU-USP
Piratininga Architekten

70 Stadtarchitekturen
Unvorhergesehene Urbanität – Zwischenräume als Stadtbausteine
Maria Isabel Villac, Lizete Maria Rubano, Lucas Fehr und Igor Guatelli

71 Kartierung der Mikro-Interventionen in São Paulo
Marcos L. Rosa

72 Situativer Urbanismus – Boxschule unter dem Viaduto do Café
Igor Guatelli

74 Traurige Entropie – Eine Kulturgeschichte der Öffentlichkeit in São Paulo
Rainer Hehl

78 Die Architektur des Widerstands von Lina Bo Bardi
Rainer Hehl

92 Stadtarchitektur – Die Centros Educacionais Unificados (CEU)
Alexandre Delijaicov, André Takiya und Wanderley Ariza

94 Städtische Kondensatoren
Marcos L. Rosa

96 FDE Schule in Campinas
Una Architekten

98 FDE Schule União de Vila Nova
Antonio C. Barossi, Eduardo Ferroni, Milton Nakamura, Pablo Hereñú

100 Zeitsparen in São Paulo – Das „Poupatempo“ von Paulo Mendes da Rocha
Annette Spiro

106 Livraria da Vila
Isay Weinfeld

108 Wohnhaus Santa Adelaide
A. Amaral, C. Ferrata, E. Ferroni, M. Amaral und P. Hereñú

110 Getrennte Welten – Urbanität als Risiko
Philipp Oswalt

112 Timeline: Geschichte, Stadt, Architektur

São Paulo - Eine chronologische Stadtgeschichte

São Paulo ist die sechstgrößte Metropolregion der Welt und die wichtigste Stadt Brasiliens, wo sich die nationale Finanz- und Wirtschaftskraft konzentrieren. Dennoch sind die sozialen Territorien der Stadt zerrissen; für die Mehrheit gelten prekäre Lebens- und Wohnbedingungen, während sich die Reichen immer aggressiver in Wohlstandsinseln abschotten. Die Stadt ist in den letzten 160 Jahren von 30.000 auf fast 11 Millionen Einwohner exponentiell gewachsen – doch entgegen der landläufigen Meinung verlief ihre Stadtentwicklung weder chaotisch noch ziellos. Sie wurde durch bewusste politische und städtebauliche Entscheidungen gestaltet, die die Stadt bis heute prägen.

Von der Vila Bandeirante zur Kaffeestadt

Die Vila de São Paulo wurde 1554 von Jesuiten gegründet, die unter der Führung von Tupi-Guarani-Indianern von der Küstenstadt São Vicente aus die bewaldeten Hügel der Sierra do Mar erkundeten. Im 17. Jahrhundert diente die Vila de São Paulo als Ausgangspunkt für entradas e bandeiras: Expeditionen in das umliegende Hochland, um Indianer zu versklaven, Land zu besetzen und nach Erzen zu suchen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Stadt relativ unbedeutend; vornehmlich von einer Mischbevölkerung aus Portugiesen und Indianern bewohnt, war die meistgesprochene Sprache das Tupi-Guarani. Dies änderte sich schlagartig, als der Kaffeeanbau um 1850 über das Rio Paraiba-Tal die Stadt São Paulo erreichte und, begünstigt durch das Klima und fruchtbaren Boden, weitere Anbaugebiete im Nordwesten der Stadt erschlossen werden konnten. Die günstige Verkehrslage zum Hafen Santos und die systematische Erschließung des Hochlandes durch die Eisenbahn schufen die idealen infrastrukturellen Voraussetzungen für den Kaffee-Boom.[1] Die Kaffeeindustrie – und das Kapital, das durch den Export in Umlauf gebracht wurde – lösten in São Paulo in den folgenden Jahren urbanistische, wirtschaftliche, ethnische und politische Transformationen aus und legte die Grundsteine für die Entwicklung zur Metropole des 21. Jahrhunderts.

