Editorial
Zwanzig Jahre Hochparterre
Hochparterre ist zwanzig Jahre alt. Zum Geburtstag schenken wir uns und der Welt ein neues Hochparterre. Wir haben in einem langen Verfahren den Verlag und das Heft neu vermessen. Mit dem Ziel: wacher, kulturpolitisch gewichtiger und überraschender. Rubriken wie Meinungen zu Beginn oder Raumtraum am Schluss geben dem Anspruch Formen. Der Kommentar – Reportagen und Essays begleitend – nimmt die Redaktorinnen und Schreiber in die Pflicht. Mehr Aufmerksamkeit gilt den Bildern: Hochparterres gefaltetes Titelblatt ist dafür ebenso ein Beleg wie die Fotoarbeiten zur Titelgeschichte, zum B-Ausweis oder zu den Siebensachen. Nicht zu übersehen ist die neue Gestaltung des Heftes: Barbara Ehrbar vom «superbüro» aus Biel hat den Entwurfswettbewerb gewonnen, zu dem wir im Frühling drei Ateliers eingeladen haben. Wir mochten ihren spielerischen und lebendigen Entwurf auf Anhieb. Zusammen mit den Designerinnen Antje Reineck und Juliane Wollensack hat sie daraus das neue Kleid für Hochparterre gestaltet. Möge es Ihnen so gut gefallen wie mir!
Zwanzig Jahre Hochparterre! Grosser Dank gehört unseren 55 000 Leserinnen und Lesern – Ihr seid unser Daseinsgrund! Grossen Dank unseren Inserenten – Ihr fördert unser Werden! Und danke allen Lithografen, Druckern, Spediteuren und Pöstlerinnen – Ihr ermöglicht unser Sein!
Hochparterres Geburtstag fällt in einen Epochenwandel. Zwanzig Jahre haben wir immer wieder gegen die Gier angeschrieben, den rücksichtslosen Konsum und den hemmungslosen Profit. Zeitungsschreiben aber hiess in den Fluss spucken. Die Zersiedelung nahm ebenso zu wie die Plünderung von Natur und Umwelt. Vor einem Monat brach die ungehemmte Avantgarde der Profiteure in Banken und bei Anverwandten ein. Mit unvorstellbaren Milliardenbeiträgen soll der Staat – also wir – sie retten. Die Bedingung muss heissen: Fertig lustig mit dem Hohelied der Privatisierung von allem und jedem. Gemeinsinnige Raumplanung, von den Ideologen seit Jahren lächerlich gemacht, wird zu einem wichtigen Thema werden. Griffiges staatliches Handeln für Energie-, Umwelt- und Bodenpolitik wird die nächsten zwanzig Jahre Hochparterre bestimmen. Eine erste Gelegenheit haben wir am 30. November: Stimmen Sie «Nein» zur Initiative, die das Beschwerderecht der Umweltschutz-Verbände vernichten will!
Köbi Gantenbein
Inhalt
06 Meinungen
10 Funde
13 Sammeln und zeigen
19 B-Ausweis
Titelgeschichte
22 Netzstadt und Rasenmäher … oder die Formen der Schweiz. Sieben Geschichten, von der Form des Landes über die Form der Bewegung bis zur Form der Zeit.
34 Raumplanung: Die Pest, der Frass, der Brei. Der Stadtwanderer zieht Bilanz über die Zersiedelung.
36 Design: Viel um die Ohren. Ein Streifzug durch den Telefondschungel.
42 Architektur: Fluchtpunkt der Wohnträume. Eine kleine Kultursoziologie des Einfamilienhauses.
44 Fotografie: Ein Bild geht um die Welt. Hans Danuser und die Kapelle Sogn Benedetg.
48 Design: Talentschau unter Textilien. Stoffe atmen und leisten Widerstand. Mit Kommentar.
50 Landschaft: Gewachsen. Von der Karriere der Landschaftsarchitektur.
54 Städtebau: Zerfall und Aufbau im Osten. Warschau, Berlin, Moskau. Ein Reisetagebuch.
62 Architektur: Alltag einer Ikone. Wie geht es dem KKL Luzern nach zehn Jahren?
64 Wettbewerb: Ein Areal, zwei Wettbewerbe. Die Leidensgeschichte einer Industriebrache in Zürich.
68 Leute
70 Siebensachen
74 Bücher
78 Fin de Chantier
84 Raumtraum
Die Pest, der Frass, der Brei
Nach zwanzig Jahren Wutschreiben gegen die Zersiedelung und das Hüsli: Eine Gewissenserforschung des Stadtwanderers.
Wenn man die Wahrheit zu oft wiederholt, wird sie nicht wahrer, sondern langweilig. Seit 1988 schrieb ich die Wahrheit über die Hüslipest, den Landfrass und den Häuserbrei. Mit welcher Wirkung? Meinesgleichen waren meiner Meinung, der Rest der Menschheit hat sich einen feuchten Dreck darum gekümmert. Zeit, mich endlich zu fragen: Ist meine Wahrheit falsch? Sind Pest, Frass und Brei ein Segen?
Sie sind es selbstverständlich und ohne Wenn und Aber, denn sie sind die Wirkung einer einfachen Tatsache: Der Konsument ist das Subjekt der Geschichte. Als ich das endlich eingesehen hatte, löste sich mein Krampf und ich konnte heiter die Tatsachen in einem milden Licht betrachten. Pest ist Stärke, Frass ist Wohlstand und Brei ist Eigentum. Man muss nur die Wahrheit vom Kopf auf die Füsse stellen und alles erklärt sich widerspruchslos. Der Konsum bestimmt das Sein, nicht umgekehrt.
Ich muss den Konsumenten endlich ernst nehmen, er ist das Volk. Sein Wille geschieht und der heisst «mehr». Mehr Wohnraum, mehr Gartenland, mehr Agglomeration. Durch den Konsum entstehen die Gewerbezonen, die Shoppingcenters und die dazugehörigen Strassen. Der Konsument verbündet sich mit dem Nachbarkonsumenten und zusammen bilden sie die FdP, die Fédération des Profiteurs. Es genügt aufzuzählen, wer alles vom Hüsli profitiert hat. Der Bauer strich den Profit ein, als aus Kultur- Bauland wurde. Der Notar verrechnete die Handänderung, der Baumeister war nicht billig, aber preiswert, die Handwerker wurden bezahlt, die Hypotheken verzinst. Der Steuerfuss ist tiefer, die Schulen voller Eingeborener, die Kirche im Dorf. Die Hüslimenschen, die vorher Blockbewohner waren, leben besser, geachteter, sicherer. Vom Rübenacker zum Vorzeigerasen läuft die Wertschöpfungskette und alle Mitglieder der FdP haben etwas davon gehabt. Was lerne ich daraus? Der Hüslimensch hat recht. Seine Rechnung geht auf. Es gibt ein richtiges Leben im falschen. Die Hüslipest stärkt, sie verleiht Prestige. Der Landfrass lohnt sich, er schafft Platz. Der Häuserbrei nährt, er mästet den Besitz.
Konsum frisst Land
Wer gegen die Zersiedelung kämpft, kann das nur wider besseres Wissen tun. Schlimmer noch: Er will dem Konsumenten etwas wegnehmen, denn der Verzicht ist Raub. Jeder mögliche Konsum muss sich verwirklichen, das ist der Motor des Konsums. Das Zauberwort «mehr» ist der herrschsüchtigste Tyrann, der je regiert hat. Mensch und Konsument sind eins. Nur wer konsumiert, soll Brot essen. Die Zersiedelung ist kein Übel, sondern das Wesen des Konsums. Selbstverständlich sind alle Konsumenten gegen die Zersiedlung, grundsätzlich und unbedingt. Doch nur, wenn der Konsum dabei trotzdem wächst. Das ist kein Widerspruch. Es ist folgerichtig und wahr, denn die Landschaft ist ebenfalls ein Konsumgut, auch sie kann man in die Wertschöpfung einspannen und konsumieren. Was man nicht konsumieren kann, ist wertlos.