Geldströme, Menschenströme: Die Erste Republik

In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Republik 1889 wurde São Paulo zum Magnet für Immigranten und Investitionen: Das durch den Kaffeeboom vorhandene Kapital konnte nicht weiterhin allein in die Plantagen investiert werden. Geldströme, Immigranten und der Ausbau der Infrastruktur waren ausschlaggebend für die schnelle und folgenreiche Industrialisierung der Region.[2] Seit der Abschaffung der Sklaverei 1888 und der Einführung der Lohnarbeit verfolgte der junge Staat eine gezielte Immigrationspolitik, um die Zahl der Arbeitskräfte auf den Kaffeeplantagen und in den neuen Industrien zu sichern. Italiener, Portugiesen, Spanier, Syrier und Libanesen, Juden und Japaner: Von den 250.000 Einwohnern der Stadt der Jahrhundertwende waren bereits über 150.000 Ausländer, größtenteils Europäer. Industrie und Immigranten siedelten sich in den Flussniederungen entlang der Bahnlinie an. Die ersten großen Arbeiterviertel São Paulos – Lapa, Bom Retiro, Brás, Pari, Belém, Mooca und Ipiranga – entstanden als Immigrantenkolonien entlang der Bahnlinien im Osten, Westen und Südosten der Stadt.
In diese Phase fällt auch die erste große Urbanisierungswelle São Paulos, als fließendes Wasser, Elektrifizierung und Straßenbahnen eingeführt und die Straßen asphaltiert wurden. Die Politik bezüglich dieser Modernisierungen war jedoch von Anfang an in den verschiedenen Stadtvierteln unterschiedlich; die Transformation der Kaffeestadt bestand auch in der Trennung der Wohnorte nach Tätigkeit und sozialer Gruppe. Diese Grundlage der städtischen Ordnung ist noch bis heute spürbar. Die zentralen Bezirke der Stadt waren den Eliten und dem Kapital vorbehalten; dort konzentrierten sich die Urbanisierungsmaßnahmen, für diese Gebiete wurden Baugesetze erlassen. Währenddessen entstand außerhalb dieses urbanen Umkreises ein rein funktionaler Raum, in dem sich das Arbeiten und Wohnen der Armen vorwiegend selbst organisieren musste.
Die Stadtverwaltung traf ihre politischen Entscheidungen lediglich in Abstimmung mit den Eliten von São Paulo, also jenem kleinen Teil der Bevölkerung, der bei den Wahlen der Stadtabgeordneten und ab 1911 auch des Bürgermeister mitwirken durfte. Die Kaffeeoligarchie São Paulos bestimmte während der Ersten Republik die Geschicke der gesamten Nation;[3] die Urbanisierung des historischen Zentrums war somit auch Ausdruck der radikalen Identitätsänderung, die diese Elite für die Stadt vorgesehen hatte. Eines der ersten großen städtebaulichen Projekte waren die beiden Parkanlagen von Joseph-Antoine Bouvard im Anhangabaú-Tal. Im Zentrum selbst, der „Dreiecksstadt“ mit Stadttheater und Esplanade, wurden die Kolonialstraßen und -gassen verbreitert; zu den ersten Stadterweiterungen gehörte auch das so genannte Neue Zentrum im Umfeld des República-Platzes mit neuen Boulevards, öffentlichen Parks, Caféhäusern und eleganten Geschäften und Kultureinrichtungen.
Ein gutes Beispiel für die Aneignung des Zentrums durch die Eliten – und ihre diskriminierende Begrenzung der öffentlichen Investitionen, Reformen und Gesetzgebung – ist die Entwicklung des West-Sektors der Stadt, mit dem Nord-Süd-Parcours Campos Elíseos, Higienópolis, Paulista.[4] 1879 kauften zwei deutsche Unternehmer ein Grundstück im Nordwesten des historischen Zentrums, unterteilten das Gelände in große Parzellen mit breiten Straßen und legten bepflanzte Alleen an. So entstand das Viertel Campos Elíseos als Modell eines Wohngebiets für den Geldadel. Um 1890 wurden dann im neuen Viertel Higienópolis die elegantesten Paläste der Stadt bezogen, und 1891 die Avenida Paulista eingeweiht. 1894 ließ der Bauingenieur und -unternehmer Joaquim Eugênio de Lima ein spezielles Baugesetz für die von ihm gebaute Avenida Paulista verabschieden: Demzufolge mussten zukünftige Bauten einen Abstand von zehn Metern zur Straße einnehmen und zu beiden Seiten durch einen zwei Meter breiten Streifen von „Gärten und Bäumen“ bepflanzt werden. Mittels solcher Gesetze garantierte man für bestimmte soziale Schichten Stadträume mit besserer urbaner Qualität, trotz des immensen Drucks, der permanent durch das Bevölkerungswachstum ausgeübt wurde.
Im Gegensatz zur reichen Innenstadt waren die Arbeiterviertel von einer Mischung von Fabriken und prekärem Massenwohnungsbau (Cortiços) geprägt; die urbane Infrastruktur beschränkte sich praktisch auf die Straßenbahn.

Der Plano de Avenidas und die Schienenstadt

Trotz ihrer Ungleichheiten und Aufsplitterung blieb die Stadtstruktur bis zum Ende der 20er Jahre dennoch relativ kompakt und behielt einige Grundbeziehungen zu ihrer natürlichen Geografie. Dies lag nicht zuletzt am Netz öffentlicher Straßenbahnen und Bahnhöfe, die die Grenzen der Urbanisierung festlegten. Während des Ersten Weltkriegs wuchs in São Paulo die Industrie für den Binnenmarkt weiter an, da durch den Zusammenbruchs der internationalen Handelsverbindungen die Importwirtschaft schrittweise durch die heimische Produktion von Kapital- und Konsumgütern abgelöst werden musste. Die Folgen dieser großmaßstäblichen Industrialisierung waren neben dem Aufkommen eines urbanen Proletariats auch ein großes Bevölkerungswachstum. Die Stadt verdichtete und vergrößerte sich zunehmend.
Mit der Weltwirtschaftkrise und dem Einbruch der Kaffeepreise (1929), dem Militärputsch (1930) und dem Widerstand der Kaffeeoligarchie gegen die neue Regierung (1932) brach für São Paulo eine Zeit permanenten Wandels und der ökonomischen Umorientierung an. Schließlich wurde unter dem Bürgermeister Fabio Prado ab 1934 der radialkonzentrische Plano de Avenidas des Stadtplaners – und späteren Bürgermeisters – Prestes Maia umgesetzt.[5] Dieser bevorzugte den motorisierten Verkehr gegenüber dem Schienentransport und legte mit den wichtigsten Verkehrsachsen bis heute die Struktur der Stadt fest. Gleichzeitig wurde mit dem Plano de Avenidas der Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems auf Dieselbusse fokussiert. Einerseits war der Dieselbus flexibel genug, um die arme Peripherie der Stadt an das Verkehrsnetz anzuschließen, andererseits wurde erst durch ihn die Expansion des Stadtgebietes weit über die an sich tolerierbaren Grenzen hinaus möglich. Im Vergleich zur verhältnismäßig dichten Schienenstadt entstand nun ein neues Stadtmodell aus verstreuten Siedlungen ohne Infrastruktur und mit sehr niedriger Wohndichte, das die ganze Logik der öffentlichen Investitionen und Dienstleistungen für die Innenstadt infrage stellte. Der Vergleich zwischen den Stadtplänen und den Bevölkerungsangaben von 1914 und 1930 zeigt eine deutliche horizontale Expansion der Stadt: 1914 lag das Stadtgebiet bei 3.760 Hektar[6] und die Wohndichte bei 110 Bewohner pro Hektar; 1930 hatte sich das bewohnte Gebiet auf 17.653 Hektar vervierfacht, die Dichte hingegen auf 47 Bewohner pro Hektar halbiert. Von nun an blieb die Dichte mit 50 Bewohnern pro Hektar bis in die 70er Jahre relativ konstant.