So sitze ich denn nach zwanzig Jahren Wutschreiben da und bin ernüchtert. Ich muss gestehen, ich hielt die Landschaft, meine Schönschweiz, für ein unbezahlbares Gut. Obwohl ich dem Identitätsgeschwätz tief misstraute, war ich überzeugt: Diese Landschaften sind einmalig und schützenswert, sie sind ein Teil meiner selbst und dürfen nicht geopfert werden. Heute weiss ich, was das bedeutet: sie den Konsumenten wegnehmen. Dafür werden sie sich rächen. Eines bringt die Fédération des Profiteurs zur Weissglut: Wenn sie etwas bezahlen kann und es nicht kriegt. Demokratie ist, wenn man das Geld hat und der Rechtsstaat garantiert den Konsum.
In den Folgeschäden eingerichtet
Ich will mich nicht darauf verlassen, dass uns einmal das Geld ausgehen könnte, was das einzige Mittel wäre, den Konsum zu bremsen. Die Schatztruhen sind voll, die Erbschaften türmen sich, die Vermögen werden importiert. Wenns keinen Massenkonsum mehr gibt, umso besser, dann gibts Manövrierraum für Edelkonsum. Der Konsum kennt grundsätzlich keine Grenzen, solange er bezahlbar bleibt. Diese Tatsachen lassen nur einen Schluss zu: Der Konsument will die Zersiedelung, die er schafft. Sie ist sein natürliches Verbreitungsgebiet, dort fühlt er sich wohl und pflanzt sich fort. Wohl macht er zuweilen abschätzige Bemerkungen über sein Habitat, wohl beschwört er an Sonntagen die Schönheit der Landschaft, doch das sind Lippenbekenntnisse. Der Konsument will konsumieren, das ist sein Lebenszweck, mehr verlangt er nicht. Den Konsum aber fordert er ohne jede Einschränkung. Die Folgeschäden sind ihm egal, ja, er hat sich darin längst bequem eingerichtet. Die Agglomeration ist gesund und hat eine hohe Lebensqualität. Noch Fragen?
Alles hat seine Ordnung
Darum muss man diese beiden Bilder, das berühmte Vorher-Nachher, nicht mit Entsetzen betrachten, noch weniger mit moralischer Verachtung strafen. Es wird ein natürlicher Vorgang abgebildet: Man sieht den Konsum an der Arbeit. Nur wer bereit ist, seinen Konsum einzuschränken, darf dieses Bildpaar schrecklich finden oder gar zerstörerisch. Die andern Konsumenten, wie ich einer bin, sollten diesen Fort-Schritt mit Andacht betrachten, weg vom Acker, hin zum Einkaufszentrum. Sie zeigen, was unser Konsum zu leisten vermag. Das sind keine Schreck-, sondern Trostbilder. Hier geschieht der Aufstieg: Der Mensch wird Konsument.
Es ist nicht wahr, dass da keine Ordnung sei. Das ist ein ästhetisches Vorurteil. Alles gehorcht der Bau- und Zonenordnung, alles ist dem Raumplanungsgesetz untertan. Die private Willkür ist öffentlich gebändigt, die Infrastruktur gebaut, das Eigentum ist gewährleistet. Hier von Chaos zu reden, ist böswillig. Pest, Frass und Brei sind gebautes Abbild unserer Gesellschaft. Das ist die Ordnung, die wir uns selbst gegeben haben, sie ist demokratisch legitimiert. Wem sie nicht passt, ist ein Feind des Volkes, wie jeder, der den Konsum einschränken will.
Trotzdem werde ich die Landschaftsinitiative unterstützen.hochparterre, Mo., 2008.11.24
24. November 2008 Benedikt Loderer
Fluchtpunkt der Wohnträume
Neue Kleider, alte Aufgabe: Wie geht das Einfamilienhaus damit um? Die sieben Kinder der Postmoderne.
Wie schon mehrfach nachgewiesen, ist das Einfamilienhaus unserer Zeit ein ungewolltes Kind aus der Ehe der Villa mit dem Arbeiterhaus («Klein, aber mein»). Es entwickelte sich dennoch prächtig, wurde von den Modernen, Antimodernen und Postmodernen adoptiert, bekam laufend neue Kleider und erfreut sich immer noch bester Gesundheit. Hochparterre begleitete seinen Werdegang in den letzten zwanzig Jahren mit einer gehörigen Portion Misstrauen. Doch auch wir mussten eingestehen, dass das Einfamilienhaus hin und wieder die Baukultur fördert — wenn junge Wölfe das erste Mal rangelassen werden oder wenn die erfahrenen Füchse dies oder jenes ausprobieren und durchexerzieren können. Bis heute blieb das Einfamilienhaus kinderlos, es haben sich jedoch allerhand Seitenlinien mit einer grossen Schar an Cousins und Cousinen herausgebildet. Die sieben wichtigsten stellen wir vor.
Das Karge
Unter den architektonisch relevanten Einfamilienhäusern hat das Karge unzweifelhaft seine Geschwister in den vergangenen zwei Jahrzehnten überragt. Es wurde protestantisch erzogen und sein Götti kennt noch die inzwischen in Würde gealterten Brüder aus der Moderne. Das Karge beruft sich aber auch auf die Sechzigerjahre, als die Fenster grösser und grösser wurden. Als Swiss Box wurde es in der ganzen Welt bekannt, sein Merkmal ist die formale Reduktion und die handwerkliche Präzision. Nach den verwinkelten und oft düsteren Räumen der Achtzigerjahre kam mit dem Kargen die Klarheit im Grundriss zurück. Fotos 1, 3, 4, 5, 12, 13
Das Betonierte
Eine Cousine des Kargen ist das Betonierte. Oft sieht man die beiden nebeneinander durch die Einfamilienhausquartiere spazieren. Tessiner Architekten wie Luigi Snozzi bewahrten das Sichtbetonhaus vor dem Aussterben. Der potenziell mögliche Formenreichtum des Betons wird heute nicht mehr so ausgeschöpft wie es einst Meister Le Corbusier in seinem Spätwerk vormachte. Bevorzugt wird das scharf geschnittene Volumen mit ausgeklügelten Schalungsmustern. Darin äussert sich die enge Verwandtschaft mit dem Kargen. Dank winziger Portionen von Farbpigmenten wird das Betonierte zunehmend bunter. Fotos 1, 3, 7, 13
Das Edle
Lieblingskind der Mutter Villa ist das Edle. Es schreibt die jahrhundertealte Tradition in neuen Gewändern fort. Zurzeit trifft es sich oft mit dem Kargen und dem aus Beton, weil es sich mit ihnen am besten versteht. Das muss wohl an den Bauherrschaften liegen, die bürgerliche Werte nach wie vor als leitende kulturelle Werte verstehen. Die Materialien sind noch ehrlicher und teurer als beim Kargen, Ornament darf neuerdings auch wieder sein. Doch auch für das Edle sind die Grundstücke nicht grösser geworden. Es muss sich auf die Parzellen zwängen, die noch zu haben sind. Darum zählt die Aussicht heute mehr als der grosse Umschwung, für dessen Pflege sowieso keine Zeit mehr da ist. Fotos 11, 13
Das Eklektizistische
Beim Volk ist das Eklektizistische zwar mit Abstand das Beliebteste, im Kreise seiner architektonisch ambitionierten Verwandtschaft wird es jedoch kaum beachtet. Es schmückt sich gerne mit zeitlosen Accessoires wie Erkern, schleppenden Vordächern und Rundbögen. Das Eklektizistische hat aber schwer zu tragen: Auf ihm lastet das zentnerschwere Erbe des Chalets — einem ländlichen Urahn, der es sogar zu Ruhm in der weiten Welt geschafft hat. Trotzdem sorgen junge Architekten mit Witz, Charme und Einfühlungsvermögen für frischen Wind, vor allem in den Bergen, wo das Eklektizistische als Zweitwohnsitz einen zweiten Frühling erlebt. Manchmal trifft es sich heimlich mit dem Kargen auf einer Bergwiese, wo die beiden dann wieder etwas Überraschendes aushecken. Fotos 4, 8, 9, 10