Neues Zentrum und Avenida Paulista

In den 1950er Jahren begann die Vertikalisierung und Kommerzialisierung der Innenstadt. Das Stadtzentrum verlagerte sich in Richtung der Avenida Paulista. Dort wurden die ersten funktionalistischen Hochhäuser gebaut; die Einweihung des Conjunto Nacional[7] im Jahr 1956 verwandelt die Straße endgültig in das neue Finanz- und Geschäftszentrum. Ab Mitte der 60er Jahre waren zum ersten Mal in der Geschichte São Paulos die Bodenpreise des historischen Zentrums nicht mehr die teuersten. Paradoxerweise geschah dies während der wichtigen und kostspieligen Investition in die U-Bahn, die die Zentralität der historischen Mitte bekräftigte: Die beiden Linien des zukünftigen Netzes sollten sich in der Station Sé im historischen Zentrum kreuzen. Dort wurde dem radialkonzentrischen Prinzip folgend auch der große Bus-Terminal geplant. Darüber hinaus wurden große und breite Gehsteige angelegt und die wichtigsten Straßen in Fußgängerzonen umgewandelt. Das historische Zentrum zeichnete sich von nun an durch eine maximale Zugänglichkeit durch öffentliche Transportmittel aus – just in dem Moment, in dem sich die Eliten und Mittelschichten definitiv in ihren Autos abkapselten. Damit waren die Grundlagen geschaffen für die Pauperisierung des Zentrums, aus dem sich die Eliten sukzessive verabschiedeten.
Die endgültige Verschiebung vom historischen Zentrum zur Avenida Paulista und zum Jardins-Viertel findet in den 1970er Jahren statt; zu diesem Zeitpunkt ließen sich dort die Machtzentren des zweiten Brasilianischen Wirtschaftswunders (1968-73) nieder, darunter internationale Großunternehmen, Banken und Arbeitgebergremien.

Territoriale Ausgrenzung

Die staatlich forcierte Industrialisierung der 50er Jahre konzentrierte sich auf das Ballungsgebiet São Paulo und die riesige Wirtschaftskraft zog Migranten aus ganz Brasilien an. In diesen Jahren veränderte sich auch die Sozialgeografie der Stadt: In den 50er, 60er und 70er Jahre ging die ausländische Einwanderung zurück, während die Inlandsmigration anstieg, hauptsächlich aus Minas Gerais und dem Nordosten Brasiliens, aber auch aus dem Hinterland der Metropole. Das São Paulo der „baianos“[8] macht bis heute fast 20% der Stadtbevölkerung aus. Wenn zu Anfang des Jahrhunderts die Arbeiterviertel den vorwiegend europäischen Ausländern und das Stadtzentrum den Brasilianern vorbehalten waren, so ist heute die Peripherie vom Zuzug aus dem Nordosten geprägt. Je weiter entfernt und prekärer, desto höher der Anteil von Schwarzen, Mestizen und Migranten.
Während der urbanen Expansion der 60er und 70er Jahre wuchs São Paulo mit den Städten der heutigen Metropolregion zusammen, zuerst mit Osasco und Taboão da Serra im Westen, Guarulhos im Osten und dem so genannten ABC-Gebiet im Südosten. Dies geschah zumeist ohne Genehmigung der Stadtverwaltung durch irreguläre Besiedlungen und selbstgebaute Häuser. Der erste Schritt zu einer neuen legalen Ordnung der Stadt ist die Duldung. Auf diese Weise erreichen die irregulären Siedlungen einen gewissen Status der Legalität und bleiben in der Sphäre der öffentlichen Verantwortung. Das heißt nicht, dass die Stadtverwaltung andere Siedlungsformen anbietet oder möglich macht, sondern nur, dass manche Ausnahmen das Recht auf öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Dienstleistungen erhalten.
Die territoriale Ausgrenzung wurde durch den staatlichen Wohnungsbau weiter vorangetrieben. Ab den 1960er Jahren sollten die nationale Bank für Wohnungsbau (BNH) und die öffentlich geförderte Wohnungsbaugesellschaft „Cohab“ das alarmierende Wohnungsdefizit vermindern. Den öffentlichen Wohnungsbauprogrammen war in der Regel geringer Erfolg beschieden. Aber nicht nur das: Die Cohab ließ in den 70er und 80er Jahren riesige, ausschließlich zum Wohnen bestimmte Siedlungskomplexe in der äußersten Peripherie errichten, was die dort Wohnenden explizit vom Rest der Stadt ausgrenzte. Die Schlafstädte Itaquera 1, 2, 3 und 4 (35.000 Wohnungen und 165.000 Bewohner) oder Cidade Tiradentes gerieten so zu Ghettos mit niedrigem Einkommen, prekärer Ausbildung, hoher Arbeitslosigkeit, weit entfernt von den Orten, an denen es Lebenschancen gibt. Die in den 90er Jahren explodierende Gewalt in der Stadt steht ohne Zweifel mit dieser urbanen Struktur in Verbindung. Die Wirkung dieser Wohnblocks im Süden der Stadt waren noch schlimmer: die Errichtung des Wohnkomplexes Bororé im Viertel Grajaú im Jahr 1976 führte über 13.000 Bewohner in ein gerade als „Wasserschutzgebiet“ ausgewiesenes Areal. Während auf der einen Seite Umweltschutzgesetze verabschiedet wurden, ging die Urbanisierungs- und Wohnungspolitik der Stadt in die entgegengesetzte Richtung und konsolidierte den Industriekomplex im Süden der Stadt, wodurch sich das Zentrum insgesamt weiter nach Südwesten verlagerte, verstärkt durch den Ausbau der U-Bahn-Linie Nord-Süd von 1975. Das Arbeitsangebot erhöhte wiederum die Nachfrage an Wohnungen in der südlichen Peripherie. Heute ist im Süden der Stadt die größte Anzahl an Favelas und irregulären Siedlungen zu finden; gleichzeitig hat sich die Wasserqualität der aufgestauten Reservoirs und der Flüsse stark verschlechtert.
Die Wohnungsfrage bleibt ungelöst. São Paulo zählt zwei Millionen Favela-Bewohner, was einem Rekordwert von 20 Prozent der Bevölkerung entspricht. Die Peripherien verzeichnen das größte Bevölkerungswachstum, während in den zentralen Stadtvierteln die Bevölkerung in absoluten Zahlen abgenommen hat.

Shopping Center, Hypermarkets und Robocops

Obwohl der relative Anteil São Paulos an der Industrieproduktion Brasiliens zurückgegangen ist, bleibt die Stadt weiterhin ein großes und dynamisches Industriezentrum. Demgegenüber hat sie sich nicht zu der „Dienstleistungs-Metropole“ entwickelt, die einige Untersuchungen Anfang der 90er Jahre vorauszusehen glaubten. Das Ballungsgebiet der Stadt kann heute die größte Konzentration an Spitzenproduktion, Spitzenforschung und Spitzentechnologie des Landes vorweisen und in der Region wird nahezu ein Drittel des nationalen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet.[9]
Auch wenn die Industrie nicht verschwunden ist, so hat sie sich doch in ihrer Struktur radikal verändert. Dies hat Folgen für die Struktur des Arbeitsmarktes und für die räumliche Organisation der Stadt: Einige große und mittlere Unternehmen verlassen ihren Sitz nahe der großen Bahn- und Autobahnachsen (die Bahnlinie Santos–Jundiaí und die Autobahnen Anchieta und Presidente Dutra), während sich Tausende kleinere Fabriken inmitten der Stadt oder zum Teil sogar in der äußersten Peripherie ansiedeln. Das offensichtlichste Merkmal dieser neuen territorialen Organisation ist eine sich über das ganze Stadtgebiet erstreckende Zersiedelung; die Ära der großen Industriesitze mit riesigen Auf- und Abladehallen und Lagerflächen und Massen uniformierter Arbeiter scheint in São Paulo zu Ende gegangen zu sein.
Die neue urbane Wirtschaft hat widersprüchliche Wirkungen auf den Stadtraum: einerseits wird die innere Spaltung der Industriestadt verringert, die zwischen prekärer Peripherie (Nord-West-Ost-Südost) und der reichen und gut ausgestatteten Stadt im Südwesten eindeutig trennte; andererseits können die ehemaligen Industriegebiete zu Wohn-, Gewerbe- und Freizeitarealen umgenutzt werden. Unternehmen wie Big, Makro und Extra haben sich multipliziert und eine ganz neue Logik in die Konsumgewohnheiten der Paulistaner eingeführt. Die neuen tertiären Großinvestitionen wie Shopping Centers und Hypermarkets fragmentieren das soziale Stadtgewebe in den älteren Stadtgebieten. Bis heute wurde nichts unternommen, um das bestehende sozioökonomische Gewebe zu integrieren und weiterzuentwickeln anstatt es zu ersetzen oder zu zerreißen. Das diffuse und fragmentierte Auftreten neuer Handelsformen in der Peripherie bricht die typische Dualität São Paulos nicht auf, sondern stellt sie auf fraktale Art und Weise wieder her. Die Folgen für die sozialen Räume liegen auf der Hand: Je nach Einkommen findet das urbane Leben in kontrollierten, geschützten oder verletzbaren Geografien statt. São Paulo bleibt zweigeteilt: eine rasend schnell wachsende Zahl von Favelas auf der einen, private Wohnsiedlungen, Shopping Centers und Unternehmenszentren auf der anderen Seite. Der legale und reiche Teil verfügt über Infrastruktur; der illegale Teil existiert in armen und prekären Verhältnissen, und dessen Bevölkerung hat viel mehr Schwierigkeiten, Arbeit zu finden oder Zugang zu Kultur- und Freizeitangeboten zu erhalten.
Das Phantom der Gewalt verschärft diese Teilung. Die mittleren und oberen Schichten setzen den öffentlichen Raum immer mehr mit einem Raum für Kriminalität, Gefahr und Verwahrlosung gleich, schotten sich in ihren gesicherten Wohnsiedlungen und Shopping Centers ab und verlassen den Straßenraum – oder privatisieren ihn durch aufwendige Überwachungsstrategien. Das urbane Zusammenleben wird dadurch immer schwieriger und das durchmischte urbane Sozialgewebe unwiederbringlich zerstört.
Am Ende handelt es sich um die Auflösung eines São Paulo der offenen Grenzen, das der individuellen und kollektiven menschlichen Entwicklung durch intensiven Austausch und soziale Interaktion viele Möglichkeiten bot. Die internen Grenzen erscheinen jetzt physisch in Form von Mauern, Gittern und Wachthäusern, sie haben die Stadt besetzt und die Stadtbewohner auf ein Leben in der Familie und unter Gleichgestellten reduziert. Somit ist die fraktale Stadt eine Anti-Stadt, deren Urbanitätsmuster jene Heterogenität verneinen, die ja paradoxerweise die wahre Quelle ihrer Macht und ihres Reichtums ist.

São Paulo heute: Globale Megastadt?

São Paulo erlebt derzeit etwas Zweideutiges: Stärke und Energie des Wachstums nehmen ebenso zu wie das Unbehagen der Bewohner. Durch den Überfluss an Kreditangeboten und den Rückgang der Arbeitslosenquote ist die Dynamik der Spekulation weiter gewachsen; die Bedeutung der Kulturproduktion São Paulos reicht über die Landesgrenzen hinaus, genauso wie die Quantität und Qualität seiner Spitzentechnologie. Das Unbehagen besteht im Unvermögen, sich in der Stadt frei zu bewegen; die Paulistaner ersticken an der Luftverschmutzung der Autos, Busse und Lastwagen, sind durch die Entfernungen gelähmt und haben Angst, auf die Straße zu gehen. Mit der latenten Anwesenheit der Gewalt und der Ausgrenzung wird das zivile Zusammenleben im Alltag immer weiter erschwert.