Das Verrückte
Der jüngste Spross der Familie ist das Verrückte. Es unterhält aber freundschaftliche Beziehungen zu älteren Cousins aus den experimentellen Sechzigern und Siebzigern. Das Verrückte ist mit dem Computer und seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten aufgewachsen, weiss aber noch nicht so recht, was es mit der Vielfalt anstellen soll. Seine Schöpfer mischen unbeschwert die Hoch- mit der Populärkultur, was das Karge gar nicht gerne sieht. Sie nehmen satte und mitunter grelle Farben, halten sich nicht an den rechteckigen Formenkanon und schütteln die Grundrisse gründlich durch. Die ratlosen Eltern können aber beruhigt sein: Bei aller Ausgefallenheit sind auch hier Schweizer Architekten am Werk, die das Detail und dessen Ausführung ehren. Fotos 7, 8, 14
Das Unauffällige
Fast würde es in der Masse untergehen, doch selbst das Unauffällige bringt immer etwas mit, das stutzig macht. Sei es eine Fassade aus Kupfer, sei es ein Holzhaus in einem steinernen Dorf. Das Unauffällige braucht nicht unbedingt ein Flachdach, um seine Verwandtschaft zu den modernen und nachmodernen Brüdern und Schwestern zu bezeugen. Die älteren unter ihnen rümpfen zwar manchmal die Nase, weil dieses oder jenes Dogma nicht eingehalten worden ist, aber das kümmert das Unauffällige nicht. Es ist dem Ort verpflichtet und der Bescheidenheit, die ehrlicher ist als die oft aufgesetzte Demut des Kargen. Fotos 2, 9, 10
Das Sparsame
Lange Zeit führte das Sparsame ein Schattendasein. In den letzten zwanzig Jahren hat es sich aber kräftig gemausert. Gemeint ist nicht das Geizige, sondern das Energie-Sparsame. Als es noch ganz jung war, erkannte man das Sparsame an der ungelenken Architektur. Inzwischen kann es mit dem Rest der grossen Sippe gar nicht mehr verglichen werden, da es jedes erdenkliche Kleid tragen kann. Passivhäuser, Nullheizenergiehäuser, clevere Elementbauhäuser oder alles kombiniert: Die Notwendigkeit der Sparsamkeit wird nicht mehr bestritten. Darum gehört ihm die Zukunft, ob karg, verrückt oder sonstwie. Fotos 2, 6hochparterre, Mo., 2008.11.24
24. November 2008 Caspar Schärer
Alltag einer Ikone
Zehn Jahre KKL Luzern. Wie bewährt sich das Gebäude?
Der Hausmeister berichtet.
Eigentlich hätte Joe Michel nur während der ersten drei Betriebsjahre den Unterhalt und den technischen Betrieb des KKL, des Kultur- und Kongresszentrum Luzern aufbauen sollen. Doch der heutige Leiter Gebäude und Infrastruktur liess sich, wie viele andere, von Jean Nouvels Architekturikone verzaubern und feiert dieses Jahr sein zehnjähriges Dienstjubiläum. «Wer fürs KKL arbeitet, muss sich hundert Prozent mit dem Bau und der Architektur identifizieren», erklärt der Baufachmann und Betriebswirt, «und wer sich über den Aufwand aufregt, beispielsweise bei der Reinigung, ist bei uns nicht am richtigen Platz: Unser Haus ist ein Sonderfall — jeder Tag ist eine spannende Herausforderung.»