Währenddessen sind die Zeitungen jeden Tag voll mit neuen Immobilienangeboten. Wer dies sieht, könnte denken, dass nun endlich alle Paulistaner eine Behausung haben könnten – Schluss mit Favelas und prekären Besiedlungen in den Naturschutzgebieten der Peripherie. Jedoch entspricht dies leider nicht den Tatsachen. Auf der einen Seite besteht ein sichtbarer Druck, das Bauvolumen immer weiter zu steigern: Anstelle von einfachen Häusern werden Hochhäuser errichtet, die Wohngebiete der Metropole erstrecken sich bis an den Rand der Autobahn. Auf der anderen Seite gibt es kaum Angebote für die Menschen mit Einkommen von 0 bis 3 Mindestlöhnen, die jedoch 87 % des Wohnangebotsdefizits in der Stadt repräsentieren. Im Jahr 2005 fehlten in São Paulo 188.700 Wohnungen, während 402.807 Häuser und Wohnungen leer standen. Wenn sich dies fortsetzt, wird sich das Bild in den nächsten zehn Jahren immer weiter verschlechtern: Häuser, Wohnungen, Gebäude, ja ganze Viertel ohne Menschen – und die schändliche Reproduktion des Prekären für die Mehrheit.[10]

Auf dem Gebiet der Produktion und des Verkaufs von PKWs schlagen wir indessen alle Rekorde – zugleich standen wir noch nie so still. Das Verkehrsmodell, das sich allein auf das Auto stützt, ist mehr als unzulänglich, und große Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und nichtmotorisierte Alternativen wie Fußgänger- oder Fahrradwege sind überfällig.

Auf dem Gebiet der Politik scheint die Stadt jedoch (endlich) ein Reifestadium erreicht zu haben; sie sagt dem Individualismus und der Isolierung den Kampf an und kümmert sich verstärkt um den öffentlichen Raum. Programme wie „Cidade Limpa“ (Saubere Stadt)[11] setzen den Unternehmen und privaten Interessen klare Grenzen, um die Qualität der Stadtlandschaft zu verbessern; dieses Unterfangen signalisiert die Bereitschaft der Paulistaner, ihre Stadt als kollektives Eigentum anzunehmen und zu verwalten. Ähnliche Anzeichen sieht man in der Vielfalt und Kraft sozialer und gemeinschaftlicher Organisationen, die für eine solidarische und zivile Stadt kämpfen. Sie nehmen ihre Rolle als Protagonisten des urbanen Lebens ernst, das sich nicht auf das alle zwei Jahre wiederkehrende Ritual der Wahlpflicht beschränken lässt.


Anmerkungen:
[1] Ab 1867 wurde die Eisenbahnlinie zwischen dem Hafen Santos und der Kleinstadt Jundiaí im Nordwesten São Paulos gelegt, später das gesamte Hochland mit einem strahlenförmigen Netz von Bahnlinien erschlossen.
[2] Zunächst betraf dies hauptsächlich die Textil- und Lebensmittelindustrie. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg konnte das Land seinen Bedarf an Textilien zu 85% selber decken.
[3] Das Wahlrecht war auf Männer mit Einkommen über 21 Jahre beschränkt; die nationale Wahlbeteiligung gemessen an der Gesamtbevölkerung lag für die Präsidentschaftswahlen zwischen 2,2% (1894) und 5,7% (1930).
[4] Dieser Parcours wurde später durch das Viertel Jardins erweitert, das nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte angelegt wurde. Vgl. Renato Anelli
[5] Zur Entwicklung und Umsetzung des Plano de Avenidas siehe den Text von Renato Anelli in diesem Heft.
[6] 1 ha = 10.000 qm oder ungefähr ein Häuserblock
[7] Siehe dazu den Beitrag von Jens Brinkmann in diesem Heft.
[8] Die Migration aus dem Nordosten Brasiliens, einem armen und stark bevölkerten Gebiet, das unter Trockenheit leidet, Richtung São Paulo, war ein bedeutendes soziales Phänomen im Laufe des 20. Jahrhunderts, besonders seit der ersten Hälfte der 50er Jahre. Der Begriff „baianos“ (eigentlich Bewohner aus Bahia) wurde seitdem in São Paulo zur geringschätzigen Bezeichnung aller aus dem Nordosten stammenden Menschen.
[9] http://www.emplasa.sp.gov.br/metropoles/cme.asp
[10] Zur Problematik des Leerstands in der Innenstadt, vgl. de Brito Cruz
[11] Cidade Limpa: 2007 erließ Bürgermeister Gilberto Kassab ein Gesetz, das die kommerzielle Außenwerbung drastisch einschränkt: ein Geschäft mit 10 Quadratmeter Fassadenfläche darf jetzt nur noch auf 1,5 Quadratmetern werben, bis zu 100 Quadratmeter Fassadenfläche auf 4 Quadratmetern. Die absolute Mehrheit der Paulistaner befürwortet diese Maßnahme als deutliche Verbesserung des Stadtbilds.

ARCH+, Do., 2009.01.08

08. Januar 2009 Raquel Rolnik

São Paulo zwischen Wachstum und Schrumpfung

(SUBTITLE) Die Urbanisierung der Favela Paraisópolis

Informeller Urbanismus

Fast eine Million Einwohner der Stadt São Paulo wohnen in Favelas genannten Armenvierteln und nahezu zwei Millionen in informellen Siedlungen. Seit den 1970er Jahren sind dies die Stadtteile mit der größten Dynamik und dem größten Wachstum; sie haben die Informalität und das Ungeregelte von der Ausnahme zur Regel werden lassen. Das Wachstum der informellen Siedlungen übertrifft dasjenige der formellen Stadt bei Weitem. Dennoch hält sich der Glaube beharrlich, die städtischen Armutssiedlungen seien Ausnahmeerscheinungen in der Stadtlandschaft.
Ein paradigmatisches Beispiel dieser dualen Stadt ist das Viertel Morumbi/Paraisópolis im Südwesten São Paulos. Hier koexistieren und kollidieren zwei Situationen miteinander und ignorieren sich dennoch gegenseitig– trotz des Bewusstseins gegenseitiger Abhängigkeit. Morumbi liegt südwestlich des Pinheiros-Flusses und gilt als eines der exklusivsten Viertel São Paulos. Dort findet man riesige Privatvillen, luxuriöse gated communities mit ausgefeilten Sicherheitssystemen und elegante Hochhäuser mit privaten Grünanlagen. Paradoxerweise gibt es jedoch ebendort, mitten in Morumbi, auch eine der größten rechtswidrig errichteten Siedlungen der Stadt: die Favela Paraisópolis. Auf einem Gelände, das ein Gefälle von bis zu 35 Prozent aufweist und von verschiedenen offenen Abwasserkanälen durchzogen ist, zählt dieses Konglomerat von ein- bis dreigeschossigen Bauten annähernd 82.000 Einwohner, von denen 46.000 jünger als 14 Jahre sind.
Die Besonderheit dieser Favela, die nahezu vollständig auf privatem Land gebaut ist, findet sich in ihrem Zentrum: Hier trifft man auf ein bereits früher angelegtes städtisches Wegenetz mit Straßen und kompletter Infrastruktur. Der für Favelas auffällig sorgsame Umgang mit den angrenzenden Gebäuden, ablesbar durch private Investitionen, sowie die sichtbare Vielfalt von Typen und Gebrauchsformen lässt einen Zusammenhang zwischen privilegierter Lage und Verantwortung erkennen. Doch bereits im Inneren der hier angrenzenden Häuserblöcke verschlechtert sich der Zustand der Häuser.

Städtebauliche Erneuerungsmaßnahmen

Konventionelle Sofortmaßnahmen für solche städtische Brennpunkte beschränken sich meist auf von Erdrutsch oder Überschwemmung bedrohte Bauten; demgegenüber werden alle anderen Aktionen wie planvollen Teilabriss zur Aufwertung des Stadtraums als Verschwendung und als unverantwortlich abgelehnt. Die Gegebenheiten dieses Gebietes sind jedoch unvereinbar mit herkömmlichen Planungsmodellen, wie sie in „formellen“ Bereichen mithilfe von Verordnungen auf Grundlage einer normativen Gesetzgebung stattfinden können. Der Ausgangspunkt für unser Projekt war deshalb der „spontane Wille zur Verpflichtung gegenüber der Stadt“.
Das Projekt verfolgt eine Strategie der räumlichen Hierarchisierung über ein Wegenetz in Kombination mit der punktuellen Setzung einzelner Großwohnbauten. Das Ziel dieser strukturierenden Maßnahmen ist es, durch „Infiltrationen und Motoren der Urbanität“ einen kontinuierlichen Erneuerungsprozess einzuleiten – ohne vorhandene soziale Strukturen zu zerstören.

Neue Hierarchisierung durch das Wegenetz

Die wichtigste Maßnahme zur Strukturierung des Gebietes ist die Einbindung des bestehenden Straßenrasters an das Verkehrsnetz der Umgebung, um die problematischen Zonen von Parisópolis an die neuen Wohnviertel (Córrego Antonico und Córrego do Brejo) anzuschließen. Die Wege funktionieren zugleich als Sichtachsen, die klare Orientierung und kollektive Bezugspunkte schaffen. Die Bauten, die der Neustrukturierung weichen müssen, werden durch neue Wohn-, Dienstleistungs- und Geschäftsbauten in unmittelbarer Umgebung ersetzt. Über dem Córrego do Brejo wird anstelle der Abbrissbauten ein Park errichtet.

Neue Zentren

Inmitten der bestehenden Wohngebiete wird im Abstand von jeweils zwei Feldern des Erschließungsrasters je ein Wohn- und Geschäftsriegel quer über eine Wegachse gesetzt. Diese mehrstöckigen Riegel ersetzen einerseits die an der Stelle abgerissene prekäre Wohnbebauung, wirken andererseits als Katalysatoren auf ihr urbanes Umfeld: An den Kreuzungspunkten zwischen Wegen und Riegel entstehen öffentliche Räume, die das Blockinnere zugänglich machen und damit aufwerten. Der zu beobachtende positive Konsolidierungsprozess an den Haupterschließungswegen soll dadurch nach innen ausgeweitet werden.

Die Talsohlen und Berghänge

Aufgrund von Erdrutsch- und Überschwemmungsgefahr wird die Wohnbebauung in der Talsohle und in starken Steillagen vollständig abgerissen (Grotão und Grotinho). Dadurch werden die Hügel freigelegt und über die Sichtachsen im Stadtraum präsent. Die alte Wohnbebauung wird hier durch eine andere Wohntypologie ersetzt: bis zu acht Geschossen hoch in die Hügel eingebaut und jeweils über zwei Zugänge auf verschiedenen Niveaus erschlossen, so dass man auf teure Aufzüge verzichten kann. Die neuen Freiflächen werden zum Teil in Grünanlagen und Freizeiteinrichtungen umgewandelt. Höfe und Treppenanlagen dienen als Pufferzone zum Schutz vor Erdbeben.

Neue Wohnquartiere

Insgesamt schlägt dieser Entwurf vier neue Wohntypen vor: neue Zentren als urbane Katalysatoren, Bauten für die Berghänge, Bauten für die Talsohlen und eine Wohnbebauung für die Abrissflächen. Da nicht alle Bewohner wieder unmittelbar auf dem gleichen Grundstück angesiedelt werden können, entsteht am Rand von Paraisópolis ein neues Wohnquartier mit 3.000 neuen Wohnungen in einer offenen Bebauungsstruktur. Bei der Entwicklung dieser Wohntypen wurden herkömmliche Modelle des sozialen Wohnungsbaus nicht angewendet, da diese nicht auf die städtischen Besonderheiten ihrer jeweiligen Standorte eingehen können.

Das Projekt wurde mit dem Preis des Instituts der Architekten Brasiliens (Instituto dos Arquitetos do Brasil) in der Kategorie „städtische Intervention“ 2005-2006 – São Paulo ausgezeichnet.