818 000 Franken hat die KKL Luzern Management AG letztes Jahr für die Reinigung der Architekturikone ausgegeben. Das sind immerhin knapp fünf Prozent des gesamten Betriebsaufwands von 17,58 Millionen Franken. Täglich zu Buche schla-gen vor allem die grossen Glasflächen und die vielen Chromteile in den weiten Foyers. «Die meisten Besucher schauen mit den Händen — wir müssen einzelne Glasflächen einmal pro Tag putzen lassen», sagt Michel gelassen. Weniger aufwendig ist die Pflege des dunklen Granitbodens, der Dreck und Kratzer gutmütig schluckt: «Der Stein, den Jean Nouvel ausgewählt hat, ist äus-serst widerstandsfähig. Den würde ich morgen wieder einbauen.»
Putzen nur mit Kletterdiplom
Eine viel gerühmte architektonische Attraktion, aber eine Herausforderung beim Entstauben und Pflegen, ist auch der «Geigenkasten». Die bauchige Holzhülle, die den Konzertsaal rundherum einmantelt, macht das Putzen zur Kletterübung. «Die Reinigung der Konzertsaal-Verkleidung und der Metallgitter-Fassade sind aufwendige Kletteraktionen», so Michel. «Es sind immer dieselben Firmen, die für uns putzen. Für die Reinigung der Hülle des wie ein Schiff vor Anker liegenden Saals konnten wir sogar dieselben Holzfachleute verpflichten, die die Verkleidung auch gebaut und montiert haben.» Konstanz und eine Beziehung zum Objekt sind aber nicht die einzigen Voraussetzungen für Michel. Wer am Haus herumturnt, braucht auch ein Kletterdiplom. Drei bis vier Mal pro Jahr seilen sich drei bis vier Arbeiter der Schreinerei Pfyl mit Klettergürtel und Helm ab und entstauben, waschen und ölen die Holzflächen.
Dass das KKL spektakuläre Putzaktionen nach sich ziehen würde, war schon bei der Planung klar. Nicht gerechnet haben Michel und sein 14-köpfiges Team aber mit der 1,5 Zentimeter grossen Argyroneta aquatica. Der unscheinbaren Wasserspinne gefiel es am weit auskragenden Dach so gut, dass sie den See dafür verliess und mit ihren Kolleginnen die 7000 Quadratmeter grosse Alucobond-Verkleidung mit Spinnweben überzog. Die feinen Netze beeinträchtigten die vom Architekten präzis austarierte Reflektion — wie aber gegen das kleine Tier vorgehen? Michel beauftrage drei Kammerjäger, sich eine Lösung auszudenken. Erst das dritte und kleinste Unternehmen fand eine, indem es eigens fürs KKL einen Zerstäuber entwickelte, der das Insektizid so atomisierte, dass das Spinnengift immer noch wirksam ist, obwohl die feinen Flüssigkeitströpfchen auf der Untersicht unsichtbar blieben. Einmal pro Jahr baut die auf Schädlingsbekämpfung spezialisierte Ronner AG nun einen Hublift auf, entstaubt und wäscht die 21 Meter hohe Decke und «impft» sie mit ihrem Mittel gegen Wasserspinnen.
Das Dach hält
Weniger Überraschungen als erwartet bot die 107 auf 113 Meter grosse und bis zu 45 Meter auskragende Dachkonstruktion. Seit der Fertigstellung wird sie elektronisch überwacht. Zweistündlich werden alle Bewegungen mit-tels Sensoren aufgezeichnet. 29 Zentimeter darf der Dachrand bei starkem Wind ausschlagen, sobald dieser Grenzwert überschritten wird, geht der Alarm los. Zusätzlich wird alle zwei Jahre die Konstruktion von Spezialisten direkt und systematisch überprüft: Monteure kriechen zwischen den Trägern und Bindern hin und her und suchen an festgelegten Prüfstellen nach Verformungen, Rissen, Rostflecken oder Feuchtigkeit. Da Ende 2009 die zehnjährige Garantie abläuft, liess das KKL alle Daten und Rapporte seit 1998 analysieren. Das Fazit ist positiv: Das Dach überstand den Sturm Lothar ohne Schaden und zeigt auch bei Schnee oder Böen ein gutes Verhalten. «Was die Statik betrifft, werden wir auf die regelmässige Überwachung und Kontrollen verzichten, nicht aber auf die Kontrolle der Feuchte oder Korrosion», sagt Michel. Die dreiwöchige Dachkontrolle, die Teil des Werkvertrags ist, geht aufs Budget «Unterhalt, Reparaturen und Ersatz» der Trägerstiftung. Es betrug letztes Jahr 1,36 Millionen Franken.