ARCH+, Do., 2009.01.08

08. Januar 2009 Héctor Vigliecca

Das brasilianische Projekt

(SUBTITLE) Urbane Maßstäbe - Architektur als Symbiose von Landschafts- und Stadtraum

São Paulos Stadtbild zeichnet sich durch eine einzigartige Symbiose aus Geographie und Stadtraum aus. Die unterschiedlichen Maßstäbe Landschaft, Stadt und Architektur sind hier in besonderer Weise miteinander verknüpft. Die natürliche Topographie, als eine Abfolge von Plateaus, zerschnitten durch unzählige Täler, hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt und ihre Architektur. Dabei hat die sukzessive Entwicklung städtischer Schichten eine Reihe bemerkenswerter Architekturen hervorgebracht. Der Conjunto Nacional (1955-60), der einen gesamten Stadtblock auf dem Höhenrücken der Avenida Paulista besetzt und das Centro Cultural São Paulo (1979-82), das in den Hang des ehemaligen Flusstals des Itororó gebaut ist, sind beispielhaft für den Umgang mit den extremen Voraussetzungen der Stadtgeographie. Beide Gebäude zeichnen sich durch außergewöhnliche architektonische Qualitäten und ein hybrides Nutzungskonzept aus, das ihnen einen öffentlichen Charakter verleiht.

Geographie und Stadt

Geographisch ist São Paulo eine Stadt voller Brüche, zerschnitten durch Flüsse, die tiefe Senken in den weichen Sandstein gegraben haben und die in dem wasserreichen Gebiet natürliche Grenzen bildeten. Die Stadt liegt auf einem Hochplateau mit einer Höhe von 740-830 Metern. Wichtigstes Element des Stadtraumes ist der zentrale Höhenzug, der sich über eine Länge von 14 km erstreckt. Er trennt den Fluss Pinheiros von den Flüssen Tietê und Tamanduateí. Die charakteristische Topographie des Stadtgebiets wurde 1899 zum ersten Mal von Theodoro Sampaio, einem brasilianischen Geographen, detailliert untersucht. In seinen Aufzeichnungen heißt es: „Am linken Ufer des Flusses Tietê gelegen, erstreckt sich die Stadt über die Hänge der Hügel, die zwischen diesem und seinem kleineren Zufluss Tamanduatehy liegen. Die Stadt zeigt eine Geländekontur voller Unregelmäßigkeiten sowie einen markanten Höhenunterschied zwischen ihren unterschiedlichen Teilen und den breiten Senken.“[1]
Das Bild der geteilten, zweigeschossigen Stadt wie Sampaio es beschreibt, erklärt auch den Prozess der Stadtentwicklung São Paulos. Die erste Phase seit der Gründung 1554 ist die Besiedlung der höher gelegenen Gebiete. In dieser Zeit nutzen die Siedler die einfach zu erschließenden Teile der Topographie. So ist die frühe Geschichte São Paulos geprägt durch die Anpassung des Menschen an die schwierigen Bedingungen des Ortes. Dies wird anhand der drei Hauptwege des alten Stadtzentrums nach Süden deutlich. Die Rua da Liberdade, Rua Santo Amaro (deren teilweise Umbenennung in Avenida Brigadeiro Luís Antônio jüngeren Datums ist) und Avenida da Consolação verlaufen alle auf dem Grat der Höhenrücken. Hier fand man eine gute Bodenbeschaffenheit zum Bau fester Straßen vor, die auch starken Regenfällen standhalten konnte. Die einzige Verbindung nach Norden überquerte den Rio Tietê. Nach Osten führte eine Straße in Richtung des Paraíba-Tals. Die übrigen, weitläufigen Gebiete entlang der Flüsse blieben über Jahrhunderte ungenutzte Sumpfgebiete, die aufgrund von Überschwemmungen und der Verbreitung von Krankheitserregern schwer zu besiedeln waren.

Die zweite Phase der Urbanisierung kennzeichnet die Besiedlung der tiefer gelegenen „Resträume“, also der Flusstäler und Senken. Dabei war es vor allem eine neue Verkehrsinfrastruktur, die diese besetzte. Den Beginn dieser Entwicklung markierte 1867 der Bau der Santos-Jundiaí Eisenbahnverbindung. Mit der Umwandlung des Anhangabaú-Flusstals in einen öffentlichen Park erreichte dieser Prozess 1915 auch das höher gelegene Gebiet der Kernstadt.[2] 1930 entwickelte der Architekt Prestes Maia ein städtebauliches Modell radialer Straßen, die konzentrisch um das Stadtzentrum angeordnet sind. Als Prestes Maia 1938 Bürgermeister wurde, begann die Umsetzung dieses an europäischen Vorbildern ausgerichteten Stadtmodells.[3] Der Bau der beiden ersten wichtigen neuen Straßen Avenida Nove de Julho und Avendia Vinte e Três de Maio in ehemaligen Flusstälern bildete den Beginn einer Entwicklung, in deren Zuge viele Flüsse kanalisiert wurden. Dieser Prozess wurde Anfang der 50er Jahre durch ein neues Schnellstraßensystem nach US-amerikanischem Vorbild stark beschleunigt.

Neue Landschaft

1957 beschreibt ein anderer brasilianischer Zeitzeuge, der Ingenieur und Geograph Aziz Nacib Ab’Sábers die Stadt. Anhand seiner Aufzeichnungen werden das Ausmaß und die Geschwindigkeit der städtischen Veränderungen, nur knapp ein halbes Jahrhundert nach Theodoro Sampaio, deutlich. Hier zeigt sich, wie schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts natürliche Elemente der Landschaft und städtische Strukturen zum Bild einer neuen Landschaft zu verschmelzen begannen. Dieses Bild hat sich mit der Zeit immer mehr verstärkt. Heutzutage kann man das beeindruckende Phänomen an vielen Stellen des Stadtraums erleben, an denen sich von Brücken und Viadukten weite Blicke in die Stadt ergeben.
Aziz Nacib Ab’Sáber schreibt: „Auf der höchsten Stelle des Höhenzugs verläuft die Avenida Paulista, der geraden Achse der Topographie des zentralen Rückgrats folgend. Auf beiden Seiten des Höhenzugs erstrecken sich Stadtteile und unzählige Gebäude. Auf den auf mittlerer Höhe gelegenen Plateaus, die durch flache Hügel am linken Ufer des Tietê-Flusses gebildet werden, verbindet sich die Masse der kompakten Blöcke des Stadtkerns mit der vertikalen Silhouette der Wolkenkratzer und Hochhäuser. In diesem Teil der Stadt, mehr als in anderen, werden die Elemente des natürlichen Reliefs vollständig durch die zerklüfteten und unregelmäßigen Linien der großen städtischen Konstruktionen verdeckt.“[4]
Das rasante Wachstum São Paulos und die daraus resultierende vollständige Überformung des Stadtraums innerhalb weniger Jahrzehnte hat für die Entwicklung der Stadt eine besondere Bedeutung. In nur hundert Jahren hat sich São Paulo von einer kolonial geprägten Kleinstadt zum Zentrum einer Stadtregion mit globaler Bedeutung entwickelt. In dieser Zeit sind 150 Millionen Menschen nach Brasilien gekommen, um dort zu leben; ein Großteil nach São Paulo. Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der Stadt beschleunigt das Wachstum und führt zur Verdichtung und radikalen Vertikalisierung des Stadtraums.
Durch die Verschiebung des Zentrums hin zur Avenida Paulista entstand eine neue Form der Zentralität, die vollständig mit der Idee der ringförmig um einen Mittelpunkt wachsenden Stadt brach. Das Konzept des linearen Zentrums, die starke Vertikalisierung entlang einer wichtigen städtebaulichen Achse, wiederholte sich im Folgenden mehrmals, wie das Beispiel der Avenida Brigadeiro Faria Lima in den 80er Jahren und die Avenida Luís Carlos Berrini in den 90er Jahren zeigt.

Urbane Maßstäbe

Mitte der 50er Jahre wurde São Paulo zum Symbol der modernen brasilianischen Gesellschaft. Die Zeit war geprägt durch den kulturellen Aufbruch und wichtige infrastrukturelle Errungenschaften. In diese Dekade fallen die 1951 erfolgte Gründung der Kunstbiennale São Paulo durch den Industriellen Francisco Matarazzo Sobrinho, nach Venedig die zweitälteste der Welt, und 1957 der Bau des Museu de Arte de São Paulo (MASP), auf Initiative des Verlegers Francisco de Assis Chateaubriand, verwirklicht von der Architektin Lina Bo Bardi. Insbesondere der Conjunto Nacional von David Libeskind steht neben dem Copan-Gebäude von Oscar Niemeyer (1951-55) und dem Ibirapuera Park (1954) ebenfalls von Niemeyer und Roberto Burle Marx für das neue Gesicht einer ganzen Epoche.
Die 1963 an die Macht gelangte Militärregierung stürzte das Land jedoch in eine tiefe politische und kulturelle Krise. Erst Ende der 70er Jahre setzte erneut ein Prozess langsamer kultureller Öffnung ein. Das Centro Cultural São Paulo der beiden Architekten Eurico Prado Lopes and Luiz Benedito de Castro Telles und das Kultur- und Freizeitzentrum SESC Pompeia (1977-86) von Lina Bo Bardi sind Ausdruck dieser gesellschaftlichen Entwicklung, die ihren Höhepunkt 1985 in freien Wahlen fand.
Der Conjunto Nacional und das Centro Cultural São Paulo repräsentieren städtebaulich die beiden markanten Phasen der Stadtentwicklung. Ihre gesellschaftliche Relevanz liegt in der Erweiterung des öffentlichen Raums; zum einen durch innere Passagen als Verbindung der umliegenden Straßen, zum anderen durch die räumliche Flexibilität eines offenen Territoriums, das die Grenze zwischen Innen und Außen aufhebt. Durch ein hybrides Raumprogramm[5], in Form einer Vielzahl kultureller Angebote und der Mischung städtischer Grundnutzungen, sind Architekturen entstanden, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Interessant ist auch der Umstand, dass Libeskind, Prado Lopes und de Castro Telles in sehr jungem Alter die Möglichkeit zur Verwirklichung von Bauten solcher Größe und Komplexität erhielten. Hier zeigt sich ein Gesellschaftsmodell, das den Glauben an die Arbeit des Architekten als Tätigkeit im öffentlichen Interesse zeigt. So sind beide Gebäude, gerade in ihrem Status als Ausnahmeerscheinungen, auch Visionen einer neuen brasilianischen Gesellschaft: Das eine als Ausdruck einer neuen städtischen Lebensqualität, das andere als Zeichen politischen Wandels.


Anmerkungen:
[1] Theodoro Sampaio: Apontamentos para o Dicionário Histórico e Geográfico Brasileiro, 1899.
[2] Der Anhangabaú Park verbindet die umliegende Stadt mit dem Theater (1911) und dem Viaduto do Chá (1892), der Tee-Brücke, die als erster Viadukt symbolisch für das städtebauliche Überschreiten der durch die lokale Topographie geschaffenen Grenzen steht. Der Anhangabaú Park wurde später zum Parkplatz und in den 50er Jahren zu einer mehrspurigen Schnellstraße ausgebaut. Heutzutage ist die Schnellstraße durch einen öffentlichen Platz überbaut.
[3] Während Maias Amtsperiode durchlief São Paulo eine Reihe wichtiger städtebaulicher Veränderungen, die großen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt hatten (Ulhoa Cintra Schema und Y-System). Sein radiales Modell (Ulhoa Cintra Schema) begünstigte die zukünftige unbegrenzte horizontale Ausdehnung der Stadt.
[4] Vgl. Aziz Nacib Ab’Sáber: Sítio Urbano de São Paulo, 1957.
[5] Auch Le Corbusiers Überlegungen zu neuen Formen des Wohnens in Verbindung mit gemeinschaftlichen und öffentlichen Funktionen waren für die Entwicklung von Gebäuden mit vielschichtigen Nutzungen von großer Bedeutung. Seine Unité d’Habitation in Marseille (1945-52) ist ein wichtiges Beispiel dieses Gebäudetyps.

ARCH+, Do., 2009.01.08

08. Januar 2009 Jens Brinkmann

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