Mehr Gastro, weniger Kongresse
Auf einer ganz anderen Ebene musste Elisabeth Dalucas auf die Architekturikone reagieren. Die Kunstwissenschaftlerin und Kommunikations-Fachfrau übernahm 2003 die Direktion in einem Moment, als das Vertrauen der Luzerner in «ihr KKL» langsam, aber sicher zu bröckeln begann: Insgesamt 160 Millionen Franken in fünf Abstimmungen haben sie bewilligt — und trotzdem schien das Subventionsloch nicht gestopft. Dalucas brachte den Kultur-Supertanker mit einer Reduktion der Veranstaltungen und einem Ausbau der Gastronomie wieder auf Kurs. Bis 2002 fanden jährlich etwa 850 Events im KKL statt, letztes Jahr noch 414. Bei den Kulturveranstaltungen positionierte Dalucas das Haus konsequent im «High-End»-Bereich. Das funktioniert auch dank der Strahlkraft der Architektur: «Wir können heute auswählen, wer im KKL Luzern auftritt oder einlädt», so Dalucas. Und der Chüngelizüchterverein, dem das Haus vor Eröffnung ja auch versprochen wurde? «Das KKL ist immer noch ein Begegnungsort für alle, aber nicht alle Veranstaltungen eignen sich fürs KKL Luzern», argumetiert die Direktorin.
Zweites wichtiges Gegensteuermanöver war der Ausbau der Gastronomie. Das ursprüngliche Konzept setzte nur auf Fremd-Catering. Doch von den Satellitenküchen musste das angelieferte Essen lange und komplizierte Wege quer durchs Haus nehmen. «Es war ein unüberbrückbarer Widerspruch: Die Gäste verbrachten einen erstklassigen Konzertabend mit den besten Solisten der Welt und assen danach wenig inspirierende Häppchen», erklärt die Direktorin.
2002 wurde deshalb im rückwärtigen Versorgungsbereich eine professionelle Produktionsküche eingebaut — die erste Voraussetzung für die Repositionierung des Hauses analog des neuen Slogans «culture, convention, cusine». Dalucas und ihr Team stimmten auch die Angebote der bei ihrer Übernahme bereits bestehenden Lokale besser aufeinander ab und eröffneten zwei weitere Restaurants und die «Crystal-Lounge» für private Anlässe. Die Kursänderung macht das KKL einerseits für mehr Luzerner attraktiv, zeigt sich andererseits auch positiv in der Betriebsrechnung: Heute trägt die Gastronomie aufwendige Konzerte und Veranstaltungen mit — sie macht mehr als die Hälfte des gesamten Umsatzes aus.
Schwarze Zahlen
Die KKL Luzern Management AG schloss das Jahr 2007 mit einem positiven Unternehmensergebnis von 114 073 Franken ab. So hat das Kongresszentrum sein betriebswirtschaftliches Ziel einer mindestens kostendeckenden Rechnung im volatilen Veranstaltungsbusiness erreicht. Das KKL führte 2007 414 Veranstaltungen mit rund 400 000 Gästen durch. Zusätzlich haben gut 11 600 Besuchende das Haus besichtigt.
Links
Wie sich das Dach im Lothar-Sturm verhalten hat, alle Messresultate und weitere Links zum KKL > www.hochparterre.ch / linkshochparterre, Mo., 2008.11.24
24. November 2008 Roderick Hönig
verknüpfte Bauwerke
Kultur- und Kongresszentrum